Über das Buch

Ich heiße Clara. Clara van Bergen. Schon mit fünf Jahren wollte ich Klavierspielen lernen. Der Klang eines Flügels und die Stücke, die mein Vater gespielt hat, haben mich von Anfang an fasziniert. Es ist mein großer Traum, Pianistin zu werden. Meine Mitschüler haben wenig Verständnis dafür. Sie sind neidisch, wenn ich frei bekomme, um zu Wettbewerben und Meisterkursen zu fahren. Dabei ist das kein reines Vergnügen! Mein Musikprofessor ist sehr streng und manchmal auch ungerecht. Und meine größte Konkurrentin Beatrice kämpft mit allen Mitteln gegen mich, weil ich genauso gut spiele wie sie. Ihre Mutter will unbedingt, dass sie berühmt wird. Zum Glück sind meine Eltern da ganz anders. Meistens sind sie erstaunt, wie ehrgeizig ich bin. Und sagen mir sogar, ich solle nicht so viel üben. Aber ich will es schaffen!

Dann könnte ich in den großen Konzertsälenspielen und mit meinem Freund Shunichi um die Welt reisen …

Claudia Schreiber

SOLO FÜR
CLARA

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-25222-6

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlaggestaltung: Marion Blomeyer, Lowlypaper, München
© Zara Picken Illustration

Satz im Verlag

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Für Heidi aus Berlin – foräwer

AUFTAKT

Ich fahre gern Bahn, wenn sie rappelvoll ist. Rufe laut durch die Wohnung, wenn ich heimkomme, und erwarte eine Stimme, die mir antwortet. Ich hasse es, allein zu sein. Ich spiele Klavier – so gut, dass ich bald Konzerte geben kann. Dann kommen viele Leute; wunderbar. Ich spiele solo, bin aber nicht allein; vor Publikum ist man nie allein.

ALS ICH ZWÖLF WAR …

… wollte ich unbedingt gewinnen bei einem Wettbewerb in Göttingen. Im Januar, es war eiskalt. Mir selbst war vor Ehrgeiz und Aufregung so heiß, dass ich das Glatteis hätte schmelzen können, über das ich ging, hin zum Konzertsaal. Okay, ich übertreibe gern, daran muss man sich bei mir gewöhnen. Mein Vater begleitete mich diesmal, einer meiner Erwachsenen musste immer mit, wo ich hinwollte. Das taten sie seit Jahren.

Paps bestand darauf, dass wir wenigstens einen Blick auf die Orte warfen, in die wir fuhren, obwohl wenig Zeit dafür blieb. Sonst sahen wir einzig Hotels oder Privatquartiere, den Bahnhof, den Veranstaltungsort, mal ein Restaurant. Aber mit ihm musste ich regelmäßig eine Runde durch die Stadt laufen. Was soll in Göttingen schon zu sehen sein?! Mami hatte diese blöde Sitte übernommen. Sie brauchte zusätzlich immer irgendwo eine Sauna, war süchtig nach 90 Grad Hitze, um danach in Eiswasser einzutauchen. Sie verlangte, dass ich das mitmachte, weil diese Tortur gesund sein soll. Wenn ich bloß den dicken Zeh in kaltes Wasser steckte, starb ich fast, so fies war das!

Göttingen hat tatsächlich einen schönen Marktplatz mit altem Rathaus, und Paps führte mich dort zu einem kleinen Denkmal: ein junges Mädchen aus Bronze oder Messing, keine Ahnung. Im linken Arm hielt sie echte, frisch erfrorene Blumen, gelbe Rosen mit glitzerndem Eis. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen: gefrorene Blumen im Arm eines Denkmals? Paps konnte mir Auskunft geben, er hatte ein Buch dabei: »Studenten, die in Göttingen ihren Doktor machen, danken diesem Mädchen mit einem Strauß Blumen und einem Kuss. Das ist hier Brauch.«

Das gefiel mir. Nach einem Konzert stand ich ähnlich da, wenn mir als Dankeschön ein Strauß überreicht wurde. Dann war mir kalt vor Erschöpfung. Eiskalt, als stände ich nicht auf der Bühne, sondern im Frost wie diese Statue. Mit Blumen im Arm.

»Das ist das Gänseliesel«, wusste Paps. »Wahrzeichen der Stadt.«

Jetzt erst sah ich die Gänse, die das Mädchen trug: eine im Korb, eine zweite an den Flügeln gepackt.

Ihre Blumen erfroren draußen, meine verwelkten nach einer stundenlangen Fahrt im Zug; wir nennen das abfällig Klatschgemüse: wieder ein Konzert beendet, die Leute haben applaudiert, manche sogar Bravo gerufen oder eine Zugabe erbeten.

Ich liebte donnernden Applaus, ich wollte unbedingt gewinnen in Göttingen! Solistin sein, Blumen im Arm halten. Gänseliesel, bring mir Glück! Aber ich hatte ein komisches Gefühl.

Einen Tag zuvor hatte ich noch eine Stunde bei Eisenstein genommen. Mein Klavierprofessor war sehr alt, hatte eine Glatze, die Haut käsig, er war vermutlich selten an der frischen Luft, immer in der Hochschule, auf Seminaren, Meisterkursen, er war Musikprofessor seit Jahrzehnten. Eisenstein hörte nicht auf zu arbeiten. Musiker und ihre Lehrer gehen selten in Rente, so wie Schriftsteller oder Maler, die hören auch erst auf, wenn sie tot sind. Andere Leute in seinem Alter waren längst im Heim oder zu ihrem Vergnügen auf Kreuzfahrt oder genossen ihr Leben im Tanzcafé, Professor Eisenstein aber arbeitete von früh bis spät, weil das alles war, wofür er lebte: das Klavier und seine Schüler und Schülerinnen. Er reiste sogar durch die ganze Welt, weil er auch in Tokio unterrichtete, tatsächlich! Oder in Seoul. Er war berühmt. Es war eine Ehre, von ihm unterrichtet zu werden, er nahm nur die Besten, um sie perfekt zu machen. Klar war ich stolz dazuzugehören. Ich wollte die Allerbeste der Besten werden. Nicht meine Eltern, die drängten mich nicht, nur ich, ich wollte das unbedingt! Ich spielte ihm ein letztes Mal vor, was ich im Wettbewerb vortragen wollte, ein Prélude von Chopin.1

Es ist ein leises, romantisches Stück, klingt wie Regentropfen, darum nennt man es auch so: Regentropfen-Prélude. Chopin hat es auf Mallorca komponiert. Er war dort, weil es ihm mal wieder schlecht ging, er hatte eine Lungenentzündung, Chopin war ständig krank. So lag er da auf der Insel im Schatten und wartete auf seine Freundin, George Sand, die unterwegs war einkaufen, was weiß ich. Er wünschte sich, dass sie endlich zurückkommt! Dieses Stück erzählt, wie sich das sehnsüchtige Warten anhört. Einzelne Sekunden fallen wie Tropfen. Chopins Lebenssekunden tropften ähnlich wie der Regen. Er ahnte wohl, dass er früh sterben würde, ich wollte das Prélude so herzzerreißend wie nur möglich spielen.

Nach dem letzten Ton suchte ich stolz den Blick meines Lehrers. Er sprach sehr tief, wäre wohl ein Bass, wenn er singen würde. Er sang aber nicht. Im Unterricht erklärte er mir die Stücke immer ganz genau, aber er spielte sie nie vor. Nicht einen Takt, keinen Ton, nichts. Niemand hatte ihn je spielen hören, und doch war er einer der besten Klavierlehrer. Er wusste alles theoretisch, aber praktisch? Keine Ahnung! Nun sagte er endlich was: »Clara, wenn du das morgen so spielst, wirst du nicht gewinnen.«

Die Temperatur im Raum sank schlagartig unter null, mein Gefühl glich einem Blumenstrauß, der eben in der Eiseskälte erfror. Er sagte nichts Konkretes zum Stück, wie sonst im Unterricht, gab keine Tipps, spendete keinen Trost. Was genau sollte ich denn besser machen? Ich schaukelte nervös auf dem Klavierhocker, rieb meine Hände.

Er schaute gleichgültig an mir vorbei, blätterte in den Noten herum, als sei er auf der Suche nach etwas. Dann sagte er, ohne mich dabei anzusehen: »Sicher spielst du die Noten perfekt, aber mir fehlt da das Quäntchen Genie, du spürst die Not von Chopin nicht, jung und gesund wie du bist.«

Mir stiegen Tränen in die Augen, ich bekam kein Wort heraus. Was redete der für einen Schrott. Ich spürte jede Not, auch die von Chopin. Na gut, mein Lehrer war sehr alt, er wusste vielleicht besser, wie es sich anfühlte, den Tod vor Augen zu haben.

»Ihm tut nicht irgendein Körperteil weh.«

Das weiß ich doch, er wird sterben! Das haben wir schon x-mal besprochen. Der nervt gerade. Beim Klavierunterricht bin ich immer mit ihm allein, total auf ihn angewiesen. Eisenstein diskutiert nicht mit mir, es wird getan, was er sagt. Aber jetzt sagt er gar nichts, ich hänge in der Luft! Mir wird richtig übel davon. Ach Mann, er könnte mich doch anfeuern wie ein Fußballtrainer. Wie toll wäre es, wenn Eisenstein uns so trainieren würde. Und dafür sorgen, dass all seine Schüler und Schülerinnen zusammenhalten wie Sportskameraden und sich gegenseitig unterstützen?! Dann stellen wir uns wie eine Mannschaft im Kreis auf, Arm in Arm umschlungen feuern wir uns gegenseitig an. Ein Schlachtruf in A-Dur!

So war es bei uns leider nicht, jeder stand allein da, wollte den anderen verdrängen. Ich hatte gut gespielt, sehr gut sogar, ich hatte doch Ohren im Kopf! Quäntchen Genie? Verlangte er etwa, dass ich das Stück neu erfinde? Ich war zwölf! Klar war ich zu jung, um die Todesangst des kranken Chopin zu spüren. Aber ich war auch schon mal krank, Lungenentzündung.

Ich sagte trotzig: »Ich mache damit den ersten Preis.«

»Du darfst nicht enttäuscht sein, wenn das nicht klappt.«

Atme mal durch, beruhige dich, denk nach. Ich bin gut genug, um zu gewinnen. Basta! Wenn er sagt, das klappt nicht, dann steht er nicht zu mir. Dann hält er zu jemand anderem. Ich kann mir schon denken, um wen es geht. Moment mal! Vielleicht sind ja die Wettbewerbe tatsächlich abgesprochen?! Nicht die Beste gewinnt, sondern die- oder derjenige, der einen Preis bekommen soll. Ich soll verlieren, weil ein anderer gewinnen soll. Ist es Beatrice?! Kann Eisenstein das manipulieren? Macht er die zur Siegerin, bevor der Wettbewerb überhaupt losgeht? Ich traue diesen Leuten zu, dass sie betrügen, so nach dem Motto: Mal gewinnt dein Schüler, mal meiner. Andere Möglichkeit: Beatrice’ Eltern bestechen die Jury. Aber womit? Sie haben ja gar kein Geld dafür. Sie wollen aber welches. Beatrice’ Eltern träumen davon, dass ihre Tochter so berühmt wird wie Lang Lang, dann wird die Familie reich.

Mein Professor schaute mich freundlich an: »Vom Grübeln wird es nicht besser. Willst du es noch mal versuchen?«

Ich schwieg bockig. Er räusperte sich.

Vielleicht will er mich heute verunsichern, damit ich morgen ängstlich spiele und Beatrice auf diese Art den ersten Preis holt! Die steckt nämlich tatsächlich in einer Krise! Sie hat mir erzählt, dass sie keinen Bock mehr hat auf Klavier. Klar reagieren ihre Eltern da panisch! Da kommt so ein Preis gerade recht, das wird Beatrice aufheitern.

Wir sind wie Feuer und Wasser. Sie rothaarig, ich blond. Sie groß, ich klein, ich finde sie überheblich, sie findet mich egoistisch. Sie ist ein Modepüppchen, ich der burschikose Typ. Beatrice wird gewinnen, das weiß Eisenstein jetzt schon, so sieht das also aus! Womit hat sie ihn dazu gebracht?

Ich schaute Eisenstein fragend an, direkt in die Augen, traurig, so lange ich konnte. Er wich meinem Blick aus, schien nicht zu verstehen, was in mir vorging. Dann konnte ich ja gleich gehen. Ich stand tatsächlich auf, ohne dass er die Stunde beendet hatte. Er schaute mich groß an. Was tat ich da?! Einen Tag vor dem Wettbewerb brach ich den Unterricht ab. Das darf niemand tun. Er hätte mich in diesem Moment ganz aus seinem Unterricht werfen können, dann wäre sowieso alles vorbei gewesen; hat er aber nicht getan.

Am nächsten Tag ging ich mit Paps zum Wettbewerb, Leute aus der Stadt und der Umgebung waren gekommen, um zuzuhören. Dazu die Eltern der jungen Musiker, Omas und Opas auch. Die Jury, wenige Journalisten. Natürlich meine Konkurrenten – sie schienen mir alle wie eine einzige Masse, ich sah keine Gesichter, ich sah bloß alles grau in grau. Ein Punkt aber in dem großen Saal leuchtete pink, dahin ging mein Blick, zu Beatrice. Unübersehbar.

Sie sah toll aus, hatte ein herrliches Kleid an. Sie plapperte mit sonst wem, Küsschen hier, Küsschen da. Mich würdigte sie keines Blickes. Aber ich musste ständig zu ihr hinsehen, ich dumme Kuh.

Dann wurde es ernst: Ich verneigte mich vor der Jury und dem Publikum. Spielte, so gut ich konnte, aber in mir zitterte alles. Es waren keine Regentropfen, die da fielen, sondern Steine, die aufschlugen. Klar hatte ich keine Fehler gemacht, doch fehlte das Wichtigste: die Leichtigkeit. Ich war innerlich nicht der Musik nah, sondern dachte an Eisenstein, an Beatrice, an Siegen und Verlieren, und nicht mehr an Chopin. Nicht Mallorca, keine Zeit, die abläuft, die Angst vor dem Tod. Die Liebe. Das ist aber das Wichtigste – es so zu spielen, wie der Komponist es sich gedacht hat, mit aller Kraft. Ich aber dachte nur an mich.

Mein schwacher Auftritt hatte Beatrice regelrecht beflügelt, sie wusste genau, sie brauchte ihr Stück nur noch fehlerfrei abzuliefern. Das Publikum hatte sie mit stürmischem Applaus belohnt und so im Grunde als Siegerin gekürt, bevor die Jury das Ergebnis bekannt geben konnte. Es gab in Göttingen zwei erste Preise, keine Ahnung weshalb. Einen würde ich sicher bekommen für mein Prélude, bläute ich mir immer noch ein, sollte Beatrice den anderen haben – eine faire Lösung. Doch bei der Bekanntgabe der Gewinner bekam ich die Quittung. Zweiter Preis, also gänzlich verloren. Der zweite Preis war das Allerletzte, es war schlimmer, als erst gar nicht anzutreten. Ich war vor den Kopf gestoßen, atmete kaum mehr.

Dann kam auch noch die Mutter von Beatrice auf mich zu, ein Mutant ihrer Tochter in alt, knochig dünn wie Victoria Beckham, klopfte mir schadenfroh auf die Schulter: »Gratuliere zum zweiten Preis, großartige Leistung.«

Ich hätte ihr am liebsten eine gepfeffert, fühlte mich von Monstern umgeben und rannte fassungslos hinaus. Paps wollte mich trösten, er stand mit ausgebreiteten Armen da am Ausgang, aber ich war so außer mir, dass ich ihn wegstieß. Weg, nur fort von hier.

Im Freien traf mich die Kälte wie ein Schlag, ich hatte nicht mal eine Jacke übergezogen. Mein Konzertkleid war aus Polyester, es kühlte mich zusätzlich aus. Mein ganzer Körper war eine einzige Gänsehaut.

Gänseliesel. Warum bin ich hier? Warum spiele ich Klavier? Wer drängt mich, dass ich mir das antue? Ich kann noch so gut spielen, es nutzt gar nichts! Beatrice wird von Eisenstein vorgezogen, bekommt die tollsten Stücke, kann damit angeben. Das ist so ungerecht!

Mir kam schlotternd ein herrlicher, ein undenkbarer Gedanke:

Ich wische denen allen eins aus! Ich lasse mich nicht mehr demütigen. Ich höre auf!

Paps und Mama zwingen mich zu gar nichts! Beatrice hat keine Wahl, muss weitermachen, elterngesteuert. Soll eine Weltkarriere machen, um jeden Preis, aber ich bin frei. Das haben meine Eltern immer klargestellt: Ich muss nicht Klavier spielen! Ich höre auf, das ist der Wahnsinn! Muss nicht mehr jeden Tag üben, keine Kurse und kein Unterricht. Auch keine stressigen Konzerte mehr, keine ätzenden Wettbewerbe wie der hier, zweiter Platz – ph! Endlich Zeit für mich. Ich höre auf!

Ich probierte die Worte, flüsterte sie vor mich hin. Was für eine Entscheidung! Ich machte seit sechs Jahren Musik, viele Stunden jeden Tag. Ich wurde dafür oft vom Unterricht befreit, meine Mitschüler kannten mich kaum, nun war Schluss damit.

Wenn ich das Eisenstein sagte?! Der würde Augen machen! Er dachte, er müsse Beatrice motivieren, um sie zu halten, dabei war ich in Gefahr abzuspringen. Doch nun war es zu spät.

Ich werfe hin. Das hat er sich selber eingebrockt!

Dieser Wahnsinnsgedanke gehörte in dem Moment noch mir allein, ich würde keinem was sagen, noch nicht.

Ich ging wieder zurück in den Konzertsaal, zog mich um, packte tapfer meine Sachen zusammen, verabschiedete mich von allen, als sei nichts gewesen. Nur um Beatrice machte ich einen Bogen, der zu gratulieren, das schaffte ich nicht.

Paps hatte Mama angerufen und ihr alles erzählt, wir fuhren zurück nach Köln, ich sprach kein Wort und blieb auch die nächsten Tage still. Normalerweise quatschte ich wie ein Wasserfall, nun war Ruhe. Ich spielte auch kein Klavier wie sonst, meine Leute waren alarmiert: »Nun sag doch, was ist los? Wir machen uns Sorgen!«

Ich verriet ihnen noch nichts. Die waren sowieso der Meinung, dass ich zu viel machte. Wenn ich aufhörte, würde es ihnen nur recht sein. Einer von ihnen musste immer mit, wenn ich zu Meisterkursen fuhr oder zu Wettbewerben – das nervte meine Eltern gewaltig, das taten sie nur mir zum Gefallen. Ich habe keine Geschwister, sie kümmerten sich nur um mich und ihre Arbeit, mehr war nicht drin, kaum Zeit für sie selbst.

Bald werden sie erlöst sein, ich höre auf.

Es war meine Entscheidung, ich sagte immer noch nichts, musste das neue Gefühl erst einmal auskosten. Ging wie gewohnt in die Schule und hätte meinen Mitschülern die Neuigkeit mitteilen können: »Ich höre auf mit Klavier!«

Die Mädels würden sich freuen: »Jetzt kannst du endlich mal leben, mit uns chillen, shoppen gehen!« Niemand würde mich mehr blöd anschauen, weil ich nie Zeit hatte.

»Schon gehört? Clara hat aufgehört mit dem Geklimper, krass.«

Ich werde es Eisenstein sagen. Ob der ausflippt? Oder zieht er seine Schultern hoch, schaut mich nicht mal an, blättert ungerührt in den Noten und raunt: »Alle Arbeit umsonst!« Er wird mich nie wieder sehen wollen, weil er es verabscheut, wenn sich Schüler feige verdrücken. Das hindert ihn aber nicht daran, einen Schüler zu entlassen, wenn er zu faul ist. Wenn ich mich von meinem Meisterkurs verabschiede, sind bestimmt einige traurig, die mich mochten, aber die werden auch erleichtert sein: eine Konkurrentin weniger. Wär ich auch.

Noch hatte ich es keinem erzählt, noch spazierte ich weiter mit diesem Ich höre auf-Gedanken schweigend durch die Gegend. Stellte mir vor, ich erzählte es meiner tollen Schulleiterin, die mich für alle auswärtigen Kurse und Konzerte seit Jahren freigestellt hatte: »Oh, wie schade, du hast doch so viel Talent!«

Oder ich sagte es meiner Lieblingstante am Telefon. Die würde das gut finden: »Du kannst ja später noch Klavierlehrerin werden. Damit verdienst du gutes Geld. Das ist allemal sicherer, als Konzertpianistin zu werden!« Ich sagte es Oma, ihr fehlten beinahe die Worte vor Schreck: »Warum denn, Kind!?« Ich rief es in Gedanken der Nachbarin über die Hecke, die sich nie über mein Geklimper beschwert hatte, sondern sich freute, jeden Tag stundenlang Musik zu hören: »Ja, bist du sicher, du bist doch so gut!«

Je öfter ich es dachte, vor mich hin murmelte, umso weniger glaubte ich mir selbst. Was wollte ich denn nun? Mama und Paps saßen am Küchentisch und tuschelten. Ich ging ins Wohnzimmer, sah meinen wunderschönen Flügel mitten im Zimmer stehen – und spürte ganz deutlich: Mit meiner Entscheidung tat ich mir selber weh. Ich konnte doch nicht einfach so aufhören, das fühlte sich schrecklich an!

Ich setzte mich auf den schwarzen Hocker, öffnete den Deckel, schob das Tuch aus rotem Samt beiseite, das die Tasten vor Staub schützte, legte meine Finger sanft darauf. Ich streichelte die weißen, dann die schwarzen. Sie vertrugen sich gut, waren mir so vertraut, ich konnte sie zum Leben erwecken. Wenn ich loslegte, erklangen Melodien, die sich anfühlten wie Sommerregen, Wolken oder Donnerschlag – je nachdem, was ich aus dem Instrument herausholte. Meine Töne kitzelten oder drohten, schrien oder flüsterten, rasten dahin wie ein Rennwagen oder fanden langsam ihren Weg wie fallende Federn. Wenn ich wollte, klang mein Flügel so gewaltig wie ein ganzes Orchester.

Ich brauche doch keinen Preis, der mir beweist, was ich draufhab. Ich bin gut, und ich muss noch so viel lernen, mehrere Stunden jeden Tag. Ich will das ja. Es ist nicht so, dass ich zum Klavier gehe und mich schinden muss, wenn ich übe. Das ist für mich keine Pflicht, kein Muss. Für mich ist das Klavier …? Wie soll ich das erklären? Das Üben ist keine Arbeit, sondern das Klavier bin sozusagen ich! Ja, so ungefähr kann man das sagen. Wenn ich ganz bei mir sein will, dann spiele ich, dann lebe ich durch das Instrument. Deswegen kann ich auch nie und nimmer mit Klavier aufhören. Es ist nicht bloß ein schwarz lackierter Kasten, der im Wohnzimmer steht, für mich ist das mein Leben.

Und ich kann schon verdammt gut spielen, lobe ich mich selbst.

Angeberin, mahne ich schüchtern.

Also gut, bläue ich mir ein: Wenn ich jemals mit Klavier aufhöre, dann nur, weil ich nicht mehr spielen will. Oder nicht mehr kann – sei es, dass meine Finger kaputt sind oder ein Handgelenk nicht mehr will. Aber nicht wegen anderer Leute, die mir das Leben schwer machen, wegen Eisenstein oder Beatrice gebe ich doch nicht auf!

Damit das ein für alle Mal klar war, haute ich mit vollem Karacho einige Takte in die Tasten, in der Küche zuckten meine Erwachsenen vor Schreck zusammen! Ich stand auf und stürmte zu ihnen: »Gibt’s was zu essen? Ich sterbe vor Hunger!« Sie grinsten breit. Ihrer Tochter ging’s augenscheinlich besser.

Bei Tisch versuchten wir gemeinsam, diesen Wettbewerb zu verstehen. Paps sagte: »Beatrice hat ein virtuoseres Stück gespielt als du, spektakulär im Tempo. Vielleicht hat sie deshalb gewonnen!«

Wenn das der Grund war, dachte ich, dann würde ich von nun die schwierigsten Stücke der Welt spielen, und zwar mit einer Geschwindigkeit, dass mich niemand mehr schlagen konnte. Aber überhaupt keiner mehr! Meine Mama umarmte mich herzlich, mein Paps drückte mich noch fester, und ich atmete tief durch. So, und nun? Ich wollte mal wieder einen Wettbewerb gewinnen. Es war lange her, dass ich gesiegt hatte. Peinlich lang.

ALS ICH ACHT WAR …

… habe ich mal gewonnen. In Düsseldorf war ein Wettbewerb für Kinder ausgeschrieben, meine Klavierlehrerin Frau Bette hatte mich dort angemeldet – meine Eltern und ich kannten solche Vorspiele bis dahin nicht. Ich hatte ja einfach nur Klavier spielen wollen, wie viele Kinder das machen: Sie klimpern los und üben kaum, müssen aber an Weihnachten ein Liedchen spielen, damit die Familie sich freut.

Bei mir aber lief das anders. Ich hatte mit fünf angefangen und sehr schnell gelernt, es war für mich ganz leicht. Wir sind keine Musiker, keiner unserer Verwandten oder Bekannten spielt professionell Klavier, bloß mein Vater probierte nach Feierabend leichtere Stücke, ich wollte das auch. Nun also ein kleiner Wettbewerb. Meine Eltern stellten sich vor: Da sind Kinder unter zehn, die niedlich was vorspielen, was soll schon dabei sein? Meine Lehrerin Frau Bette und Paps begleiteten mich zur Vorauswahl.

Etwa fünfundzwanzig Kinder waren in Begleitung von Eltern und Klavierlehrern versammelt. Paps hat sich gewundert, weil viele Kinder gekleidet waren wie Puppen: weiße Söckchen, schwarze Lackschuhe. Die Mädchen hatten hochgesteckte Frisuren, geflochtene Haare, manche Jungen trugen wahrhaftig winzige Fracks mit Fliege, das sollte wohl zum Vorspiel besonders niedlich aussehen. Ich sah aus wie immer, trug meine blaue Hose mit Schmetterlingsmuster, es war meine Lieblingshose, dazu ein rotes T-Shirt und Stiefel. Sollte ich mich nun dafür schämen? Paps war plötzlich doch aufgeregt und ärgerte sich dabei über sich selbst – es war doch nur ein Kindervorspiel. Manche dieser eifrigen Mütter führten sich auf wie strenge Trainerinnen, wie beim Eiskunstlauf bei Olympia, sie zerrten und zupften an ihren Kindern herum und mahnten sie, alles zu geben. Oben auf einer Empore saß die Kommission, in der Mitte des Saales stand ein riesiger Flügel.

Frau Bette regte sich beinahe auf, dass ich mich nicht aufregte. Wie locker fröhlich ich kurz vor einem Vorspiel mit meinem Paps plapperte, statt zu zittern. Sie flüsterte mir genervt zu, ich müsse mich jetzt konzentrieren und mich einspielen.

»Wie macht man das?«, fragte ich zurück.

»Na, die Finger warm machen, dein Stück noch mal anspielen.«

Ich hatte eh immer kalte Finger, egal ob ich mich einspielte oder nicht. Doch jedes dieser Kinder machte das, also stellte ich mich auch vor dem großen Flügel an und klimperte was, als ich an der Reihe war. Der Klang war sagenhaft gut, und schon drängelte der Nächste. Dessen Mutter fauchte mich richtig an: »Los, jetzt ist deine Zeit zu Ende! Jetzt ist der Jan dran!«

Also saß ich wieder bei meinem Paps, zappelte mit den Füßen und wartete, bis ich aufgerufen wurde. Mir machte es nichts aus, den Prüfern in der Kommission vorzuspielen, auch wenn ich nicht so niedlich gekleidet war wie die anderen. Ich hab den zweiten Satz aus der Klaviersonate Nr. 12, KV 332 von Mozart beinahe ohne Fehler abgeliefert.2

Zum Schluss hin gab es einen Takt, bei dem ich unsicher wurde, doch ich brach nicht ab. Ich drehte mit der Melodie eine Schleife, wiederholte die Stelle, und weiter ging’s. Die Jury merkte, dass ich mich hinübergerettet hatte, sie kannten ja alle das Stück in- und auswendig. Doch ich hatte den Fehler ziemlich gut versteckt und ohne Angst weitergemacht. Anschließend verbeugte ich mich und stapfte zurück auf meinen Platz. Mein Paps schaute mich lächelnd an, drückte meine Hand, nickte mir zu. Gut gemacht! Ich grinste stolz. Andere Kinder haben auch schön gespielt, ich fand so ein Vorspiel vor vielen Leuten cool.

Zwei Wochen später rief Frau Bette an, sie war außer sich, ihre Stimme überschlug sich vor Schreck und Freude: »Clara hat sich tatsächlich für das Finale qualifiziert!«

Das war auch ein Erfolg für sie, der Beweis, dass sie eine gute Klavierpädagogin war. Den Kommentar der Jury las sie am Telefon vor: »Die musikalische Clara hat uns begeistert!«

Die Endrunde sollte bald stattfinden. Plötzlich stockte Frau Bette der Atem, erst jetzt hatte sie das Datum wahrgenommen. Ihre Stimmung kippte von größter Freude um in Verzweiflung.

»Fünfundzwanzigster November! Sie kann dort nicht spielen!«

Paps verstand nicht: »Ich denke, sie ist ausgewählt?«

Frau Bette war geschockt: »Es ist ein und derselbe Tag, lieber Himmel!«

»Was denn für ein Tag?«

Frau Bette weinte fast: »Das Mozart-Andante! Clara spielt doch zum ersten Mal in Begleitung. Ich habe bereits alles organisiert, den Kammermusiksaal in Bonn gebucht, das Quartett bestellt, die üben schon.«

Paps konnte Frau Bette nicht verstehen: »Jetzt hören Sie mir mal zu! Da ist sie nominiert in Düsseldorf, dann spielt sie auch da. Claras Konzert sagen wir erstmal ab, Sie haben ja noch andere Schüler, die was vortragen können.«

Frau Bette wurde sehr böse: »Aber Claras Auftritt soll der Höhepunkt des Abends sein!«, stritt sie mit Paps. »Es ist ihr offizielles Debüt!«

Ich habe den Streit kaum verstanden. Es ging doch einfach bloß ums Vorspielen, und das mochte ich schon immer gern. Paps wusste, dass es für mich im wahrsten Sinn des Wortes ein Spiel war, ich saß am Klavier, weil es mir Spaß machte, doch Frau Bette sah das anders. Sie war gerade dabei, mich zu entdecken. Das ist, als wenn ich vorspiele und in einer Casting-Show vier Profimusiker gleichzeitig den Buzzer drücken. Ich war acht Jahre alt, gerade noch jung genug, um ein Debüt zu geben, also den ersten öffentlichen Auftritt. Das war natürlich wichtig.

Paps ließ nicht locker: »Das Debüt kann man verschieben, aber das Finale in Düsseldorf nicht.«

Frau Bette war sauer, mein Vater war sauer, beide fanden keinen Kompromiss, sie legten empört auf. Mama machte sich Sorgen wegen der Streitereien, rief bei Frau Bette an, wollte schlichten, sprach mit Paps, aber es gelang ihr nicht, die Streithähne zu beruhigen, es gab keine Lösung, sondern nur ein Entweder-oder. Einer musste nachgeben, ein Auftritt musste ausfallen.

Das wollte ich nicht, auf keinen Fall. Denn das Debüt in Bonn sollte der Hammer werden, ich spielte zum ersten Mal mit Begleitung, richtige Profis, ein Quartett. Frau Bette und ich bereiteten uns seit Wochen darauf vor.

Sie hatte nämlich in den vergangenen zwei Jahren mitbekommen, dass ich sehr schnell lernte. Mit dem Konzert wollte sie herausfinden, ob ich etwas richtig Schweres schaffte; etwas für Könner, obwohl ich erst acht Jahre alt war. Sie wollte erleben, was passierte, wenn sie mich überforderte, deshalb gab sie mir den zweiten Satz aus einem Klavierkonzert von Mozart: »Ich hab hier ein Andante, schau mal.«

»Da spielt ein Orchester mit!«, staunte ich.

Sie zog es fürsorglich zurück: »Ja, es ist zu früh, du hast recht.«

Ich erschrak: »Nein, ich will das.«

Frau Bette lächelte stolz: »Es ist so gefühlvoll, wie du. Und sehr berühmt. Es wurde vor Jahren als Filmmusik eingesetzt. Weil es so lieblich klingt, spielen es alle möglichen Kitschmusiker. Darum musst du besonders achtsam damit umgehen, es muss so frisch klingen, wie du nur kannst. Sicher ist es romantisch, aber beschmier die Melodie nicht mit Marmelade. Wenn du das schaffst, sollten trotzdem Tränen fließen.«

Ich staunte: »Meine?«

Sie lachte auf: »Nein, die der Zuhörer bestenfalls. Diese Töne werden, wenn sie gut gespielt werden, bei Klein und Groß direkt in die Seele fallen. Darum ist Mozart so überragend. Keiner kann so komponieren. Zugleich musst du auf die hören, die dich begleiten.«

Orchester kannte ich bloß aus dem Fernsehen, das Konzert an Neujahr aus Wien, das schauten Omi und meine Eltern jedes Jahr gemeinsam, das war bei uns Tradition wie davor das Weihnachtsfest und Silvester: erst Gänsebraten, dann Böller, dann Musik. Meinte sie solch eine Begleitung für mich? Frau Bette schüttelte lachend den Kopf: »Die Wiener Philharmoniker?! Na hör mal! Wenn überhaupt, dann finden wir für dich nur ein winziges Orchester, wahrscheinlich wird es eher ein Quartett, das dich begleitet. Es kommt darauf an, ob du deine Einsätze genau findest, so etwas hast du noch nie getan.«

Mir wurde nun doch mulmig: »Ich kann es versuchen.«

Frau Bette riet mir: »Du solltest dich deshalb daran gewöhnen, den Noten zu folgen. Bei einem Konzert mit Begleitung sollte man das tun. Wenn du deinen Einsatz verpasst, stehst du dumm da.«

»Ich spiele immer auswendig.«

Frau Bette wiegte den Kopf: »Bei diesem Klavierkonzert führen die Streicher, und das Klavier folgt. Das ist etwas ganz anderes. Du musst die Noten im Blick haben!«

Ich habe geübt und kannte bald jeden Ton auswendig, und jeden Einsatz auch. Ich hatte die Noten vor mir, aber ich schaute sie kaum an. Mir war wohler, wenn ich alles in den Fingern hatte, die machten das ganz von allein. Meine Art zu spielen war eher wie Geschichtenerzählen. Satz für Satz, nicht Ton für Ton. Deshalb nutzte es mir wenig, wenn das Notenblatt aufgeschlagen da lag. Doch weil Frau Bette es wollte, hab ich es dort hingelegt, sogar umgeblättert, aber nicht hingeschaut.

Beim Einüben hat Frau Bette mit ihrem zweiten Klavier die Melodien der Begleitung übernommen, wir haben geprobt, wie Klavier und Quartett zusammenspielen. Das hat mir richtig Spaß gemacht. Es fühlte sich an, als könne man Matheaufgaben mit Tönen und Fingern lösen. Ich habe jeden Einsatz gespürt. Wie von allein spielte ich das Andante von Mozart aus dem Klavierkonzert Nr. 12, KV 414.3

Ich habe es auch daheim geübt, Mama hat zugehört: »Clara, ich habe Gänsehaut, wenn ich dich höre. Ich bin so stolz, wie gut du spielen kannst, unglaublich! Du machst mir beinahe Angst. Was da aus dir rauskommt, ist so … so … gut! Und du lernst so schnell! Mir fehlen die Worte.«

Abends sitze ich oben auf der Treppe und lausche: Mama sagt Paps, wie wunderbar ich heute Mozart gespielt habe. Ihre Stimme klingt stolz – und lieb. Sie küssen sich und schmusen, Mann, bin ich froh. Weil sie oft auch miteinander streiten, das mag ich gar nicht hören. Nun haben sie sich wieder lieb … das geschieht, wenn man Mozart hört. Ich schwör‘s, Mozart macht glücklich.

Dieses Stück soll ich in Bonn vorspielen, alles ist gebucht. Ich werde an diesem Tag die wichtigste Person sein. Und jetzt soll ich darauf verzichten? Ich denke ja gar nicht dran! Ich lasse auch den Wettbewerb in Düsseldorf nicht sausen, den werde ich gewinnen, logisch. Weshalb regen sich die Erwachsenen so auf? Mir gelingt ja auch daheim, ein Stück nach dem anderen zu spielen. Meinetwegen stundenlang. Also.

Ich machte einen Vorschlag: »Ich kann doch zweimal am Tag spielen, das dauert ja alles nicht lange.«

Mama und Paps schüttelten den Kopf, das käme überhaupt nicht infrage, das sei zu viel, ich sei zu jung für so einen Stress. Auch Frau Bette hatte ihre Zweifel: »Man kann dich ja nicht herumkarren wie eine Profimusikerin.«

Ich fand das übertrieben: »Liebe Frau Bette, ich spiele zweimal Mozart. Das ist alles, hier das Adagio, dort das Andante. Was ist schon dabei?!«

Ich wollte auf keines der Vorspiele verzichten, deshalb zog ich eine Schnute, wie nur Mädchen es können, und sagte den Erwachsenen entschlossen: »Ich spiele in Düsseldorf, und dann fahren wir nach Bonn und ich spiel da. Basta. Das ist schließlich meine Sache.«

Meine Eltern schauten sich an. Was war denn mit ihrer Tochter los?! Bestimmte die Kleine hier schon alles? Zwei Tage nach diesem Tag sollte auch noch mein neunter Geburtstag gefeiert werden. Der fiel auf einen Samstag, darum waren Verwandte und Freunde eingeladen, das musste auch noch vorbereitet werden.

»Meine Güte!«, Mama schüttelte den Kopf. »Sie ist so jung, die Süße. Und wir haben Probleme, ihre Konzerte zu organisieren. Was ist das bloß für ein Kind?«

»Tja«, stimmte Paps ihr zu. »Und wie soll das weitergehen? Was tut das Mädchen erst, wenn sie neunzehn ist?«

Mama hoffte: »Dann wird sie vielleicht Musik studieren wollen.«

Paps hatte da seine Zweifel: »Wenn sie in dem Tempo weitermacht, hat sie mit neunzehn schon fertig studiert und tourt durch Deutschland.«

Beide schauten sich besorgt an, und ich wusste, was sie dachten: »Drängen wir unser Mädchen zu Höchstleistungen? Haben insgeheim wir den Wunsch, dass sie das tut?« Mama und Paps zogen ihre Schultern hoch, sie mussten darüber nachdenken. Es gibt ja Eltern, die ihre Kinder quälen mit überzogenen Wünschen, gerade bei Klavierspielern. Sie wollten mich auf keinen Fall anstacheln. Ich habe sie angebettelt, beide Stücke an einem Tag spielen zu dürfen. Paps hat die Leute in Düsseldorf angerufen und sich erkundigt. Die teilnehmenden Kinder hatten eine Gouvernante.

Mama fiel ihm ins Wort, als er davon berichtete: »Eine Gouvernante?! Darauf kommen auch bloß die Düsseldorfer.«

Solch eine Frau betreut alle und koordiniert, wo die Kinder wann sitzen oder laufen, all dies. Diese Dame hatte am Telefon mit Paps eine Idee. Das sei zwar nicht vorgesehen, aber wenn es gar nicht anders ginge, dann dürfe ich vorzeitig von der Bühne runter, sobald ich vorgespielt hätte. In der Zeit könnte einer meiner Eltern den Wagen holen und wir anschließend gemeinsam nach Bonn fahren, eine Stunde Fahrzeit, und ich wäre rechtzeitig bei Frau Bette und meinem Debüt.

Mama blieb besorgt: »So ein Driss!« Das ist Kölsch und bedeutet Stress oder Ärger. »Du bist so jung!«

Paps schüttelte den Kopf: »Eine Stunde? An Köln vorbei – da ist immer Stau, das wird sicher länger dauern.«

Zwei Auftritte an einem Tag, das war der Hammer: »Stau gibt’s nicht!«, meinte ich.

Ich habe mich durchgesetzt, die Erwachsenen blieben besorgt. Ich hatte bis dahin noch nie mit Begleitung gespielt, aber ich kannte ja das Andante gut, darum machte ich mir keinen Kopf.

Die Probe für das Stück fand in der Aula einer Musikschule statt. Das Quartett bestand aus vier erwachsenen Musikern, die sehr nett zu mir waren: Elke und Peer spielten erste und zweite Geige, Harald die Bratsche und Tabea das Cello. Wir spielten das Stück zweimal durch, ich brauchte keine Noten, spürte meine Einsätze, es fühlte sich ganz natürlich an, ich musste nicht mal mitzählen, hatte alles im Kopf oder im Gefühl, es lief prima.

Dann kam der große Tag! Mama, Paps und Omi fuhren mit mir in die Düsseldorfer Tonhalle, wo sonst berühmte Musiker ihre Konzerte geben, und nun durften wir kleinen Rheinländer rein. Alle Kinder saßen aufgereiht auf der Bühne. Wieder waren die anderen gekleidet wie Erwachsene, Mama hatte mich auch schick gemacht, in einen Rock gesteckt, dazu Lackschnürschuhe und einen dunkelroten Pullover. Oma fand das ganz goldig, mir war mein Aussehen im Moment egal. Ich musste mich immerzu umschauen: Die Tonhalle war rund gebaut und hatte eine große Kuppel – der Bau war ursprünglich mal als Planetarium geplant. Direkt unter der runden Kuppel stand der Flügel. Ich war noch nie in einem so großen Raum gewesen, außer natürlich in unserem Kölner Dom – der war sowieso der Größte. Nun stand ich hier, klitzeklein. Und war dran!

Ich hatte auch noch nie so einen großen Flügel gesehen, meine Fußspitzen erreichten gerade so das Pedal. Ein riesiger schwarzer Klavier-Titan.

In den wenigen Sekunden, als die Menschen im Saal langsam still wurden und ich mich konzentrieren sollte, setzte sich Mozart neben mich. Er war auch nicht gerade der Größte.

»Ich war achtzehn, als ich das komponierte, in München.«

Das sagte er mir. Ich schaute ihn an – kein Grund, sich aufzuregen, wenn einem Mozart auf die Pelle rückt. Ich drehe nicht durch, bloß weil ich gleich vor Publikum solo spiele. Ich unterhielt mich einfach gern mit Komponisten: »Was haben Sie gedacht, als Sie den zweiten Satz geschrieben haben?«

Amadeus zappelte herum, er konnte nicht still sitzen: »Sag doch bitte du zu mir, liebes Clara-Mädchen. Ich habe an eine süße Frau gedacht. Natürlich, was denn sonst? Ich denke immer an süße Frauen. Frisch und klein wie Himbeeren müssen sie sein. Spiel das Stück leicht- und sehnsüchtig. Ich erträume mir ein Mädchen, das ich küssen möchte, und es sehnt sich ebenso danach, aber sie traut sich nicht. Geht auf mich zu, geht wieder weg. Tanzt ein wenig, kommt wieder, steht viel zu nah bei mir, ich rieche ihr Parfum und werde ganz verrückt davon. Sie hätte mich küssen können, hat sich aber nicht getraut, es ist ein Jammer. Spiel es genau so.«

So versuchte ich, jedes Stück zu verstehen. Jede Melodie hatte eine Geschichte, ob wahr oder nicht, war egal. Manchmal las ich was über den Komponisten, um auf eine Idee zu kommen, oder ich dachte sie mir aus. Hauptsache, ich spürte ein Gefühl, eine Stimmung. Ich brauchte solche Einfälle – die spann ich mir zusammen, während ich spielte. In Gedanken nun genau da, wo Mozart mich hinführte mit seinem zweiten Satz der Sonate in F-Dur, KV 280, dem Adagio.4

Es gibt in diesem Adagio Stellen, bei denen es mir auf ein paar Töne ankommt, die ich besonders schön spielen will und die mit diesem Flügel in Düsseldorf perfekt gelingen. Puh, die Töne klingen wie goldene Tropfen! Ich drücke die Taste, der Ton füllt den Raum, jeder einzelne, so unglaublich schön! Das schafft mein Klavier daheim nicht, das kann nur dieser Flügel. Ich vergesse, dass es ein Wettbewerb ist, bin kein bisschen nervös, ich will bloß mit dem schwarzen Riesen vor mir spielen, der so wunderbar klingt.

Leider ist alles viel zu schnell zu Ende, keine sechs Minuten. Unmittelbar danach führte mich die Gouvernante zu einer kleinen Tür, dort nahm Mama mich in Empfang, gab mir andere Kleidung, eine graue Hose und eine schwarze langarmige Bluse. Schnurstracks fuhren wir nach Bonn zum Konzert. Es tat mir nun doch leid, diese Hetzerei, ich wäre so gern in der Tonhalle geblieben, beim Flügel mit seinem herrlichen Klang und bei den anderen Kindern.

Paps fuhr schnell, und wir kamen nicht mal in einen Stau. Und dann in Bonn wurde ich supersauer! So wütend wie noch nie in meinem Leben, und noch heute werde ich stinkig, wenn ich daran denke. Das Konzert fing gut an, ich spielte mit den Musikern des Quartetts toll zusammen, die Zuhörer waren gerührt. An einer Stelle kam ich plötzlich aus dem Takt. Das konnte passieren, ich musste bloß cool bleiben. Das hatte ich ja so ähnlich auch in Düsseldorf geschafft, in der Vorrunde. Also hörte ich auf, um nicht noch mehr Durcheinander hineinzubringen. Ließ das Quartett allein weiterspielen und wartete auf die nächste Gelegenheit, um wieder einzusetzen. Mein Problem dauerte nur einen kurzen Moment, zwei Takte lang, mehr nicht. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass das Publikum den Fehler nicht mal mitbekam, ich brauchte bloß gleich einzusetzen, ich hatte das im Griff.

Aber Frau Bette vertraute mir nicht, das werde ich ihr nie verzeihen. Sie stand doch wahrhaftig auf und brach das Konzert ab, weil sie meinte, mir die Stelle in den Noten zeigen zu müssen. Die dachte wohl, ich hätte Angst bekommen und deshalb aufgehört. Oder einen Blackout gehabt und nicht mehr gewusst, wie es weitergeht. Als ob mir so was passiert! Zeigte die mir vor allen Leuten die Stelle in der Partitur. Stupste mich mit dem Finger drauf, das tat man doch bloß mit einem Idioten! Ich war so sauer!

»Ich weiß, wann ich einsetzen muss«, raunte ich ihr zu.

Ich schämte mich. Alle sahen, dass ich aus dem Takt gekommen war. Ich spielte weiter, es lief problemlos, wir bekamen am Ende natürlich Applaus, das Quartett und ich. Aber es war für mich nichts wert, es war alles schlecht wegen Frau Bette. Mit Müh und Not bedankte ich mich bei den Musikern mit einem gespielten Lächeln, doch eigentlich war mir zum Heulen zumute. Ich hörte den Applaus nicht, die Glückwünsche der Leute auch nicht. Biss auf meine Lippen, damit ich hier nicht durchdrehte vor allen Leuten.

Wir fuhren heim nach Köln, im Auto konnte ich hemmungslos weinen und dazu schimpfen, aber wie! Noch bis spätabends habe ich meinen Eltern versichert, dass ich alles unter Kontrolle hatte, Frau Bette hätte doch nur zwei Takte Geduld haben müssen. Niemand hätte etwas bemerkt! Das habe ich so ungefähr zweihundertmal wiederholt.

»Wann wird sie das verwinden?«, fragte Mama.

»Die hat ja Allüren wie eine Große!«, klagte Paps.

Ich war Tage, Wochen, ja Monate untröstlich und so derart sauer auf meine Lehrerin. Der nächste Hammer kam dann: Frau Bette rief an, ich hatte den Wettbewerb in Düsseldorf gewonnen! Erster Preis! Meine Erwachsenen waren aus dem Häuschen, Frau Bette auch. Aber ich konnte mich nicht freuen, ich dachte nur an meine Lehrerin, die mir in Bonn die Stelle hatte zeigen müssen, wo ich einsetzen sollte.

Ich hatte Geburtstag, alle netten Leute waren da, aber ich konnte nur an das vermasselte Konzert denken. Das fanden meine Eltern übertrieben: »Nun krieg dich mal langsam ein!«

Tage später hatte Frau Bette ihre Wohnung vorweihnachtlich geschmückt, ich hatte bei ihr Unterricht und sah das alles nicht mehr, ich mochte sie nicht mehr, lernte nichts, ich freute mich nicht mal auf die Feiertage. Maulte daheim jeden Morgen, Mittag und Abend bis Heiligabend weiter herum: »Kein Schwein hätte bemerkt, dass ich da aufgehört habe, und die haben ja alle vier weitergespielt, und ich hätte mich im Takt wieder gefangen. Und sie bricht ab!«

Paps schmückte eben den Baum, da unterbrach er mich: »Clara. Es reicht.« Ich lamentierte weiter: »Das tut man doch nicht, kommt einfach auf das Podium und zeigt mit dem Finger auf die Noten!«

Er legte die Weihnachtskugel zurück, die er hatte aufhängen wollen. Setzte sich zu mir. Ich holte Luft, wollte weitermeckern.

»Ruhe jetzt!«, sagte er entschieden, deutlich lauter als sonst. »Du kannst dich ärgern, aber einmal muss Schluss sein. Es war ein Konzert für Kinder, nicht mehr und nicht weniger. Du spielst ziemlich gut, aber du bist nichts weiter als ein Grietje, ein Gör, gerade mal neun. Und benimmst dich wie eine Diva, die in ihrer Ehre gekränkt wurde.«

»Aber …«, wollte ich erklären, und holte Luft für neue Proteste: »Schließlich hat Frau Bette Mist gebaut. Was sollen die Leute denken …« Weiter kam ich nicht, Paps platzte der Kragen, er brüllte, wie ich es noch nie erlebt hatte: »Halt endlich dein Maul, godverdomme

Ich starrte ihn an – wie redete denn mein friedlicher Paps mit mir?! Ausgerechnet an Weihnachten?! Mama kam ins Wohnzimmer, ich schaute sie fragend an, doch die war ganz seiner Meinung: »Wenn deine Musik dazu führt, dass du eine eingebildete blöde Tussi wirst, die sich wochenlang nicht einkriegt, hört das auf, und zwar sofort. Kein Unterricht mehr bei Frau Bette, keine Konzerte, das Klavier wird verkauft.«

Beide sahen mich entschlossen an. Ich schluckte und murmelte: »Frohe Weihnachten.«

Da nahmen sie mich lächelnd in den Arm und drückten mich, und langsam konnte gute Stimmung in unser Wohnzimmer einziehen. Heimlich habe ich natürlich weiter gemurrt, aber keinen Ton mehr hören lassen. Als dann die Heiligen Drei Könige vorbei waren, sagte Paps zögernd und besorgt: »Okay.«