Haupttitel

Arthur Schopenhauer

Aphorismen zur Lebensweisheit

Herausgegeben von Georg Schwikart
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ISBN: 978-3-8438-0026-6
 
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Inhalt

Über den Autor

Zum Buch

Kein schneller Weg zum Glück

Einleitung

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

A Allgemeine.

B Unser Verhalten gegen uns selbst betreffend.

C Unser Verhalten gegen andere betreffend.

D Unser Verhalten gegen den Weltlauf und das Schicksal betreffend.

Kapitel VI

Fußnoten

Kontakt zum Verlag

Kein schneller Weg zum Glück

Arthur Schopenhauer bietet Lebenshilfe der besonderen Art

Lebenshilfe-Literatur hat heute Hochkonjunktur. Diese Gattung ist allerdings weithin zum seichten »Fühl-dich-wohl«-Geschwätz verkommen, das ein glückliches Dasein ohne großen Aufwand verspricht.

Arthur Schopenhauer weist den umgekehrten Weg. Seine Philosophie geht schließlich davon aus, dass unser ganzes Leben etwas sei, das besser gar nicht wäre. Da wir aber nun einmal sind, müssen wir unsere Jahre bewältigen. Seine Ratschläge schmähen schnelle Genüsse, verheißen aber demjenigen intellektuelle Freuden, der sich großen Mühen unterzieht.

Der pessimistische, mitunter sarkastische Zug seines Denkens mutet dem Leser einiges zu. Auch sein sprachlicher Stil fordert ganze Aufmerksamkeit. Ein Aphorismus ist ja eigentlich ein Gedankensplitter, also etwas Kurzes und Prägnantes. Schopenhauers Essay verarbeitet zwar eine Unmenge von Sprichwörtern aus aller Welt, dazu treffende Sprüche großer Denker und Autoren oder solche der Bibel. Sein eigener Text jedoch windet sich manchmal in komplizierten Sätzen zu einem gehobenen Sprachstil empor, der heutigen Lesern aufgesetzt vorkommt.

Schopenhauer ist nichts zum Schmökern für zwischendurch. Doch wer sich auf ihn einlässt, wird mit literarischem Genuss belohnt. Um die Lektüre ein wenig zu vereinfachen, wurde das Werk für diese Ausgabe behutsam gekürzt und in die neue Rechtschreibung übertragen. Die fremdsprachlichen Zitate sind alle ins Deutsche übersetzt und Fremdwörter in Fußnoten erklärt.

Verschiedenes aus den 1851 erschienenen »Aphorismen zur Lebensweisheit« kann man heute nur noch mit historischem Interesse lesen, etwa sein Plädoyer gegen das zu seinen Lebzeiten noch übliche Duell. Wenn er sich dann aber gegen die Abschaffung der Prügelstrafe wehrt, weil das Prügeln doch zur Natur des Menschen gehöre, so müssen wir als Leser des 21. Jahrhunderts ihm nicht folgen. Auch seine herablassenden Gedanken über Frauen, Juden, »Neger« oder »Pfaffen« scheinen nicht geeignet, ihn als einen modernen Denker aufzufassen.

Wenn er von der Dummheit der Menschen spricht, kennt Schopenhauer kein Halten mehr: in zahlreichen Variationen schimpft er auf die »dumpfen Philister«; er meint, mit den allermeisten Zeitgenossen in irgendeinen Kontakt zu treten, lohne sich nicht. Barmherzigkeit ist keine seiner Tugenden, und seine Arroganz ist mitunter schwer auszuhalten. Doch seine spitze Art, zu analysieren, beeindruckt auch. Und wenn sich Schopenhauer über das verderbliche Kartenspielen auslässt – den typischen Zeitvertreib seiner Epoche –, dann würde man gern seine sicher ähnlich beißenden Kommentare zum Fernseh- oder Internetkonsum der Gegenwart lesen.

Arthur Schopenhauer selbst war kein umgänglicher Mensch, und sogar ihm wohlgesonnene Biographen müssen zugeben, dass er nicht alle seine Leitsätze selbst befolgt hat. Dieser Mann scheute Kompromisse, drückte sich in scharfen Worten aus, und ließ kaum eine andere Meinung neben seiner eigenen gelten. Bezeichnenderweise beginnen die Aphorismen mit dem Wort »Ich«.

Dieser Autor hat etwas zu sagen. Und man hört hin. Das war während seines Lebens nicht immer so. Der Erfolg stellte sich bei ihm erst spät ein, dafür nachhaltig. Noch 150 Jahre nach seinem Tod lesen wir seine Schriften. Er belehrt darin, unterhält auch, regt zum Nachdenken an. Selbst wenn er doziert und wie ein Prediger erklärt, was ohnehin jeder weiß, kann man es sich von ihm noch einmal sagen lassen. Auch wenn sich im Leser da und dort Widerspruch regen mag.

Dieses Buch kann einen nämlich nicht kalt lassen: Entweder man wehrt sich gegen Schopenhauers Weltsicht, und schärft dadurch die eigene Anschauung. Oder man findet bei ihm Erkenntnisse, die tatsächlich helfen, das Dasein auf Erden leichter zu meistern. Auf jeden Fall bietet er keine »Fünf-Minuten-Lebenshilfe«, sondern eine, die Zeit und Anstrengung fordert.

Kurzum, ein Muss für alle Philosophie-Interessierten. Ein Buch, das in die Bibliothek jedes aufgeklärten, also selbst denkenden Menschen gehört.


Sankt Augustin, im Dezember 2009

Georg Schwikart

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Über den Autor

Über den Autor

Arthur Schopenhauer (1788–1860) gilt als einer der wichtigsten deutschen Philosophen. Der bedeutende Schüler Kants prägte andere Philosophen, aber auch die frühe Psychologie und vor allem die Kunst: Wagner, Tucholsky, Hesse oder Mann schätzten Schopenhauers ganz eigenen Blick auf die Welt und den Menschen.

Dr. Georg Schwikart, geb. 1964, Religionswissenschaftler und Theologe, lebt als Publizist und Schriftsteller in Sankt Augustin bei Bonn.

Zum Buch

Zum Buch

„Jeder steckt in seinem Bewusstsein, wie in seiner Haut, und lebt unmittelbar nur in demselben: daher ist ihm von außen nicht sehr zu helfen.“

Schopenhauers Philosophie geht davon aus, dass unser ganzes Leben etwas sei, das besser gar nicht wäre. Da wir aber nun einmal sind, müssen wir unsere Jahre bewältigen. Seine Ratschläge schmähen schnelle Genüsse, verheißen aber demjenigen intellektuelle Freuden, der sich den großen Mühen unterzieht. Der düstere, mitunter sarkastische Zug seines Denkens ist nicht einfach, doch seine spitze Art zu analysieren, beeindruckt zutiefst. Dieses Buch kann niemanden kalt lassen: Entweder man wehrt sich gegen Schopenhauers Weltsicht, und schärft dadurch die eigene Anschauung. Oder man findet bei ihm Erkenntnisse, die tatsächlich helfen, das Dasein auf Erden leichter zu meistern.

Ein Muss für alle Philosophie-Interessierten. Ein Buch, das in die Bibliothek jedes aufgeklärten, also selbst denkenden Menschen gehört.

Lebenshilfe-Literatur hat heute Hochkonjunktur. Bevor diese Gattung zum seichten „Fühl-dich-wohl“-Geschwätz verkam, wandte man sich an die Philosophen.

Schopenhauers Werk gliedert sich in drei große Kapitel: „was Einer ist, was Einer hat, was Einer vorstellt [gilt]“. Der pessimistische, mitunter zynische Zug seines Denkens mutet dem Leser einiges zu, auch sein sprachlicher Stil fordert ganze Aufmerksamkeit. Doch wer sich auf die Lektüre einlässt, wird mit literarischem Genuss belohnt.

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Einleitung


Das Glück ist kein leichtes Ding.
Nur sehr schwer finden wir es in uns
und anderswo gar nicht.
Chamfort1.

Ich nehme den Begriff der Lebensweisheit hier gänzlich im immanenten2 Sinne, nämlich in dem der Kunst, das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen, die Anleitung zu welcher auch Eudämonologie3 genannt werden könnte: sie wäre demnach die Anweisung zu einem glücklichen Dasein. Dieses nun wieder ließe sich allenfalls definieren als ein solches, welches, rein objektiv4 betrachtet, oder vielmehr (da es hier auf ein subjektives5 Urteil ankommt) bei kalter und reiflicher Überlegung, dem Nichtsein entschieden vorzuziehen wäre. Aus diesem Begriffe desselben folgt, dass wir daran hingen, seiner selbst wegen, nicht aber bloß aus Furcht vor dem Tode; und hieraus wieder, dass wir es von endloser Dauer sehen möchten. Ob nun das menschliche Leben dem Begriff eines solchen Daseins entspreche, oder auch nur entsprechen könne, ist eine Frage, welche bekanntlich meine Philosophie verneint; während die Eudämonologie die Bejahung derselben voraussetzt. Diese nämlich beruht eben auf dem angeborenen Irrtum, dessen Rüge das 49. Kapitel im 2. Bande meines Hauptwerkes6 eröffnet. Um eine solche dennoch ausarbeiten zu können, habe ich daher gänzlich abgehen müssen von dem höheren, metaphysisch-ethischen7 Standpunkte, zu welchem meine eigentliche Philosophie hinleitet. Folglich beruht die ganze hier zu gebende Auseinandersetzung gewissermaßen auf einer Akommodation8, sofern sie nämlich auf dem gewöhnlichen, empirischen9 Standpunkte bleibt und dessen Irrtum festhält. Demnach kann auch ihr Wert nur ein bedingter sein, da selbst das Wort Eudämonologie nur ein Euphemismus10 ist. – Ferner macht auch dieselbe keinen Anspruch auf Vollständigkeit; teils weil das Thema unerschöpflich ist; teils weil ich sonst das von andern bereits Gesagte hätte wiederholen müssen.

Als in ähnlicher Absicht, wie gegenwärtige Aphorismen, abgefasst, ist mir nur das sehr lesenswerte Buch des Cardanus11 de utilitate ex adversis capienda12 erinnerlich, durch welches man also das hier gegebene vervollständigen kann. Zwar hat auch Aristoteles13 dem 5. Kapitel des 1. Buches seiner Rhetorik eine kurze Eudämonologie eingeflochten: sie ist jedoch sehr nüchtern ausgefallen. Benutzt habe ich diese Vorgänger nicht; da Kompilieren14 nicht meine Sache ist; und umso weniger, als durch dasselbe die Einheit der Ansicht verloren geht, welche die Seele der Werke dieser Art ist. – Im allgemeinen freilich haben die Weisen aller Zeiten immer dasselbe gesagt, und die Toren, d. h. die unermessliche Majorität aller Zeiten, haben immer dasselbe, nämlich das Gegenteil, getan: und so wird es denn auch ferner bleiben. Darum sagt Voltaire15: Wir werden diese Welt ebenso dumm und ebenso schlecht verlassen, wie wir sie vorfanden, als wir in ihr ankamen.

Kapitel I

Grundeinteilung

Aristoteles hat die Güter des menschlichen Lebens in drei Klassen geteilt – die äußeren, die der Seele und die des Leibes. Hievon nun nichts, als die Dreizahl beibehaltend, sage ich, dass was den Unterschied im Lose der Sterblichen begründet, sich auf drei Grundbestimmungen zurückführen lässt. Sie sind:

Was Einer ist: also die Persönlichkeit, im weitesten Sinne. Sonach ist hierunter Gesundheit, Kraft, Schönheit, Temperament, moralischer Charakter, Intelligenz und Ausbildung derselben begriffen.

Was Einer hat: also Eigentum und Besitz in jeglichem Sinne.

Was Einer vorstellt: unter diesem Ausdruck wird bekanntlich verstanden, was er in der Vorstellung anderer ist, also eigentlich wie er von ihnen vorgestellt wird. Es besteht demnach in ihrer Meinung von ihm, und zerfällt in Ehre, Rang und Ruhm.

Die unter der ersten Rubrik zu betrachtenden Unterschiede sind solche, welche die Natur selbst zwischen Menschen gesetzt hat; woraus sich schon abnehmen lässt, dass der Einfluss derselben auf ihr Glück, oder Unglück, viel wesentlicher und durchgreifender sein werde, als was die bloß aus menschlichen Bestimmungen hervorgehenden, unter den zwei folgenden Rubriken angegebenen Verschiedenheiten herbeiführen. Zu den echten persönlichen Vorzügen, dem großen Geiste, oder großen Herzen, verhalten sich alle Vorzüge des Ranges, der Geburt, selbst der königlichen, des Reichtums u. dgl., wie die Theater-Könige zu den wirklichen.

Allerdings ist für das Wohlsein des Menschen, ja für die ganze Weise seines Daseins die Hauptsache offenbar das, was in ihm selbst besteht, oder vergeht. Hier nämlich liegt unmittelbar sein inneres Behagen, oder Unbehagen, als welches zunächst das Resultat seines Empfindens, Wollens und Denkens ist; während alles außerhalb Gelegene doch nur mittelbar darauf Einfluss hat. Daher affizieren16 dieselben äußeren Vorgänge, oder Verhältnisse, jeden ganz anders, und bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer anderen Welt. Denn nur mit seinen eigenen Vorstellungen, Gefühlen und Willensbewegungen hat er es unmittelbar zu tun: die Außendinge haben nur, sofern sie diese veranlassen, Einfluss auf ihn. Die Welt, in der jeder lebt, hängt zunächst ab von seiner Auffassung derselben, richtet sich daher nach der Verschiedenheit der Köpfe: dieser gemäß wird sie arm, schal und flach, oder reich, interessant und bedeutungsvoll ausfallen. Während z. B. mancher den andern beneidet um die interessanten Begebenheiten, die ihm in seinem Leben aufgestoßen sind, sollte er ihn vielmehr um die Auffassungsgabe beneiden, welche jenen Begebenheiten die Bedeutsamkeit verlieh, die sie in seiner Beschreibung haben: denn dieselbe Begebenheit, welche in einem geistreichen Kopfe sich so interessant darstellt, würde, von einem flachen Alltagskopf aufgefasst, auch nur eine schale Szene aus der Alltagswelt sein. Im höchsten Grade zeigte sich dies bei manchen Gedichten Goethes17 und Byrons18, denen offenbar reale Vorgänge zugrunde liegen: ein törichter Leser ist imstande, dabei den Dichter um die allerliebste Begebenheit zu beneiden, statt um die mächtige Phantasie, welche aus einem ziemlich alltäglichen Vorfall etwas so Großes und Schönes zu machen fähig war. Desgleichen sieht der Melancholikus19 eine Trauerspielszene, wo der Sanguinikus20 nur einen interessanten Konflikt und der Phlegmatikus21 etwas Unbedeutendes vor sich hat. Dies alles beruht darauf, dass jede Wirklichkeit, d. h. jede erfüllte Gegenwart, aus zwei Hälften besteht, dem Subjekt und dem Objekt, wiewohl in so notwendiger und enger Verbindung, wie Oxygen und Hydrogen22 im Wasser. Bei völlig gleicher objektiver Hälfte, aber verschiedener subjektiver, ist daher, so gut wie im umgekehrten Fall, die gegenwärtige Wirklichkeit eine ganz andere: die schönste und beste objektive Hälfte, bei stumpfer, schlechter subjektiver, gibt doch nur eine schlechte Wirklichkeit und Gegenwart; gleich einer schönen Gegend in schlechtem Wetter, oder im Reflex23 einer schlechten camera obscura24. Oder planer25 zu reden: Jeder steckt in seinem Bewusstsein, wie in seiner Haut, und lebt unmittelbar nur in demselben: daher ist ihm von außen nicht sehr zu helfen. Auf der Bühne spielt einer den Fürsten, ein anderer den Rat, ein dritter den Diener, oder den Soldaten, oder den General usf. Aber diese Unterschiede sind bloß im Äußeren vorhanden, im Innern, als Kern einer solchen Erscheinung, steckt bei allen dasselbe: ein armer Komödiant mit seiner Plage und Not. Im Leben ist es auch so. Die Unterschiede des Ranges und Reichtums geben jedem seine Rolle zu spielen; aber keineswegs entspricht dieser eine innere Verschiedenheit des Glücks und Behagens, sondern auch hier steckt in jedem derselbe arme Tropf mit seiner Not und Plage, die wohl dem Stoffe nach bei jedem eine andere ist, aber der Form, d. h. dem eigentlichen Wesen nach, so ziemlich bei allen dieselbe; wenn auch mit Unterschieden des Grades, die sich aber keineswegs nach Stand und Reichtum, d. h. nach der Rolle richten. Weil nämlich alles, was für den Menschen da ist und vergeht, unmittelbar immer nur in seinem Bewusstsein da ist und für dieses vergeht; so ist offenbar die Beschaffenheit des Bewusstseins selbst das zunächst Wesentliche, und auf dieselbe kommt, in den meisten Fällen, mehr an, als auf die Gestalten, die darin sich darstellen. Alle Pracht und Genüsse, abgespiegelt im dumpfen Bewusstsein eines Tropfs, sind sehr arm gegen das Bewusstsein des Cervantes26, als er in einem unbequemen Gefängnisse den Don Quijote27 schrieb. Die objektive Hälfte der Gegenwart und Wirklichkeit steht in der Hand des Schicksals und ist demnach veränderlich: die subjektive sind wir selbst; daher sie im Wesentlichen unveränderlich ist. Demgemäß trägt das Leben jedes Menschen, trotz aller Abwechslung von außen, durchgängig denselben Charakter und ist einer Reihe Variationen auf ein Thema zu vergleichen. Aus seiner Individualität28 kann keiner heraus. Und wie das Tier unter allen Verhältnissen, in die man es setzt, auf den engen Kreis beschränkt bleibt, den die Natur seinem Wesen unwiderruflich gezogen hat, weshalb z. B. unsere Bestrebungen, ein geliebtes Tier zu beglücken, eben wegen jener Grenzen seines Wesens und Bewusstseins, stets innerhalb enger Schranken sich halten müssen; – so ist es auch mit dem Menschen: durch seine Individualität ist das Maß seines möglichen Glückes zum Voraus bestimmt. Besonders haben die Schranken seiner Geisteskräfte seine Fähigkeit für erhöhten Genuss ein für allemal festgestellt. Sind sie eng, so werden alle Bemühungen von außen, alles was Menschen, alles was das Glück für ihn tut, nicht vermögen, ihn über das Maß des gewöhnlichen, halb tierischen Menschenglücks und Behagens hinauszuführen: auf Sinnengenuss, trauliches und heiteres Familienleben, niedrige Geselligkeit und vulgären Zeitvertreib bleibt er angewiesen: sogar die Bildung vermag im ganzen, zur Erweiterung jenes Kreises, nicht gar viel, wenngleich etwas. Denn die höchsten, die mannigfaltigsten29 und die anhaltendsten Genüsse sind die geistigen; wie sehr auch wir, in der Jugend, uns darüber täuschen mögen; diese aber hängen hauptsächlich von der geistigen Kraft ab. – Hieraus also ist klar, wie sehr unser Glück abhängt von dem, was wir sind, von unserer Individualität; während man meistens nur unser Schicksal, nur das, was wir haben, oder was wir vorstellen, in Anschlag bringt. Das Schicksal aber kann sich bessern: zudem wird man, bei innerem Reichtum, von ihm nicht viel verlangen: hingegen ein Tropf bleibt ein Tropf, ein stumpfer Klotz ein stumpfer Klotz, bis an sein Ende, und wäre er im Paradiese und von Huris30 umgeben. Deshalb sagt Goethe:

Volk und Knecht und Überwinder,
Sie gestehn zu jeder Zeit,
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit.

W. Ö. Divan.31

Dass für unser Glück und unsern Genuss das Subjektive ungleich wesentlicher, als das Objektive sei, bestätigt sich in allem: von dem an, dass Hunger der beste Koch ist und der Greis die Göttin des Jünglings gleichgültig ansieht, bis hinauf zum Leben des Genies und des Heiligen. Besonders überwiegt die Gesundheit alle äußeren Güter so sehr, dass wahrlich ein gesunder Bettler glücklicher ist, als ein kranker König. Ein aus vollkommener Gesundheit und glücklicher Organisation hervorgehendes, ruhiges und heiteres Temperament, ein klarer, lebhafter, eindringender und richtig fassender Verstand, ein gemäßigter, sanfter Wille und demnach ein gutes Gewissen, dies sind Vorzüge, die kein Rang oder Reichtum ersetzen kann. Denn was einer für sich selbst ist, was ihn in die Einsamkeit begleitet und was keiner ihm geben, oder nehmen kann, ist offenbar für ihn wesentlicher, als alles, was er besitzen, oder auch, was er in den Augen anderer sein mag. Ein geistreicher Mensch hat in gänzlicher Einsamkeit, an seinen eigenen Gedanken und Phantasien vortreffliche Unterhaltung, während von einem Stumpfen die fortwährende Abwechslung von Gesellschaften, Schauspielen, Ausfahrten und Lustbarkeiten, die marternde Langeweile nicht abzuwehren vermag. Ein guter, gemäßigter, sanfter Charakter kann unter dürftigen Umständen zufrieden sein; während ein begehrlicher, neidischer und böser es bei allem Reichtum nicht ist. Nun aber gar dem, welcher beständig den Genuss einer außerordentlichen, geistig eminenten32 Individualität hat, sind die meisten der allgemein angestrebten Genüsse ganz überflüssig, ja, nur störend und lästig. Daher sagt Horaz33 von sich:

Gemmen34, Marmor, Elfenbein, Thyrrhenersiegel35, Gemälde, Silber, purpurgefärbte Gewänder haben so viele Menschen nicht, benötigen gar viele niemals,

und Sokrates36 sagte beim Anblick zum Verkauf ausgelegter Luxusartikel:

»Wie vieles gibt es doch, was ich nicht nötig habe.«

Für unser Lebensglück ist demnach das, was wir sind, die Persönlichkeit, durchaus das Erste und Wesentlichste; – schon weil sie beständig und unter allen Umständen wirksam ist: zudem aber ist sie nicht, wie die Güter der zwei anderen Rubriken, dem Schicksal unterworfen, und kann uns nicht entrissen werden. Ihr Wert kann insofern ein absoluter heißen, im Gegensatz des bloß relativen der beiden andern. Hieraus nun folgt, dass dem Menschen von außen viel weniger beizukommen ist, als man wohl meint. Bloß die allgewaltige Zeit übt auch hier ihr Recht: ihr unterliegen allmählich die körperlichen und die geistigen Vorzüge: der moralische Charakter allein bleibt auch ihr unzugänglich. In dieser Hinsicht hätten denn freilich die Güter der zwei letzteren Rubriken, als welche die Zeit unmittelbar nicht raubt, vor denen der ersten einen Vorzug. Einen zweiten könnte man darin finden, dass sie, als im Objektiven gelegen, ihrer Natur nach, erreichbar sind und jedem wenigstens die Möglichkeit vorliegt, in ihren Besitz zu gelangen; während hingegen das Subjektive gar nicht in unsere Macht gegeben ist, sondern, nach göttlichem Recht eingetreten, für das ganze Leben unveränderlich fest steht, so dass hier unerbittlich der Ausspruch gilt:

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen
37, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Goethe.

Das einzige, was in dieser Hinsicht in unserer Macht steht, ist, dass wir die gegebene Persönlichkeit zum möglichsten Vorteile benutzen, demnach nur die ihr entsprechenden Bestrebungen verfolgen und uns um die Art von Ausbildung bemühen, die ihr gerade angemessen ist, jede andere aber meiden, folglich den Stand, die Beschäftigung, die Lebensweise wählen, welche zu ihr passen.

Ein herkulischer38 mit ungewöhnlicher Muskelkraft begabter Mensch, der durch äußere Verhältnisse genötigt ist, einer sitzenden Beschäftigung, einer kleinlichen, peinlichen Handarbeit obzuliegen, oder auch Studien und Kopfarbeiten zu treiben, die ganz anderartige, bei ihm zurückstehende Kräfte erfordern, folglich gerade die bei ihm ausgezeichneten Kräfte unbenutzt zu lassen, der wird sich zeitlebens unglücklich fühlen; noch mehr aber der, bei dem die intellektuellen Kräfte sehr überwiegend sind, und der sie unentwickelt und ungenutzt lassen muss, um ein gemeines Geschäft zu treiben, das ihrer nicht bedarf, oder gar körperliche Arbeit, zu der seine Kraft nicht recht ausreicht. Jedoch ist hier, zumal in der Jugend, die Klippe der Präsumtion39 zu vermeiden, dass man sich nicht ein Übermaß von Kräften zuschreibe, welches man nicht hat.

Aus dem entschiedenen Übergewicht unsrer ersten Rubrik über die beiden andern geht aber auch hervor, dass es weiser ist, auf Erhaltung seiner Gesundheit und auf Ausbildung seiner Fähigkeiten, als auf Erwerbung von Reichtum hinzuarbeiten; was jedoch nicht dahin missdeutet werden darf, dass man den Erwerb des Nötigen und Angemessenen vernachlässigen sollte. Aber eigentlicher Reichtum, d. h. großer Überfluss, vermag wenig zu unserm Glück; daher viele Reiche sich unglücklich fühlen; weil sie ohne eigentliche Geistesbildung, ohne Kenntnisse und deshalb ohne irgendein objektives Interesse, welches sie zu geistiger Beschäftigung befähigen könnte, sind. Denn was der Reichtum über die Befriedigung der wirklichen und natürlichen Bedürfnisse hinaus noch leisten kann, ist von geringem Einfluss auf unser eigentliches Wohlbehagen: vielmehr wird dieses gestört durch die vielen und unvermeidlichen Sorgen, welche die Erhaltung eines großen Besitzes herbeiführt. Dennoch aber sind die Menschen tausendmal mehr bemüht, sich Reichtum, als Geistesbildung zu erwerben; während doch ganz gewiss was man ist viel mehr zu unserm Glücke beiträgt, als was man hat. Gar manchen daher sehn wir, in rastloser Geschäftigkeit, emsig wie die Ameise, vom Morgen bis zum Abend bemüht, den schon vorhandenen Reichtum zu vermehren. Über den engen Gesichtskreis des Bereiches der Mittel hiezu hinaus kennt er nichts: sein Geist ist leer, daher für alles andere unempfänglich. Die höchsten Genüsse, die geistigen, sind ihm unzugänglich: durch die flüchtigen, sinnlichen, wenig Zeit, aber viel Geld kostenden, die er zwischendurch sich erlaubt, sucht er vergeblich jene andern zu ersetzen. Am Ende seines Lebens hat er dann, als Resultat desselben, wenn das Glück gut war, wirklich einen recht großen Haufen Geld vor sich, welchen noch zu vermehren, oder aber durchzubringen, er jetzt seinen Erben überlässt. Ein solcher, wiewohl mit gar ernsthafter und wichtiger Miene durchgeführter Lebenslauf ist daher ebenso töricht, wie mancher andere, der geradezu die Schellenkappe40 zum Symbol hatte.

Also, was einer an sich selber hat, ist zu seinem Lebensglücke das Wesentlichste. Bloß weil dieses, in der Regel, so gar wenig ist, fühlen die meisten von denen, welche über den Kampf mit der Not hinaus sind, sich im Grunde ebenso unglücklich, wie die, welche sich noch darin herumschlagen. Die Leere ihres Innern, das Fade ihres Bewusstseins, die Armut ihres Geistes treibt sie zur Gesellschaft, die nun aber aus eben solchen besteht; weil: jeder erfreut sich an seinesgleichen. Da wird dann gemeinschaftlich Jagd gemacht auf Kurzweil und Unterhaltung, die sie zunächst in sinnlichen Genüssen, in Vergnügen jeder Art und endlich in Ausschweifungen suchen. Die Quelle der heillosen Verschwendung, mittels welcher so mancher, reich ins Leben tretende Familiensohn, sein großes Erbteil oft in kurzer Zeit durchbringt, ist wirklich keine andere, als nur die Langeweile, welche aus der eben geschilderten Armut und Leere des Geistes entspringt. So ein Jüngling war äußerlich reich aber innerlich arm in die Welt geschickt und strebte nun vergeblich durch den äußeren Reichtum den inneren zu ersetzen, indem er alles von außen empfangen wollte – den Greisen analog41, welche sich durch die Ausdünstung junger Mädchen zu stärken suchen. Dadurch führte dann am Ende die innere Armut auch noch die äußere herbei.

Die Wichtigkeit der beiden andern Rubriken der Güter des menschlichen Lebens brauche ich nicht hervorzuheben. Denn der Wert des Besitzes ist heutzutage so allgemein anerkannt, dass er keiner Empfehlung bedarf. Sogar hat die dritte Rubrik, gegen die zweite, eine sehr ätherische Beschaffenheit; da sie bloß in der Meinung anderer besteht. Jedoch nach Ehre, d. h. gutem Namen, hat jeder zu streben, nach Rang schon nur die, welche dem Staate dienen, und nach Ruhm gar nur äußerst wenige. Indessen wird die Ehre als ein unschätzbares Gut angesehen, und der Ruhm als das Köstlichste, was der Mensch erlangen kann, das goldene Vlies42 der Auserwählten: hingegen den Rang werden nur Toren dem Besitze vorziehen. Die zweite und dritte Rubrik stehn übrigens in sogenannter Wechselwirkung; sofern das: Hältst du etwas in Händen, so wirst du für etwas gehalten werden, seine Richtigkeit hat und, umgekehrt, die günstige Meinung anderer, in allen ihren Formen, oft zum Besitze verhilft.

Kapitel II

Von dem, was einer ist

Dass zu seinem Glücke viel mehr beiträgt, als was er hat, oder was er vorstellt, haben wir bereits im Allgemeinen erkannt. Immer kommt es darauf an, was einer sei und demnach an sich selber habe: denn seine Individualität begleitet ihn stets und überall, und von ihr ist alles tingiert43, was er erlebt. In allem und bei allem genießt er zunächst nur sich selbst: Dies gilt schon von den physischen; wie viel mehr von den geistigen Genüssen. Daher ist das englische to enjoy oneself ein sehr treffender Ausdruck, mit welchem man z. B. sagt he enjoys himself at Paris, also nicht »er genießt Paris«, sondern »er genießt sich in Paris«. – Ist nun aber die Individualität von schlechter Beschaffenheit, so sind alle Genüsse wie köstliche Weine in einem mit Galle tingierten Munde. Demnach kommt, im Guten wie im Schlimmen, schwere Unglücksfälle beiseite gesetzt, es weniger darauf an, was einem im Leben begegnet und widerfährt, als darauf, wie er es empfindet, also auf die Art und den Grad seiner Empfänglichkeit in jeder Hinsicht. Was einer in sich ist und an sich selber hat; kurz die Persönlichkeit und deren Wert, ist das alleinige Unmittelbare zu seinem Glück und Wohlsein. Alles andere ist mittelbar; daher auch dessen Wirkung vereitelt werden kann, aber die der Persönlichkeit nie. Darum eben ist der auf persönliche Vorzüge gerichtete Neid der Unversöhnlichste, wie er auch der am sorgfältigsten verhehlte ist. Ferner ist allein die Beschaffenheit des Bewusstseins das Bleibende und Beharrende, und die Individualität wirkt fortdauernd, anhaltend, mehr oder minder in jedem Augenblick: alles andere hingegen wirkt immer nur zu Zeiten, gelegentlich, vorübergehend, und ist zudem auch noch selbst dem Wechsel und Wandel unterworfen: daher sagt Aristoteles: denn die naturellen Anlagen sind sicher, die Schätze aber nicht. Hierauf beruht es, dass wir ein ganz und gar von außen auf uns gekommenes Unglück mit mehr Fassung ertragen, als ein selbstverschuldetes: denn das Schicksal kann sich ändern; aber die eigene Beschaffenheit nimmer. Demnach also sind die subjektiven Güter, wie ein edler Charakter, ein fähiger Kopf, ein glückliches Temperament, ein heiterer Sinn und ein wohlbeschaffener, völlig gesunder Leib, also überhaupt: ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, zu unserm Glücke die ersten und wichtigsten; weshalb wir auf die Beförderung und Erhaltung derselben viel mehr bedacht sein wollten, als auf den Besitz äußerer Güter und äußerer Ehre.

Was nun aber, von jenen allen, uns am unmittelbarsten beglückt, ist die Heiterkeit des Sinnes: denn diese gute Eigenschaft belohnt sich augenblicklich selbst. Wer eben fröhlich ist hat allemal Ursache es zu sein: nämlich eben diese, dass er es ist. Nichts kann so sehr, wie diese Eigenschaft, jedes andere Gut vollkommen ersetzen; während sie selbst durch nichts zu ersetzen ist. Einer sei, jung, schön, reich und geehrt; so fragt sich, wenn man sein Glück beurteilen will, ob er dabei heiter sei: ist er hingegen heiter, so ist es einerlei, ob er jung oder alt, gerade oder bucklig, arm oder reich sei; er ist glücklich. In früher Jugend machte ich einmal ein altes Buch auf, und da stand: »wer viel lacht ist glücklich, und wer viel weint ist unglücklich« – eine sehr einfältige Bemerkung, die ich aber, wegen ihrer einfachen Wahrheit, doch nicht habe vergessen können, so sehr sie auch der Superlativ eines truism’s44 ist. Dieserwegen also sollen wir der Heiterkeit, wenn immer sie sich einstellt, Tür und Tor öffnen: denn sie kommt nie zur unrechten Zeit; statt dass wir oft Bedenken tragen, ihr Eingang zu gestatten, indem wir erst wissen wollen, ob wir denn auch wohl in jeder Hinsicht Ursache haben, zufrieden zu sein; oder auch, weil wir fliehten, in unsern ernsthaften Überlegungen und wichtigen Sorgen dadurch gestört zu werden: allein was wir durch diese bessern, ist sehr ungewiss; hingegen ist Heiterkeit unmittelbarer Gewinn. Sie allein ist gleichsam die bare Münze des Glückes und nicht wie alles andere, bloß der Bankzettel; weil nur sie unmittelbar in der Gegenwart beglückt; weshalb sie das höchste Gut ist für Wesen, deren Wirklichkeit die Form einer unheilbaren Gegenwart zwischen zwei unendlichen Zeiten hat. Demnach sollten wir die Erwerbung und Beförderung dieses Gutes jedem andern Trachten vorsetzen. Nun ist gewiss, dass zur Heiterkeit nichts weniger beiträgt, als Reichtum, und nichts mehr, als Gesundheit: in den niedrigen, arbeitenden, zumal das Land bestellenden Klassen sind die heitern und zufriedenen Gesichter; in den reichen und vornehmen die verdrießlichen zu Hause. Folglich sollten wir vor allem bestrebt sein, uns den hohen Grad vollkommener Gesundheit zu erhalten, als dessen Blüte die Heiterkeit sich einstellt. Die Mittel hierzu sind bekanntlich Vermeidung aller Exzesse45 und Ausschweifungen, aller heftigen und unangenehmen Gemütsbewegungen, auch aller zu großen oder zu anhaltenden Geistesanstrengung, täglich wenigstens zwei Stunden rascher Bewegung in freier Luft, viel kaltes Baden und ähnliche diätetische Maßregeln46. Ohne tägliche gehörige Bewegung kann man nicht gesund bleiben: alle Lebensprozesse erfordern, um gehörig vollzogen zu werden, Bewegung sowohl der Teile, darin sie vorgehen, als des Ganzen. Daher sagt Aristoteles mit Recht: Das Leben besteht in der Bewegung. Das Leben besteht in der Bewegung und hat sein Wesen in ihr. Im ganzen Innern des Organismus herrscht unaufhörliche, rasche Bewegung: das Herz, in seiner komplizierten doppelten Systole und Diastole47, schlägt heftig und unermüdlich; mit 28 seiner Schläge hat es die gesamte Blutmasse durch den ganzen großen und kleinen Kreislauf hindurch getrieben; die Lunge pumpt ohne Unterlass wie eine Dampfmaschine; die Gedärme winden sich stets im motus peristalticus48; alle Drüsen saugen und sezernieren49 beständig, selbst das Gehirn hat eine doppelte Bewegung mit jedem Pulsschlag und jedem Atemzug. Wenn nun hierbei, wie es bei der ganz und gar sitzenden Lebensweise unzähliger Menschen der Fall ist, die äußere Bewegung so gut wie ganz fehlt, so entsteht ein schreiendes und verderbliches Missverhältnis zwischen der äußeren Ruhe und dem inneren Tumult. Denn sogar will die beständige innere Bewegung durch die äußere etwas unterstützt sein: jenes Missverhältnis aber wird dem analog, wenn, infolge irgendeines Affekts, es in unserm Innern kocht, wir aber nach außen nichts davon sehen lassen dürfen. Sogar die Bäume bedürfen, um zu gedeihen, der Bewegung durch den Wind. Dabei gilt eine Regel, die sich am kürzesten so ausdrücken lässt: Jede Bewegung ist eine umso wirksamere Bewegung, je schneller sie ist. Wie sehr unser Glück von der Heiterkeit der Stimmung und diese vom Gesundheitszustande abhängt, lehrt die Vergleichung des Eindrucks, den die nämlichen äußeren Verhältnisse, oder Vorfälle, am gesunden und rüstigen Tage auf uns machen, mit dem, welchen sie hervorbringen, wenn Kränklichkeit uns verdrießlich und ängstlich gestimmt hat. Nicht was die Dinge objektiv und wirklich sind, sondern was sie für uns, in unserer Auffassung, sind, macht uns glücklich oder unglücklich: Dies eben besagt Epiktets50: Nicht die Dinge, sondern die Meinungen über die Dinge erregen die Menschen. Überhaupt aber beruhen 9/10 unseres Glückes allein auf der Gesundheit. Mit ihr wird alles eine Quelle des Genusses: hingegen ist ohne sie kein äußeres Gut, welcher Art es auch sei, genießbar, und selbst die übrigen subjektiven Güter, die Eigenschaften des Geistes, Gemütes, Temperaments, werden durch Kränklichkeit herab gestimmt und sehr verkümmert. Demnach geschieht es nicht ohne Grund, dass man, vor allen Dingen, sich gegenwärtig nach dem Gesundheitszustande befragt und einander sich wohl zu befinden wünscht; denn wirklich ist dieses bei weitem die Hauptsache zum menschlichen Glück. Hieraus aber folgt, dass die größte aller Torheiten ist, seine Gesundheit aufzuopfern, für was es auch sei, für Erwerb, für Beförderung, für Gelehrsamkeit, für Ruhm, geschweige für Wollust und flüchtige Genüsse; vielmehr soll man ihr alles nachsetzen. So viel nun aber auch zu der, für unser Glück so wesentlichen Heiterkeit die Gesundheit beiträgt, so hängt jene doch nicht von dieser allein ab: denn auch bei vollkommener Gesundheit kann ein melancholisches Temperament und eine vorherrschend trübe Stimmung bestehen. Der letzte Grund davon liegt ohne Zweifel in der ursprünglichen und daher unabänderlichen Beschaffenheit des Organismus, und zwar zumeist in dem mehr oder minder normalen Verhältnis der Sensibilität zur Irritabilität51 und Reproduktionskraft. Abnormes Übergewicht der Sensibilität wird Ungleichheit der Stimmung, periodische übermäßige Heiterkeit und verwaltende Melancholie herbeiführen. Weil nun auch das Genie durch ein Übermaß der Nervenkraft, also der Sensibilität, bedingt ist; so hat Aristoteles ganz richtig bemerkt, dass alle ausgezeichnete und überlegene Menschen melancholisch seien. Alle diejenigen, die Ausgezeichnetes leisten, sei es nun in der Philosophie, der Politik, der Dichtkunst, oder den bildenden Künsten, scheinen Melancholiker zu sein. Ohne Zweifel ist dieses die Stelle, welche Cicero52 im Auge hatte, bei seinem oft angeführten Bericht: Aristoteles sagte, alle Genies seien melancholisch. Die hier in Betrachtung genommene, angeborene, große Verschiedenheit der Grundstimmung überhaupt aber hat Shakespeare53 sehr artig wie folgt geschildert: – Die Natur hat, in ihren Tagen, seltsame Käuze hervorgebracht, einige, die stets aus ihren Äugelein vergnügt hervorgucken und wie Papageien über einen Dudelsackspieler lachen, und andere von so sauertöpfischem Ansehen, dass sie ihre Zähne nicht durch ein Lächeln bloßlegen, wenn auch Nestor54 selbst schwüre, der Spaß sei lachenswert.

Eben dieser Unterschied ist es, den Plato55 durch die Ausdrücke Dyskolos und Eukolos56 bezeichnet. Derselbe lässt sich nicht zurückführen auf die bei verschiedenen Menschen sehr verschiedene Empfänglichkeit für angenehme und unangenehme Eindrücke, infolge welcher der eine noch lacht bei dem, was den andern fast zur Verzweiflung bringt: und zwar pflegt die Empfänglichkeit für angenehme Eindrücke desto schwächer zu sein, je stärker die für unangenehme ist, und umgekehrt. Nach gleicher Möglichkeit des glücklichen und des unglücklichen Ausgangs einer Angelegenheit, wird der Dyskolos beim unglücklichen sich ärgern oder grämen, beim glücklichen aber sich nicht freuen; der Eukolos hingegen wird über den unglücklichen sich freuen. Wenn dem Diskolos von zehn Vorhaben neun gelingen, so freut er sich nicht über diese, sondern ärgert sich über das eine misslungene: der Eukolos weiß im umgekehrten Fall, sich doch mit dem einen gelungenen zu trösten und aufzuheitern. – Wie nun aber nicht leicht ein Übel ohne alle Kompensation ist, so ergibt sich auch hier, dass die Diskolos, also die finstern und ängstlichen Charaktere, im Ganzen, zwar mehr imaginäre57, dafür aber weniger reale Unfälle und Leiden zu überstehen haben werden, als die heitern und sorglosen: denn wer alles schwarz sieht, stets das schlimmste befürchtet und demnach seine Vorkehrungen trifft, wird sich nicht so oft verrechnet haben, als wer stets den Dingen die heitere Farbe und Aussicht leiht. – Wenn jedoch eine krankhafte Affektion58 des Nervensystems, oder der Verdauungswerkzeuge, der angeborenen Dyskolia59 in die Hände arbeitet; dann kann diese den hohen Grad erreichen, wo dauerndes Missbehagen Lebensüberdruss erzeugt und demnach Hang zum Selbstmord entsteht. Diesen vermögen alsdann selbst die geringsten Unannehmlichkeiten zu veranlassen; ja, bei den höchsten Graden des Übels, bedarf es derselben nicht einmal; sondern bloß infolge des anhaltenden Missbehagens wird der Selbstmord beschlossen und alsdann mit so kühler Überlegung und fester Entschlossenheit ausgeführt, dass der meistens schon unter Aufsicht gestellte Kranke stets darauf gerichtet, den ersten unbewachten Augenblick benutzt, um, ohne Zaudern, Kampf und Zurückbeben, jenes ihm jetzt natürliche und willkommene Erleichterungsmittel zu ergreifen. Ausführliche Beschreibungen dieses Zustandes gibt Esquirol60, des maladies mentales61. Allerdings aber kann nach Umständen, auch der gesundeste und vielleicht selbst der heiterste Mensch sich zum Selbstmord entschließen, wenn nämlich die Größe der Leiden, oder des unausweichbar herannahenden Unglücks, die Schrecken des Todes überwältigt. Der Unterschied liegt allein in der verschiedenen Größe des dazu erforderlichen Anlasses, als welche mit der Dyskolia in umgekehrtem Verhältnis steht. Je größer diese ist, desto geringer kann jener sein, ja am Ende auf Null herabsinken: je größer hingegen die Eukolia62 und die sie unterstützende Gesundheit, desto mehr muss im Anlass liegen. Danach gibt es unzählige Abstufungen der Fälle zwischen den beiden Extremen des Selbstmordes, nämlich dem des rein aus krankhafter Steigerung der angeborenen Dyskolia entspringenden, und dem des Gesunden und Heiteren, ganz aus objektiven Gründen.

Der Gesundheit zum Teil verwandt ist die Schönheit. Wenn gleich dieser subjektive Vorzug nicht eigentlich unmittelbar zu unserm Glücke beiträgt, sondern bloß mittelbar, durch den Eindruck auf andere; so ist es doch von großer Wichtigkeit, auch im Manne. Schönheit ist ein offener Empfehlungsbrief, der die Herzen zum Voraus für uns gewinnt, daher gilt besonders von ihr der homerische63 Vers:

Unverwerflich ja sind der Unsterblichen ehrende Gaben.
Die sie selber verleihen und nach Willkür keiner empfänge.

Der allgemeine Überblick zeigt uns, als die beiden Feinde des menschlichen Glückes, den Schmerz und die Langeweile. Dazu noch lässt sich bemerken, dass, in dem Maße, als es uns glückt, vom einen derselben uns zu entfernen, wir dem andern uns nähern, und umgekehrt; sodass unser Leben wirklich eine stärkere, oder schwächere Oszillation64 zwischen ihnen darstellt. Dies entspringt daraus, dass beide in einem doppelten Antagonismus65 zu einander stehen, einem äußern, oder objektiven, und einem innern, oder subjektiven. Äußerlich nämlich gebiert Not und Entbehrung den Schmerz; hingegen Sicherheit und Überfluss die Langeweile. Demgemäß sehen wir die niedere Volksklasse in einem beständigen Kampf gegen die Not, also den Schmerz; die reiche und vornehme Welt hingegen in einem anhaltenden, oft wirklich verzweifelten Kampf gegen die Langeweile. Der innere, oder subjektive Antagonismus derselben aber beruht darauf, dass, im einzelnen Menschen, die Empfänglichkeit für das eine in entgegengesetztem Verhältnis zu der für das andere steht, indem sie durch das Maß seiner Geisteskräfte bestimmt wird. Nämlich Stumpfheit des Geistes ist durchgängig im Verein mit Stumpfheit der Empfindung und Mangel an Reizbarkeit, welche Beschaffenheit für Schmerzen und Betrübnisse jeder Art und Größe weniger empfänglich macht: aus eben dieser Geistesstumpfheit aber geht andererseits jene, auf zahllosen Gesichtern ausgeprägte, wie auch durch die beständig rege Aufmerksamkeit auf alle, selbst die kleinsten Vorgänge in der Außenwelt sich verratende innere Leerheit hervor, welche die wahre Quelle der Langenweile ist und stets nach äußerer Anregung lechzt, um Geist und Gemüt durch irgend etwas in Bewegung zu bringen. In der Wahl desselben ist sie daher nicht ekel; wie dies die Erbärmlichkeit der Zeitvertreibe bezeugt, zu denen man Menschen greifen sieht, im gleichen die Art ihrer Geselligkeit und Konversation, nicht weniger die vielen Türsteher und Fenstergucker. Hauptsächlich aus dieser inneren Leerheit entspringt die Sucht nach Gesellschaft, Zerstreuung, Vergnügen und Luxus jeder Art, welche viele zur Verschwendung und dann zum Elende führt. Vor diesem Elende bewahrt nichts so sicher, als der innere Reichtum, der Reichtum des Geistes: denn dieser lässt, je mehr er sich der Eminenz66 nähert, der Langenweile immer weniger Raum. Die unerschöpfliche Regsamkeit der Gedanken aber, ihr an den mannigfaltigen Erscheinungen der Innen- und Außenwelt sich stets erneuerndes Spiel, die Kraft und der Trieb zu immer andern Kombinationen derselben, sehen den eminenten67 Kopf, die Augenblicke der Abspannung abgerechnet, ganz, außer den Bereich der Langenweile. Andererseits nun aber hat die gesteigerte Intelligenz eine erhöhte Sensibilität zur unmittelbaren Bedingung, und größere Heftigkeit des Willens, also der Leidenschaftlichkeit zur Wurzel: aus ihrem Verein mit diesen erwächst nun eine viel größere Stärke aller Affekte6869Jede Dummheit leidet am Ekel vor sich selbst;70»des Narren Leben ist ärger, denn der Tod«. Demgemäß wird man, im Ganzen, finden, dass jeder in dem Maße gesellig ist, wie er geistig arm und überhaupt gemein ist. Denn man hat in der Welt nicht viel mehr, als die Wahl zwischen Einsamkeit und Gemeinheit. Die geselligsten aller Menschen sollen die Neger sein, wie sie eben auch intellektuell entschieden zurückstehen: nach Berichten aus Nord-Amerika, in Französischen Zeitungen, sperren die Schwarzen, Freie und Sklaven durcheinander, in großer Anzahl, sich in den engsten Raum zusammen, weil sie ihr schwarzes Stumpfnasengesicht nicht oft genug wiederholt erblicken können.