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François Cheng

Fünf Meditationen
über die Schönheit

Aus dem Französischen
von Judith Klein

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Was das Schöne ist, was wir erfahren, wenn es unerwartet auftaucht, ist von den großen Denkern in West und Ost vielfach beantwortet worden. François Chengs philosophisch-poetische Meditationen kehren zu einfachen, grundlegenden Fragen über das Schöne in der Natur und in der Kunst zurück. Dabei gelingt es Cheng, westliches und östliches Denken in ein lebhaftes Gespräch miteinander zu bringen. Er sucht seine Antworten bei so verschiedenen Gewährsleuten wie Platon und Proust, Konfuzius und Augustinus, dem Taoismus und dem deutschen Idealismus. Ohne die Brüche zu überspielen, die die Moderne sichtbar gemacht hat, hält Cheng fest an einem Zusammenhang zwischen der Schönheit und der Güte, der gerade angesichts der Bedrohung unserer Welt Aufmerksamkeit verlangt.

Über den Autor

François Cheng, geb. 1929 in China, siedelte bereits mit 19 Jahren nach Frankreich über. Er hat zahlreiche Romane, Gedichtsammlungen und Arbeiten über das chinesische Denken und die chinesische Kunst verfasst und ist zudem ein berühmter Kalligraph. Seit 2002 ist er Mitglied der Académie française.

Inhalt

Vorwort des französischen Verlages

Erste Meditation

Zweite Meditation

Dritte Meditation

Vierte Meditation

Fünfte Meditation

Anmerkungen

Vorwort des französischen Verlages

Wenige Bücher entstehen so wie dieses. Die folgenden Seiten sind das Ergebnis einer besonderen Geschichte, einer Geschichte von Begegnungen. Natürlich haben sie auch ihre Vorgeschichte, die in einem Leben gründet, das ganz dem Schreiben, der Überlieferung einer jahrtausendealten künstlerischen Tradition und dem Dialog zwischen dem östlichen und dem westlichen Denken gewidmet ist. Doch als François Cheng daran ging, die Quintessenz seiner Forschungen und Reflexionen auf knappem Raum zu verdichten, wie er es schon seit einigen Jahren vorhatte, war er plötzlich ratlos: Was er zu sagen hatte, sprengte den Rahmen bloßer Gelehrsamkeit, ging ihn auf seinem persönlichen Weg unmittelbar an und konnte nicht in der Form einer zusammenfassenden Abhandlung geschrieben werden, die sicher nützlich, doch nicht fruchtbar gewesen wäre. Warum sollte man über die Schönheit sprechen, wenn man nicht versuchte, den Menschen zu dem zurückzubringen, was das Beste in ihm ausmacht, und wenn man nicht vor allem eine Sprache wagte, die ihn verändern kann? Es war damals, als ob sich im Inneren des Menschen François Cheng der Dichter an den Schriftsteller und Gelehrten richtete und ihnen deutlich machte, wie anstößig es sei, in gelehrter Form über ein Thema zu sprechen, bei dem nicht weniger als das Wohl der Menschheit auf dem Spiel steht. Er verpflichtete sie, das Wort «Schönheit» nicht ohne klares Bewusstsein von der Barbarei der Welt in den Mund zu nehmen. Er schärfte ihnen ein, dass angesichts des fast überall herrschenden Zynismus die Ästhetik nur zu ihrem eigentlichen Kern vordringen kann, wenn sie die Ethik als eine subversive Kraft in sich aufnimmt.

Man musste also zum Wesentlichen zurückkehren, das heißt zu der entscheidenden Realität des «Dazwischen», zu der Beziehung, die die Menschen vereint, zu dem, was zwischen ihnen an Unerwartetem und Unerhofftem aufkommt; schon in seiner Einleitung zu «Le Livre du Vide médian» («Das Buch der mittleren Leere») hatte der Dichter davon gesprochen. So entstand der Gedanke, beim Schreiben einen Umweg zu machen – über eine reale Begegnung mit Menschen aus Fleisch und Blut, mit Augen und Ohren. François Cheng war davon überzeugt, dass sich wahre Schönheit nur in der Begegnung und im Austausch enthüllt; so ging es ihm darum, wirkliche Gesichter einzubeziehen, in deren Anwesenheit die Worte der Schönheit gleichsam unausweichlich hervorbrechen würden. Es bildete sich ein informeller Freundeskreis aus Künstlern und Wissenschaftlern, Philosophen und Psychoanalytikern, Schriftstellern und Anthropologen, Kennern und Nichtkennern des Orients und Chinas; sie hatten das Privileg, an fünf unvergesslichen Abenden[1] der Genese dieser Meditationen beizuwohnen. Oder vielmehr Anteil an dieser Genese zu haben – so sehr war dem Dichter daran gelegen, mit ihnen in einen schöpferischen Austausch zu treten.

Diese fünf Meditationen tragen also den Stempel der Mündlichkeit und müssen dementsprechend gelesen werden. Oft entfalten sie sich durch ein allmähliches Sich-Vertiefen, in einem spiralförmigen Denken, dessen unvermeidbare Wiederholungen in Wirklichkeit auch Neues enthalten, das aus dem Austausch des Dichters mit seinen Gesprächspartnern hervorgeht. Jeder Teilnehmer an diesen Zusammenkünften hat während dieser Augenblicke intensiver Anwesenheit eine seltsame Erfahrung machen können: Ein Mensch gab sich in Demut ganz hin, um eine scheinbar «nutzlose», in unserer Gesellschaft vernachlässigte, ja lächerlich gemachte Realität zu evozieren; doch mitten in diesem kostbar-fragilen Geschehen entstand zwischen den Beteiligten etwas Einmaliges, das jeder plötzlich als grundlegend wahrnahm.

Wir übergeben diese aus geteilter Erfahrung entstandenen Meditationen einem größeren Publikum; möge es ebenfalls daran teilhaben, so dass der Funke der Schönheit lebt, den sie gezündet haben.

Erste Meditation

In diesen Zeiten des allgegenwärtigen Elends und der blinden Gewalt, der Naturkatastrophen und der ökologischen Desaster mag es unpassend und unschicklich erscheinen, über die Schönheit zu sprechen. Eine Provokation, beinahe ein Skandal. Doch gerade dadurch wird uns deutlich, dass die Schönheit – dem Bösen entgegengesetzt – ihren Platz am anderen Ende einer Wirklichkeit hat, der wir uns stellen müssen. Ich bin davon überzeugt, dass es unsere dringende und bleibende Aufgabe ist, diesen beiden Geheimnissen, welche die zwei Pole des lebendigen Universums bilden, ins Auge zu sehen: dem Bösen einerseits und dem Schönen andererseits.

Das Böse – wir wissen, was es ist; vor allem das Böse, das der Mensch dem Menschen antut. Wenn er dem Hass und der Grausamkeit verfällt, kann er aufgrund seiner Intelligenz und seiner Freiheit gleichsam bodenlose Abgründe aufreißen. Dort liegt ein Geheimnis verborgen, das unserem Bewusstsein keine Ruhe lässt und ihm offenbar eine unheilbare Wunde zufügt. Das Schöne – wir wissen ebenfalls, was es ist. Man braucht jedoch nur ein wenig darüber nachzudenken, um tief erstaunt zu sein: Das Universum ist nicht dazu verpflichtet, schön zu sein, und doch ist es schön. Angesichts dieser Feststellung erscheint uns die Schönheit der Welt, die trotz der Katastrophen vorhanden ist, ebenfalls als ein Rätsel.

Was bedeutet die Existenz der Schönheit für unsere eigene Existenz? Und was bedeutet angesichts des Bösen Dostojewskis Satz: «Schönheit wird die Welt erlösen»?[2] Das Böse und das Schöne sind die beiden Herausforderungen, die wir annehmen müssen. Dabei dürfen wir nicht übersehen, dass das Böse und das Schöne nicht nur entgegengesetzt sind: Sie sind manchmal miteinander verquickt. Denn das Böse ist in der Lage, sogar die Schönheit in ein Mittel der Täuschung, der Herrschaft oder des Todes zu verwandeln. Ist etwas Schönes, das nicht auf dem Guten beruht, noch «schön»? Unsere Intuition sagt uns, dass es zu unserer Aufgabe gehört, die wahre Schönheit von der falschen zu unterscheiden. Dabei geht es um nichts weniger als die Wahrheit des menschlichen Schicksals – eines Schicksals, das die Grundlagen unserer Freiheit mitumfasst.

Es lohnt sich vielleicht, noch den persönlicheren Grund dafür zu nennen, dass ich mich mit der Frage der Schönheit befasse und dabei die des Bösen nicht vernachlässige: Diese beiden extremen Phänomene haben mich schon sehr früh – ich war noch ein Kind – drei oder vier Jahre lang buchstäblich «überwältigt». Zunächst die Schönheit.

Ich komme aus der Provinz Jiangxi, in der sich der Berg Lu befindet. Dort verbrachten wir jeden Sommer einige Zeit mit unseren Eltern. Der Berg Lu gehört zu einer Gebirgskette und ist mehr als zweitausend Meter hoch; er überragt auf der einen Seite den Fluss Yangzi und auf der anderen den Boyang-See.

Aufgrund seiner außergewöhnlichen Lage gilt er als eine der schönsten Landstriche Chinas. Seit ungefähr fünfzehn Jahrhunderten haben sich hier Eremiten, Mönche, Dichter und Maler niedergelassen. Westliche Reisende, insbesondere protestantische Missionare, entdeckten ihn gegen Ende des 19. Jahrhunderts und machten ihn zum Ort ihrer Sommerfrische. Sie gruppierten sich um einen zentral gelegenen Hügel und übersäten ihn mit Hütten. Ungeachtet der Überreste des Alten und trotz der modernen Niederlassungen bewahrt der Berg Lu seine Faszinationskraft, denn die Berge ringsum besitzen noch ihre ursprüngliche Schönheit. Eine Schönheit, die in der Überlieferung als geheimnisvoll bezeichnet wird; so konnte der Ausdruck «Schönheit des Berges Lu» im Chinesischen die Bedeutung «unergründliches Geheimnis» annehmen.

Ich werde diese Schönheit nicht beschreiben. Sagen wir, dass sie der eben erwähnten außergewöhnlichen Lage zu verdanken ist: Immer neue Perspektiven tun sich hier auf, und das Licht spielt immer wieder anders, endlos. Sie beruht auch auf den Nebelschwaden und Wolken, den fantastischen Felsen, zwischen denen eine mannigfaltige, üppige Vegetation wächst, den Wasserfällen und Kaskaden, die zu jeder Jahreszeit, Tag für Tag, ununterbrochen ihre Musik vernehmen lassen. In den Sommernächten ist der Berg, der dort zwischen dem Fluss und der Milchstraße steht, von Glühwürmchen erleuchtet und atmet seine Düfte aus, die aus allen möglichen Essenzen kommen; Tiere wachen und genießen berauscht den Mondschein, Schlangen entrollen ihre seidene Haut, Frösche breiten ihre Perlen aus, Vögel schleudern zwischen zwei Schreien schwarze funkelnde Pfeile …

Doch es ist nicht meine Absicht zu beschreiben. Ich möchte einfach nur sagen, dass sich die Natur durch den Berg Lu dem sieben oder acht Jahre alten Kind, das ich bin, in ihrer ganzen wunderbaren Gegenwart als ein unerschöpfliches Geheimnis und vor allem als eine unwiderstehliche Leidenschaft offenbart. Sie scheint mich dazu aufzurufen, an ihrem Abenteuer teilzunehmen; dieser Ruf wühlt mich auf, überwältigt mich. So jung ich auch bin, so weiß ich doch, dass diese Natur auch viel Gewalt und Grausamkeit in sich birgt, vor allem unter den Tieren. Doch wie sollte ich die Botschaft nicht vernehmen, die in mir widerhallt: Die Schönheit existiert!

In jener fast noch ursprünglichen Welt wird diese Botschaft bald auch durch die Schönheit des menschlichen Körpers bekräftigt – die Schönheit des weiblichen Körpers. Auf den Bergpfaden begegne ich manchmal jungen westlichen Mädchen in Badeanzügen, die zu einem von Kaskaden gespeisten Becken gehen, um dort zu baden. Die Badeanzüge jener Zeit waren höchst züchtig. Doch der Anblick nackter Schultern und nackter Beine im Sommerlicht – was für ein Schock! Und das freudige Lachen dieser jungen Mädchen, das dem Rauschen der Kaskaden antwortet! Es scheint, die Natur habe da eine besondere Sprache gefunden, mit der man sie feiern kann. Feiern, das ist es. Die Menschen müssen ja mit der Schönheit, die ihnen die Natur darbietet, etwas machen.

Es dauert nicht lange und ich entdecke das magische Ding, das die Kunst ist. Mit großen Augen fange ich an, die chinesische Malerei, die auf so wunderbare Weise die dunstigen Gebirgsszenen neu erschafft, aufmerksamer zu betrachten. Und die größte Entdeckung von allen: eine andere Art von Malerei. Eine meiner Tanten bringt uns von einem Aufenthalt in Frankreich Reproduktionen aus dem Louvre und aus anderen Museen mit. Ein erneuter Schock angesichts der so sinnlich und so ideal dargestellten nackten Körper der Frauen: griechische Venus-Statuen, Modelle von Botticelli, von Tizian und vor allem – näher an unserer Zeit – von Chassériau und Ingres. «Die Quelle» von Ingres bemächtigt sich in ihrer Sinnbildlichkeit der Einbildungskraft des Kindes, rührt es zu Tränen, wühlt es auf.

Es ist Ende 1936. Nicht einmal ein Jahr später bricht der Chinesisch-Japanische Krieg aus. Die japanischen Aggressoren setzen auf einen kurzen Krieg. Der chinesische Widerstand überrascht sie. Als sie nach mehr als einem Jahr die Hauptstadt einnehmen, kommt es zu dem schrecklichen Massaker von Nankin. Ich bin damals gerade zehn Jahre alt.

Innerhalb von zwei oder drei Monaten gelingt es der entfesselten japanischen Armee, mit verschiedensten grausamen Methoden dreihunderttausend Menschen umzubringen: Erschießung der flüchtenden Menge mit dem Maschinengewehr, Massenhinrichtung durch Enthauptung mit dem Säbel, massenweises Hinabstürzen von Unschuldigen in riesige Gruben, in denen sie lebendig begraben werden.

Andere Horrorszenen: Gefangene chinesische Soldaten werden aufrecht an Pfählen festgebunden, um japanischen Soldaten als Opfer für Bajonettübungen zu dienen. Die Soldaten stehen ihnen in Reih und Glied gegenüber. Abwechselnd treten sie aus der Reihe hervor, stürzen sich brüllend auf das «Ziel» und jagen ihm das Bajonett ins lebendige Fleisch …

Das Los der Frauen ist nicht weniger grausam. Individuelle und kollektive Vergewaltigungen, denen häufig Verstümmelung und Mord folgen. Eine der Manien der Soldaten: die vergewaltigte Frau oder die vergewaltigten Frauen zu photographieren; man zwingt sie, sich neben den Vergewaltigern zu halten, aufrecht, nackt. Einige dieser Photos werden in chinesischen Dokumenten veröffentlicht, in denen die japanischen Greueltaten angeprangert werden. Im Bewusstsein des zehnjährigen Knaben, der ich bin, tritt jetzt zu dem Bild der idealen Schönheit von Ingres’ «Die Quelle» – es gleichsam überblendend – das Bild der Frau, die man in ihrem Innersten besudelt, tödlich getroffen hat.

Wenn ich diese historischen Tatsachen erwähne, will ich keineswegs behaupten, dass Greueltaten nur von einem einzigen Volk begangen werden. In der Folge sollte ich Gelegenheit haben, die Geschichte Chinas und der Welt kennen zu lernen. Ich weiß, dass das Böse, die Fähigkeit zum Bösen, universell und der gesamten Menschheit eigen ist.

Jene beiden hervorstechenden, extremen Erscheinungen haben jedenfalls jetzt von meinen Gefühlen Besitz ergriffen. Später fällt es mir leicht, mir darüber klar zu werden, dass das Böse und das Schöne die beiden Pole des lebendigen Universums, das heißt der Wirklichkeit, bilden. Ich verstehe nun, dass ich die beiden Pole im Auge behalten muss: Wenn ich mich nur mit dem einen befasse und den anderen vernachlässige, wird meine Wahrheit niemals gültig sein. Intuitiv verstehe ich: Einerseits ist ein Leben ohne Schönheit wohl nicht wert, gelebt zu werden; andererseits entspringt gerade aus einer entsetzlichen Perversion, dem Missbrauch der Schönheit, eine bestimmte Form des Bösen.

Aus diesem Grund trete ich heute vor Sie hin, um – ziemlich spät in meinem Leben – die Frage der Schönheit ins Auge zu fassen, wobei ich mich bemühe, die Existenz des Bösen nicht zu vergessen. Eine schwierige und undankbare Aufgabe, ich weiß. In einer Zeit der Verwirrung der Werte ist es vorteilhafter, ironisch, zynisch, sarkastisch, desillusioniert oder auch betont lässig aufzutreten. Den Mut, die Kraft, jene Aufgabe in Angriff zu nehmen, ziehe ich, so scheint mir, aus dem Wunsch, eine Pflicht sowohl gegenüber den Leidenden und den Toten als auch gegenüber den noch nicht Geborenen zu erfüllen.

Ich muss jedoch zugeben, dass mich Skrupel, wenn nicht sogar Ängste überfallen. Wenn ich so vor Ihnen stehe, fürchte ich, dass Sie Fragen stellen, deren Berechtigung ich nicht bestreiten kann, Fragen wie: «Von welchem Standpunkt aus sprechen Sie, von welcher Position gehen Sie aus? Auf welche Legitimation berufen Sie sich?» Auf solche Fragen antworte ich ganz schlicht: Ich besitze keine besondere Qualifikation. Ich lasse mich von einer einzigen Regel leiten: nichts von dem, was das Leben ausmacht, zu vernachlässigen; niemals darauf zu verzichten, den anderen Gehör zu schenken, und selbständig zu denken. Es ist nicht zu leugnen, dass ich von einem bestimmten Fleck dieser Erde und aus einer bestimmten Kultur komme. Da ich diese Kultur besser als jede andere kenne, mache ich es mir zur Aufgabe, sie von ihrer besten Seite darzustellen. Doch aufgrund meines Exils bin ich ein Mensch von nirgendwoher oder aber von überallher geworden. Ich spreche also nicht im Namen einer Tradition oder eines uns von den Alten, deren Zahl begrenzt wäre, überlieferten Ideals und noch weniger im Namen einer vorgefertigten Metaphysik, eines festgelegten Glaubens.

Ich trete lieber als ein etwas naiver Phänomenologe vor Sie hin, der nicht nur die bereits von der Vernunft entdeckten und umgrenzten Gegebenheiten beobachtet und befragt, sondern auch das, was verborgen und inbegriffen ist, was unerwartet und unverhofft auftaucht, was sich als Geschenk und Versprechen manifestiert. Ich verkenne nicht, dass man in der Welt der Materie Theoreme aufstellen kann und muss; hingegen weiß ich auch, dass man im Bereich des Lebens lernen sollte, die Phänomene zu erfassen, die sich – jedes Mal auf besondere Weise – ereignen, wenn sie sich als Phänomene enthüllen, die in Richtung des Weges weisen, das heißt des offenen Lebens. Neben der Reflexion muss ich daran arbeiten, meine Aufnahmefähigkeit zu vertiefen. Nur eine Haltung des Empfangens – die «Schlucht der Welt» sein, sagt Laotse –, nicht eine des Eroberns wird es uns erlauben, davon bin ich überzeugt, vom offenen Leben das Wahre aufzunehmen.

Indem ich dieses Wort, «wahr», ausspreche, kommt mir eine Frage: Ich habe mir vorgenommen, über die Schönheit nachzudenken, gut; doch ist es eigentlich berechtigt, sie als höchste Manifestation der gesamten Schöpfung hinzustellen? Wenn wir uns auf die platonische Tradition stützen, gebührt dann nicht dem Wahren oder der Wahrheit in der Welt der Ideen der oberste Rang? Und folgt dann nicht sofort das Gute oder die Güte? Diese höchst berechtigte Frage muss uns in der Tat bei unserem Nachdenken ständig gegenwärtig sein. Während wir unsere Gedanken über das Schöne entwickeln, müssen wir versuchen, sie Schritt für Schritt anhand der Begriffe der Wahrheit und des Guten zu rechtfertigen.

Zunächst nur das Folgende: Dass das Wahre oder die Wahrheit grundlegend ist, scheint uns evident. Da das lebendige Universum existiert, muss es eine Wahrheit geben, damit diese Realität in ihrer Gesamtheit funktionieren kann. Was das Gute oder die Güte angeht, begreifen wir ebenfalls ihre Notwendigkeit. Damit die Existenz dieses lebendigen Universums fortdauern kann, muss es ein Mindestmaß an Güte geben, sonst würden wir uns unter Umständen bis auf den letzten Mann gegenseitig umbringen, und alles wäre sinnlos. Und die Schönheit? Sie existiert, ohne dass ihre Notwendigkeit auf den ersten Blick evident erscheint. Sie ist da, allgegenwärtig, spürbar, durchdringend, und macht doch den Eindruck, überflüssig zu sein – darin liegt ihr Geheimnis; in unseren Augen ist es das größte Geheimnis.

Wir könnten uns ein Universum vorstellen, das nur wahr wäre, ohne dass die geringste Idee von Schönheit es auch nur streifen würde. Es wäre nichts anderes als ein funktionelles Universum, in dem sich undifferenzierte, einförmige, durch und durch austauschbare Elemente entfalten würden. Wir hätten es mit einer «Roboter»-Ordnung und nicht mit einer Lebensordnung zu tun. Tatsächlich haben uns die Konzentrationslager des 20. Jahrhunderts eine schreckliche Vorstellung davon geliefert.