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Jan Roß

Die Verteidigung des Menschen

Warum Gott gebraucht wird

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Jan Roß

Jan Roß, 1965 in Hamburg geboren, ist Redakteur der «Zeit» und für die Koordination der außenpolitischen Berichterstattung zuständig. 1998 erschien «Die neuen Staatsfeinde», 2000 «Der Papst. Johannes Paul II. – Drama und Geheimnis», 2005, gemeinsam mit Richard von Weizsäcker, «Was für eine Welt wollen wir?» und 2008 «Was bleibt von uns? Das Ende der westlichen Weltherrschaft».

Über dieses Buch

Eine bisweilen hysterische Angst vor der Religion geht bei uns um – vor muslimischen Kopftüchern, Moscheen und Minaretten, vor bibeltreuen US-Reaktionären und einem stockkonservativen Papst, vor befremdlichen Bräuchen wie der Beschneidung. Zur Furcht kommt die Ignoranz: Aus dem herrschenden Bewusstsein ist die Glaubenstradition weithin verschwunden, auch die christliche. Wir leben nicht nur in einer Gesellschaft mit wachsender Religionsfeindschaft. Wir steuern auf eine Kultur des religiösen Analphabetismus zu. Dabei ist, wie Jan Roß zeigt, die Religion ihrem Wesen nach keine Gefahr für den Menschen, sondern im Gegenteil eine Bastion der Humanität. Die Suche nach Gott hat die kühnsten Gedanken inspiriert, die Ideen von Sünde, Ewigkeit und Gewissen haben unserem Selbstverständnis Tiefe gegeben. Religion ist eine Kraft, ohne die das Leben ärmer, enger und kälter wäre. Ihr zuerst verdanken wir die Utopie von Brüderlichkeit und Gleichheit. Die pure Diesseitigkeit dagegen legt dem Menschen Fesseln an und lässt ihn verkümmern. Eine provozierende Zeitdiagnose – und ein bewegendes Plädoyer für einen neuen religiösen Humanismus.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Frank Ortmann, Berlin

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-87134-722-1 (2. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-11291-9

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-11291-9

Meinen Eltern

Einleitung: Die gottlose Gesellschaft

Was weiß ich schon von Gott? Gott kann für sich selbst sorgen. Es ist der Mensch, um den es in diesem Buch geht. Nicht für Gott, für den Menschen ist die Religion da – um ihn frei, reich, tief, groß zu machen: menschlich. Dass der Mensch so ist und sein soll, kostbar und geheimnisvoll, etwas Besonderes, ist die Voraussetzung, von der hier ausgegangen wird. Wer sie nicht teilt, möge nicht weiterlesen; er wird auf den folgenden Seiten wenig finden, was ihn interessiert oder ihm einleuchtet. Dass der Mensch zu dieser Menschlichkeit die Religion braucht oder wenigstens sehr, sehr gut brauchen kann, das ist die These, die plausibel werden soll. Gott ist die Garantie der Humanität. Die gottlose Gesellschaft ist bedroht von Unmenschlichkeit.

Dagegen erheben sich sofort zwei Einwände: Man kann es abwegig finden, dass die Religion einen so wesentlichen Beitrag zum Menschsein leisten soll. Viele werden sie eher für irrelevant halten – oder sogar für unmenschlich. Das Buch wird versuchen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Der andere Einwand lautet: Das ist eine unechte, weichgespülte, bekenntnisschwache Verteidigung der Religion. Wenn sie nur dazu dient, ein Menschenbild zu stützen, wenn Gott lediglich als metaphysischer großer Bruder für den Menschen benötigt wird – dann kann von Glauben in Wahrheit nicht die Rede sein. Das ist bloß religiös angestrichener Humanismus, keine Religion.

Doch Vorsicht: Dieser Einwand sticht nur, wenn man es mit der Würde und Bedeutung des Menschen nicht ganz ernst meint. Wenn man von der Menschenmajestät wirklich überzeugt ist, wenn sie tatsächlich den Kern unseres Weltbildes darstellt und wenn sich dann zeigt, dass sie irgendwie mit Gott zusammenhängt – dann spricht das sehr für die Religion. Ein krachnüchterner, streng rationaler Philosoph wie Immanuel Kant hat auf einen ähnlichen Gedanken sein Argument für die Existenz Gottes aufgebaut. Ich vermag nicht zu beweisen, dass der Mensch so über die Maßen wichtig ist. Aber ich glaube es mit seltsamer, man könnte sagen: religiöser Gewissheit, und sicher auch viele Leser, denen der Glaube an Gott durchaus fernliegt.

Religion führt in unserer Gesellschaft eine aschenputtelhafte Existenz. Was denken wir, wenn im Restaurant am Nebentisch ein Tischgebet gesprochen wird? Wahrscheinlich haben wir es noch nie erlebt. Es wäre seltsam, peinlich; man wäre verlegener, als wenn man Gesprächsfetzen über Potenzstörungen oder einen betrügerischen Bankrott mitbekäme. Es würde exzentrisch oder sektenhaft wirken, demonstrativ, wie ein Bekehrungsversuch am falschen Ort: Sind wir hier bei den Zeugen Jehovas? Die Religion hat keinen Platz im normalen Sprechen und Leben unserer Zeit.

Die immer noch imponierende offizielle Stellung der Kirchen in unserem Land, mit Milliarden an Steuereinnahmen, staatlichem Religionsunterricht und garantierter Vertretung in den Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, ändert daran nichts. Es geht um kulturelle Marginalisierung. Kann ein Regisseur, der auf sich hält, die Gebetsszenen, Priesterauftritte, Heiligen Messen und frommen Bekenntnisse, von denen die Theater- und Opernliteratur voll ist, anders als ironisch, verzerrt, verfremdet auf die Bühne bringen? Wer kommt mit weniger Hänseleien und Einsamkeitsgefühlen durch die Schule – ein Kind, das einen «Kinderglauben» hat, oder eines, dem das alles von Anfang an und schon vom Elternhaus her als bloßer Märchenkram wie Weihnachtsmann und Osterhase gilt? Als Tony Blair britischer Regierungschef war, legten seine Berater großen Wert darauf, dass seine sonntäglichen Kirchgänge nicht von Fernsehteams gefilmt wurden. Das war kein Ausdruck von Bescheidenheit oder Diskretion, sondern nackte Angst: Glaubensakte in einem religionsfernen Land können Wähler vertreiben. Die private Frömmigkeit des Premierministers Ihrer Majestät wurde behandelt wie ein Laster oder eine Behinderung, die man vor den Augen der Öffentlichkeit verbergen musste.

Als im Sommer 2012 in Deutschland nach einem Gerichtsurteil ein Streit über die Zulässigkeit der Beschneidung muslimischer und jüdischer Jungen ausbrach, wurde das Ausmaß der gesellschaftlichen Entfremdung vom Phänomen der Religion schlagartig erkennbar. Regierung und Parlament bemühten sich zwar sofort, die Legalität eines Brauchs zu sichern, der nirgendwo auf der Welt verboten ist. Aber in der öffentlichen Meinung, besonders im niedrigschwelligen, enthemmungsfreundlichen Internet, war die Stimmung ganz anders. Die Mehrheit wollte nicht nur eine andere Güterabwägung und ließ die Religionsfreiheit der Eltern nicht als hinreichenden Rechtfertigungsgrund für die Körperverletzung am Kind gelten. Sondern bei vielen existierte gar kein Sinn mehr dafür, dass es hier überhaupt etwas abzuwägen gab und dass man auch nur auf die Idee kommen konnte, auf religiöse Lebensformen Rücksicht zu nehmen. Religion war für sie bloß Missbrauch und Aberglaube, und von dem jahrtausendealten, biblisch begründeten Ritus der Beschneidung schienen sie zum ersten Mal zu hören – verständnislos und entsetzt. Es war, als sei mitten in der Bundesrepublik ein Stamm von Menschenfressern entdeckt worden.

Die neue Abneigung gegen die Religion ist nicht chauvinistisch. Sie richtet sich tendenziell gegen alle Glaubensrichtungen – gegen das Kreuz im Klassenzimmer genauso wie gegen das Kopftuch der muslimischen Lehrerin; beim Beschneidungsstreit geriet auch das Judentum ins Visier. Die Islamophobie mag die stärkste, politisch brisanteste Form des Widerwillens gegen eine Glaubensgemeinschaft sein, aber letztlich ist sie nur der Spezialfall einer allgemeinen Religionsphobie. Religiöse Erscheinungen stoßen auf generelles Unverständnis, die «eigene», christliche Überlieferung nicht ausgenommen. Dass die Amerikaner allen Ernstes massenhaft in die Kirche gehen, davor steht der normale Europäer kaum weniger fassungslos als vor der Tatsache, dass man in Saudi-Arabien kein Bier kaufen kann. Wir leben nicht nur in einer Gesellschaft mit wachsender Religionsfeindschaft. Wir steuern auf eine Kultur des religiösen Analphabetismus zu.

Der Glaube, obwohl noch immer millionenfach gelebt, hat etwas Subkulturelles und Eingeschüchtertes angenommen. Früher, als die Priester mächtig waren und die weltlichen Herrscher sich auf die Kirche stützten, brauchte es Mut, die Religion anzugreifen oder ihre Dogmen zu bestreiten. Heute haben sich die Verhältnisse umgekehrt: Die Gottlosigkeit ist ungefährlich, mehrheitsfähig und naheliegend geworden, und es verlangt viel eher Courage, sich zum neuerdings kleinen und hässlichen Glauben zu bekennen. Das Genormte und das Unbequeme, Anpassung und Nonkonformismus haben beim Thema Religion die Seiten gewechselt.

Das ist kein Beweis für die Wahrheit der Religion. Dass eine Sache populär ist, muss nichts für ihre Richtigkeit besagen; umgekehrt tut es ihre Unpopularität, die vielleicht unschöne Geringschätzung, mit der sie behandelt wird, aber natürlich auch nicht. Der Prediger auf der Apfelsinenkiste im Stadtpark, über den sich die Leute lustig machen, muss deswegen noch kein echter Prophet sein. Doch eine gewisse Bockigkeit, diese Zeittendenz mitzumachen, mit den Wölfen zu heulen und mit den stärkeren Bataillonen zu marschieren, mag aus dem antireligiösen Konformismus resultieren: Das wollen wir doch mal sehen, ob der liebe Gott und seine Anhänger wirklich so unmöglich sind, wie die herrschende Meinung glaubt.

Mit der verbreiteten Art, die Religion beiseitezuschieben, ist ein Verlust verbunden. Es wird dadurch eine Welt von Haltungen und Ideen mitgetroffen, die selbst gar nicht im engeren Sinne religiös sind, aber zum Glauben in einer schwer zu fassenden, doch noch schwerer zu leugnenden Beziehung stehen. Etwa dass es absolute Wahrheiten gibt (nicht nur in der Mathematik), dass Gut und Böse nicht bloß Worte sind und man sich zwischen ihnen entscheiden muss, dass die Liebe «stark ist wie der Tod», wie es im Hohen Lied Salomos heißt. Das sind auch, wie der «Kinderglaube», irgendwie peinliche, nicht in die Zeit passende Vorstellungen, eines aufgeklärten Erwachsenen nicht würdig; sie stammen ja tatsächlich aus der Kindheit, der Menschheitskindheit einer tiefen geschichtlichen Vergangenheit und der Lebenskindheit eines jeden von uns. Es fragt sich nur, ob der erwachsene Abschied von alledem wirklich in jeder Hinsicht ein Fortschritt ist. Er könnte auch Ausdruck einer Feigheit sein, der Angst, sich zu blamieren, für etwas Großes und Schönes ein Risiko einzugehen und damit zu scheitern. Dann will man lieber auf der sicheren Seite sein, von Anfang an «realistisch», um nicht am Ende mit leeren Händen zurückzubleiben.

Es geschieht aber nichts Neues und Besonderes ohne eine gewisse Naivität und die Bereitschaft, am Schluss dumm dazustehen. Wer liebt, macht sich verwundbar; wer dichtet, kann verrissen werden; wer für die Freiheit kämpft, wird vielleicht ein paar Jahre nach dem Sieg über Diktatur oder Fremdherrschaft auf ein korruptes Land blicken und sagen müssen: Es hat sich nicht gelohnt. Uncoolness ist das Herz des Großen und Guten. Und die Religion ist der Gipfel der Uncoolness, der Inbegriff der Blamage- und Enttäuschungsmöglichkeit: Was, wenn es keinen Gott gibt, wenn er das Gebet nicht erhört, mit dem ich mich so hilflos exponiert habe, wenn mit dem Tod doch alles aus ist und das ewige Leben nicht stattfindet? Es ist eine Wette, und sie kann verloren werden. Aber eine Menschheit, die solche Wetten nicht mehr abschließt, die nicht mehr Kind sein will und auf keinen Fall Don Quijote, wird arm, eng und kalt.

In der Religion hat die Menschheit zuerst das Bedürfnis erlebt und erfüllt bekommen, über sich hinauszuwachsen. Hier hat sie angefangen, die großen Fragen zu stellen: nach Tod und Unsterblichkeit, nach Schuld und Vergebung, nach dem Universum. Seit Urzeiten und überall auf der Welt opfert der Mensch seinen Göttern, baut Altäre und Tempel, empfindet Scheu vor dem Heiligen. Religion gehört zum Kernbestand des Humanen und des Zivilisationsprozesses, sie ist eine Errungenschaft wie der aufrechte Gang, der Gebrauch von Feuer und Werkzeug, wie Sprache, Schrift und kulturelles Gedächtnis. Das sorgenvolle oder dankbare Aufblicken zum Himmel, das Ausgreifen nach dem Höheren ist dem Menschenwesen eigen, seit es gattungsgeschichtlich die Augen aufgeschlagen hat. Als Tier, das über das Wort verfügt, hat die griechische Philosophie den Menschen definiert; man könnte ihn mit ebenso viel Recht das Tier nennen, das betet.

Das ruhelose «Warum?», das Wissenschaft und Philosophie umtreibt, ist am frühesten in der Religion in Erscheinung getreten, und wo immer es bis an die äußerste Grenze getrieben wird, erreicht es wieder religiöse Dimensionen. Von den mathematischen Modellen der Urknall-Forscher führt eine lange, verwickelte, aber niemals abreißende Linie zurück zu den Schöpfungsmythen in der Morgendämmerung der Geschichte, zu den Welteschen, Sintfluten und aus verschütteter Göttermilch entstandenen Sternensystemen – hier wie dort geht es ums Ganze, um die letzten Antworten, um den Ursprung der Dinge. Der Mensch als moralisches Wesen, als Problem, mit dem er selbst nicht fertigwird, hat sich im Konflikt mit den Himmelsmächten entdeckt und entwickelt, beim Sündenfall im Paradies, als der Genuss des verbotenen Apfels Adam und Eva die Erkenntnis des Guten und Bösen brachte; auf dem Sinai, wo Mose von Jahwe die Zehn Gebote erhielt. Noch in den strikt atheistischen Weltanschauungen der Moderne bleibt die Auseinandersetzung mit dem Glauben als maßstabsetzendem Feindbild spürbar, als Goldstandard der Intensität – es sind Antireligionen und Ersatzreligionen, mit Darwin, Marx oder Freud als Propheten und Kultstiftern. Der Verzicht auf die Suche nach dem Absoluten, eine Welt ohne große Wahrheitsansprüche und religiöse Leidenschaften wäre nicht menschenwürdig. Sie wäre der Triumph der Banalität.

Die gesamte Sprache und Gedankenwelt, mit der sich der Mensch dem Großen, Ganzen und Guten zuwendet, ist von Grund auf religiös durchwachsen und durchtränkt. Religion kann die Wirklichkeit kathedralenartig überwölben und überhöhen, aber auch umstürzlerisch über sie hinausdrängen; sie hat Herrscher gesalbt – und Revolutionen beflügelt. Religion ist Fest – und Alternative. Wir haben uns angewöhnt, in ihr eine niederdrückende und bevormundende Kraft zu sehen, eine Instanz der Denkblockaden und Moralvorschriften. Der Fall Galilei und das Verbot der Pille sind die Muster. Die Enge im Namen des Glaubens gibt es, genauso wie es den Terror im Namen des Glaubens gibt, und beide sind schrecklich. Aber in ihrem Wesen, als menschliches Grundbedürfnis, ist Religion nicht Beschränktheit, sondern Weite. Wer den Vorstellungsballast einer verspießerten Frömmigkeit abwirft, kann einem außer Kurs gekommenen, im Grunde unbenutzbar gewordenen Wort wie «Jenseits» dieses schöne metaphysische Fernweh ablauschen. Die Philosophen nennen es Transzendenz – das Überschreiten.

«Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.» Das war meine Konfirmationslosung, aus dem Alten Testament, Buch der Sprüche, Kapitel 31, Vers 8. Ich werde den Eindruck nicht los: Darauf wäre der Mensch als reines Erdenwesen nicht gekommen. Es gibt kein Nützlichkeitskalkül, das ihm diese Anweisung gegeben haben könnte. Die Stummen und die Verlassenen sind kein Machtfaktor, nichts, was man aus wohlverstandenem Eigeninteresse in seine Rechnungen einstellen und worauf man Rücksicht nehmen müsste. Der Verstand, die Notwendigkeiten des Überlebens, das soziale Bedürfnis – nichts, womit man eine pur diesseitige Moral begründen könnte, vermag eine solche Forderung hervorzubringen. Dass der Mensch das Unwahrscheinliche, geradezu Unnatürliche tun soll – spricht nicht etwas dafür, dass ihm das von außen und von oben gesagt werden musste? Dieses «von außen» und «von oben», das ist die Religion. Im Sprachgebrauch der Theologie heißt die Sache, von der hier die Rede ist, Offenbarung: Gott redet zu den Menschen. Das klingt sehr fremd und mythologisch. Aber der Kern ist ganz einfach. Er besagt, dass wir das Teuerste und Beste nicht aus uns selbst haben. Es wurde uns geschenkt, auferlegt, anvertraut, wie immer man das eigentümliche Phänomen von menschlicher Empfänglichkeit und geheimnisvoller Urheberschaft bezeichnen möchte.

Dass man für die Stummen das Wort ergreifen und sich auf die Seite der Schwachen schlagen, dass man seinen Nächsten lieben soll: darin steckt etwas Paradoxes. Es lässt sich nicht vernünftig begründen, es ist unbequem, und oft gelingt es nicht. Zugleich ist es das ganz und gar Offensichtliche: Es hören, verstehen und sich darüber im Klaren sein, dass man zu gehorchen hat, sind eins. Das Gebot ist kein Ratschlag, keine Arbeitshypothese, kein Geschmacksurteil, es ist ein Befehl; dass es zutrifft und befolgt werden muss, das weiß man kein bisschen weniger sicher, als dass der Stein, den man hält, zu Boden fallen wird, wenn sich die Hand öffnet. Man weiß es nur anders. Hinter der Aufforderung zum Guten, die gänzlich machtlos zu sein scheint, steht zugleich eine unverbrüchliche, bezwingende Autorität. Man fragt sich, ob man eine dünne Flöte hört oder eine donnernde Orgel. Aber für die Religion ist es jedenfalls kein Tinnitus, keine Einbildung, kein Illusionsgeräusch im Kopf, sondern Musik. Sie dringt von außen an unser Ohr, und irgendwo muss sie gespielt werden und von jemandem.

Die Religionsfragen sind so mit Phrasenmüll zugeschüttet, mit lauter Nebensachen und Sekundärproblemen, dass man erst einmal die Substanz wieder freilegen muss: dass der Glaube ein Urphänomen der Menschheitsgeschichte ist, dass er tief in die Seele des Einzelnen hineinreicht, dass er durch tausend Fäden mit den großen Zusammenhängen unserer Kultur verbunden ist. Davon besteht im Augenblick kaum ein Bewusstsein, umso mehr dafür begegnet man kirchlicher und antikirchlicher Vereinsmeierei. Eine Gesellschaft, in der nur noch eine kleine Minderheit den Gottesdienst besucht, kann sich endlos darüber unterhalten, ob Frauen zu Priestern geweiht werden sollen, ob die Ehelosigkeit der katholischen Geistlichen abgeschafft gehört und ob die Kirche das Recht hat, gegen die Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften zu protestieren. Es ist ein hochprofessioneller und sterbenslangweiliger Debattierapparat, der mit der Erörterung dieser immer gleichen Gegenstände beschäftigt ist, und man muss ihn abschalten, um fruchtbar über Religion reden zu können. Die Schlüsselwörter eines ernstzunehmenden Religionsgesprächs lauten nicht «Zölibat», «Deutsche Bischofskonferenz» oder «lateinische Messe», sondern «Sünde», «Gott» und «Ewigkeit». Nur von den großen Glaubensfragen her gewinnt das Kirchliche und Kirchenpolitische seinen Sinn, sonst wird es leer und öde, ganz gleich, ob es mit orthodoxer oder «kritischer» Tendenz betrieben wird.

In seiner schlichtesten und grundsätzlichsten Form lässt sich der Streit um den Glauben auf die Frage nach Blindheit und Sehen bringen. Der Religionskritik gilt die Religion als Phänomen der Verblendung. Der Blick des Gläubigen ist getrübt, er hält Phantasien (wie Wunder) für die Wirklichkeit, er ist benebelt vom Fanatismus, den ihm der Ausschließlichkeitsanspruch seines Gottes eingibt. Ob Priesterbetrug, Opium des Volkes oder illusionäre Wunschvorstellung: Religion ist Verlust des Realitätssinns, und man muss sich von ihr befreien, um die Dinge endlich wahrzunehmen, wie sie sind.

Die Gegenthese lautet: Der Glaube sieht nicht weniger, sondern mehr. Es ist mit ihm wie mit der Liebe. Auch von ihr heißt es, dass sie blind macht, und in gewisser Weise trifft das zu. Doch letztlich, in einem tieferen Sinne, ist es umgekehrt: Die Liebe macht sehend, sie entdeckt, was der Gleichgültigkeit ewig verborgen bleibt; nur dem liebevollen Blick enthüllt sich das Wesen des Menschen. Die Liebe kann sich täuschen, aber die Lieblosigkeit ist die viel fundamentalere Unwahrheit: eine Welt ohne Licht, seelische Finsternis. So wäre auch die Religion in ihrem Kern kein Weniger-, sondern ein Mehr-Sehen, eine Offenheit für Überraschung und Geheimnis, ein komplexerer Begriff von Wirklichkeit. Wie der Unterschied von Fläche und Raum, von Schwarzweiß und Farbe.

Sehen wir zu.

Kapitel 1 Die Verteidigung des Menschen

Einmal habe ich vor einem Menschen gekniet. Es war im Frühjahr 2000, auf dem Petersplatz in Rom hatten sich Gläubige und Schaulustige versammelt, zur «Generalaudienz», bei der an jedem Mittwoch Gelegenheit besteht, den Papst, damals Johannes Paul II., zu sehen und zu hören. Durch die Vermittlung eines Kardinals hatten wir einen Platz in der «prima fila» bekommen, der «ersten Reihe» von Besuchern, die am Ende der Veranstaltung dem Papst kurz vorgestellt werden. Wir wurden, nachdem Johannes Paul II. seine Ansprache beendet und die Grüße von Pilgergruppen aus der ganzen Welt entgegengenommen hatte, zu einem thronartigen Sessel geleitet, auf dem Seine Heiligkeit uns erwartete. Man trat einzeln vor, der Papst bekam von einem Prälaten den Namen und die Bewandtnisse des Menschen genannt, der zu ihm geführt wurde, und dann – ja dann muss da ein Bänkchen oder eine Art Brett gewesen sein, auf dem ich mich niedergekniet habe. Ich weiß nicht mehr, ob ich dem Papst den Ring geküsst habe, sicher hat er mir seine Hand auf den Kopf gelegt und mich gesegnet; jedenfalls fand das alles statt, während ich kniete. Ein Fotograf der Vatikanzeitung «Osservatore Romano» stand dabei und hat es dokumentiert, damit wir Prima-Fila-Gäste einen Beweis für unsere Papstbegegnung als Andenken mit nach Hause nehmen konnten.

Das Merkwürdige an diesem Kniefall war: Er war nicht peinlich, erniedrigend oder irgendwie unangenehm. Er war in gewisser Weise unvermeidlich; der damals schon alte und kranke Johannes Paul II. konnte schließlich zur Segenspendung für seine Besucher nicht endlos stehen, und wenn nun einmal gesegnet werden sollte (was der Hauptzweck der ganzen Audienz ist), dann musste man als Segensempfänger seinen Kopf irgendwie auf die päpstliche Brusthöhe bringen, was nur durch Knien zu bewerkstelligen war. Aber das ist nicht der eigentliche Grund für die fehlende Beschämung gewesen. Ich hätte auch vor einem gesunden Johannes Paul II. ohne Bedenken gekniet. Vor der englischen Königin oder einem ganzen Saal voller Nobelpreisträger gewiss nicht. Worin besteht der Unterschied?

Nicht im historischen Rang von Johannes Paul II. Sicher, er war einer der größten Männer des 20. Jahrhunderts; die Befreiung Europas und der Welt vom Kommunismus ist zu einem erheblichen Teil sein Werk. Aber hätte ich, wenn eine Zeitmaschine mich in seine Gegenwart versetzt hätte, vor Winston Churchill gekniet, dem die Menschheit wegen seines Kampfes gegen Hitler mindestens so viel zu verdanken hat? Im Leben nicht. Was war bei der Szene auf dem Petersplatz anders?

Es hatte mit dem Amt des Papstes zu tun. Aber nicht mit seiner Würde, seiner Erhabenheit, seiner Vollmacht. Ich bin nicht katholisch, der Chef dieser Kirche hat mir nichts vorzuschreiben. Für Prunk und Pomp bin ich wenig empfänglich, für den langen geschichtlichen Atem, durch den sich der Katholizismus in seinen besten Zügen auszeichnet, sehr wohl – aber doch hoffentlich nicht so, dass ich deswegen irgendeine Freude an der Unterwerfung entwickeln könnte. Es war vielmehr die religiöse, priesterliche Natur des Amtes, die den Kniefall möglich machte. Der Papst ist nach dem Verständnis seiner Kirche «Stellvertreter Christi», was vielleicht verrückt klingt, aber einen klaren Sinn hat: Er ist nicht als Person wichtig, sondern als Repräsentant; er steht für etwas anderes, für einen anderen – vor dem zu knien keine Schande ist. Vor einem Menschen niederzufallen, ist unwürdig; es verstößt gegen die fundamentale, geschwisterliche Gleichheit, die wir alle miteinander teilen. Doch der Mensch war hier gar nicht gemeint.

Religion ermöglicht Verehrung ohne Scham, Demut ohne Demütigung. Mehr noch: Religion ermöglicht sogar Verehrung, die stolz macht; die nicht bloß nicht erniedrigt, sondern erhöht. In Großbritannien, in den USA und überhaupt in der englischsprachigen Welt ist es eine verbreitete Sitte, dass bei Aufführungen von Händels Oratorium «Der Messias» die Zuhörer aufstehen, sobald die ersten Takte des «Halleluja» erklingen, des triumphalen Chors, mit dem Gottes Herrschaft und Herrlichkeit gefeiert werden. Die Ursprünge des Brauchs sind obskur. Angeblich hat der englische König Georg II. sich bei der Londoner Erstaufführung des Stücks im März 1743 an dieser Stelle erhoben, und da die Untertanen nicht sitzen bleiben konnten, während ihr Souverän stand, schloss sich der gesamte Saal an. Das hätte sich dann durch die Jahrhunderte fortgesetzt. Es ist allerdings nicht dokumentiert, dass der Monarch bei dieser Aufführung des «Messias» überhaupt anwesend war, erst recht nicht, dass er aufgestanden ist – und wenn ja, warum: Vielleicht wollte er Gott oder Händels Kunst die Ehre erweisen, vielleicht nur seine Beine ausstrecken, und es gibt sogar die Theorie, dass der schwerhörige König eingeschlafen war und die lauten Töne, die ihn überraschend weckten, mit der Nationalhymne verwechselte.

Das Ganze ist jedenfalls ein hochgradig unzeitgemäßer, mit höfischen Überresten belasteter Brauch, und es scheint keinen vernünftigen Grund zu geben, daran festzuhalten. Nur dass er wunderbarerweise sehr schön ist. Ein Publikum, das sich beim «Halleluja» erhebt, ist ein majestätischer Anblick, und es macht stolz, Teil eines solchen Publikums zu sein. Die Musik und das, wovon sie spricht, wirken beflügelnd auf die Zuhörer, sie spüren einen Anhauch von Leben, Kraft und Größe, der sie über sich selbst hinaushebt. Wenn der Bundespräsident einen Raum betritt und die Anwesenden stehen auf, dann ist das ein (kleines, erträgliches) Opfer der eigenen Würde, ein Rest an Untertanenbescheidenheit. Wenn dagegen in der Kirche die Gemeinde aufsteht, dann bezeugt sie, dass der Mensch eine vertikale Dimension hat, dass er Gott Respekt bezeugt, aber dass er auch für das Höchste geschaffen und berufen ist, «capax Dei», gottfähig. Und wenn die Leute am Ende des Weihnachtsgottesdienstes mit voller Lautstärke, unter dem Donner der Orgel, «O du fröhliche» singen (auch das am besten stehend), dann feiern sie ihren Herrn und Erlöser. Doch sie werden nicht schwächer, indem sie die Stärke eines anderen anerkennen, sie werden selbst stärker.