Buchcover

Inger Gammelgaard Madsen

Der Schrei der Kröte

Kriminalroman

Aus dem Dänischen von
Hanne Olsen

Saga

*

Als er sich aufrichtete, versanken die blankpolierten neuen Schuhe, die er nur zu besonderen Anlässen trug, im Morast, und er wäre beinahe nach hinten umgekippt.

Das kribbelnde Gefühl von etwas Zerbrechlichem, das man zwischen den Fingern zerquetscht, überzog seine Haut auf unangenehme Weise. Gleichzeitig empfand er eine Heiterkeit, die an sexuelle Erregung erinnerte. Das Gefühl überraschte ihn – und dann auch wieder nicht. Es war wie damals mit den Kröten im Garten des Hauses seiner Kindheit, in den Pflanzen rings um den kleinen Gartenteich. Diese hässlichen, ekligen Kröten mit den Warzen auf dem Rücken! Plump und hilflos krochen sie über die gefliesten Gartenwege. Manche von ihnen waren genauso groß wie die Sohlen seiner Kinderschuhe. Wenn er auf sie trat, wedelten die kleinen Beinchen mit den vier kurzen Zehen, die wie amputiert aussahen, hilflos unter seinem Schuh. Der verzweifelt schreiende Heulton, den sie dann von sich gaben, ließ ihn nur noch fester treten. Bis er es knirschen hörte und es still wurde. Einige starben auch schweigend. Nicht alle Kröten konnten offenbar ihren Schmerz hörbar machen. Danach warf er die platten Leichen in den Gartenteich. Mama wunderte sich dann, welche Krankheit die Kröten wohl gehabt hatten, die da mit dem Bauch nach oben tot im Wasser lagen und zu riechen anfingen.


Er stand da, ließ die Arme herabhängen und streckte abwechselnd die Finger aus und ballte sie wieder zu Fäusten, um das kribbelnde Gefühl loszuwerden. Die Hose war an den Knien dreckig. Hektisch versuchte er die Erde wegzuwischen. Er atmete angestrengt, stoßweise, spürte den Schweiß als klebrige Schicht auf der Stirn. Die feuchte Luft war schwülwarm wie eine schwere Decke. Der Geruch von fauligen Blättern und Morast stieg ihm in die Nase. Die Panik kam schleichend und mischte sich mit dem Gefühl der Frustration. Er blickte sich um. Es war niemand da. Ein Glück, dass es regnete, das hielt die Leute im Haus. Er schaute zum Himmel auf und ließ den Regen in sein Gesicht prasseln. Die kleinen kalten Schläge der Tropfen auf seiner Haut ließen ihn leicht zusammenschaudern. Auch ein Gefühl, das er seit seiner Kindheit nicht mehr empfunden hatte. Mit geschlossenen Augen trank er das Wasser, das auf seine Lippen tropfte.

Unvermittelt blickte er auf sie hinab. Das Regenwasser hatte angefangen, sich in ihren Augenhöhlen zu sammeln. Der Körper war überraschend schwer, als er ihn aufhob. Ein Arm fiel schlapp nach unten, klatschte gegen seine Hüfte, als er im Regen zu laufen begann. Das Wasser strömte an ihren Wangen hinunter wie Tränen. Er spürte, wie ihm das Weinen im Hals hochstieg. Warum hatte sie geschrien? Er hasste dieses Heulen. Sie hätte einfach tun sollen, was er ihr sagte. Die Tränen mischten sich mit dem Regenwasser. Sie schmeckten salzig in seinem Mund.

1

Die Stimme des Nachrichtensprechers im Radio berichtete von verschiedenen Unruhen und Selbstmordattentaten im Mittleren Osten. Ohne zu verfolgen, was im Einzelnen gesagt wurde, lauschte sie der Stimme. Es war alles so weit weg. Wie auf einem anderen Planeten, schien es ihr. Dänemark ist einem Terrorangriff näher gekommen, seit wir zusammen mit den Amerikanern im Irak in den Krieg gezogen sind, sagte ihr Mann zwar immer wieder. Und dass die Welt grausam sei. Aber es war nicht ihre Welt. Sie fühlte sich in Dänemark geborgen, vor allem in Jütland und insbesondere in Aarhus, wo selten mehr passierte als ein paar Überfälle und die eine oder andere Vergewaltigung. Natürlich war so etwas schon schlimm genug, aber selbst das bewegte ihre kleine Welt in ihrem Haus im Aarhuser Stadtteil Brabrand nicht – eine Welt, die von einer hohen Ligusterhecke geschützt war.

Die Nachrichten waren zu Ende und wurden von Musik abgelöst. Beim Lied »Kære lille mormor« des dänischen Schlagersängers Richard Ragnwald summte sie mit. Dabei sah sie durch das Küchenfenster, wie ihre Teenager-Tochter zum Haus zurückgerannt kam. Der Abfalleimer an der Haustür war übervoll gewesen, weil sie vergessen hatten, ihn am Abend zuvor für die Müllabfuhr heute Morgen an die Straße zu stellen. Und deshalb hatte sie Maria, die ohnehin die ganze Zeit nur mit ihrem sogenannten iPod in ihrem Zimmer herumhing, gebeten, ihn hinunter zum Container zu bringen. Sie verstand sich nicht auf all diese modernen Geräte, die junge Mädchen heutzutage haben mussten.

Mit den beiden anderen, die nun längst schon von zu Hause weggezogen waren, war es nicht so gewesen. Sie hatten eigentlich nicht geplant gehabt, noch einmal ein Kind zu bekommen, aber dann ...

Sie richtete den Blick in den Himmel. Bald würde es wieder regnen. Wo blieb diesen Sommer die Sonne? Lange war kein Sommer mehr so verregnet gewesen wie in diesem Jahr 2007.

Maria taumelte atemlos in die Küche, ohne die Schuhe auszuziehen.

»Mama, Mama! Irgendwas liegt im Container!«

»Was soll da liegen?«

Im Radio hatte ein Journalist eine Diskussion mit einem Politiker angefangen. Sie schaltete aus.

»Eine Hand.« Marias Stimme zitterte.

Meine Teenager-Tochter schaut zu viele Filme, dachte sie lächelnd und fuhr fort die Schwarzbrotscheiben für das Mittagessen zu schmieren. Und an Fantasie hat es ihr auch nie gemangelt.

»Ach, da hat wahrscheinlich nur jemand eine Puppe weggeworfen, glaubst du nicht?«

»Nein!« Das Mädchen atmete schwer.

Als sie den Blick auf ihre Tochter richtete, wurde ihr bewusst, dass hier wohl wirklich etwas nicht stimmte. Maria war leichenblass. In ihren Augen leuchtete eine Angst, wie sie sie noch nie zuvor an ihr erlebt hatte. Verkrampft hielt sie die Abfalltüte noch immer fest in der Hand. Dann fing sie an zu weinen und ließ die Tüte auf den frisch geputzten Küchenboden fallen.

Beunruhigt trocknete sie sich die Hände an der Schürze ab. »Aber so was, Liebes, du musst dich täuschen. Das kann doch nicht sein!«

Sie zog sich schnell einen Pullover über.

»Dann gehe ich mal selbst hin und kläre, was genau das ist, was du da für eine Hand hältst.«

Mit sanftem Druck gebot sie Maria, die nun am ganzen Körper zitterte, sich auf einen Stuhl am Küchentisch zu setzen. Sie füllte schnell ein Glas kaltes Wasser aus dem Hahn und stellte es vor ihre Tochter hin.

»Trink einen Schluck, ich bin gleich zurück.«

»Nein, Mama, du darfst da nicht hingehen. Was ist, wenn der Mörder noch in der Nähe ist?!«

Sie lächelte nachsichtig. »Sehen wir erst einmal nach, worum es sich überhaupt handelt.«

Auf dem Weg zum Abfallcontainer fühlte sie trotzdem, wie die Unruhe in ihr aufstieg und größer wurde, und ihre Beine begannen zu zittern. Wenn es wirklich stimmte, was ihre Tochter sagte, was sollte sie dann tun? Sogleich schüttelte sie den Kopf über ihre Gedanken. Natürlich lag da keine Hand im Abfallcontainer. Die Luft war schwülwarm und feucht. Sie zog an ihrer Bluse, hielt sie vom Leib weg, um sich etwas Kühlung zu verschaffen. Die abgenutzten Clogs, die sie in Eile angezogen hatte, behinderten ihren schnellen Gang.

Der Container war ein großes, geschlossenes Modell. Jetzt war er rostig braun, aber irgendwann war er wahrscheinlich rot gewesen. Vorne befanden sich drei Klappen. Eine stand offen. Maria war offenbar weggerannt, ohne sie zu schließen. Sie blickte hinein, und ein lauwarmer Geruch von Verwesung schlug ihr entgegen. Fliegen schwirrten. Sie entdeckte die Hand zwischen den schwarzen Abfalltüten und einem alten, fleckigen Stuhlkissen. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz fing an zu hämmern. Sah aus wie eine Menschenhand. Sie schaute sich nach einem Gegenstand um, der lang genug war, und entdeckte einen Stock auf dem Boden. Sie hob ihn auf. Er reichte genau bis zur Hand. Sie hob sie vorsichtig mit dem Stock an. Bei der Bewegung sackte eine der schwarzen Tüten zur Seite und legte den ganzen Arm frei, dazu eine Schulter und ein Stück weißen Halses. Im Licht, das durch die Klappe fiel, konnte sie sehen, dass die Farbe des dünnen Halses mehrere Schattierungen von kreideweiß bis bläulich-schwarz durchlief. Sie wusste nicht, woher sie den Mut nahm, und verstand auch noch nicht wirklich, was sie da sah. Alles verlief wie in Trance. Langsam hob sie den Stock wieder und schubste den Karton beiseite, der die Stelle verdeckte, wo der Kopf sein musste. Der Karton fiel um. Sie folgte ihm mit den Augen, während er wie in Zeitlupe ein paar Kippbewegungen vollzog, ehe er zur Ruhe kam. Dann erst richtete sie den Blick auf die Stelle, wo er gelegen hatte. Sie wollte schreien, aber es ging nicht. Es schnürte ihr die Kehle zu.

Ein Gesicht war zum Vorschein gekommen. Die Augen starrten tot und leer zum Dach des Containers hinauf, der Mund stand offen, und die Lippen waren blauschwarz. Es war ein kleines Kind. Ein kleines Mädchen.

Sie warf den Stock weg und rannte mit der Hand vor dem Mund zum nächsten Gebüsch. Ihr Zwerchfell krampfte, und sie konnte nichts dagegen tun. Der bittere Geschmack stieg hoch und brannte ihr im Rachen. Sie nahm die Hand weg, als die warme Flüssigkeit kam, und erbrach sich zwischen den Büschen.

2

Leise drang das Klingeln des Telefons durch die Badezimmertür und das dicke Frotteehandtuch hindurch, das sie sich um die nassen, frisch gewaschenen Haare gewickelt hatte. Obwohl es schon nach Mittag war, war sie gerade erst aufgestanden. Es gab nichts, wofür sie hätte aufstehen sollen. Natürlich waren da der Abwasch, das Aufräumen und die Wäsche. Das Haus sah aus, als hätte sie bis in den hellen Morgen hinein eine wilde Party gefeiert. Auch ihr Kopf fühlte sich entsprechend an. Wenn es bloß so gewesen wäre! Dann hätte sie wenigstens ihren Spaß gehabt. Stattdessen hatte sie eine ganze Flasche Rotwein allein geleert, während sie auf das sterbenslangweilige Programm auf dem Bildschirm gestarrt hatte, ohne irgendetwas davon zu sehen und zu hören. Ihre Gedanken hatten sich in einer völlig anderen Welt befunden. Als dann die Augenlider langsam schwer geworden waren und sie bemerkt hatte, dass sie in einer unbequemen Stellung eingenickt war, was ohne Zweifel sowohl Verspannungen als auch einen steifen Nacken zur Folge haben würde, hatte sie die Glotze ausgeschaltet. Sie hatte keine Energie zum Aufräumen mehr gehabt und so war sie ins Bett gefallen und in einen unruhigen Schlaf mit Albträumen gesunken, an die sie sich nun nicht mehr erinnern konnte. Aber sie blieben als ein unangenehmes Gefühl in der Seele hängen. Sie erinnerte sich an ein paar flüchtige Sequenzen. An etwas, woran sie sich nicht erinnern wollte.

»Sie sind Kamilla Holm?«, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Ja.«

»Kamilla Holm, die freiberufliche Fotografin?«

Sie zögerte. Es klang nach Arbeit. »Ja«, antwortete sie trotzdem und dachte daran, wie viele Male sie im letzten Jahr Aufträge abgelehnt oder das Telefon gar nicht erst abgenommen hatte.

»Genau die«, bestätigte sie mit fester Stimme.

»Sie wurden mir empfohlen. Ich bin neu«, sagte die Stimme mit Kopenhagener Akzent und klang jetzt noch beflissener.

Neu wobei?, überlegte sie und schnürte sich den Gurt des Bademantels zu, während sie den Hörer zwischen Schulter und Kinn festklemmte. »Ich rufe Sie aus der Redaktion des Tageblatts an«, fuhr die Stimme fort, als hätten sich Kamillas Gedanken via Telefonleitung übertragen. Wahrscheinlich eine neue Journalistin. Die alten waren sicher alle längst weggezogen, und die ihr bekannten Presseleute, mit denen sie früher so viele Termine abgedeckt hatte – Unternehmenseinweihungen, die Festwoche in Aarhus oder politische Veranstaltungen –, waren bestimmt inzwischen durch unbekannte neue ausgewechselt worden. Es war über ein Jahr her, seit sie zuletzt für die Zeitungsredaktion gearbeitet hatte. Seit sie überhaupt gearbeitet hatte. Ihr Konto war bereits entsprechend leergeräumt. Die Bank hatte ihr kürzlich einen Brief geschrieben, um sie darauf hinzuweisen, dass sie ihren Dispositionskredit überschritten hatte – als hätte sie kein Online-Banking und wäre sich nicht selbst darüber im Klaren. Aber so konnte es nun wirklich nicht mehr weitergehen; die Bank hatte lange genug Verständnis gezeigt.

Immerhin war da offenbar noch jemand in der Redaktion, der sich an sie erinnerte und der sie empfohlen hatte. Jemand, der mit ihrer Arbeit zufrieden gewesen war. Thygesen, vermutete sie. Es war garantiert Ivan Thygesen. Sie war immer schon davon ausgegangen, dass er bis zur Pensionierung bleiben würde. Er war der Typ Chef, der bei seinen Mitarbeitern den Eindruck erweckte, kein Leben neben dem Beruf zu haben. Er saß am Schreibtisch, wenn sie am Abend nach Hause gingen, und er saß wieder dort – oder immer noch – wenn sie am Morgen wiederkamen. Das einzige Zeichen, dass sich während der Nacht etwas verändert hatte, war sein frisches Hemd.

»Ich habe eine Aufgabe für Sie – falls Sie Lust haben?« Der letzte Satz kam etwas zögernd. Thygesen hatte die Journalistin wohl auch gleich vorgewarnt, dass sie das Risiko einer ablehnenden Antwort in Kauf nehmen müsse, und mit Sicherheit stand auf ihrem Block noch eine andere Nummer, die sie anrufen konnte. Oder sogar mehrere; es gab ja genügend freiberufliche Fotografen. Offenbar hatte die Redaktion immer noch keinen festen Fotografen angestellt. Aber die Journalistin hatte sie angerufen. Jetzt war ihre Chance gekommen. Sie musste sie nutzen. Wieder anfangen.

»Natürlich«, hörte sie sich sagen.

»Können wir uns so schnell wie möglich am Edwin Rahrs Vej in Brabrand treffen? Es ist leicht zu finden.«

»Ja! Ich bin schon unterwegs.«

»Ich heiße übrigens Anne Larsen«, ergänzte die Journalistin.

Kamilla hatte sich das nasse Handtuch schon vom Kopf gerissen, noch ehe sie auflegte. Während sie sich gleichzeitig die Haare föhnte und sich anzog, kam ihr in den Sinn, dass sie gar nicht gefragt hatte, worum es überhaupt ging. Was hatte die Journalistin wohl gemeint, als sie sagte, dass der Ort leicht zu finden sei? Ihr erster Auftrag seit einem Jahr, und dann vergaß sie so wichtige Sachen. Hatte sie völlig die Routine verloren?

3

Rechtsmediziner Henry Leander kam nach Möglichkeit immer sofort mit den Kriminaltechnikern zum Fundort – ehe andere damit anfingen, auf Spuren herumzutrampeln, die möglicherweise entscheidende Beweismittel liefern könnten.

Obwohl er sich als ein erfahrener Rechtsmediziner fühlte, musste er zugeben, dass sich ihm bei jeder neuen Aufgabe angstvoll der Magen zusammenzog. Er wusste nie, welcher Anblick ihn erwartete. Doch zugleich war dieses Zusammenziehen auch das, was ihn antrieb. Es war auch ein Ziehen der Spannung, der Lust, ein Rätsel zu lösen, die Fehler des Mörders zu finden und ihn – oder sie – zu entlarven. Ohne Frage, er liebte seinen Beruf, obwohl er zur Folge gehabt hatte, dass er nach Marys Tod vor neun Jahren die Suche nach einer neuen Frau mittlerweile hatte aufgeben müssen. Sie war ihm fünfundzwanzig Jahre lang eine gute, treue und vertraute Partnerin gewesen. Nachdem sie viele Jahre lang stark geraucht hatte, war sie kurz nach ihrer Silberhochzeit an Lungenkrebs gestorben. Sie hatte sich nie daran gestört, wenn er, spät in der Nacht nach Hause gekommen, zu ihr ins Bett kroch, obwohl er bis eben mit einer verwesten Leiche beschäftigt gewesen war. Sie war Tierärztin gewesen und hatte bei ihrer Tätigkeit selbst ausgiebig in diesem und jenem gewühlt. Drei Jahre nach ihrem Tod hatte er bei Freunden eine junge Witwe kennengelernt. Sie war englischer Herkunft, wie er selbst auch und wie es auch Mary gewesen war, also hatte er geglaubt, dass sie etwas gemeinsam haben müssten. Aber die junge Witwe konnte den Gedanken an seine Toten nicht ertragen, wie sie es nannte. Sie behauptete, dass er nach ihnen stinke, und wich zurück, wenn er sie umarmen wollte. Er hatte versucht ihr zu erklären, dass er beim Berühren der Toten sterile Handschuhe trug und dass er sich duschte, bevor er zu ihr nach Hause fuhr, aber das hatte nicht geholfen. Natürlich hatte es auf Dauer nicht gutgehen können. Und so hatte er sich entschlossen – nicht zuletzt auch angesichts seines nicht mehr ganz jugendlichen Alters von neunundfünfzig Lenzen –, die Frauenjagd aufzugeben. Er kaufte sich einen English Setter, den er Bruce nannte, weil ihn etwas an ihm an Bruce Willis erinnerte, trat in den English-Setter-Verein ein und fing an, auf eine Jagd anderer Art zu gehen. Die letzten beiden Schritte unternahm er vor allem um des sozialen Miteinanders willen. Die Jagd passte zudem gut zu seinem aristokratisch britischen Aussehen, und er sah, wie er selbst fand, in seiner khakifarbenen Jagdkleidung einfach perfekt aus. Gleichzeitig gab ihm das Jagen oft die Gelegenheit, am frühen Morgen in den großen Wäldern unterwegs zu sein, wenn noch Tau auf den Spinnweben lag und sich der Morgennebel wie kühle bläuliche Bänke zwischen die Baumstämme schob. Zwar gingen nicht viele Frauen auf die Jagd, und so hatte ihm sein Hobby auf diesem Gebiet keine weiteren Möglichkeiten eröffnet, aber zumindest Bruce hatte ein Weibchen gefunden und war Vater eines Wurfs geworden, so dass sie auf diese Weise einen kleinen Familienzuwachs erhalten hatten.

Kriminalkommissar Roland Benito war bereits eingetroffen und begrüßte ihn mit einem Kopfnicken, als er den Container erreichte. Sie hatten einander lange nicht gesehen, und die Stimmung reichte nur für das formelle Nicken.

»Es ist ein kleines Mädchen«, sagte Roland. Es klang wie eine Warnung. Ein Beamter von der kriminaltechnischen Abteilung war in weißer Schutzkleidung, mit Plastiküberzügen über den Schuhen und mit einer Kamera in der Hand in den Container geklettert. Die Blitzlichter leuchteten in der Dunkelheit auf. Der Container war so eng, dass immer nur einer hineinpasste. Endlich kletterte der Kriminaltechniker heraus und bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er mit seiner Arbeit fertig war. Ungeschickt kletterte nun Leander in den Container. Die Öffnung befand sich etwa einen Meter über dem Boden, und sein Fuß versank im Abfall, als er hineintrat. Etwas Feuchtes drang durch seine Socke. Er roch sofort die Verwesung und dachte an Ratten. Er verabscheute Ratten mehr als alles andere. Ratten konnten eine Leiche bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Das konnte zum einen die Identifikation verzögern. Zum anderen war es kein schöner Anblick.

Er knipste die Taschenlampe an. Das Mädchen lag gebettet wie auf einer Bahre von schwarzen Abfallsäcken. Ihre Augen fixierten das Dach des Containers, als hätte etwas dort oben ihren Blick zum Erstarren gebracht. Spontan blickte auch er nach oben und schlug mit dem Hinterkopf gegen die Containerdecke. »Au, verflixt!«, rief er.

»Ist etwas passiert?«, fragte Roland und steckte den Kopf durch die Öffnung. Leander hatte die Taschenlampe verloren. Der Lichtkegel leuchtete schräg ins Gesicht des toten Mädchens und warf groteske Schatten – wie wenn sich Kinder auf ihr Kinn leuchten, um sich gegenseitig in der Dunkelheit zu erschrecken.

Leander hob die Taschenlampe auf und hockte sich neben das Mädchen, nachdem er nun schmerzhaft erfahren hatte, dass man im engen Container nicht aufrecht stehen konnte. Vorsichtig strich er die schlammigen Haare von ihrer Wange und verlor beinahe wieder die Lampe, als er sah, wie ein schwarzer Käfer eilig vom Ohr des Mädchens krabbelte und sich zwischen fauligen Blättern versteckte. Leander zog eine Grimasse, als er ihn als einen Vertreter der Gattung Necrodes littoralis erkannte – auch Totengräber genannt. Seit vielen Jahren waren Insekten sein großes Hobby. Auch das fanden die meisten Frauen bizarr. In einer Ecke im Keller hatte er einen kleinen Raum mit Brettern und Regalen eingerichtet, die voll von Gläsern und Terrarien mit Insekten waren. Einige hatte er selbst in der Natur aufgelesen, andere wurden im Keller ausgebrütet und hatten das Leben draußen nie kennengelernt. Dennoch behielten sie ihre Instinkte und ihre gewohnte Lebensart bei, und genau das faszinierte ihn. Ein Insekt kann sehr viel über das Alter einer Leiche verraten. Eier und Puppen entwickeln sich innerhalb eines exakten Zeitschemas zu Insekten, und er hatte so viel über das Thema gelesen, dass er die Entwicklungsstadien auswendig wusste, obwohl sie auch von den Temperaturen und der Luftfeuchtigkeit vor Ort abhängig waren. Er leuchtete mit der Taschenlampe im Container umher. Wie es hier um die Luftfeuchtigkeit bestellt war, war unschwer festzustellen. Nasse Tropfen troffen an den Seiten des Containers herab. Der verregnete Sommer draußen sorgte hier drinnen für ein ganz eigenes Klima. »Wie lange ist sie schon tot?«, fragte Roland draußen vor der Öffnung und Henry Leander blickte nach oben.

»Rigor Mortis ist eingetreten. Die Leichenstarre beginnt nach zwei bis vier Stunden einzusetzen. Ihr ganzer Körper ist bereits steif, das heißt, dass es auf jeden Fall mehr als acht Stunden her ist. Allerdings ist das bei einem so kleinen Körper schwieriger zu beurteilen. Aber ich kann präzisere Angaben machen, sobald ich sie bei mir in der Rechtsmedizin habe. Das Mädchen ist ungefähr zehn Jahre alt. Mit bloßen Händen erwürgt.«

Er hob die steife Hand des Mädchens an und drehte sie im Licht der Taschenlampe. »Sieht aus, als ob sie festgebunden gewesen wäre«, murmelte er und zeigte auf die wohl von einem Seil herrührenden roten Streifen an beiden Handgelenken. Roland schaute in die andere Richtung.


Henry Leander unten im Container blieb einige Zeit lautlos. Roland kannte seinen alten Freund. Sie hatten viele Jahre zusammengearbeitet, und er wusste, dass der Rechtsmediziner jetzt wie ein Spürhund das tote Mädchen untersuchte, obwohl hier weiß Gott nicht die beste Umgebung dafür war. Mit einem Ausdruck des Unbehagens im Gesicht kletterte Leander schließlich aus dem Abfallcontainer. Roland reichte ihm seinen Arm als Stütze.

»Pfui, wie abscheulich, ein Kind an so einem Ort abzulegen!«

Roland antwortete nicht. Sie hatten beide schon vieles erlebt und gesehen – insbesondere in ihrer gemeinsamen Zeit in Kopenhagen –, aber glücklicherweise war es lange her, dass sie mit einer Aufgabe wie dieser konfrontiert worden waren.

Das rot-weiß gestreifte Absperrband der Polizei flatterte im Wind um den Container. Sie gingen ein paar Schritte zur Seite. Leander zog die weißen Latexhandschuhe aus und schob sich die Nasenschutzmaske unter das Kinn. Beide schwiegen und dachten an das, was sie gerade im Container gesehen hatten.

Sobald sie den Fundort der Leiche verließen, zündete sich Roland Benito eine Zigarette an. Er musterte Leander, wobei er – wegen des Rauchs – die Augen zusammenkniff. Ein totes Kind war seiner Ansicht nach der schlimmste Anblick, dem man überhaupt ausgesetzt werden konnte.

»Hast du etwas von Bedeutung gefunden?«

»Da ließ sich nicht viel machen – mit Schutzanzug, Handschuhen und Nasenschutzmaske. Es gibt da drinnen so viel Dreck, Gartenabfall und allen möglichen Mist. Wir müssen den Container genauer untersuchen, wenn wir das Mädchen herausgenommen haben.«

Roland nickte. »Natürlich.« Er nahm einen tiefen Zug.

Den Edwin Rahrs Vej entlang hatten die Leute angefangen, falsch zu parken. Sie glotzten aus den Autofenstern oder standen neben den Autos und verfolgten das Geschehen am Container. Roland war sich darüber im Klaren, dass der Mord nicht mehr lange geheim gehalten werden konnte.

»Leider muss ich davon ausgehen, dass es sich um ein Sexualverbrechen handelt«, sagte er, während er mit finsterem Blick nach Leuten Ausschau hielt, die es wagten, über die Absperrbänder zu steigen. Er hatte Angst vor den Reaktionen in der Stadt. Schon ein Kindermord drüben in Kopenhagen, weit weg auf der Insel Seeland, konnte die Bevölkerung hier tief erschüttern. Was würde dann ein Kindermord in ihrer eigenen Stadt auslösen – Aarhus, gütiger Gott, auch »Stadt des Lächelns« genannt? Er sah schon die fettgedruckten Überschriften auf den Titelseiten der Tagespresse. Kindermord in der Stadt des Lächelns. Kleines Mädchen erdrosselt in Container aufgefunden. Und warum in einem Container gerade hier im Problembezirk Gellerup? Kein Zweifel, dass viele die Gelegenheit nutzen würden, den Vorfall mit den vielen Ausländern, der Gewalt und der hohen Kriminalitätsrate in diesem Bezirk in Zusammenhang zu bringen. Nicht gerade das Beste, was dem ohnehin schon vom Schicksal geschlagenen Viertel passieren konnte.

»Das Mädchen ist aber ganz normal angezogen. Nur ihre Beine sind nackt – und die sockenlosen Füße in den weißen Sandalen«, antwortete Leander.

Roland kam das eigenartig vor. Das Wetter diesen Sommer war für nackte Beine nicht gerade vorteilhaft. Zum Teufel mit den Pädophilen, dachte er. Wenn es nach ihm ginge, sollten sie sich ruhig nackte Kinderkörper anschauen, so viel sie wollten – auch wenn er selbst es pervers fand –, wenn sie die Kleinen nur in Ruhe ließen und nicht zur Ursache dafür wurden, dass sie auf Henry Leanders Tisch in der Rechtsmedizin landeten.

»Keine Vermisstenanzeigen?«, fragte Leander und machte einen großen Schritt über eine Pfütze.

»Nein, jedenfalls keine kleinen Mädchen. Nur die üblichen Dementen, die sich verlaufen haben, aber die finden wir zum Glück in aller Regel wieder. Du bist dir also über den Todeszeitpunkt nicht ganz sicher?«

»Noch nicht, aber das wird die Obduktion ergeben. Vielleicht erhalten wir dadurch auch einen Hinweis auf den Tatort. Das Mädchen ist erst in den Container gelegt worden, als sie schon tot war.«

»Dann haben wir also auch noch einen Tatort zu finden«, seufzte Roland.

Leander nickte. »Der Container ist nur der Fundort der Leiche. Der Tatort hat für uns eine viel größere Bedeutung. Aber den aufzuspüren wird nun deine Aufgabe sein, alter Freund.« Er tätschelte Roland ein wenig an der Schulter, um seine Worte weicher klingen zu lassen.

Roland kratzte sich die dunkle Haarpracht. »Ja, dort sollten die Kriminaltechniker die entscheidenden Beweise finden können – wenn wir ihn erst einmal ausfindig gemacht haben, heißt das.«

»Ich kann dir bestimmt schon bald eine Antwort geben«, antwortete Leander beruhigend. »Ihre Haare sind voller Schlamm und ihre Kleider durchnässt, das ist doch schon mal ein Hinweis. Beides kann unmöglich im Container passiert sein.«

»Schlamm! Wasser!« Roland breitete resigniert die Arme aus, so dass die Asche von seiner Zigarette bröselte. »In diesem feuchten Sommer kann das ja überall sein.«

Leander richtete seinen Blick in den Himmel, der schon wieder Wolken für den nächsten Schauer herantrieb. »Es hängt davon ab, was die Analyse über die Zusammensetzung des Schlamms ergibt. Schlamm ist nicht gleich Schlamm. Ich habe auch Blut auf ihrem Rock gefunden.«

»Blut! Ihr Blut?« Er befürchtete das Schlimmste.

»Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Dazu brauchen wir erst die DNA-Analyse. Aber unmittelbar sieht es nicht so aus, als hätte sie Wunden, die so heftig geblutet haben könnten.«

»Was ist mit den Wunden von den Seilen?«

»Es sind nur Hautabschürfungen, und die haben nicht geblutet. Ich glaube nicht, dass sie allzu lange festgebunden gewesen ist – aber lange genug, um Striemen zu hinterlassen.«

Sie hatten ihre Wagen erreicht. Leander öffnete die Tür seines gebrauchten Volvos. Hinter ihnen trafen nun auch die ersten Pressevertreter ein. Sie stürzten sich auf die Polizisten, die das Gelände sicherten, und überschütteten sie mit ihren bohrenden Fragen, auf welche die Polizisten keine Antworten hatten. Stattdessen gaben sich die Beamten alle Mühe, die anstürmende Horde auf Abstand zum Container zu halten. Die blauen Blinklichter hatten Menschen aus dem Umkreis von Meilen angezogen.

»Die Schmutzgeier sind eingetroffen. Lass uns verschwinden«, seufzte Roland.

4

Als sie im Regen den Edwin Rahrs Vej entlangfuhr, sah sie sogleich das Blaulicht der Polizeiautos und die rot-weißen Bänder, die das Gelände auf der anderen Straßenseite absperrten. Sie bereute jetzt, dass sie die Journalistin nicht doch gefragt hatte, um was für eine Aufgabe es sich da handelte. Hier war offensichtlich ein Unglück geschehen – oder ein Verbrechen. Nicht gerade das, was sie momentan unbedingt brauchte. Sie hatte auf die Eröffnung einer neuen Fabrik irgendwo hier draußen im Industriegebiet gehofft oder etwa auf eine Preisverleihung für einen außergewöhnlich schönen Garten im Gartenverein Brabrand.

Die Frau, die ihr entgegenkam, sobald sie ihren silbergrauen Ford Ka geparkt hatte, sah sie aus grauen Augen unter einem roten Regenschirm prüfend an. Die Journalistin. Ihr Gesichtsausdruck machte klar, dass sie wusste, was in Kamillas Leben vorgefallen war. Der sensationslüsterne Redakteur Thygesen hatte es selbstverständlich nicht lassen können, ihr die Geschichte auf seine eigene dramatische Weise unter die Nase zu reiben. Kamilla hatte es satt, all die mitfühlenden Augen zu spüren, die deutlich ausdrückten: du arme Kleine. Sie konnte es nicht ausstehen, bemitleidet zu werden – weil sie sich selbst stark fühlte. Oder vielleicht auch deshalb, weil sie soeben gemerkt hatte, dass sie denn doch nicht ganz so stark war, wie sie geglaubt hatte.

Die junge Journalistin reichte ihr die Hand. »Anne Larsen«, stellte sie sich vor, gefolgt von einem fragenden »Kamilla Holm, ja?«. Ihre Stimme war selbstbewusst, ihr Dialekt verwies auf den Kopenhagener Szenestadtteil Nørrebro.

Für Kamilla bestand gar kein Zweifel, dass ihr Gegenüber aus der Hauptstadt stammte. Die Journalistin war klein und mager. Doch obwohl sie eher zierlich gebaut war, hatte sie einen festen, warmen Händedruck. Ihre Hand war schlank und sehnig und passte gut zum übrigen Körper. Sie kam Kamilla bleich vor unter der kurzen, rabenschwarzen Frisur. Ihr eines Auge hatte einen traurigen Ausdruck, das Lid des anderen wirkte ein wenig hängend. Kamilla schätzte sie auf Mitte bis Ende zwanzig. Das schwarze Sweatshirt mit Kapuze, das sie unter dem gelben Regenmantel trug, war etwas zu lang, die Jeans hatte verwaschene weiße Flecken, und die Hosenbeine waren unten umgeschlagen, so dass in einem Paar weißer Sportsandalen, die nun aber von Gras und Schlamm schmutzig waren, die nackten Knöchel sichtbar wurden.

»Ja, ich bin Kamilla Holm. Woher wussten Sie, dass ich es bin?«, gab sie zurück. Ihr eigener Dialekt, eine charakteristische Mischung aus den Dialekten der Städte Horsens und Aarhus, klang in ihren Ohren plötzlich hinterwäldlerisch. Auch das hatte sie zu fragen vergessen: Wie sehen Sie aus? Woran kann ich Sie erkennen? Sie kam sich unprofessionell vor und kniff im Regen die Augen zusammen. Natürlich hatte sie auch weder Regenschirm noch Regenmantel dabei.

»Thygesen hat mir ein Foto von Ihnen gezeigt«, antwortete Anne Larsen mit einem Augenzwinkern.

»Was ist hier passiert?« Kamilla ließ ihren Blick über die Meute nasser Menschen auf der einen und die wenigen Polizisten auf der anderen Seite schweifen, die die Menge auf Abstand zu halten versuchten. Ihre Stimme klang nervös.

»In einem Abfallcontainer hat man ein totes Mädchen gefunden.«

»Ein Mädchen? Tot?« Widerwillig schloss sie sich der schlanken Journalistin an, die bereits mit langen Schritten durch das nasse Gras auf die gaffende Menge zuschritt. »Ein Kind«, bestätigte sie und drehte sich um. Sensationslust schimmerte in ihren Augen. Kamillas Beine schienen nachgeben zu wollen. Ihre Knie waren wie schwere Klötze. »Ein Kind«, wiederholte sie murmelnd und folgte Anne trotzdem automatisch, als sei in ihr die alte Gewohnheit, Journalisten blind hinterherzutrotten, gewissermaßen gegen ihren Willen zu neuem Leben erwacht. Sie sah zu, wie Anne ihre journalistischen Gerätschaften vorbereitete, während sie selbst ihr den Regenschirm hielt und die Gelegenheit nutzte, für einen Moment einigermaßen im Trockenen zu stehen. Dann verschwand Anne in der Menschenmenge, während Kamilla, den Schirm in der Hand und die Kameratasche über der Schulter, am Rand des dichten Haufens stehen blieb. Die Situation war für sie ungewohnt. Früher hatte sie immer genau gewusst, was sie zu tun hatte, wenn sie mit einem Auftrag betraut worden war; das funktionierte damals rein instinktiv. Sie machte Anne ausfindig, die es geschafft hatte, das Mikrofon unter die Nase eines jungen Polizisten zu halten, der in der Menge stand und redete. Kamilla richtete einen abwägenden Blick gen Himmel und klappte den Regenschirm zu. Es sah danach aus, als würde es wieder aufklaren; eines der vielen Gewitter dieses Sommers war gerade vorübergezogen. Die Sonne schickte sich an, erneut durch die Wolken zu brechen, obwohl es noch ein wenig tröpfelte. Sie nahm die Kamera aus der Tasche und schoss eine Serie Fotos von den Polizisten, den Journalisten und den Schaulustigen, die sich um sie geschart hatten, auch wenn sie wusste, dass kein Kandidat für das Pressefoto des Jahres dabei sein würde. Irgendetwas musste sie schließlich tun.

Anne stand am Absperrband der Polizei zwischen den Büschen hinter dem Container und gab Kamilla ein Zeichen. Kamilla schielte erst zu den Polizisten hin, dann ging sie schnell zu Anne hinüber. Die Polizisten hatten so viel damit zu tun, die Leute wegzuscheuchen und Fragen zurückzuweisen, dass sie die beiden Frauen gar nicht bemerkten.

»Verdammt noch mal«, flüsterte Anne dicht an ihrer Wange, als sie sich vorbeugte, um Kamilla unter dem Absperrband hindurchzuhelfen. »Sie haben das Mädchen schon mitgenommen.«

Kamilla spürte Erleichterung in sich aufsteigen. Hätte sie den Blick von noch einem toten Kind ertragen? Warum bloß hatte sie gerade zu diesem Auftrag Ja gesagt? Es hatte zuvor bereits viele andere gegeben, die sie hätte annehmen können. Nur, weil sie nicht gefragt hatte. Deswegen hatte sie angenommen.

»Kommen Sie her!« Anne winkte sie zu sich. Die Büsche verbargen sie vor dem Blick der Polizisten. Anne hatte entdeckt, dass sich auch auf der Rückseite des Containers eine Tür befand. Diese hatten die Polizisten nicht abgesperrt. Sie hatten sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt, weil sie hinter den Büschen versteckt lag und zudem genauso rostig war wie der Rest der Containerrückseite. Die Tür knirschte in den Angeln, als Anne sie öffnete. Intensiver Gestank drang ihnen in die Nase. Kamilla trat in etwas Schleimiges. Es war Kotze. Fast hätte sie sich ebenfalls erbrechen müssen.

»Es scheint, als ob diese Tür erst vor kurzem das letzte Mal geöffnet worden ist«, murmelte Anne. Erneut winkte sie Kamilla näher. »Los! Machen Sie ein Foto!«, sagte sie leise.

»In den Container hinein? Meinen Sie wirklich?« Sie hörte ihre eigene Stimme, laut und verwundert, wiewohl sie sich auf beiden Ohren taub fühlte. Aber sie tat, worum sie gebeten worden war. Der Blitz leuchtete im dunklen Container auf. Sie konnte auf dem Display der Kamera kein Motiv ausmachen, auch nicht im Sucher, und so schoss sie einfach ein paar Fotos aufs Geratewohl. Wenn der Blitz aufleuchtete, sah sie kurz schwarze Müllsäcke, blau gestreifte Aldi-Tüten, prallvoll mit Abfall, Kartons, altes Gerümpel, Essensreste, Blätter, Äste und vermoderte Pflanzen. »Das reicht jetzt.« Unvermittelt zog Anne sie am Ärmel. Sie hatte von ihrem Wachposten aus gesehen, dass ein Polizist auf dem Weg zu ihnen war.

»Was machen Sie da?«, rief er, gerade als sie unter dem gestreifte Band hindurchgeschlüpft und damit zurück auf »legalem« Boden waren. Anne zeigte ihm ihren Presseausweis.

»Ich kann Ihnen leider nichts über diese Sache sagen«, unterstrich er. Dann deutete er auf die Kamera, die an einem Riemen um Kamillas Hals hing. »Wovon haben Sie Fotos gemacht?«

»Nur vom Container. Wir müssen verdammt noch mal etwas in die Redaktion mitbringen, ansonsten werden wir gefeuert«, antwortete Anne Larsen und strich sich die Haare zurück.

Kamilla wunderte sich, dass Anne so gut den Unschuldsengel mimen, ja sogar dem großen Polizisten kontra geben konnte, der sich nun breitschultrig vor ihnen auftürmte. Sie selbst hatte rote Wangen vor Aufregung und hoffte, dass der Polizist es nicht bemerkte. Sie fing an, die Kotze an ihren Schuhen ins nasse Gras zu wischen.

Der Polizist nickte, vergewisserte sich sicherheitshalber aber trotzdem, dass das Schloss an der Vorderseite des Containers nicht aufgebrochen worden war und dass das Klebeband, das anzeigte, dass der Container von der Polizei versiegelt worden war, immer noch unversehrt an Ort und Stelle saß. Man konnte ja nie wissen, was die Presseleute so anstellten.

»Okay, und jetzt verschwinden Sie!« Er wandte ihnen den Rücken zu und schritt auf seine Position zurück. Groß, aufrecht und in seiner Polizeiuniform vor Autorität strotzend.