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Leo Aldan

Agarax - Der Hexenfluch





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Prolog

 

Dunkelheit umgab ihn. Er schien nur noch aus unbändiger Wut zu bestehen. Und Hass. Wäre er nicht eingekerkert, könnte er die Welt beherrschen!

Mit aller Gewalt feuerte er seinen stärksten Fluch gegen die magische Wand. Einmal musste sie brechen. Dahinter lag der Weg zur Macht - und zur Erfüllung seiner Rache. Immer wieder stellte er sich vor, wie seine Widersacher unter langsamer Qual schrien. Was könnte er ihnen alles antun! Ein wohliger Schauer durchlief ihn und eine nie dagewesene Stärke füllte sein Innerstes. Er formte sie zu einem mächtigen schwarzen Blitz und schleuderte ihn gegen die Barriere, feine Risse breiteten sich aus.

Sofort erlosch das Feuer der Wut und machte berechnender Kühle Platz. Er betastete die Wand. Eine Schwachstelle! Danach hatte er lange gesucht. Das war seine Chance.

Er wartete, bis es draußen ruhig wurde, bis sie schlafen gingen. Es blieb nur die Wache. Er grinste. Die war durch Routine ermüdet, leicht zu übertölpeln.

In aller Stille rief er die dunklen Mächte zu sich. Heute war die Nacht, sie zu entfesseln, heute war die Nacht, den ersten Schlag zu führen und den Beginn seiner Herrschaft einzuleiten.

Konzentriert verdichtete er die Finsternis zur magischen Granate und schleuderte sie mit aller Gewalt gegen die marode Stelle der Barriere. Im Blitzen und Donnern kollabierender Urgewalten brach er nach draußen. Er zickzackte um Feuerkugeln, die ihm entgegenschossen, stürmte in den nächstbesten Tunnel, preschte vorwärts und hängte die Feuergeschosse ab, die ihm auf der Flucht durch das Höhlengeflecht hinterherjagten. Er streckte sich, durchbrach das Portal zur Freiheit und verschwand im Schatten der Nacht. Unbemerkt huschte er ins Tal und was er dort fand, ließ sein schwarzes Herz triumphieren.

 

Kapitel 1

 

Das kleine Auto holperte über die Schotterpiste. Zu beiden Seiten säumten sie die braunen Holzpfosten der endlosen Stacheldrahtzäune. Wie schwarze Punkte wirkten die Rinder auf den ausgedehnten Weiden. Gelegentlich sah Jeff grasende Pferde und hin und wieder ein Farmhaus, von dem er sich nicht sicher war, ob überhaupt noch jemand darin wohnte. Waldige Höhen, über die sich zerklüftete Felskronen erhoben, warfen lange Schatten in das Tal. Blue Ridge Mountains.

Take me home, country roads.

Jeff schaltete das Radio ab. Außer dem lokalen Sender bekam er nichts rein. Und den Mist wollte er nicht schon am frühen Morgen hören.

Schon von weitem sah er den gelben Schulbus heranbrausen, der eine lange Staubfahne hinter sich herzog. Jeff fand eine Ausweichbucht. Der Schotter knarzte unter den Reifen, als er abbremste. Er musste nicht lange warten, bis der Bus vorüberrauschte. Jeff winkte den Kindern nach, die ihn aus dem Rückfenster anstarrten. Früher war auch er mit diesem Bus zur Schule nach Williamstown hinuntergefahren.

Damals, als sein Vater noch lebte.

Der Staub setzte sich langsam und legte sich als ockerfarbene Schicht auf die Scheiben. Jeff betätigte die Waschanlage und schaute zu, wie sich zunächst eine braune Matsche bildete, die dann in Schlieren abgewaschen wurde.

Verdrecktes Hinterland. Eigentlich hatte er nie wieder hierher zurückkehren wollen, aber wie es schien, konnte er nur an seinem Geburtsort Antworten finden.

Er nahm den Fuß von der Bremse und fuhr weiter.

Nach zwei Meilen rückten die Bergflanken näher und schließlich wand sich die Straße in engen Serpentinen durch einen dichten Mischwald immer höher hinauf. Dogwood und Giftefeu wucherten zwischen verrottendem Bruchholz.

Der Gedanke, der ihn seit Wochen beschäftigte, stieg ihm wieder ins Bewusstsein: Vater und Großvater waren beide im Alter von achtundzwanzig Jahren gestorben. Er selbst wurde dieses Jahr so alt und er wurde das Gefühl nicht los, dass es auch ihn erwischen könnte.

Er trat aufs Gas. Die Straße wurde steiler. Waschbrettpiste. Die Räder ratterten und das Lenkrad vibrierte so stark, dass er es kaum halten konnte. Jetzt hätte er gerne einen von diesen riesigen Geländewagen gehabt. Die Automatik schaltete in den niedrigsten Gang und mit heulendem Motor nahm Jeff die letzte Haarnadelkurve. Dahinter öffnete sich das Hochtal. Morgentau funkelte an den Spitzen der Gräser und wenige Meilen entfernt duckte sich Pine Dale unter die langgestreckte Bergkulisse.

Es sah alles noch so aus, wie er es von seiner Jugend in Erinnerung hatte: die kerzengerade Straße, ein paar Dutzend buntgestrichene Holzhäuser, die alte Kirche und der Friedhof dahinter. Gegenüber die City Hall mit der Zementfassade und den Lorbeerbäumen zu beiden Seiten des feldsteingerahmten Eingangs. Alles menschenleer.

Jeff ließ das Auto bis zur einzigen Kreuzung rollen und hielt an der Tankstelle mit der Handpumpe. Die war bestimmt schon hundert Jahre alt! Und der Alte, der mit seinem Stuhl an der Wand neben dem Eingang lehnte, musste Hank sein. Jeff erinnerte sich, dass es drinnen einen winzigen Imbiss gab. Limonade, Dosenbier, Hot Dogs und die Schokoriegel, die er als Kind so gemocht hatte.

Hank starrte misstrauisch auf das Nummernschild.

Jeff musste grinsen. Mit Sicherheit verirrte sich kein Auto mit New Yorker Kennzeichen in dieses Kaff. Er ließ das Fenster ganz herunter. »Hi! An der City Hall habe ich kein Schild mit Öffnungszeiten gesehen.«

»Da fragen Sie am besten beim Pfarrer nach. Der ist auch Bürgermeister.«

Im Schritttempo fuhr Jeff die Main Street hinunter. Ein Stückchen davon war sogar asphaltiert. Ob es den alten Reverend Bickerstaff noch gab? Lang wie ein Baum mit schwarzer Soutane und ernstem Gesicht. Er würde ihm sicher gestatten, die Dokumente einzusehen.

Jeff passierte den Saloon, so retro, wie sie nur noch in Western-Filmen vorkamen. Hier hatten sie sich ihr erstes Bier besorgt. Klammheimlich. Damals, als Charley, der Wirt, beschäftigt war, hatte Brian gezapft, während Bob Schmiere stand. Mit klopfendem Herzen und stolz wie siegreiche Rodeoreiter hatten sie es hinter Hanks Werkstatt getrunken. Wer ein Mann sein wollte, trank Bier. Und sie wollten so schnell wie möglich Männer werden, Brian, Bob und er. Jeff musste grinsen. Wie naiv sie damals gewesen waren. Besonders Bob. Wie viele Jahre waren vergangen, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte? Seit Großmutter Audrey gestorben war und das war schon eine Ewigkeit her. Mit Brian traf er sich gelegentlich in New York, aber Bob hatte er aus den Augen verloren. Wie mochte es ihm gehen?

Jeff fuhr weiter, bis er linker Hand die Kirche mit der großen Uhr am Glockenturm erreichte. Vor ihm breitete sich der Kirchplatz aus und sein Blick fiel auf den schwarzen Fleck in der Mitte des uralten Pflasters. Die alten Weiber hatten gemunkelt, dass dort einmal eine Hexe verbrannt worden sei. Als Kind hatte er sich davor gegruselt. Er lächelte in sich hinein. Ammenmärchen. Bestimmt waren an dieser Stelle andere Pflastersteine verwendet worden. Dunklere.

Er parkte und wandte sich dem blitzsauberen Häuschen des Pfarrers zu, das sich an die Kirche anschloss.

Durch den Vorgarten, dessen Rasen rundgeschnittene Büsche säumten, erreichte er die Pforte und betätigte den Messingklopfer. Schwere Schritte erklangen hinter der Tür. Ein Mann in schwarzer Soutane öffnete. Er war kleiner als Jeff, hatte ein pralles Bäuchlein und eine knollige Nase. Ein schütterer Haarkranz säumte den kahlen Schädel des Geistlichen, wasserblaue Augen lugten aus einem runden Gesicht mit Hängebäckchen und gaben ihm das Charisma eines Beichtvaters, dem man alles anvertraute. »Sie wünschen?«, fragte er.

»Ist Reverend Bickerstaff zu sprechen?«

Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht des Geistlichen. »Der ist schon seit Jahren im Ruhestand. Ich bin Pater Crusenberry.«

Jeff schüttelte die dargebotene Hand. »Mason. Jeff Mason. Ich wollte fragen, ob ich die Sterbeurkunden meiner Vorfahren einsehen könnte.«

Pater Crusenberry musterte ihn und strich sich mit der Hand über die Glatze. »Selbstverständlich werde ich Ihnen helfen, aber ausgerechnet heute habe ich einen auswärtigen Termin.«

Jeff überlegte nicht lange. »Dann bedanke ich mich ganz herzlich. Wenn es Ihnen recht ist, Herr Pfarrer, werde ich morgen wiederkommen.« Er nickte dem Geistlichen freundlich zu und wandte sich zum Gehen. Die gewonnene Zeit könnte er für einen Überraschungsbesuch bei Bob nutzen.

Jeff warf einen kritischen Blick auf die schnell aufziehenden schwarzen Wolken und lief über den Kirchplatz. Er steuerte auf die enge Gasse der Meadow Lane zu. Das dritte Haus auf der linken Seite war es gewesen. Im Augenwinkel nahm er wahr, dass sich der Vorhang eines Fensters im Haus der verrückten Aunt Ruth bewegte. Jeff hatte sie als runzelige Frau mit strähnigen, weißen Haaren in Erinnerung. Offensichtlich lebte sie noch. Eigentlich war sie ja nicht seine Tante, aber jeder nannte sie Aunt. Sie hatte ihn immer mit Justinian angesprochen. Jeff presste die Lippen zusammen. Wenn er etwas hasste, dann war es dieser Name: Justinian! Der war echt krank! Die anderen Dorfbewohner hatten ihn als Kind wenigstens Justy gerufen, aber auch den mochte er nicht sonderlich. Jetzt benutzte er seinen zweiten Vornamen Jeffrey und ließ sich Jeff nennen.

Während er das Türchen zu Bobs Grundstück öffnete, klatschten die ersten Regentropfen herunter. Er achtete nicht darauf. Seine Vorfreude, Bob zu sehen wuchs, als er auf dem gekiesten Weg des Vorgartens auf die schlichte Eingangstür zusteuerte. Das war Teil seiner Kindheit gewesen: hier entlangzustürmen und Bob aus dem Haus zu locken. Früher wuchsen im Garten überall bunte Blumen. Wehmütig ließ Jeff seinen Blick über die unkrautüberwucherten Beete schweifen und Zweifel schlichen sich in sein Herz. Ob Bob überhaupt noch hier wohnte? Vielleicht hatte er geheiratet und war mit seiner Frau fortgezogen.

Wind kam auf und kalte Tropfen fielen in seinen Kragen.

Ein Namensschild gab es nicht. Jeff betrachtete den Türklopfer, der die Form eines Pferdekopfes hatte. Das Messing war über die Jahre stumpf geworden. Entschlossen packte er den Metallring und klopfte - die Tür gab nach. Verwundert trat er ein. Muffige Luft schlug ihm entgegen, durchsetzt von Zigarettenrauch und Bier - und noch etwas anderem. Er konnte es nicht deuten.

»Bob?«

Keine Antwort.

Die erste Böe fuhr herein und riss an Jeffs Jacke. Er schob die Tür zu. Stille.

»Bob! Ich bin's, Jeff.«

Er sah sich um. Hier hatte sich nichts verändert.

Der abgetretene Teppich, der abgewetzte Polstersessel neben dem teakfarbenen Beistelltisch, und in der Wohnzimmerecke stand immer noch das Harmonium, auf dem Pam, Bobs jüngere Schwester, stundenlang denselben Fehler repetiert hatte.

Es schien niemand im Haus zu sein. Vielleicht war Bob arbeiten. Aber dass die Eingangstür nicht richtig geschlossen war, wunderte Jeff.

Plötzlich rüttelte eine Böe an den Fensterläden und wirbelte Papiere durch die Tür des Arbeitszimmers. Das kam Jeff komisch vor. Misstrauisch ging er hinüber und sah die eingeschlagene Scheibe. Regen peitschte herein. Verdutzt blieb er stehen. Einbruch? Der Teppich unter dem zerbrochenen Fenster war feucht, sonst schien alles an seinem Platz zu sein, keine Spuren von Diebstahl.

»Bob!!«

Jeff bekam ein ungutes Gefühl. Er ging zur Treppe und stieg die Stufen hinauf.

»BOB!«, rief er in den dunklen Korridor.

Alle Türen waren geschlossen - bis auf eine. Die war angelehnt. Trübes Tageslicht fiel durch den schmalen Spalt.

»Bob, bist du da?« Jeffs Puls begann in den Adern zu pochen.

Langsam schob er die Tür auf.

Was er sah, ließ ihn erstarren.

 

Kapitel 2

 

Nicole legte die Beine auf den Plastikstuhl und nippte an ihrem Kaffee - viel zu stark und obendrein abgestanden. Jim hatte kein Maß und füllte den Filter in der Maschine immer bis zum Rand. Wie er nach diesem Gebräu schlafen konnte, war ihr ein Rätsel. Jedenfalls lag er auf der Pritsche und schnarchte, wie es nur ein Hillbilly fertigbrachte.

Sie legte die Hände in den Nacken und starrte die weiße Decke an. Wie hatte das alles begonnen? Es war so verwirrend gewesen. Aber den letzten Tag in ihrem Elternhaus in Kalifornien würde sie nie vergessen. Sie sah es noch genau vor sich. Das Telefon hatte geklingelt und Nicole spürte heiße Wut in sich hochkochen. Das war bestimmt wieder er! Sie riss den Hörer hoch. »Kannst du mich nicht endlich in Ruhe lassen?!«

»Ich will dich!«

Sie warf ihre langen Haare mit einer schnellen Kopfbewegung über die Schulter. »Und hundert andere auch! Hau ab. Es ist aus!«

»Ich kann ohne dich nicht leben, Kleines.«

»Nenn mich nicht Kleines!«, brüllte sie in die Muschel.

»He, Kleines. Ich hab dich überall gesucht, seit du in Schanghai abgehauen bist.«

Sie ballte die Fäuste. »Das ist kalter Kaffee! Und seither stehst du hinter jedem Busch, rennst mir nach, egal, wohin ich gehe. Wie oft soll ich dir noch NEIN sagen?!«

»Bis ich ein Ja von dir höre.«

»Verschwinde! Verschwinde aus meinem Leben! Ersäuf dich, wenn du willst.«

»Kleines, du tust mir weh.«

»Du denkst immer nur an dich und deinen verdammten Schwanz!«

»Das war ein Ausrutscher.«

»Einer? Du lässt doch keine aus!«

»Ich bin nun mal ein Mann. Ein richtiger Mann. Nicht einer von diesen Schlappsäcken. Kleines, das wolltest du doch!«

Ja, Chuck war ein Mann. Muskulös, sonnengebräunt und mit kantigem Kinn, Käpt'n auf seinem kleinen Trawler, scheinbar ein leidenschaftlicher Weltverbesserer. Er hatte sie glauben lassen, er erforschte das Wanderverhalten der Wale, ganz im Sinne des Naturschutzes. Gott, wie naiv sie gewesen war! Von San Francisco bis in die Aleuten hatte es gedauert, bis sie herausbekam, dass er Markenfälschungen schmuggelte und darüber hinaus nicht nur sie, sondern die gesamte weibliche Besatzung vögelte.

»Ein Arschloch bist du und ein mieser, kleiner Gangster.«

»Wie willst du mir das nachweisen, Kleines?«, fragte er höhnisch.

»Jetzt ist Schluss!« Mit einem wütenden Ruck riss sie das Telefonkabel aus der Verteilerbox. Das war's!

Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und schaute aus dem Fenster, wo Mount Shasta über das gleichnamige Städtchen ragte. Das war für sie das schönste Panorama in ganz Kalifornien, aber heute drang es nur bis zu ihrer Netzhaut vor. Warum war ihr Leben so verkorkst? Alles ging schief, seit sie vor einem halben Jahr von See zurückgekommen war. Dann verschwand auch noch ihre Mutter. Nur diese Nachricht lag auf ihrem Bett: Ich werde gebraucht.

Das war alles.

Nicole nahm einen tiefen Atemzug und erhob sich.

Ein letztes Mal ging sie durch die sonnendurchfluteten Räume und Säle des Seminarzentrums, das ihre Eltern aufgebaut hatten: Yoga, Energieheilen, Tai Ji Chuan. Hier hatte ihre Mutter in ihren bunten, weiten Kleidern getanzt, dort in dem schummrigen Zimmer den Kunden die Karten gelegt. Noch immer hing ein feiner Geruch von Räucherstäbchen in der Luft. Salbei. Den hatte ihre Mutter bevorzugt, um die Sphären zu reinigen. Nicole schüttelte traurig den Kopf. Ein bisschen verrückt war sie schon gewesen, ihre Mom.

Im Raum der Besinnung lehnte neben einem Stapel lilafarbener Sitzkissen noch das Didgeridoo ihres Vaters. Sie strich liebevoll über das glatte Holz des Musikinstruments. Eigentlich war er nur ihr Stiefvater, ein Australier mit Aborigineblut. Er hatte meditatives Bumerangwerfen kreiert. Sie konnte ihn immer noch vor sich sehen, in seiner hellen Kutte, wie er mit Seminarteilnehmern im Zeitlupentempo durch den Park schritt. Achtsamkeit. Vor einem Monat war er gestorben - entspannt lächelnd war er während einer Meditation zusammengesackt und in das Land seiner Väter gegangen. Für sie war er wie ein richtiger Vater gewesen, der kleine Mann mit den sanften, dunklen Augen. In ihrer Erinnerung würde er weiterleben. Sie schluckte.

Entschlossen wandte sie sich ab. In der letzten Zeit hatte er sie so mit Arbeit eingedeckt, dass sie beim besten Willen keine Zeit fand, nach ihrer Mutter zu suchen. Und jetzt, ohne ihn, machte das Seminarzentrum keinen Sinn mehr. Nichts machte mehr Sinn.

Wenn du nicht mehr weißt, wie es weitergehen soll, gehe zum Ursprung. Diesen Satz hatte ihr die Mutter immer und immer wieder gesagt. Nicole war sich jetzt sicher, dass es eine Botschaft war, ein Ruf.

Sie hatte die Haustür verschlossen und den Schlüssel in den Briefkasten geworfen. Mit ihrem vollgepackten Mini hatte sie das Grundstück am Rande der Cascade Range verlassen und war über die Landstraßen bis zum Highway 80 nach Osten gefahren.

Jetzt war sie hier in West Virginia, in der Einsatzzentrale der Ambulanz von Willamstown. Das war nun ein Teil ihres neuen Lebens: sterile, weißgetünchte Wände und schlechter Kaffee. Sie seufzte.

Sie hätte viel lieber einen Job in Pine Dale genommen, ihrem Geburtsort, aber dort gab es keine Arbeit für sie. Sie trommelte mit den Fingernägeln auf der Resopalplatte des Tischs, während sie rechnete: Etwa fünf Jahre würde sie brauchen, um die Restschulden des Seminarzentrums abzutragen. So lange musste sie ordentlich Geld verdienen. Morgen würde sie ihre Vollzeitstelle als Heilpraktikerin in der Naturheilpraxis von Dr. Wilkins antreten. Sie hatte wirklich Glück gehabt und den alten Herrn sofort in ihr Herz geschlossen. Er strahlte Ruhe und Besonnenheit aus. Genau das brauchte sie jetzt: Abstand, runterfahren. Und in der Freizeit konnte sie Hinweise auf den Verbleib ihrer Mutter suchen. Der Ursprung ...

Sie nahm noch einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. Vielleicht sollte sie frischen aufbrühen, aber irgendwie fühlte sie sich zu müde und ausgepowert, so, als hätte ihr heute Nacht jemand einen Teil ihrer Energie gestohlen. Sie ließ sich tiefer in den Stuhl sinken. Na ja, die letzten Tage waren busy gewesen, davor die lange Reise.

Schrilles Läuten schreckte sie aus ihren Gedanken.

Jim sprang von der Pritsche und warf einen Blick auf den Computerschirm. »Notfall in Pine Dale.« Er lief hinaus und klemmte sich hinter das Steuer des Rettungswagens, der direkt vor dem Haus geparkt war. »Schau nicht so entsetzt und komm! Dein erster Einsatz, Nicole!«

 

Kapitel 3


Flaschen in allerlei Farben füllten das Regal hinter dem dunklen Holztresen des Saloons. Jeff hockte zusammengesunken an einem der Tische. Seine Umgebung nahm er nur wie durch einen Schleier wahr. Nichts schien Wirklichkeit zu sein - außer den Bildern in seinem Kopf: Auf dem Bett lag Bob in seinem Blut, unzählige Wunden klafften an seinem nackten Körper und leere Augen starrten zur Decke. Alles war mit Blut bespritzt: Bett, Teppich, Möbel, Wände. Blut - Blut aus tiefen Schnitt- und Stichwunden.

Das Kreischen von Sirenen und das Blitzen der Einsatzlichter, die sich in den Regentropfen auf den Fensterscheiben des Saloons brachen, rissen ihn aus seiner Erstarrung. Zwei dunkelblau uniformierte Polizisten kamen herein. Pistole, Handschellen und Schlagstock hingen an ihren breiten Ledergürteln. Sie bauten sich vor Jeff auf.

»Sie haben uns angerufen?«

»Ja.«

»Wegen einem Mord?«

»Ja.«

»Der hat einen Schock«, flüsterte ein Cop dem anderen zu.

Er ließ sich neben Jeff nieder. »Was ist denn passiert?«, fragte er in beruhigendem Tonfall.

Jeff starrte den Polizisten unverwandt an. »Bob. Er ist tot«, antwortete er und seine Stimme kam ihm fremd vor, weit weg und hohl.

»Wo ist er denn?«

»Zuhause.«

»Kommen Sie. Führen Sie uns hin.«

Jeff erhob sich von seinem Platz. Seine Beine schienen ihm nicht zu gehören. Er stakste zur Tür. Dabei musste er sich konzentrieren, denn der Boden schien zu schwanken.

Draußen standen überall Pick-up Trucks und Geländewagen herum. Leute in Regenklamotten machten für Jeff und die Polizisten eine Gasse frei. In Bobs Haus deutete Jeff zur Treppe. »Im Schlafzimmer.«

Einer der Cops stapfte mit schweren Schritten hinauf und trampelte den Korridor entlang.

»Fuck!«, rief er entsetzt. »Das war ein Perverser!«

Jeff fühlte sich schwindelig und klammerte sich am Geländer fest.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte der andere Polizist.

Jeff nickte.

»Wir müssen raus, damit wir die Spuren nicht ruinieren. Kommen Sie mit zur Bar.«

Jeff lief wie in Trance. Aus dem Meer Schaulustiger stach Aunt Ruth heraus. Sie starrte ihn an und wich zurück. Ihre Gedanken standen der alten Frau ins Gesicht geschrieben. Jeff atmete schwer. Auch andere würden ihn verdächtigen.

Im Saloon ließ er sich auf einen Stuhl sacken. Bilder von klaffenden Wunden und Blut wirbelten erneut in seinem Kopf herum. Dazwischen blitzten Erinnerungen auf: Bob, mit dem er in Hühnerställe gekrabbelt war, und dem er die kleine Narbe am linken Knie zu verdanken hatte. Tot ... Jeff stachen Tränen in den Augen. Er zwinkerte ein paar Mal. Seine Hände zitterten. Was für ein verdammtes Schwein hatte das getan?!

Durch das Fenster des Saloons sah Jeff Polizeilimousinen und einen Notarztwagen über die Main Street zur Meadow Lane fahren. Uniformierte und Leute in Zivil eilten zwischen den Schaulustigen umher. Einige lösten sich aus der Menge und kamen auf das Lokal zu.

Als Erster trat ein schlanker Mann ein, die Hände tief in den Taschen seines Trench-Coats vergraben. Ihm folgten zwei Frauen. Die linke, in bequemen Jeans und Anorak, schien eine Art durchtrainierter Sekretärinnen-Typ zu sein. Ihre rabenschwarzen Haare waren zu einem strengen Zopf geflochten und die dunklen Augen hinter ihrer roten Brille schweiften durch den Raum, als wollten sie jedes Detail erfassen.

Die rechte trug die Uniform einer Sanitäterin. Sie war zierlich, gut einen Kopf kleiner als Jeff und hatte hüftlange, mahagonifarbene Haare.

Der Zivilbeamte nahm seine Hände aus den Manteltaschen und räusperte sich. »Jeffrey Mason?«

Die Sanitäterin blickte auf und Jeff sah in zwei leuchtend grüne Augen, die ihn überrascht musterten.

Der Mann schob sich vor. »Ich bin Detective Collister.«

Seine kurzen, akkurat gescheitelten Haare, sein markantes Kinn und die kalten, stahlblauen Augen verrieten, dass mit ihm nicht zu spaßen war. »Sie haben den Toten gefunden?«

Jeff nahm einen Atemzug und berichtete.

Collister schien keine seiner Gemütsregungen zu entgehen. Am Ende nickte er knapp. »Vielen Dank.«

Unsäglicher Zorn übermannte Jeff. Er trat einen Schritt näher an den Beamten heran. »Finden Sie das Schwein!«, presste er zwischen den Zähnen hervor.

Der Detective zog eine Braue hoch und musterte Jeff misstrauisch. »Brauchen Sie ärztliche Hilfe?«

Jeff atmete tief durch und schüttelte den Kopf.

Der Ermittler verengte die Augen. »Verlassen Sie Pine Dale nicht. Halten Sie sich auf jeden Fall für uns zur Verfügung.« Mit einem Ruck wandte er sich ab und strebte dem Ausgang zu. Im Gehen warf die Sanitäterin einen Blick über ihre Schulter. Jeff schaute ihr hinterher. Vielleicht hätte er sich doch untersuchen lassen sollen.

Kaum waren die Beamten gegangen, stürzten die Dorfbewohner herein. Charley drängelte sich durch das Gewirr und machte sich hinter seinem Tresen zu schaffen. »Die erste Runde geht aufs Haus!«, rief er mit lauter Stimme. Im Nu füllte sich der Gastraum zum Bersten mit Menschen und lautstarkem Gerede. Jeff spürte ihre misstrauischen, ja feindseligen Blicke. Sie bauten sich wie eine Wand vor ihm auf. »Bob war einer von uns.«

Jeff zwang sich zur Ruhe. »Ich habe ihn nicht ermordet!«

»Wer hat dich beschuldigt?«, sagte einer. Obwohl er ein überlegenes Grinsen aufsetzte, ließen seine engstehenden Augen wenig Intelligenz vermuten und Jeff erkannte mit Schrecken, dass mit diesen Leuten nicht zu reden war. Er vermutete, dass Dinge, die sich erst einmal in solchen Köpfen festgesetzt hatten, nur schwer wieder herauszubekommen waren. Er trat einen Schritt zurück.

»Dein schlechtes Gewissen hat dich verraten«, rief ein stiernackiger Mann. Irgendwie hatte der plötzlich einen Knüppel in der Hand. »Greift den Kerl!«

Jeff spürte sein Herz pochen. Er trat noch einen Schritt zurück und stieß an die Wand. Die Männer kamen näher. Sie blockierten den Weg zur Tür. Jeff suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Dann beschloss er, offensiv zu werden. »Hört zu, Leute ...«

Der stiernackige Mann hob seinen Knüppel und sprang vorwärts.

Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Mann trat ein. »Halt!«, brüllte er.

Die Kerle erstarrten und sahen sich nach ihm um.

Jeff erkannte den Freund sogleich. »Brian!«, rief er erleichtert.

»Bill, leg sofort deinen Knüppel weg!«, fuhr Brian den Stiernackigen an und schritt zielstrebig auf Jeff zu. Die Leute machten augenblicklich Platz.

»Hey, Jeff. Willkommen in Pine Dale.«

Jeff spürte, wie die Anspannung nachließ. »Danke! Du bist heute der erste Lichtblick!«, seufzte er. Wie sehr sich Brian von dem derben Dorfvolk unterschied! Wie ein Bankdirektor sah er aus! Durchtrainiert, die schwarzen Haare im Bürstenschnitt. Sein weißes Hemd, die dunkelgraue Designerhose und die glänzenden Lederschuhe saßen wie angegossen. Maßarbeit. Seine dunklen Augen funkelten. Er streckte Jeff die Hand entgegen. »Ich komme gerade aus einem Meeting. Wie es scheint zur rechten Zeit?«

Jeff drückte erleichtert die dargebotene Hand.

Brian klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und wandte sich an die Menge. »Ihr habt doch den Justy nicht vergessen? Mit dieser eckigen Brille sieht er vielleicht ein bisschen ungewohnt aus, aber er ist einer von uns.«

Eine Anzahl der Leute nickte, andere brummten vor sich hin. Jetzt, wo er genau hinsah, glaubte Jeff einige Gesichter zu erkennen. Da waren ältere Farmer und ihre Frauen, die er noch aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte.

Brian ließ den Blick über die Meute schweifen. »Am Besten wird es sein, Jeff erzählt euch jetzt, was passiert ist.«

Augenblicklich wurde es still. Neugierige und finstere Gesichter wandten sich Jeff zu. Noch einmal öffnete sich die Tür und Pater Crusenberry trat ein. Die Menschen rückten zusammen, um ihm Platz zu machen.

Jeff holte tief Luft und erzählte die Geschichte, nur die Tatsachen, ungeschönt. Mit offenen Mündern hörten die Leute zu und fassungsloses Schweigen breitete sich in der Stube aus.

Doch dann schwoll der Lärm wieder an. Jeder hatte etwas zu sagen: »Ganz zerschnitten haben sie ihn?«

»Das muss ein Irrer gewesen sein!«

»Vielleicht ist einer aus der Anstalt unten ausgebrochen.«

»Oder ein Sadist! War sein ... hm, du weißt schon, noch dran? Da war mal einer, der hat sowas abgeschnitten und gegessen!«

Die Menge steigerte sich in eine gruselige Erregung, bis sich Old Aunt Ruth durch die Meute zwängte und mit knochigem Finger auf Jeff zeigte. »Er war der Einzige, den ich hab reingehen sehen!«


Kapitel 4


Nicole starrte durch das Seitenfenster des Rettungswagens in die Dunkelheit, während Jim die engen Serpentinen hinunterkurbelte.

»Hast du schon mal so eine Sauerei gesehen?«, fragte er.

Sie knabberte an ihrer Unterlippe. Im Verlauf ihrer Ausbildung hatte sie gelernt, das Grauen nicht an sich heranzulassen. Aber Bob hatte sie als Kind gekannt. Das war etwas anderes. Außerdem hatte sie beim Anblick seiner Leiche eine unbändige Furcht überfallen. Sie musste an Chuck denken. Wäre er imstande, so etwas Bestialisches zu tun? Sicher nicht. Er war ja nur ein mieser, kleiner Schmuggler. Dennoch ...

Ein Schauder schüttelte ihren Körper.

Jim warf ihr einen besorgten Blick zu. »Bist du okay?«

»Geht schon.«

Er nickte und konzentrierte sich wieder auf die Straße.

Nicole fragte sich, ob es doch falsch gewesen war, an ihren Geburtsort zurückzukehren, ob sie sich aus dem Gerede ihrer Mutter nur etwas zusammenreimte, das überhaupt nicht so gemeint war. Vielleicht war ihre Mutter ganz woanders hingegangen. Aber ihr altes Haus gab es noch: Verlassen, und von außen sah es unbewohnbar aus. Bei Gelegenheit wollte sie es nach Hinweisen durchsuchen, auch wenn sie eine Scheibe einschlagen musste, um hineinzugelangen. Es könnte aber auch sein, dass jemand in Pine Dale etwas wusste, das sie auf die richtige Spur brächte. Möglicherweise Old Aunt Ruth. Die war so alt wie das Dorf und steckte ihre Nase in alles. Nicole hatte sie sofort erkannt, aber die anderen Leute waren ihr fremd. Selbst dieser Jeffrey Mason. Dass er einmal ihr Justy gewesen war ...

Sie seufzte.


Kapitel 5


Jeff krallte sich so fest ans Lenkrad seines kleinen Wagens, dass die Knöchel weiß unter seiner Haut schimmerten. Er gab Gas. Vor ihm fuhr Brian mit seinem Geländewagen. Jeff war sich sicher, dass es allein Brians Autorität gewesen war, die ihn im Saloon vor dem Lynchen bewahrt hatte. Vor Brian schienen die Leute zu kuschen und schon früher hatte er die Gabe gehabt, bei Streitigkeiten die Hitzköpfe wieder zu beruhigen, ja zu vereinen. Und damals beim Basketballturnier war ihm sogar ein kleines Wunder gelungen. Jeff sah es noch genau vor sich.

»Ich spiele nicht mit euch Mongos aus Pine Dale!« Der Teamleiter der Williamstown Bouncers hatte den Ball wütend in die Halle geworfen.

Brian knirschte mit den Zähnen, brachte aber seinen Zorn unter Kontrolle. Seit zehn Jahren gewannen die Roanoke Butchers jedes Match, weil die besten Spieler der Williamstown School zu rivalisierenden Teams gehörten, die sich am liebsten gegenseitig verprügelten. Beschwörend redete Brian auf den Teamchef ein. »Hör zu, Roger. Nur dieses eine Mal. Wenn wir uns zusammentun, können wir dieses Jahr den Cup nach Williamstown holen. Du und ich. Möchtest du nicht auch deine Hände um den glänzenden Pokal legen? Und die ganze Schule jubelt uns zu? Komm schon! Wir stellen ein gemischtes Team zusammen und hauen den Butchers eins auf den Sack! Die anderen schaffen wir dann mit links.«

Roger hatte geknurrt wie ein Kettenhund, aber ein leuchtender Funke war in seinen Augen erwacht.


Brians Ranch lag ein Stück außerhalb des Ortes. Der Regen hatte aufgehört, aber immer noch füllte braune Brühe die Schlaglöcher der Schotterpiste. Schlamm klatschte gegen das Bodenblech und Jeff hatte Angst, dass sein Auto steckenblieb.

Bald zweigte rechter Hand eine asphaltierte Einfahrt ab. BENNET RANCH stand in großen Messingbuchstaben auf dem schmiedeeisernen Torbogen, der sie überspannte. Das wirkte protzig, aber als Jeff den dahinterliegenden Landsitz sah, blieb ihm fast die Luft weg: Weiden bis an den Fuß der Berge, offensichtlich neue Maschinenhallen, Geräteschuppen, Silos, Pferdeställe und auf der anderen Seite des Sees eine großzügige Anlage mit Ferienbungalows. Brian musste ein Schweinegeld haben.

Weitere zehn Minuten dauerte die Fahrt, bis sie die Ställe passierten, wo ein Cowboy einen Sattel fettete, den er über ein Gatter gelegt hatte. Der braungebrannte Mann schob den Stetson ins Genick und nickte Brian zu.

Ein Stück weiter bog der Weg um eine Thujahecke und endete auf dem gekiesten Parkplatz vor einer Villa im Kolonialstil. Davor warteten mehrere Geländewagen deutscher Marken schwarz glänzend in den Parkbuchten. Daneben standen einige luxuriöse Pick-up Trucks amerikanischer Hersteller, vierradgetrieben, chromblitzend und mit edlen Ledersitzen. Jeff pfiff durch die Zähne und als er sein Auto zwischen all den Riesenschlitten parkte, kam es ihm ziemlich unscheinbar vor.

Brian nahm Jeff den Koffer ab und trug ihn zum Haus. »Wer hätte gedacht, dass dein Besuch mit so einem verrückten Tag anfängt.« Er stieg die fünf Stufen zur Veranda empor, die, wie auch der Balkon, um das zweistöckige Gebäude herumlief, und ging auf die helle Eingangstür zu. Ein Bediensteter in gestreifter Livree öffnete die Tür. Brian drückte ihm den Koffer in die Hand. »Bringen Sie den ins Gästezimmer!«

Jeffs Blick schweifte vom glitzernden Kristalllüster an der Decke des Foyers zum dicken Perserteppich am Boden. Kaum spürte er, wie ihm Brian eine Hand auf die Schulter legte und ihn an einem von filigranen Wedeln sattgrüner Zimmerpalmen beschirmten, rotgepolsterten Renaissancesofa vorbei in den Salon führte. »Setz dich. Etwas zu trinken?«

»Gerne.« Langsam ließ sich Jeff in das kalte Glattleder eines schweren Sessels sinken.

Brian ging zur Bar und brachte zwei Whisky on the rocks. »Das haben wir auf den Schock jetzt nötig!« Er ließ sich auf der Couch gegenüber nieder, da ertönte die Melodie von Invisible Man. Brian warf einen Blick aufs Display seines Smartphones. »Entschuldige«, sagte er und nahm das Gespräch an. »Hallo, Darling. Ja. Ja. Ist gut.«

Während Brian sprach, schaute Jeff sich um. Alle Gegenstände wirkten edel, solide, teuer. Sein eigenes Appartment ähnelte eher einer Bücherei, durchsetzt mit Susans Schnickschnack. Aber das war einmal, dachte er wehmütig. Susan hatte vor wenigen Wochen ihre Sachen eingepackt und ihn mit seinen Büchern alleingelassen. Wegen so eines Affen, diesem eingebildeten Chirurgen mit seinem protzigen Sportcabrio! Wie hieß er doch gleich? Professor Doktor Doktor Liam Schießmichtot? Mindestens doppelt so alt wie sie und wahrscheinlich auch noch verheiratet. Der wollte doch nur seinen Spaß mit ihr haben. Wie konnte sie nur so blöde sein?!

Brian steckte sein Handy ins Lederetui zurück. »Sophie wird bald ankommen. Sie war gestern shoppen.« Er verdrehte die Augen: »In Washington! Sie meldet sich aber immer, wenn sie sich verspätet.« Er gab dem Phone einen Klaps. »Wenigstens krieg ich hier oben einen Tower. Unten im Dorf haben sie überhaupt keinen Empfang.«

»Sophie Coleman?« Jeff schürzte die Lippen. Seine Erinnerungen trugen ihn zu einer arroganten Mitschülerin mit krummen Beinen und Schafsgesicht. »Ich hätte nie gedacht, dass du ausgerechnet sie heiraten würdest.«

»Sie hat ihre Qualitäten.«

Jeffs Blick fiel auf einen Renoir an der Wand und er fragte sich, ob der echt war. Sophie hatte ihre Qualitäten. Brian wusste Vorteile zu nutzen und Aussehen spielte dabei offensichtlich nur eine geringe Rolle. »Es ist nett von dir, mich bei dir wohnen zu lassen.«

»Klar, Mann. Ist doch selbstverständlich. Aber wie ich dich kenne, willst du mich nicht nur besuchen. Sonst wärst du schon früher mal gekommen.«

»Richtig. Da ist eine komische Sache, der ich nachgehen will.

Knirschen von Kies und das Klappen einer Autotür unterbrachen die Unterhaltung. Der Butler eilte ins Foyer und öffnete die Haustür. Neugierig schaute Jeff in den Korridor. Mit Tüten beladen drängte ein kleiner Wirbelwind mit wasserstoffblonden Locken in schwarzem, enganliegendem Rock ins Haus. Die Einkaufsbeutel stapelte sie dem Diener in die Arme, während sie ihre High Heels in eine Ecke kickte. »Ins Schlafzimmer«, befahl sie und der Butler trollte sich.

»Justy!« Freudestrahlend kam sie näher, lehnte sich lässig an den Türpfosten und musterte ihn interessiert.

Brian gab ihr einen Kuss auf den Mund, den sie flüchtig erwiderte. »Bring mir auch einen Whisky, Schatz.«

Jeff erhob sich. Sollte das Sophie sein? Er erkannte sie kaum wieder. Die Beine unter ihrem kurzen Rock wirkten gerade, aber die Haut in ihrem Gesicht kam ihm unnatürlich straff und etwas wächsern vor. Es musste wohl in mehreren Operationen in Form gebracht worden sein. »Du hast dich mordsmäßig rausgemacht!«, sagte er.

»Du schaust auch gut aus«, flötete sie und kam herbei, wobei sie sich um einen graziösen Gang bemühte. Sie umarmte ihn kurz, bevor sie sich ihm gegenüber auf die Couch setzte. »Wie ist es dir in der großen Stadt ergangen? Hast du eine Freundin? Wie gefällt dir unsere Ranch?«

»Langsam, langsam, Schatz.« Brian reichte ihr den Drink. »Bob ist ermordet worden.«

Sie ließ fast das Glas fallen. »Was?! Das kann doch nicht wahr sein!«

»Jeff hat ihn gefunden.«

Sie starrte Jeff fassungslos an. »Du?«

Jeff schluckte. »Ich wollte ihm einen Überraschungsbesuch abstatten ... und da ...«

Sie hielt sich entsetzt eine Hand vor den Mund. »So etwas ist bei uns in Pine Dale noch nie passiert. Und er war schon tot, als du ihn gefunden hast?«

Wieder sprangen die grässlichen Bilder in sein Bewusstsein. Er atmete tief. »Erstochen.«

Sie wurde blass und griff sich ans Herz. »Mein Gott! Wer tut denn so etwas?! Sag schon, was hast du gesehen.«

Brian legte ihr besorgt eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht ist es besser, du legst dich eine Weile hin.«

»Ja, aber ...«

Brian sah ihr mit ernster Miene ins Gesicht. »Das kann er dir später auch noch erzählen.«

Sie nickte schwach und erhob sich.

Jeff sah sie mitfühlend an. »Brauchst du einen Arzt?«

Sie schüttelte den Kopf, stand auf und verließ den Salon.

Jeff sah ihr nach. Sophie hatte sich verändert. Sie wirkte weicher, auch ihre Arroganz schien sie abgelegt zu haben.

»Wie wär's, wenn du dich in deinem Zimmer einrichtest«, schlug Brian vor. »Ich muss noch ein paar Sachen erledigen, dann sehen wir uns zum Dinner.«

Jeff nickte und verabschiedete sich. Während er die Treppe emporstieg, ließ er die rechte Hand leicht über das glatte, kühle Messinggeländer streichen. Brian lebte hier in Reichtum, aber Bobs Haus hatte noch genau so armselig wie früher ausgesehen. Und jetzt war er tot. Obwohl sie sich über all die Jahre nicht gesehen hatten, legte sich Trauer wie eine Faust um Jeffs Brustkorb. Er öffnete die Balkontür und trat an die weißlackierte Brüstung. Er atmete die frische, würzige Bergluft bewusst langsam und tief ein. Der heutige Tag war wie ein böser Traum gewesen.

Jeffs Blick wanderte zum düsteren Wolfshead, der direkt vor ihm über die waldigen Berge ragte. Sein felsiger Bergrücken mit der zerklüfteten Doppelspitze erinnerte an den Kopf eines Wolfes mit gespitzten Ohren. Jeff beschattete die Augen. In einer verwilderten Senke unterhalb des rechten Gipfels lag die sogenannte Devil's Gate. Er konnte sie von hier aus nicht sehen. Die Dorfbevölkerung erzählte haarsträubende Geschichten über den Ort und heute schienen sie Jeff ergreifen zu wollen: Dort sei der Eingang zur Hölle, aber Elias Hornblower, ein Kerl, mehr Teufel als Mensch, sollte ihn verschlossen und seine Hütte darauf gebaut haben. Wenn's am Devil's Gate raucht, stirbt einer, sagten die Leute. Jeff dachte an Bob, aber er sah keinen Rauch. Es war nur so ein Gerede, genau wie diese Hexengeschichten. Er wandte sich ruckartig ab und ging zurück ins Zimmer. Die Menschen hier waren extrem abergläubisch.