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Schriftenreihe zur
Zeitschrift für Unternehmensgeschichte
Band 25

In Verbindung mit Hartmut Berghoff, Lothar Gall,
Carl-Ludwig Holtfrerich, Thomas Welskopp

Herausgegeben im Auftrag
der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte
von Christian Kleinschmidt, Werner Plumpe und Raymond Stokes

Georg Solmssen – ein deutscher Bankier

Briefe aus einem
halben Jahrhundert 1900–1956

Herausgegeben im Auftrag
der Historischen Gesellschaft der Deutschen Bank e.V.
von Harold James und Martin L. Müller

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

Inhalt

Vorwort

  I.    Einführung

Harold James
Georg Solmssen – eine biographische Annäherung

Martin L. Müller
Anmerkungen zur Edition

 II.   Die Edition

Verzeichnis der edierten Briefe und Vermerke

Briefe und Vermerke 1900–1956

III.   Anhang

Vita Georg Solmssens

Verzeichnis der Aufsichtsratsmandate Georg Solmssens in deutschen Aktiengesellschaften

Verzeichnis der Schriften Georg Solmssens

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Archive

Abkürzungsverzeichnis

Personenverzeichnis

Verzeichnis der Firmen und Institutionen

Bildnachweis

Danksagung

Vorwort

Die Geschichte der Deutschen Bank ist reich an bedeutenden Persönlichkeiten. Auch heute noch ein Begriff sind Männer wie Georg von Siemens, der erste Vorstandssprecher, Arthur von Gwinner, der «Außenminister» der Bank in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, Hermann J. Abs, der Architekt des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, und Alfred Herrhausen, der Visionär der Entschuldung der «Dritten Welt».

Geprägt wurde das deutsche Bankwesen aber auch durch Akteure, die in der Wahrnehmung ihrer Zeit kaum hinter den Genannten zurückstanden, ihnen häufig ebenbürtig waren, heute aber vergessen sind. Es ist eine wichtige Aufgabe der Geschichtswissenschaft, Verzerrungen des kollektiven Gedächtnisses zu relativieren und zu korrigieren. Dies ist beispielsweise Avraham Barkai mit seiner 2005 erschienenen Biographie über Oscar Wassermann, der von 1923 bis 1933 an der Spitze der Deutschen Bank stand, aber längst nur noch Fachleuten ein Begriff war, in vorbildlicher Weise gelungen.

Eine weitere Persönlichkeit, die Wassermanns Schicksal des Vergessenwerdens teilte, ist Georg Solmssen. Dies ist erstaunlich, denn Solmssen zählte in einer der entscheidenden Phasen der jüngeren deutschen Geschichte, den Jahren des Beginns der Weltwirtschaftskrise bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten, zu den einflussreichsten deutschen Bankiers und stand ihrer wichtigsten Interessenvertretung, dem Centralverband des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes, vor.

Georg Solmssen stammte aus einer jüdischen Familie, die seit 1863 über drei Generationen an der Entwicklung der deutschen Wirtschaft beteiligt war. Sein Vater und sein Cousin hatten an führender Stelle der Disconto-Gesellschaft gestanden. Er selbst war 1911 in den Kreis der Geschäftsinhaber, wie das oberste Führungsgremium der angesehensten der Berliner Großbanken bezeichnet wurde, eingetreten. Schon ein Jahrzehnt zuvor hatte er sich entschlossen, seinen Geburtsnamen «Salomonsohn» abzulegen und zum Protestantismus überzutreten. Als Bankier wollte Solmssen einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der deutschen Wirtschaft leisten. Dies galt insbesondere nach der Niederlage des Ersten Weltkrieges, deren Folgen er im Rheinland, wo er zwischen 1914 und 1924 hauptsächlich wirkte, besonders schmerzlich erfuhr. Er war Sachverständiger bei den Waffenstillstandsverhandlungen in Spa und kämpfte auf wirtschaftlichem Gebiet gegen die Abspaltung des Rheinlands vom Reich. Das Angebot Walther Rathenaus, das Reichsfinanzministerium zu übernehmen, lehnte Solmssen indes ab. Er zweifelte vor allem an der politischen Durchsetzbarkeit seiner Vorstellungen und glaubte, auf dem Feld der Wirtschaft mehr erreichen zu können. Zu seinen größten Erfolgen in der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik gehörten der Wiederanschluss Deutschlands an die telegraphischen Fernverbindungen und die Fusion zwischen seiner Disconto-Gesellschaft und der Deutschen Bank, die er mitverhandelt hatte.

In den frühen 1930er Jahren stand Solmssen auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Die Weltwirtschaftskrise und die sich anschließende Bankenkrise, die den Aufstieg der NSDAP begünstigten, gefährdeten allerdings seine eigene und die Lebensleistung seiner Familie. Vehement wandte er sich gegen den Vorwurf, dass die «Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft» die Bankenkrise verschärft habe, weil sie der angeschlagenen Danatbank die Unterstützung verweigert habe. Vielmehr sah er in deren aggressivem Expansionskurs eine der wesentlichen Krisenursachen. Nicht weniger energisch warnte er vor den Nationalsozialisten, deren größte Gefahr er jedoch irrtümlicherweise in ihrem Wirtschaftsprogramm zu erkennen glaubte. Seine Bemühungen um eine wirtschaftsfreundliche konservative Bewegung, die – im Unterschied zu Hugenbergs DNVP – die Weimarer Verfassung akzeptierte, blieben allerdings ohne Erfolg.

Klarer als viele andere erkannte Solmssen bereits im Frühjahr 1933, wohin die antisemitische Politik der nationalsozialistischen Machthaber führen sollte. Dennoch war für ihn die Erfahrung, dass er trotz seines vorbehaltlosen Bekenntnisses zu Deutschland und trotz seiner Konvertierung zum Protestantismus von der systematischen Ausgrenzung der Juden betroffen war, schmerzhaft. Jahrelang rang er um seine Position in seiner Bank und in der deutschen Wirtschaft, bevor er sich 1938 entschloss, in die Schweiz zu emigrieren. Dort verlebte er noch fast zwei Jahrzehnte in seinem Haus am Zürcher See. Wenn ihn auch Deutschlands Schicksal noch immer stark beschäftigte, deutschen Boden betrat er nie mehr.

Der mit dieser Edition vorgelegte Briefwechsel erlaubt unmittelbare Einsichten in ein halbes Jahrhundert deutscher Finanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte. Wichtige und bislang verstreute Quellen werden hiermit für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung leicht zugänglich. Die Historische Gesellschaft der Deutschen Bank freut sich, mit dieser von ihr in Auftrag gegebenen Sammlung das Leben und Wirken eines bedeutenden Bankiers und einer herausragenden Persönlichkeit aus der Geschichte der Deutschen Bank wieder in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit zu bringen.

Clemens Börsig

Erster Vorsitzender der Historischen Gesellschaft
der Deutschen Bank e.V.
und Vorsitzender des Aufsichtsrats
der Deutschen Bank

Über die Autoren

Harold James ist Professor für Geschichte und Internationale Beziehungen sowie Direktor des Programms für Neuzeitliche Europäische Studien an der Princeton University.

Martin L. Müller ist Historiker und Leiter des Historischen Instituts der Deutschen Bank in Frankfurt am Main.

Zum Buch

Georg Solmssen entstammte einer berühmten deutsch-jüdischen Bankiersfamilie. Im Jahr 1900 trat er in die von seinem Vater mitgeprägte Disconto-Gesellschaft ein und wurde zu einem der einflussreichsten deutschen Bankiers seiner Zeit. Er bereitete die Fusion mit der Deutschen Bank vor und gehörte seit 1929 dem Vorstand der neuen «Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft» an. 1933 wurde er zwar noch deren Vorstandssprecher, musste sich aber schon im folgenden Jahr von diesem Amt zurückziehen. In der Schweiz fand er 1938 Zuflucht. Sein mit dieser Edition vorgelegter Briefwechsel erlaubt unmittelbare Einsichten in ein halbes Jahrhundert deutscher Finanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte und macht wichtige, bislang verstreute Quellen erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich.

I. Einführung

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Georg Solmssen, Porträt aus den 1920er Jahren

II. Die Edition

III. Anhang

Harold James

Georg Solmssen – eine biographische Annäherung*

Georg Solmssen war ein sehr einflussreicher Bankier der Weimarer Republik. Er verkörperte das typischste oder charakteristischste Geschäftsfeld der Universalbank deutscher Tradition: die Industriefinanzierung durch Bankkredite und Emission von Aktien und Anleihen. Im Jahr 1933 wurde er für kurze Zeit Vorstandssprecher der damals mit Abstand größten deutschen Bank, der Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft. Aber das ist nicht der Hauptgrund, dass er zu den herausragenden Persönlichkeiten in der Geschichte Deutschlands zwischen den Weltkriegen gehört. Heute ist er vielleicht am bekanntesten als Verfasser eines bewegenden, prophetischen Briefs, in dem er am 9. April 1933 nicht nur die Endziele Hitlers, sondern auch die Eigenart der Unterstützung der Nazis durch die Deutschen mit geradezu unheimlich sicherem Gespür beschrieb. In diesem Brief an den Aufsichtsratsvorsitzenden der Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft, Franz Urbig, hieß es unter anderem: «Die Ausstoßung der Juden aus dem Staatsdienst, die nunmehr durch Gesetz vollzogen ist, drängt die Frage auf, welche weiteren Folgen sich an diese, auch von dem gebildeten Teile des Volkes gleichsam als selbstverständlich hingenommenen Maßnahmen für die private Wirtschaft knüpfen werden. Ich fürchte, wir stehen erst am Anfange einer Entwicklung, welche zielbewußt, nach wohlangelegtem Plane auf wirtschaftliche und moralische Vernichtung aller in Deutschland lebenden Angehörigen der jüdischen Rasse, und zwar völlig unterschiedslos, gerichtet ist. Die völlige Passivität der nicht zur nationalsozialistischen Partei gehörigen Klassen, der Mangel jeden Solidaritätsgefühls, der auf Seite [!] aller derer zu Tage tritt, die bisher in den fraglichen Berufen mit jüdischen Kollegen Schulter an Schulter gearbeitet haben, der immer deutlicher werdende Drang, aus dem Freiwerden von Posten selbst Nutzen zu ziehen und das Totschweigen der Schmach und des Schadens, die unheilbar allen denen zugefügt werden, die, obgleich schuldlos, von heute auf morgen die Grundlagen ihrer Ehre und Existenz vernichtet sehen – alles dieses zeigt eine so hoffnungslose Lage, daß es verfehlt wäre, den Dingen nicht ohne jeden Beschönigungs-Versuch in’s Gesicht zu sehen.»[1]

Dieser Brief ist deshalb so aufschlussreich und ein Zeugnis der Ironie des Schicksals, weil er von jemandem geschrieben wurde, der nicht nur zutiefst patriotisch, sondern gelegentlich auch ganz unverhohlen nationalistisch war. Tatsächlich wird Solmssen in der allgemeinen deutschen Geschichtsschreibung weniger als typischer Repräsentant der Gattung Bankier gesehen, sondern als Musterbeispiel eines Vertreters der assimilierten und integrierten deutsch-jüdischen Elite – jenes Typus, den Chaim Waizmann abfällig als «Kaiserjuden» bezeichnete.[2] Solmssen war vor allem deshalb stolz darauf, Deutscher zu sein, weil er an eine einzigartige deutsche Tradition der Toleranz und Assimilation glaubte.

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Georg Solmssen (1869–1957)

Georg Solmssen entstammte einer berühmten deutsch-jüdischen Bankiersdynastie. Am 7. August 1869 in Berlin geboren, war er der Sohn einer der Pioniere des modernen deutschen Bankwesens. Sein Vater, Adolph Salomonsohn, stammte aus einer alteingesessenen Rabbiner-Familie. Adolph kam 1831 als Abraham Salomonsohn in Inowrocław (Hohensalza) in der Provinz Posen zur Welt, wo sein Vater Kaufmann war. Statt einer Talmudschule besuchte er jedoch eine der neuen preußischen Reformschulen (Gymnasium), und statt in die Wirtschaft ging er ins staatliche Justizwesen. David Hansemann, der 1851 die Disconto-Gesellschaft gründete, die zum Prototyp einer neuen – auf Industriefinanzierung spezialisierten – Spielart der deutschen Universalbank werden sollte, versuchte mehrfach, Salomonsohn als Mitarbeiter für die neue Bank zu gewinnen. Doch erst 1863, nachdem Salomonsohn die Ernennung zum Notar in Cosel angenommen hatte und anschließend vom preußischen Justizminister mit einer abfälligen Bemerkung über seine Familie gedemütigt worden war, erklärte er sich einverstanden und wurde Syndikus der Bank. Hansemann bemerkte dazu: «Die staatliche Zwangsjacke ist für Sie zu eng».[3] Drei Jahre später erhielt er Prokura, und 1869, am Vorabend des Krieges zwischen Frankreich und Preußen und der staatlichen Einigung Deutschlands, wurde er in den Kreis der Geschäftsinhaber der Bank aufgenommen.

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Adolph Salomonsohn (1831–1919)

Die Disconto-Gesellschaft war ein konservativeres Institut als die in den 1870er Jahren gegründeten großen Universalbanken, die Deutsche und die Dresdner. Sie glich mehr einer banque d’affaires französischer Prägung, die eher auf Teilhaberschaft (direkter persönlicher Führungsverantwortung) als auf einem angestellten geschäftsführenden Vorstand basierte, und sie wies darüber hinaus ein starkes familiäres Element auf (wie die traditionsreichen Privatbanken der Rothschilds und Bleichröders). Das in dieser Tradition geführte Bankgeschäft war eine sehr persönliche Angelegenheit. Adolph Salomonsohn engagierte sich stark in dem neuen Geschäftsfeld der Industriefinanzierung, und er spielte eine entscheidende Rolle bei der Finanzierung der Gotthard-Bahn und der Bereitstellung von Krediten für die Gelsenkirchener Bergwerks-AG. Auch wenn er 1888 als Geschäftsinhaber der Bank ausschied, stand er dem Generaldirektor der Gelsenkirchener Bergwerks-AG, Emil Kirdorf, weiterhin sehr nahe, und sein Sohn Georg führte diese Beziehung fort. Außrdem blieb Adolph im Aufsichtsrat der Disconto-Gesellschaft. Georg Solmssen rühmte später die Verbindung der «Schriftlichkeit» mit dem Kollegialitätsprinzip, und er sah darin den Ausdruck einer «aristokratischen Geschäftsauffassung».[4] Adolphs Neffe Arthur Salomonsohn (1859–1930) stammte ebenfalls aus Inowroclaw und wurde 1895 Geschäftsinhaber der Disconto-Gesellschaft. Wie sein Onkel unterhielt er enge Geschäftsbeziehungen zur Schwerindustrie an Rhein und Ruhr.

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Arthur Salomonsohn (1859–1930)

Georg Adolf Salomonsohn (Solmssen) folgte dem Beispiel seines Vaters. Er sog die Traditionen des Bankgeschäfts gleichsam mit der Muttermilch ein, da er die ersten Lebensjahre in der Wohnung seines Vaters im Gebäude der Disconto-Gesellschaft verbrachte (bis Umbauten zum Auszug der Geschäftsinhaber aus der Bankzentrale führten). Schließich studierte Georg Jura und trat in den preußschen Staatsdienst ein, der am ehesten seiner Lebensauffassung entsprach, die auf Ordnung und Disziplin beruhte. Für den preußschen Staat verfasste er eine Studie über die gesetzlichen Regelungen über Baudarlehen in den USA (und insbesondere über den Schutz der Interessen der Arbeiter im Fall des Konkurses eines Bauunternehmens), und zu diesem Zweck hielt er sich 18 Monate in den Vereinigten Staaten auf. Das Projekt bildete auch die Grundlage für seine juristische Dissertation; Salomonsohns Arbeit beeinflusste die preußische und deutsche Gesetzgebung zur Baufinanzierung.[5]

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Disconto-Gesellschaft in Berlin, Unter den Linden 35, um 1900

Salomonsohn ging auf dem Weg zur Assimilation weiter als sein Vater, der zwar Jude blieb, aber seinen Vornamen so änderte, dass er deutscher und protestantischer klang und an den protestantischen Helden Gustavus Adolphus aus dem 17. Jahrhundert erinnerte (Adolphs Förderer, David Hansemann, nannte seinen Sohn, vielleicht zufälligerweise, ebenfalls Adolph). Am 2. April 1900 wurde Georg protestantisch getauft, und am 10. August desselben Jahres änderte er seinen Familiennamen von Salomonsohn zu Solmssen. Da er zur gleichen Zeit aus dem Staatsdienst ausschied und in die Disconto-Gesellschaft, in der seine Familie tätig war, eintrat, steht zu vermuten, dass es wegen seines Konfessionswechsels zu keinen größeren Reibungen mit seinem Vater oder seinem Cousin gekommen ist.

Im Jahr 1907 heiratete er Giulietta («Etta») Aselmeyer, die Tochter eines wohlhabenden protestantischen deutschen Baumwollfabrikanten und Bankiers, Karl oder Carlo Aselmeyer. Diese deutsche Familie war seit der napoleonischen Zeit in Neapel ansässig, wo Friedrich Julius Aselmeyer eine Baumwollspinnerei gegründet hatte. Als seine Tochter heiratete, hatte Karl gerade das prachtvolle Castello Aselmeyer bezogen, einen Palast im Neo-Tudor-Stil, der von dem Architekten Lamont Young entworfen worden war. Durch Aselmeyer erhielt sein Schwiegersohn Zugang zu einem weltweiten Netz von Kontakten: So pflegte er insbesondere enge geschäftliche Beziehungen zur britischen Kap-Kolonie in Südafrika.[6] Der erste Sohn, Harald, kam 1908 zur Welt, und der zweite, Ulrich, folgte 1909.

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Etta und Georg Solmssen um 1907

Georg Solmssen war ein höchst korrekter Mensch, der «frisch und modern»[7] aber auch sehr verschlossen wirkte. Zumindest in seinen erhalten gebliebenen Briefen (die nicht sehr persönlich sind) und in seinen zahlreichen öffentlichen Vorträgen und Reden sprach er nie über das Thema Glauben. Dies bedeutet selbstverständlich nicht unbedingt, dass er ungläubig gewesen wäre, aber weder das Judentum noch der Protestantismus scheinen tiefere Spuren bei ihm hinterlassen zu haben. Sofern ihn überhaupt irgendein Aspekt des preußischen Protestantismus beeinflusste, war dies die Idee, die Religion in den Dienst des Staates zu stellen. Sein tief verwurzeltes Arbeitsethos war im Grunde ein säkularer Ausdruck religiösen Tatendrangs. Das einzige Bibelzitat, das in seinen Veröffentlichungen – und auch in seiner erhaltenen Korrespondenz – auftaucht, findet sich in der Einleitung zu seiner zweibändigen Aufsatzsammlung, die 1934, während der Nazi-Diktatur, unter sehr schwierigen Umständen veröffentlicht wurde. Es ist ein Vers aus dem Buch Genesis (der von Johann Christian und Johann Sebastian Bach auf sehr berührende Weise vertont wurde und auch das Sujet eines bewegenden Rembrandt-Gemäldes ist, das in der Berliner Staatsgalerie hängt); dort sagt Jakob zu dem geheimnisvollen, starken Wesen, das mit ihm gerungen hat und das sich als ein Engel des Herrn erweist: «Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.»[8] Daraufhin antwortete der Engel: «Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und gewonnen.» Solmssen interpretierte diese biblische Forderung nach einem göttlichen Segen als eine Aussage über die Beziehung des Einzelnen nicht zu Gott, sondern zum Vaterland. «Nur Befolgung des Grundsatzes unverbrüchlicher Treue zum Vaterlande kann ihm [dem Deutschen] die Kraft geben, der Bedrängnisse Herr zu werden, mit denen er und die Seinen zu kämpfen haben.» Solmssen wollte von Deutschland, nicht von Gott, gesegnet werden, und Deutschland wies ihn letztlich zurück.

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Rembrandt, Jakob ringt mit dem Engel, Gemäldegalerie der Staatlichen Museen, Berlin

Während des Ersten Weltkrieges kristallisierte sich Solmssens politische Einstellung heraus. Wie viele konservative deutsche Wirtschaftsführer sah er im Krieg zunächst eine Chance, Deutschland in den Rang einer Weltmacht zu heben. Insbesondere bei der Ausdehnung der deutschen Macht- und Einflusssphäre in Belgien sowie in Südosteuropa spielten er und seine Bank eine Rolle. Belgien hatte einen großen Stellenwert für den deutschen Außenhandel. Vor 1914 hatten sich viele Deutsche (und Amerikaner) darüber geärgert, dass sich Großbritannien durch den Aufbau eines Akzeptmarktes in der Londoner City eine Vormachtstellung auf dem globalen Markt für Finanztransaktionen gesichert hatte. Einer der Hauptgründe dafür, dass sich New Yorker Banken für die Gründung einer neuen Zentralbank (aus der das Federal Reserve System hervorgehen sollte) stark machten, war die Hoffnung, New York könne den Akzeptmarkt übernehmen.[9] Paul Warburg, der jüngere Bruder des Inhabers von M. M. Warburg in Hamburg, spielte nicht nur bei der Planung der Federal Reserve, sondern auch bei der Gründung einer neuen International Acceptance Bank (im Jahr 1921), die New York zu dem Weltfinanzzentrum machen sollte, eine entscheidende Rolle. Die gleichen Chancen versprach sich Solmssen vom Aufbau eines geschäftlichen Standbeins in Belgien, das im Zentrum der wirtschaftlichen Entwicklung Kontinentaleuropas stehen sollte, da belgische Häfen (insbesondere Antwerpen) aufgrund ihrer Lage besser geeignet wären als Hamburg oder Bremen, den europäischen Markt zu erschließen; und Brüssel war bereits ein bedeutendes Finanzzentrum. Die Verbindung der Finanzkraft Deutschlands mit der belgischen Expertise im Bereich Handelsfinanzierung sollte die Basis für eine neue Mobilisierung ökonomischer Ressourcen in Kontinentaleuropa schaffen. «Fasst man den Krieg als die Auseinandersetzung zwischen uns und England um die paritätische Stellung im Welthandel auf, so ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, die in Belgien gewonnene Basis der Kanalküste wenn möglich bis Calais zu erweitern, sie zum Ausgangspunkte des freien Weges zum Ocean zu machen und Antwerpen zu dem uns von London emancipierenden Remboursplatze auszugestalten.»[10]

Obgleich er in dem militärischen Konflikt hauptsächlich ein Ringen um ökonomische Ressourcen sah, wollte er keine Annektierung Belgiens, wie es einige der deutschen Ultra-Imperialisten in Betracht zogen. Dies würde nur in größerem Maßstab die Probleme reproduzieren, auf die Deutschland bei den französischsprachigen und katholischen (und daher ultramontanen) Bevölkerungsgruppen im Elsaß und in Lothringen gestoßen war. Stattdessen wollte er, dass Belgien, unter seinem eigenen Herrscher, zwar vollständig autonom bleibe, aber in den Rahmen einer Zoll- und Währungsunion eingebunden werde, die eine Annäherung der Sozialsysteme und Sozialleistungen mit sich bringen solle, sodass die Arbeitskosten in Belgien auf das deutsche Niveau steigen würden. Dies hört sich eher nach einer Vorwegnahme von Ideen an, die der Europäischen Union zugrunde liegen, als nach einem militaristischen deutschen Imperialismus.

Die Ansichten, die Solmssen damals zum Ausdruck brachte, waren auch nuancierter als die «Gott strafe Engeland»-Rhetorik der Nationalisten. In den Reden, die er während des Krieges hielt, stellte er die beiden Länder vielmehr in differenzierter Weise einander gegenüber: Die Macht Englands basiere auf seiner politischen Zentralisierung, während die Stärke Deutschlands in seiner Vielfalt und seinen föderalen Traditionen liege. «Was in der Vergangenheit Deutschlands Unglück gewesen war, das wurde ihm jetzt zum Segen.» Deutschland sei «kosmopolitisch» und offen.[11]

Im Hinblick auf Südosteuropa war die entscheidende Zukunftsfrage – aber auch der wesentliche Punkt für die Umsetzung der deutschen Kriegspläne – der Zugriff auf Energieressourcen, insbesondere die Kontrolle über die rumänischen Erdölfelder. Die rivalisierenden Großmächte lieferten sich hier einen Wettstreit, der auch zu Konflikten zwischen den Unternehmen führte, die sich um die geschäftliche Seite kümmerten. Die Disconto-Gesellschaft hatte vor dem Ersten Weltkrieg eng mit Rumänien zusammengearbeitet und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vergeblich versucht, mit Standard Oil die weltweit führende Mineralölgesellschaft ins Boot zu holen, um die rumänischen Förderkapazitäten deutlich auszuweiten. Vor allem ab 1916, als Deutschland auf eine dauerhaft mobilisierte Kriegswirtschaft umstellte, kam es zu einem heftigen Konkurrenzkampf zwischen den deutschen Banken, der Disconto-Gesellschaft, die sich dabei der Deutschen Erdöl-Aktiengesellschaft (DEA) bediente, und der Deutschen Bank, die sich über die Deutsche Petroleum-Aktiengesellschaft (DPAG) engagierte. Im Jahr 1916 befürchtete die wichtigste Führungsfigur der DEA, der brillante, autodidaktisch geschulte Ingenieur Rudolf Nöllenburg, kurzzeitig, die Disconto-Gesellschaft besitze nicht genug Finanzkraft, um eine komplexe neue Raffinerie in Rumänien zu errichten, und flirtete daher mit der Deutschen Bank. Infolgedessen begann die DPAG im Jahr 1916 eine Kapitalbeteiligung an der DEA zu erwerben; und im Jahr 1917 eröffnete die Deutsche Bank Geschäftsstellen in Sofia und Bukarest. Daraufhin mobilisierte die Disconto-Gesellschaft ihr eigenes Netzwerk an Banken, um die Herausforderung durch die Deutsche Bank abzuwehren. Die Disconto-Gesellschaft hielt einen Teil ihrer Beteiligungen an der DEA nicht direkt, sondern über den alteingesessenen Kölner A. Schaaffhausen’schen Bankverein; doch wurde eine größere Zahl an Regionalbanken eingebunden, um ein Gegengewicht gegen die Deutsche Bank zu bilden.[12] Solmssen argwöhnte, dass die deutsche Regierung die Deutsche Bank bevorzuge, die viel enger mit der politischen Welt verbunden war, vor allem über ihren tatkräftigen jungen Vorstand Emil Georg von Stauß, der mit der Tochter des Admirals von Müller verheiratet war. Nöllenburg begann jetzt, sich von dem rumänischen Projekt zu verabschieden und der Frage nachzugehen, ob sich deutsche Braunkohle als Ausgangsstoff für die Herstellung von Mineralöl eigne.

Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs und dem Ende des Kriegs exponierte sich Solmssen sehr viel stärker als bisher in der Öffentlichkeit. In einer glühenden Rede im Januar 1919 gab er, in Übereinstimmung mit den Überzeugungen der politischen Rechten, der Sozialdemokratie die Schuld an der deutschen Niederlage.[13] Schon im Dezember 1918 war er in die deutsche Waffenstillstandskommission berufen worden, die in Spa unter Leitung des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger verhandelte, und er erlebte aus eigener Anschauung die Ohnmacht und die Demütigung des republikanischen Deutschlands: eine Erfahrung, die seine politische Einstellung dauerhaft prägte.

In einer militant nationalistischen Rede vor dem Deutschen Bankiertag im Oktober 1920 über den Zustand des deutschen Finanzwesens nach dem Krieg skizzierte Solmssen die Gefahr eines vollständigen wirtschaftlichen Zusammenbruchs mit einer gewaltigen Hungersnot und Lebensverhältnissen, die schlimmer wären als in Russland. Er unterstützte uneingeschränkt Keynes’ Kritik am Versailler Vertrag und an der Heuchelei von Präsident Woodrow Wilson. Er griff die «Kriegsschuldklausel» von Artikel 231 an und forderte eine Konzertierung der nationalen Anstrengungen zur Bewältigung der Finanzkrise.[14] Er war zutiefst konservativ und verkündete nach der Auflösung des Kaiserreichs, die Farben Schwarz-Weiß-Rot (das heißt die Flagge des kaiserlichen, nicht des republikanischen Deutschlands) seien das Symbol der Zukunft. Aber er riet auch zu Nüchternheit und kritisierte den wilhelminischen Byzantinismus. In einer Gedenkbroschüre für seinen Vater unterstrich er, Titel und Orden hätten dem großen Bankier nichts bedeutet, sie seien bloß «Schall und Rauch» gewesen.[15]

In einem 1920 erschienenen Zeitungsartikel, in dem er die Korruption in Deutschland gnadenlos anprangerte, sah er deren Ursachen in der politischen Kultur Deutschlands nach Bismarck. «Verzweifelt müssen wir die unbegreiflich erscheinende Tatsache feststellen, daß im deutschen Reiche für Geld heute alles zu haben ist und die korrumpierende Lasterhaftigkeit sich öffentlich mit ihren Erfolgen bläht. Wir haben das Schämen verlernt.» Die Ursachen der tiefen moralischen Krise lagen seines Erachtens in der Führung des wilhelminischen Deutschlands und im «Untertanengeist»: «Knechtisches Lakaientum, in unteroffiziermäßiger Strammheit erstarrtes Denken, geistige Charakterlosigkeit ärgster Art, das waren die Merkmale der Umgebung der Spitzen des Staates in allen Sektionen seiner behördlichen Teilung und über diese hinaus in dem gesamten gesellschaftlichen Aufbau, der durch die allerhöchste Spitze gekrönt war.»[16] Wilhelm II. hatte seines Erachtens die althergebrachten preußischen Tugenden – Genügsamkeit und Fleiß – untergraben.

Solmssen sah in der Genügsamkeit den einzigen Weg aus dem Sumpf, und er identifizierte sich rückhaltlos mit preußischen Tugenden statt mit der katholischen Bequemlichkeit des Rheinlandes. So schrieb er an den Kölner Bankier Johann Heinrich von Stein: «Wir werden uns hoch hungern müssen und, wie schon so manches Mal in der Vergangenheit, werden die zähen Märker und Ostpreussen wieder diejenigen sein, denen die Ausbildung von Persönlichkeiten und Charakteren zufällt, denen die Sache alles und das eigne Wohl nichts ist. Bis jetzt hat in der Geschichte immer nur die Idee gesiegt, die aber noch nie dort emporgesprosst ist, wo es allen wohl erging.»[17]

Solmssens Groll gegen die Alliierten wurde zweifellos durch seine persönlichen Erfahrungen verstärkt. Ein Teil seines Kölner Hauses wurde für die Einquartierung britischer Offiziere requiriert; und Solmssen musste mit einer Gruppe von Dozenten zusammenleben, die die Deutschen dadurch umerziehen wollten, dass sie den deutschen Imperialismus und Militarismus als die Ursachen des Krieges hinstellten.

In der Anfangszeit des Krieges konzentrierte Solmssen seine Energie auf die westdeutsche Schwerindustrie, vor allem bei der Führung des A. Schaaffhausen’schen Bankvereins, den die Disconto-Gesellschaft 1914 übernommen hatte und dessen lockerere Unternehmenskultur Solmssen an die strengeren Maßstäbe der Disconto-Gesellschaft anpassen wollte. Schaaffhausen wurde unter dem alten Namen weitergeführt, um die Stammkundschaft aus der Schwerindustrie zu halten, aber Solmssen hielt die Bank für schlecht geleitet und griff daher auch dann noch ins Tagesgeschäft ein, als er aus dem Vorstand ausgeschieden und in den Aufsichtsrat gewechselt war. Infolgedessen kam es zu erheblichen Reibungen mit der neuen Geschäftsführung, insbesondere mit Robert Pferdmenges. Die beiden Banken schienen Geschäftsbeziehungen zu denselben Kunden zu unterhalten, und Pferdmenges klagte, die Disconto-Gesellschaft biete wichtigen Industriekunden Kredite zu günstigeren Konditionen an.

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A. Schaaffhausen'scher Bankverein in Köln

Mitte der 1920er Jahre war Solmssen Aufsichtsratsvorsitzender folgender Unternehmen: Deutsch-Atlantische Telegraphengesellschaft, Deutsche Erdöl-AG, Revision Treuhand AG und Zugtelefonie AG. Er war stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Bergwerksgesellschaft Trier mbH (Hamm), der Braunkohlen-Industrie AG Zukunft (Weisweiler), der Norddeutschen Seekabelwerke (Nordenham) und der Gebrüder Stollwerck AG (Köln). Außerdem war er einfaches Mitglied von 19 Aufsichtsräten: Nordstern-Lebensversicherungsbank AG, Bergwerks-Gesellschaft Dahlbusch, Berlin-Karlsruher Industrie-Werke AG, Bergmann-Elektricitäts-Werke AG, Deutsche Libbey-Owens Gesellschaft für maschinelle Glasherstellung DELOG, Deutsche Luft Hansa AG, Deutsche Luftschiffahrts AG, Deutsche Petroleum-AG, Felten & Guilleaume Carlswerk AG, Gesellschaft für elektrische Unternehmungen AG, Kaliwerke Aschersleben, Köln-Neuessener Bergwerksverein, Ludwig Loewe AG & Co., Luftschiffbau Zeppelin GmbH, Magdeburger Bergwerks AG, Orenstein & Koppel AG, Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb, Preußische Central-Bodenkredit-AG, Rheinisch-Westfälische Revision-Treuhand AG, Rheinisch-Westfälische Boden-Credit-Bank; außerdem war er stellvertretendes Mitglied des Verwaltungsrats der Reichspost.[18]

Solmssen war zu dieser Zeit nicht nur eine zentrale Figur des Bankgewerbes im Rheinland; er spielte dort jetzt auch eine direktere politische Rolle. Im Jahr 1920 wurde er Vorsitzender des Vorstands der Vereinigung von Banken und Bankiers in Rheinland und Westfalen. Die Vereinigung spielte eine herausragende Rolle bei den Debatten über die Fortsetzung der Bargeldversorgung des Rheinlandes im Anschluss an die französische Okkupation des Ruhrgebietes im Januar 1923. Solmssen sah in ihr auch ein Instrument, um den starken Kräften, die auf eine Abspaltung des Rheinlandes drängten und die Lage im Rheinland mit einer eigenen Goldwährung stabilisieren wollten, entgegenzuwirken.

Aber Solmssen wandte der Kölner Bankenlandschaft schon bald den Rücken zu und kehrte zurück nach Berlin, wo er in der Inselstraße 24 auf Schwanenwerder am Wannsee eine schöne Villa kaufte, direkt neben dem Haus seines Cousins Arthur Salomonsohn und unweit der prachtvollen Residenzen von Eduard Mosler von der Disconto-Gesellschaft sowie von Oscar Schlitter und Oscar Wassermann von der Deutschen Bank.

Anfang 1922 bot Außenminister Walther Rathenau Solmssen das Amt des Finanzministers in der Reichsregierung an. Solmssen lehnte ab. Zwar war er der Ansicht, dass die Spitzen der Wirtschaft grundsätzlich eine größere Rolle bei der politischen Führung des Landes spielen sollten, aber er habe nicht genug Zeit gehabt, um sich mit der Vielzahl der einzelnen Probleme vertraut zu machen, und «eine fortlaufende Beschäftigung mit den politischen Tagesangelegenheiten liegt für uns ausserhalb des Bereichs, weil die Erledigung eigener Aufgaben keine Zeit und Kraft hierfür übrig lässt». Außerdem wies er darauf hin, dass jeder, der dieses Amt übernehme, wegen der nötigen harten Maßnahmen zwangsläufig mit massiven Anfeindungen rechnen müsse. Insbesondere behauptete er, es sei notwendig, die indirekte Besteuerung zu erweitern und die Besitz- und die Einkommensteuer zu senken, um die «Kapitalflucht» einzudämmen. Gleichzeitig betonte er die Notwendigkeit nationaler Solidarität: »Nach meiner Ueberzeugung kann eine Gesundung unserer ganzen Situation auch nach außen sich auf die Dauer nur durchsetzen, wenn, ohne in die alldeutschen Uebertreibungen zu verfallen, zielbewusst das Nationalgefühl geweckt und die Masse dazu gebracht wird, sich der Kraft bewusst zu werden, die in einem einheitlich geschlossenen Volkskörper liegt.»[19] An keiner Stelle erwähnte er die Schwierigkeiten, denen eine Person jüdischer Abstammung ausgesetzt sein könnte, wenn sie ein öffentliches Amt übernahm. Dagegen lehnten sowohl Max Warburg als auch sein Mitinhaber Carl Melchior genau mit diesem Argument die Übernahme ihnen angetragener öffentlicher Ämter ab, da sie befürchteten, die Ernennung eines prominenten Juden werde neue Wellen des Antisemitismus hervorrufen.[20] Bemerkenswert ist auch, dass Solmssen die Vorbehalte, die er später im Kontext des aggressiven Nationalismus und Rassismus der frühen 1930er Jahre in Bezug auf Rathenau äußerte, damals mit keinem Wort erwähnte. Im Jahr 1934 behauptete Solmssen, er habe Rathenaus Angebot im Jahr 1922 aufgrund der Überzeugung [abgelehnt], «daß Rathenau dem urwüchsigen Volkstum fern stand, das der Träger des nationalen Schwunges ist und außerstande war, mit seiner kühlen Skepsis die Herzen der Massen zu gewinnen».[21]

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Wintergarten und Garten von Solmssens Villa auf Schwanenwerder

Solmssen interessierte sich für sehr praktische Fragen, etwa dafür, wie sich die Produktivität der deutschen Landwirtschaft steigern ließe. Er war maßgeblich daran beteiligt, im Jahr 1928 die Arbeit einer Kommission amerikanischer Ökonomen unter Leitung von George Warren von der Cornell University (der später einer der wichtigsten Berater von Präsident Roosevelt wurde) zu organisieren, die Empfehlungen zur Vereinheitlichung von Vermarktungsprozessen formulierte, um die Standardisierung voranzutreiben (und auch um die Kreditaufnahme für Landwirte zu erleichtern).[22] Solmssen war überzeugt davon, dass landwirtschaftliche Produktivitätsfortschritte die Abhängigkeit Deutschlands von Lebensmitteleinfuhren verringern und damit das heikle Zahlungsbilanzdefizit Deutschlands abmildern würden.

Seit seiner Dissertation interessierte sich Solmssen für Entwicklungen in den USA. Anfang der 1920er Jahre unternahm er mehrere Reisen dorthin, die dem Ziel dienten, Deutschland wieder an die transatlantischen Kabel- und Telefonnetze anzuschließen. Sein Handeln war ein weiteres Mal zutiefst patriotisch motiviert. Im Krieg hatten die Alliierten die deutschen Kabel beschlagnahmt, und die Beschlagnahme wurde von Artikel 244 des Versailler Vertrags bestätigt. Jetzt ging es darum, Verhandlungen zu führen und mit Hilfe amerikanischer Gelder – insbesondere aus dem Harriman Trust – eine neue Kabelgesellschaft, die Deutsch-Atlantische Telegraphengesellschaft, aufzubauen, die aus der Fusion von vier deutschen Telegrafengesellschaften der Vorkriegszeit hervorging. Als Deutschland im Januar 1923, nach der französischen Okkupation des Ruhrgebiets, kurz vor dem Staatsbankrott stand, schloss die neue Gesellschaft, deren Aufsichtsratsvorsitzender Solmssen war, mit William Averell Harriman eine Vereinbarung über einen Kredit in Höhe von 5 Millionen Dollar zur Finanzierung eines Kabels zwischen Deutschland und den Azoren, das dort an ein amerikanisches Kabel zur weiteren Verbindung nach New York angeschlossen werden sollte. Später verlegte die Western Union Telegraph Company ein Hochgeschwindigkeitskabel und außerdem leistungsfähigere Kabel in Deutschland; dieses Überseekabel wurde im März 1927 in Betrieb genommen.

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Broschüre zur Eröffnung der Kabellinie Emden-Azoren-New York

Solmssen beteiligte sich auch an Diskussionen über die allgemeinen Probleme bezüglich der Zukunft des deutschen Bankwesens. Die Banken waren erheblich unterkapitalisiert aus der Hyperinflation hervorgegangen und sahen sich gleichzeitig mit dem enormen Kreditbedarf der Industrie konfrontiert. Im Jahr 1925 diskutierte Arthur Salomonsohn, der seit 1912 an der Spitze der Geschäftsinhaber der Disconto-Gesellschaft stand, mit Oscar Schlitter von der Deutschen Bank über die Notwendigkeit, einen Krieg aller gegen alle im deutschen Bankensektor zu verhindern. Im Sommer 1926 begannen Vorgespräche über eine Fusion der Deutschen Bank mit der Disconto-Gesellschaft. Bei einem Ferienaufenthalt in Pontresina sprach Pferdmenges vom A. Schaaffhausen’schen Bankverein, einer Tochter der Disconto-Gesellschaft, wiederum mit Schlitter, der ihn erstmals über «ernsthafte» Gespräche zwischen der Deutschen Bank und der Darmstädter Bank über eine mögliche Fusion in Kenntnis setzte. Laut Solmssens Aktennotiz über Pferdmenges’ mündlichen Bericht habe Schlitter erklärt: «Die Zusammenballung der Kapitalien in der Industrie habe solche Dimensionen angenommen und werde sich noch weiter derart fortsetzen, daß die Thätigkeit der Banken immer mehr zurückgedrängt werden müsse und es ihnen unmöglich gemacht würde, sich dieser Unterdrückung zu widersetzen. Um der Industrie das Paroli bieten zu können, sei es erforderlich, einen Banken-Block von solcher Größe zu schaffen, daß seine Placierungs-Kraft den Inlands-Markt beherrsche und über das Maß des Vernünftigen hinausgehende Unterbietungen von Gegengruppen zwecklos wären.» Sowohl die Deutsche Bank als auch die Disconto-Gesellschaft waren im Grunde finanziell gesund. Aber Solmssen befürchtete, das Geschäft der Deutschen Bank im Westen des Reiches sei unrentabel und ihr Interesse an einer Fusion erkläre sich aus hohen Verlusten in Düsseldorf und dem Umstand, dass durch die leichtfertige Kreditpolitik von Emil Georg von Stauß hohe Risiken entstanden seien. Tatsächlich hatte Schlitter gegenüber Pferdmenges eingeräumt: «Die Deutsche Bank sei in der Kreditgewährung bewusst etwas laxer, als die Disconto-Gesellschaft.»[23]

Solmssen war besorgt über das nachlässige Geschäftsgebaren der Deutschen Bank, und der erbitterte Konkurrenzkampf während des Ersten Weltkriegs hatte ihn vermutlich regelrecht traumatisiert. Als die Fusion schließlich auf einer außerordentlichen Hauptversammlung der Deutschen Bank am 29. Oktober 1929 – zufälligerweise das Datum des «Schwarzen Dienstags» an der New Yorker Börse – gebilligt wurde, blieb Solmssen skeptisch gegenüber dem Geschäftsmodell der Deutschen Bank. Die Depression und die Bankenkrise von 1931 enthüllten das ganze Ausmaß der Probleme im Rheinland, insbesondere in Köln, wo der Filialleiter, Anton Paul Brüning, seine Bekanntschaft (und die zufällige Namensgleichheit) mit Reichskanzler Heinrich Brüning für betrügerische Machenschaften ausgenutzt hatte. Da Solmssen auf der Überlegenheit der Unternehmenskultur der Disconto-Gesellschaft bestand und sich bei der Beseitigung der Probleme in dem neuen «Bankenkoloss» auf Führungskräfte der Disconto-Gesellschaft wie Oswald Rösler und Karl Kimmich verließ, stieß er einige aus dem Führungskreis der früheren Deutschen Bank vor den Kopf. Als Solmssen in der für ihn höchst angespannten politischen Situation des Jahres 1933 den altgedienten Stahlindustriellen Emil Kirdorf um Hilfe ersuchte, benutzte er abermals das Wort «lax», um die Unternehmenskultur der alten Deutschen Bank zu charakterisieren. «Ich weiß aber, daß ich für die DD Bank ein Aktivum darstelle u[nd] daß noch viel zu thun ist, um die klassische Disciplin der Disconto-Gesellschaft gegenüber den laxeren Methoden, wie wir sie bei der Leitung der Deutschen Bank vorgefunden haben, mit Erfolg durchzusetzen. Wir sind bemüht, den Nachwuchs für den Vorstand heranzubilden, benötigen aber hierfür Zeit u[nd] müssen bis dahin auf dem Posten bleiben.» Als dieser Brief die Runde machte, waren Solmssens Kollegen erwartungsgemäß verärgert.[24]

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Zentrale der fusionierten Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft in Berlin, Mauerstraße

Was die Disconto-Gesellschaft schließlich dazu veranlasste, sich mit der Deutschen Bank zusammenzuschließen, war nicht nur die Suche nach einem besseren Geschäftsmodell auf breiterer Basis, sondern auch die Furcht vor dem Geschäftsgebaren der Darmstädter und Nationalbank (Danatbank) und ihres Direktors, Jakob Goldschmidt. So schrieb Solmssen in einem Brief an Oscar Schlitter von der Deutschen Bank: «Wir werden mit Herrn Goldschmidt nicht eher zu einem vernünftigen Verhältnis kommen, als bis wir zum Angriff übergehen. Er hat jegliches Augenmaß verloren und kann nur durch das Gegentheil von Freundlichkeit von seinem Größenwahn kuriert werden.»[25] Die fusionierte neue Megabank war nicht nur der Versuch, durch Rationalisierung der Geschäftsprozesse Kosten zu senken; sie war auch das Ergebnis eines erbitterten Wettstreits zwischen zwei verschiedenen Konzeptionen des Bankgeschäfts.

Ende der 1920er Jahre und zum Zeitpunkt der Fusion der Disconto-Gesellschaft und der Deutschen Bank war Solmssen einer der beiden wichtigsten Meinungsführer in der Auseinandersetzung über die Frage geworden, wie Banken arbeiten und wie sich Bankiers verhalten sollten. In der polarisierten Debatte über die Bankenpraktiken waren zwei gegensätzliche Persönlichkeiten hervorgetreten, die unterschiedliche «Bankiers-Philosophien» verkörperten. Jakob Goldschmidt war die vorwärtsdrängende und unternehmerisch denkende Kraft hinter der spektakulären Expansion der Danatbank. Er war ein Meister des Börsengeschäfts. In Eldagsen bei Hannover geboren, Sohn eines bescheidenen Ladenbesitzers, war er durch und durch ein «Selfmademan». 1910 hatte er eine Bank eröffnet und sich schon gleich dadurch ausgezeichnet, dass er hervorragende Börsenberichte für seine Kunden schrieb und damit schnell viele weitere Kunden anzog. 1918 wurde ihm angeboten, in die damalige Nationalbank für Deutschland einzutreten. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere, kurz vor dem Sturz im Jahr 1931, gehörte er 123 Aufsichtsräten deutscher Firmen an. Zum Vergleich: Goldschmidt stärkster Konkurrent in dieser Hinsicht war der Kölner Bankier Louis Hagen, ebenfalls ein «Selfmademan», der aber lediglich 64 Aufsichtsgremien angehörte. Selbst das aktivste Vorstandsmitglied der Deutschen Bank brachte es nur auf 50 Mandate. Goldschmidts wichtigste Fähigkeit lag im Management groß angelegter Fusionen, wie etwa die Errichtung des Stahlkonzerns Vereinigte Stahlwerke, die Rationalisierung der Kali-Industrie und die Zusammenarbeit der rivalisierenden Schifffahrtsgesellschaften Hapag und Norddeutscher Lloyd. Ein zeitgenössischer Kommentar beschrieb ihn schmeichelnd: «Wenn er als Bankier auch zum Finanzier wird, dann nicht als Spekulant, sondern als der berufene Vermittler für den Ausgleich der Kapitalien.»[26]

Goldschmidt war jedoch weit davon entfernt, nur hinter den Kulissen zu agieren, und glaubte vermutlich, dass seine enthusiastischen öffentlichen Stellungnahmen zu zentralen politischen Fragen seine berufliche Reputation steigerten. Seinen größten Auftritt hatte er bei dem Allgemeinen Deutschen Bankiertag in Köln 1928, wo er den Kapitalismus als System in einer flammenden und überzeugend wirkenden Rede verteidigte. Er strich nicht nur die Vorzüge von horizontalen Fusionen heraus, die er ja in brillanter Weise betrieben hatte, sondern er behauptete auch, dass eine «rücksichtslose Intensivierung der Betriebe» der richtige Weg in die Zukunft sei. Der Sozialismus sei gescheitert – nur Privatinitiative ließe den Wohlstand gedeihen. «Dieses private Ertragsstreben ist die Triebfeder unseres wirtschaftlichen Handelns, die den Arbeitnehmer nicht weniger als den Arbeitgeber beherrscht, und die durchaus geeignet ist, mit dem Aufstieg des Individuums auch eine höhere Entwicklungsform der Zusammenarbeit zu zeitigen.» Er erklärte: «Es ist für mich immer eine unverständliche Tatsache, wie es möglich ist, dass der privatwirtschaftliche Gedanke, die privatwirtschaftliche Wirtschaftsführung im Gegensatz zur Staatswirtschaft so unpopulär ist.» Das Vertrauen in die Privatwirtschaft müsse in Deutschland wiederhergestellt werden, um ausländische Geldgeber zu höheren Krediten zu bewegen. Die internationale Wirtschaft betrachtete Goldschmidt als Werkzeug, das die Deutschen nutzen konnten, um selbst wieder zu Reichtum zu gelangen. «Wir sind angewiesen auf den Kredit der Welt, und dieser muss im System, in der Methode, eine Vertrauensbasis finden. Die Welt muss offen und klar die Strömungen und Entwicklungen zu übersehen vermögen, die die Wirtschaft des Einzelnen und der Gesamtheit beeinflussen.»[27]

Goldschmidt und Solmssen repräsentieren an und für sich zwei Geschäftsauffassungen, die auch Anfang des 21. Jahrhunderts vertraut erscheinen. Goldschmidt, der Advokat des freien Marktes, der unbestechlichen Logik der Börse und der globalen Integration; Solmssen, der Verteidiger unterschiedlicher nationaler Traditionen des Kapitalismus oder dessen, was man heute als Modell des «rheinischen Kapitalismus» bezeichnen könnte.

Solmssen machte keinen Hehl daraus, dass er Goldschmidt und seine Methoden als neumodisch verachtete. Er hielt es für unmöglich, die Entwicklung des Marktes seriös vorherzusagen. Gerne wurde über ihn die Anekdote erzählt, dass er einst in seinem Park eine gute Fee getroffen habe, die sich beklagte, nichts für ihn tun zu können, da er schon alles habe, was die Welt bieten könne: Reichtum, eine reizende Frau, liebenswürdige Kinder. Aber nach kurzem Zögern habe Solmssen geantwortet, dass er gerne einmal die Aktiennotierung von übermorgen wüsste.[28]

Auch Solmssen hatte 1928 auf dem Kölner Bankiertag eine lange politische Rede gehalten. Doch er beschäftigte sich darin mit den Möglichkeiten, wie das Kreditangebot für die Landwirtschaft verbessert werden könnte. Bei seinem Vortrag in Zürich 1930 gab er einen philosophisch angehauchten Überblick über die Zukunft der Globalisierung: «Die Weltwirtschaft wird, wenn sie überhaupt weiterbestehen will, zwangsläufig in eine neue Ära der gegenseitigen Rücksichtnahme treten und zur Verständigung über die verschiedenen Interessengebiete treten müssen. Dieses Dogma bedeutet keine Negierung des Rechts jeder Nation auf Erhaltung ihrer Eigenart und Sonderstellung; es will nicht besagen, daß die Zukunft einem politischen Volapük gehöre, und daß die durch geographische Gestaltung, durch geschichtliche Entwicklung und durch Rassenunterschiede gezogene Grenzen zum Verschwinden verurteilt seien.»[29]

Der Centralverband des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes wurde zur Bühne, auf der Solmssens Kampf gegen die «neumodische» Auffassung von der Funktion der Banken im Wirtschaftsgefüge ausgetragen wurde. Solange die patriarchalische Gestalt Jacob Riessers, ein ehemaliges Vorstandsmitglied der Darmstädter Bank, Reichstagsabgeordneter und Autor des Standardwerks zur deutschen Bankenkonzentration, den Centralverband lenkte, konnte eine Konfrontation der beiden Persönlichkeiten vermieden werden. Und als Riesser schließlich seinen Rückzug vorbereitete, löste der Centralverband die Frage der Nachfolge zunächst durch einen merkwürdigen Kompromiss. Im Juni 1930 wurden Goldschmidt und Solmssen zunächst beide zu Vorstandsmitgliedern und stellvertretenden Vorsitzenden des Centralverbandes ernannt.[3031