Cover

Über dieses Buch:

Das ist LESELUST: Ob in der entspannten Kaffeepause, in der Warteschleife Ihres Telefonanbieters oder bis das Nudelwasser kocht – jeder dieser zehn bewegenden Schicksalsromane lässt Ihr Herz in weniger als 10 Minuten schneller klopfen!

In diesem Band begegnen Sie einer Frau, die verzweifelt versucht, die Schatten der Vergangenheit abzuschütteln, einem Arzt, der einsehen muss, dass den Körper eines Pateinten zu heilen manchmal nicht ausreicht, und einer Witwe, die womöglich von dem Menschen, den sie am meisten liebte, abgrundtief belogen und betrogen wurde. Lassen Sie sich berühren!

Über die Herausgeberin:

Barbara Gothe, Jahrgang 1960, lebt in Reinbek vor den Toren Hamburgs und arbeitet seit vielen Jahren als Redakteurin und Herausgeberin.

Bei dotbooks brachte sie bereits die Geschichtensammlung Sternenstaub und Weihnachtswunder. Zauberhafte Adventsgeschichten und weitere Leselust-Bände heraus.


***

Originalausgabe April 2016

Copyright © 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: © Tanja Winkler, Weichs

Titelbildabbildung: Konstantin Yuganov - Fotolia.com  

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95520-696-3

***

Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren Lesestoff aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Leselust an: lesetipp@dotbooks.de

Gerne informieren wir Sie über unsere aktuellen Neuerscheinungen und attraktive Preisaktionen – melden Sie sich einfach für unseren Newsletter an: http://www.dotbooks.de/newsletter.html

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.twitter.com/dotbooks_verlag

http://instagram.com/dotbooks

http://blog.dotbooks.de/

Irina Levin

Der Märchenprinz

Kurzroman

dotbooks.

Scheidung! Traurig fliegt die Thailänderin Li in ihre Heimat. Zurück bleibt ihr an Diabetes erkranktes Töchterchen. Sie hat Jasmin versprochen: »Bald bringt dich ein Märchenprinz zu mir!« Immer wieder muss Oma Martha der kleinen Jasmin diese Geschichte erzählen …

***

Die Zufahrt liegt versteckt hinter hohen, ungebändigten Hecken – Buchenhecken, die wie ein Chamäleon je nach Jahreszeit die Farbe wechseln. Weit führt die Zufahrt von dem kunstvoll geschmiedeten Tor mit den goldenen Spitzenhäubchen nach hinten zu dem großen weißen Haus mit den geschlossenen Fensterläden, den weißen Marmorstufen und dem prunkvollen Portal mit dem goldenen Löwenkopf. Sauber sieht es aus, frischgeschrubbt, steril und verlassen. Doch Wurzeln und Gras sprengen den Asphalt an manchen Stellen, bezwingen die geteerte Fläche und schießen ins Freie. Der Garten, einst pedantisch in Ordnung gehalten, quillt über von wildwuchernden Pflanzen, Gestrüpp und Unkraut. Eine Frau tritt aus dem Schatten der scharlachroten Esche, deren Blätter die weiße Fassade des Hauses fächeln. Sie steht einfach da, den Blick unverwandt auf die geschlossenen Fensterläden gerichtet. Der Wind fährt durch ihr schwarzes, dichtes Haar, das ihr fast bis zu den Hüften reicht.

»Jasmin«, sagt sie leise. »Jasmin …« Sie weint.

***

»Omi, Omi!« rief eine Kinderstimme. »Schau mal, was ich gefunden habe!«

Das kleine Mädchen bückte sich. Behutsam teilte es mit seinen runden Händchen das Schilf, das hoch und dicht den Seerosenteich wie ein grüner Wall umgab. Die ältere Frau, zu deren eleganter Frisur weder Jeans noch Holzfällerhemd passten, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, legte die Heckenschere weg und sah sich um.

»Was hast du denn gefunden, Jasmin?«

»Da schau!« Vorsichtig setzte die Kleine einen Fuß vor den anderen, den Blick starr auf ihre Hände gerichtet, die sich um ihre kostbare Fracht wölbten. »Da schau«, wiederholte Jasmin fast atemlos vor Aufregung und sah ihre Großmutter an. Ihre Augen wirkten noch größer und dunkler als sonst.

Sie wird ihrer Mutter von Tag zu Tag ähnlicher, dachte Martha liebevoll. Wahrscheinlich wird sie eines Tages ebenso schön und zerbrechlich sein wie Li. Obwohl – zerbrechlich war Jasmin heute schon. Sie war zuckerkrank und vom Insulin abhängig. Mit geheimnisvoller Miene, als enthülle sie einen vergrabenen Schatz, öffnete Jasmin den Spalt, den sie zwischen Daumen und Zeigefinger freigelassen hatte. Ein winziger Frosch lugte aus seinem Gefängnis hervor und quakte ängstlich, wobei sich die Schallblasen an beiden Halsseiten ausstülpten wie winzige Luftballons.

»Muttis Prinz!« sagte Jasmin leise. »Wie im Märchen – ich habe Muttis Prinzen gefunden.«

»Sicher hast du das«, sagte die Frau und strich dem Mädchen über das lockige schwarze Haar. »Aber lass ihn jetzt wieder frei, er ist noch ein kleiner Prinz und hat große Angst.«

»Oh mein armer, armer Prinz«, sagte Jasmin, presste einen Moment lang die Augen zusammen, küsste den kleinen Frosch auf die glitschige Stirn, verzog leicht angewidert den Mund und setzte ihn auf den Rasen.

»Erzählst du mir von dem Prinzen, der Mutti mitgenommen hat, Omi?«

»Also gut.« Martha seufzte ergeben. Wie oft hatte sie Jasmin die Geschichte schon erzählen müssen, mit der sie ihr zu erklären versuchte, warum ihre Mutter eines Tages einfach weggegangen war. Sie hatte Li gut verstehen können. An leuchtende Orchideen gewöhnt, an zauberhafte Gärten, an sanftes, Licht und an Menschen, die noch im Schmerz lächelten, hatte sie sich nur schwer mit Kälte, Regen und abweisenden Gesichtern abfinden können. Und in ihrem neuen Zuhause hatte sie auch nicht die Geborgenheit gefunden, die ihr vielleicht das Heimweh nach ihrer Familie und nach Thailand genommen hätte. Li hatte einfach nicht in das große, weiße Haus gepasst und das große weiße Haus nicht zu ihr.

Gedankenverloren spielte Martha mit den Locken ihrer Enkelin. Sie konnte sich noch gut an den Tag erinnern, an dem sie Li das erste Mal gesehen hatte. Klein und verloren, mit einem schäbigen, abgewetzten Koffer hatte sie inmitten der weitläufigen Halle gestanden. Der marmorne Prunk schien das zierliche, einfach gekleidete Mädchen beinahe zu erschlagen. Über ihm der schwere Kristallleuchter, der in allen Regenbogenfarben funkelte. Li hatte sich fest an den Koffergriff geklammert, so, als sei er ihr einziger Halt in der Fremde.

Schon an diesem Tag war Martin viel zu spät gekommen und wieder viel zu früh gegangen – hatte seine junge Frau allein gelassen, in einem fremden Haus, einer fremden Stadt, einem fremden Land. Martha hatte damals schon gewusst, dass Li für ihren Sohn nichts anderes war, als eines jener exotischen Souvenirs, wie er sie von seinen Reisen gewöhnlich mitbrachte. Nach einem Jahr wurde Jasmin geboren, und Martin gab Li die Schuld, dass das Kind zuckerkrank war – wie er Li an allem die Schuld gab, was nicht in sein Leben passte.

Dennoch blühte sie auf, war heiter und ausgeglichen, bis zu jenem Tag im Juli. Sie hatte einen Zufluchtsort gefunden, einen kleinen Blumengarten, den sie mit viel Liebe angelegt hatte. Die Sonnenblumen in einem versteckten Teil des Gartens, da wo ein schadhafter Zaun, die große weiße Mauer ersetzte, hatten die goldenen Köpfe sich dem Licht zugeneigt. Georgien, Goldlack, Schwertlilien und Rosenbüsche waren unter Lis geschickten Händen zu einem bunten fröhlichen Strauß geworden, in dem sich Schmetterlinge, Hummeln und Bienen tummelten.

Martin feierte wieder einmal eines seiner pompösen Feste, die am frühen Nachmittag begannen und erst am nächsten Morgen endeten. Li hatte sich wie immer bei solchen Anlässen in ihr Zimmer zurückgezogen und weder Drohungen noch Bitten hatten sie bewegen können, die Rolle der Gastgeberin zu übernehmen. Die schweren kobaltblauen Vorhänge ein wenig zur Seite geschoben, beobachtete sie die Gäste: düster elegant die Männer im Smoking, funkelnd wie kleine Siebengestirne die Frauen, die mit übertriebenem Lachen die mehr oder weniger geistreichen Bemerkungen ihrer Begleiter belohnten; beobachtete Martin, der sich, eine schöne Blondine im Arm, aus der Gruppe am kalten Büffet löste und Lis kleinem Paradies zustrebte.

»Oh nein«, sagte Li leise. »Das darf nicht sein …«

Bisher hatte sich Martin noch nie in diesen abgelegenen Teil des riesigen Grundstücks verirrt. Doch Li ahnte, was geschehen würde, sobald ihr Mann dieses außer Rand und Band geratene, sich natürlich entwickelnde Stück Natur entdeckte. Er verabscheute alles, was sich seinem strengen Ordnungssinn widersetzte, und der übrige Park spiegelte seine Einstellung wider. Grashalm reihte sich an Grashalm, Bäume und Sträucher standen stramm wie Zinnsoldaten, und die Hecken waren sorgfältig gestutzt und getrimmt. Und tatsächlich, am nächsten Morgen, pünktlich um acht Uhr stürmten die Gärtner Lis kleinen Garten und mähten alles nieder, woran ihr Herz hing. Von diesem Tag an zog sie sich in eine Welt zurück, zu der niemand Zutritt hatte außer Jasmin. Und dann hatte sie eines Morgens mit ihrem schäbigen Koffer in der Eingangshalle gestanden …

»Wohin willst du?« hatte Martha sie gefragt.

»Ich weiß noch nicht, irgendwohin, wo ich atmen kann …«

»Und Jasmin?«

»Ich kann sie nicht mitnehmen, Martha. Sie braucht ihr Insulin, sie braucht ärztliche Betreuung, sie braucht Ruhe. Alles Dinge, die ich ihr im Moment nicht geben kann. Ich hole sie, sobald ich Arbeit gefunden habe und sie ernähren kann.«

»Und was soll ich ihr sagen?«

»Sag ihr, dass eines Tages ein Märchenprinz kommen und sie zu mir auf das Schloss bringen wird, das ich für sie bauen werde.«

Martha hatte genickt und erzählte ihrer kleinen Enkelin  von diesem Tag an die Geschichte vom Märchenprinzen, wann immer Jasmin nach ihrer Mutter fragte.

»Omi!« Jasmin war auf den Schoß ihrer Großmutter geklettert, versuchte ihre geschlossenen Lider hochzuziehen, presste das Näschen an ihre Nase und sah sie streng an.

»Omi, aufwachen! Die Geschichte vom Märchenprinzen – du hast sie mir versprochen!«

Martha brauchte eine Weile, um aus der Vergangenheit zurückzufinden, die noch vor drei Jahren Gegenwart gewesen war. Sie zog Jasmin fest an sich und fing an zu erzählen:

»Vor nicht allzu langer Zeit lebte hier eine wunderschöne Frau – deine Mami.«

»Sie war aber immer traurig«, fuhr Jasmin fort.

»Kannst du dich eigentlich noch an deine Mami erinnern?« fragte Martha. Jasmin schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nur, dass sie oft geweint hat. Und dann ist eines Tages ein wunderschöner Prinz gekommen, hat sie auf sein Pferd gesetzt und ist mit ihr davon geritten. Nur – nur mich haben sie vergessen.«

»Aber nein, mein Schatz. Sie haben dich nicht vergessen, sie wollen nur erst ein Schloss bauen, ehe der Märchenprinz dich zu deiner Mami holt.«

»Ist das Schloss bald fertig, Omi?«

Martha schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß es nicht, Jasmin.«

Sie wusste es tatsächlich nicht. Seit dem Tag, an dem Li fortgegangen war, hatte sie nichts mehr von ihr gehört. Und Martin? Nun, er war mit dieser Lösung offenbar sehr einverstanden gewesen, vor allem da Li Jasmin nicht mitgenommen hatte.

In dieser Nacht träumte Jasmin vom Märchenprinzen. Sie sah ihn ganz deutlich vor sich; das goldene Haar, die strahlend blauen Augen, das schöne Gesicht und das Gewand aus Purpur, das er trug. Er lächelte sie an und sagte:

»Jasmin, komm zu mir! Deine Mami wartet, wartet in dem Schloss aus Elfenbein, das wir für dich gebaut haben. Nur – ich kann dich nicht finden, Jasmin. Und dabei suche ich dich schon seit so langer Zeit.«

Jasmin warf sich von einer Seite auf die andere. Ihr Gesichtchen war heiß, sie weinte im Schlaf, streckte verlangend die Hände nach dem Märchenprinzen aus. Er lockte und rief, doch jedes Mal, wenn sie ihn zu spüren glaubte, war er ihr schon wieder entglitten.

Irgendwann, Stunden später schlug sie die Augen auf. Die Morgensonne breitete ihr Licht wie ein durchsichtiges Tuch über die Möbel, langweilige Möbel, in einem langweiligen Zimmer. Wenn man ganz genau hinschaute, sah man sogar feine Staubpartikelchen auf den Regalen und in der Luft.

 Jasmin sah ganz genau hin. Aber auch das wurde bald langweilig. In diesem Moment fiel ihr etwas ein, das ganz und gar nicht langweilig war: Der Märchenprinz! Er war unterwegs zu ihr, konnte sie jedoch nicht finden! Heute Nacht hatte sie ihn ganz deutlich nach ihr rufen hören. Kurzentschlossen sprang sie aus dem Bett. Dummer Märchenprinz, wusste er denn nicht, dass sie noch immer in dem großen weißen Haus bei ihrer Omi und ihrem Vater wohnte? Fünf Jahre war sie jetzt alt und groß genug, um dem Märchenprinzen die Suche zu erleichtern, ihm entgegenzugehen.

Jasmin lief ins Badezimmer, putzte sich ordentlich die Zähne, wusch sich das Gesicht, kämmte die schwarzen Locken bis sie glänzten und zog sich das schönste Kleid an, das sie besaß. Es war weiß und ganz aus Spitze. Der Morgen dämmerte. Auf der Buchenhecke und auf dem frisch gemähten Rasen lag noch Tau, achtlos hingeworfen wie endlos ineinander versponnene Netze. Auf Zehenspitzen schlich sich Jasmin aus dem Haus, schlüpfte durch den schadhaften Zaun und verließ den behütenden Garten ihrer Kindheit.

Erst zwei Stunden später entdeckte Martha das leere Bett, die Insulinspritze und das Insulin, die Jasmin zurückgelassen hatte, weil sie ohnehin nicht damit umgehen konnte.

Jasmin wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs war. Ein paar Stunden oder einen ganzen Tag. Sie hatte Hunger, und sie hatte Durst, kämpfte jedoch tapfer dagegen an. Da waren Bäume, überall Bäume. Bäume, die Schatten warfen und sie immer weiter hineinzogen in die Stille des Waldes. Hin und wieder knackte ein Zweig unter ihren Füßen, als sie leichtfüßig und schnell über das Moos lief. Sie hatte keine Angst, denn sie kannte ihr Ziel. Gleich würde das Märchenschloss in einer Waldlichtung auftauchen. Es würde ganz aus Gold sein und auf einem seiner Türme würde eine Frau mit wehendem schwarzen Haar stehen und ihr zuwinken.

»Mami!« Jasmin blieb stehen. Ihr war auf einmal so seltsam zumute. Die Bäume flossen ineinander, verschwammen im Nebel. Jasmin taumelte leicht, suchte nach einem Halt und griff ins Leere. Dann sank sie ins weiche Moos. Der Nebel wurde noch dichter, umschloss sie jetzt wie ein Kokon. Doch auf einmal sah sie das Licht. Gleißendes Licht, das den Nebel durchbrach, und sie hörte das Galoppieren von Pferdehufen, spürte heißen Atem auf ihrer Haut. Das Pferd, das auf sie zusprengte war schneeweiß, und der Prinz im Sattel hatte goldenes Haar und ein Gewand aus Purpur. Als er Jasmin sah, riss er so hart am Zügel, dass sich das Pferd aufbäumte.

»Jasmin«, sagte er lächelnd. »Endlich habe ich dich gefunden.«

»Nein, Märchenprinz, ich habe dich gefunden.« Noch immer lächelnd, stieg er vom Pferd, hob Jasmin auf, setzte sie in den Sattel und galoppierte mit ihr mitten hinein in ein Licht, das heller und heller wurde und sie schließlich ganz und gar einhüllte. Erst zehn Stunden, nachdem Jasmin durch akuten Insulinmangel ins Koma gefallen war, wurde sie von einem der vielen Suchtrupps gefunden, die verzweifelt nach ihr gesucht hatten.

Aber es war zu spät. Jasmin starb noch im Notarztwagen.

***