32

»Gott, Sie sehen ja fürchterlich aus!«, sagte Staatsanwältin Meisner, als sie in Richards Wohnzimmer trat. »Bleiben Sie sitzen, bitte!«

Im Stadtkessel, den man von den Fenstern aus sah, leuchtete die Sonne den zweiten Advent aus. Das Sonntagsgeläut war schon lange durch, der Mittagsbraten vorbei. Spaziergänger zogen die Alte Weinsteige hinab.

Ich blieb sitzen und betastete die Schwellungen in meinem Gesicht und rund um die von meinen eigenen Fingernägeln zerkratzte Strangulationsfurche.

Meisner ließ sich in einen von Richards Clubsesseln fallen. »Also ich könnte jetzt einen Schnaps vertragen.«

Aber Richard hatte nur Kaffee oder Fencheltee.

»Ist sicher vernünftiger«, resignierte die Staatsanwältin mit verstopfter Nase und Bellhusten in der Lunge. »Hauptsache heiß. Also Fencheltee.«

Richard stand auf und ging in die Küche. Mit Alena auf dem Arm und gefolgt von Cipión.

»Hat er überhaupt geschlafen?«, fragte Meisner leise.

»Doch ja, zwei Stunden vielleicht.« Nachdem die Polizei ihm seinen Wagen gebracht hatte, hatte er mich im Marienhospital abgeholt. Mit der Nachricht, dass die Polizei Katarina und Jovana auf der Straße aufgegriffen hatte. Nachts um drei zu Fuß auf Stuttgarts öden Straßen hatten zwei Mädchen keine Chance. In so was war die Polizei unschlagbar.

Kein Wort hatte er über die Blessuren seines Daimlers verloren, aber als er mein zerschrammtes Gesicht über der violetten Strangulationsmarke sah, hatte er hart und heftig den Arm um mich gelegt und mit unüblich bebender Stimme gemurmelt: »Mach das nie wieder, hörst du!« Mit Alena zwischen uns hatten wir uns dann für ein paar Stunden auf sein klösterliches Bett gelegt.

»Ich habe immerhin vier Stunden geschlafen«, verkündete Meisner. »Was für eine Nacht! Depper mussten wir auch wieder freilassen. Sie haben uns da ja ein ganz schönes Ei gelegt, Frau Nerz. Aber so wie ich das sehe, haben Sie Depper damit sogar das Leben gerettet. Ich schätze, die Mädels sind von ihrem Vorhaben – welches das war, mag ich mir gar nicht vorstellen – abgerückt, als sie die Polizei sahen, die in der Liststraße gewartet hat, bis Depper ankam. Sie hätten leichtes Spiel mit ihm gehabt, so betrunken, wie er war. Aber die Verhaftung hätte ich mir doch gern gespart.«

»Ich denke, sie wollten nur Geld von ihm«, sagte Richard, der leise mit Alena auf dem Arm und gefolgt von Cipión zurückgekommen war und der Staatsanwältin nun ein Glas Fencheltee reichte. »Vorsicht, heiß!«

Er setzte sich wieder, zippelte Alena den Kragen des Stramplers aus dem Gesicht und fuhr ihr über den dunklen Schopf.

»Geld?«

»Ich denke, sie wollten ihn einfach nur erpressen.«

Meisner schüttelte den Kopf. »Einfach nur … Was geht in diesen Jugendlichen vor?« Sie pustete über den Tee. »Da fällt einem wirklich nichts mehr ein!«

Richard war, seit er mich aus dem Krankenhaus geholt hatte, nicht fähig, irgendetwas zu sagen. Kein Warum war seinen verbissenen Kiefern entschlüpft. Bei Manteufel hatte er sich noch lauthals ärgern können, dass er ihm je die Hand gegeben hatte, aber Katarina hatte neben ihm auf meinem Sofa gesessen, er hatte tröstend den Arm um sie gelegt, er war mit ihr in Metzingen shoppen gewesen, er hatte sich Mühe gegeben, ihr zu zeigen, dass sie ihm was wert war.

»Und?«, fragte ich die Staatsanwältin. »Haben sie gestanden?«

Meisner wärmte sich die Hände am Teeglas und schüttelte immer noch den Kopf. »Katarina schweigt beharrlich. Mit der werden wir noch viel Freude haben. Wahrscheinlich steht ihr eine glänzende Karriere als Serientäterin bevor. Aber Jovana wird bald reden. Sie war nicht die treibende Kraft, sondern Mitläuferin. Die reden, die erleichtern ihr Gewissen irgendwann.«

»Und was passiert mit ihnen? Einsperren kann man sie ja nicht.«

Meisner presste einen ersten Schluck die erkältete Kehle hinunter und zuckte mit den Achseln. »Viele Möglichkeiten haben wir ja wirklich nicht, wenn Kinder straffällig werden. In Baden-Württemberg gibt es zwei Heime für eine GU, also eine geschlossene Unterbringung von Mädchen. Und damit stehen wir im Ländervergleich noch gut da. Nur muss es halt auch freie Plätze geben und sie müssen Katarina aufnehmen. Die Alternative ist die Kinderpsychiatrie. Aber Katarina ist ja offensichtlich nicht psychisch krank.«

»Nein. Sie ist nur intelligenter und kreativer als die meisten ihres Alters«, entfuhr es mir. »Und herrschsüchtiger.«

»Himmel! Sie hat Sie fast umgebracht!«

»Ja, und ich habe mich dabei gefühlt wie … wie in Second World, wie in einer virtuellen Parallelwelt, wo nichts gilt, woran wir uns gewöhnt haben. Kein Mitgefühl, keine Hemmungen, keine Fairness. Hätten sie ein Messer gehabt, ich hätte keine Chance gehabt. Jovana hätte es mir zwischen die Rippen gerammt. Und da war nichts von blinder Wut, Katarina hat zwar spontan gehandelt, aber sie hatte immer einen Plan. Sie war umsichtig, konzentriert, sachlich. Was für ein Potenzial! Und das alles ungenutzt. Seit Jahren passt sie auf ihre Mutter auf, sorgt für ihren Bruder. Die Eritreerin, die mit ihrem somalischen Mann unter mir wohnt, hat ihr ihre Tochter anvertraut, bedenkenlos, wie sie sagt. Und so eine steckt man in die Hauptschule. Ich denke, Katarina hatte Lust, was auf die Beine zu stellen. Nicht klagen, handeln. Lösungen finden. Doch niemand hat ihr glaubhaft machen können, dass sie Erfolg auch dann hätte haben können, wenn sie die Spielregeln einer zivilen Gesellschaft beherrscht. Und was sind das auch für Spielregeln: sich ducken, brav sein, lernen, nicht gegen Lehrer kämpfen und gegen Wände rennen, Freiheit und Stolz auf später verschieben. So zivil ist unsere Gesellschaft ja gar nicht. Und eine Hauptschule erst recht nicht. Da brodelt überall der Krieg. Die totale Vernichtung. Überall wird getötet. Katarina hat irgendwann kein Kind mehr sein wollen, das andere herumschubsen. Und sie hat gemerkt, dass es uns Erwachsene sprachlos macht, wenn sie tut, was wir tun. Wenn sie unser Urteil nicht fürchtet, wenn sie lügt, schlägt, droht, erpresst. Das macht uns Angst. Wir weichen zurück, wir wenden uns ab, wir geben sie auf, lassen sie fallen und lassen sie machen. Und wir ahnen nicht mal etwas.«

Alena begann auf Richards Arm zu quengeln. Vielleicht schlug sein Herz nicht mehr ruhig und beschützend.

»Tja, Kinder sind keine Engel!«, sagte Meisner. »Und Dreizehnjährige schon gar nicht. Aber das …« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Ich verstehe nicht, Frau Nerz, wie Sie dafür erklärende Worte finden können.«

»Lisa steht noch unter Schock«, sagte Richard.

»Na hör mal!«, protestierte ich.

»Doch. Sonst würdest du nicht über virtuelle Welten reden. Zwei dreizehnjährige Mädchen haben dich heute Nacht fast umgebracht. Und das willst du nicht wahrhaben, weil du es dir nicht hättest vorstellen können. Ich sage nicht, dass sie dich aus nichtigem Anlass töten wollten, denn es gibt keinen höherwertigen Anlass für Mord. Aber du konntest eben auch nicht ahnen, dass deine Bemerkung, Katarina stehe eine Heimunterbringung zwangsläufig bevor, eine solch tödliche Aggression auslöst. Ohne jegliche Vorwarnung. Das ist das eigentlich Erschreckende. Dass es mit Katarina keine gemeinsame Ebene gab für Regeln, wie wir wütend werden und unsre Wut ausdrücken. Diese Mädchen sind Geschöpfe ohne Gefühlsbindungen. Sie haben keine einzige soziale Bindung, keine Bezugsperson, deren Wertschätzung sie nicht aufs Spiel setzen würden, um zu bekommen, was sie gerade haben wollen.«

So wie sie seine aufs Spiel gesetzt und verloren hatten. Und das schmerzte ihn mehr als sie. Es schmerzte ihn ungeheuerlich.

»Wer nicht geliebt wird, fürchtet nicht, die Liebe eines Menschen zu verlieren.«

»Das erklärt es nicht, Lisa. Kinder lieben ihre Eltern. Schwache Eltern, sogar ungerechte und unberechenbare, sind immer noch besser als keine Eltern. Aber Katarina hat ihre eigene Mutter umgebracht. Stell dir das nur mal vor!«

Ich stellte mir vor, wie ich meine eigene Mutter umbrachte, und scheiterte schon an der Frage, wie.

»Und sie hatte es geplant, Lisa.«

Dem konnte ich nicht widersprechen. Ich hatte mir erst vor ein paar Stunden Katarinas E-Mails angeschaut, die ich auf meinem Rechner gespeichert hatte. Alle. Und ich hatte eine erschreckende Menge an Mails gefunden, die MuminX in die Welt geschickt hatte, um sie zu provozieren und dadurch zu kontrollieren. Beispielsweise ans Jugendamt mit der Mitteilung, die Familie Abshir in der Neckarstraße wolle ihre Tochter in Somalia beschneiden lassen, oder Nina Habergeiß in der Neckarstraße prügle ihren Sohn Tobias und lasse ihn verhungern. Was einen sofortigen Einsatz des Jugendamts ausgelöst hatte, angeführt von Frau Hellewart, morgens um sechs.

»Sie hat«, sagte Richard, nicht zu bremsen jetzt, da er sich entschlossen hatte zu reden, »ihrer Mutter Beruhigungsmittel gegeben, vielleicht auch Alkohol. Sie hat sie ins Bad geführt, sie in die Badewanne steigen lassen, ihr eine Schlinge um den Hals gelegt und sie aufgehängt. Und weil sie sich nicht sicher war, ob sie auch stirbt, wenn sie nicht richtig baumelt, hat sie ihr die Pulsader aufgeschnitten. Das war nicht spontan, das war geplant!«

»Nicht wirklich, Richard. Katarina ist nur immer den nächsten Schritt auch noch gegangen, der sich aus vorangegangenen Handlungen ergab. Erst das Jugendamt anstiften, damit es den kleinen Bruder abholt, auf den sie ständig aufpassen musste, dann den Bruder wegbringen, dann die Mutter beseitigen, die beim Jugendamt Terz machen und herauskriegen würde, dass es gar keinen Beschluss gibt.«

»Einen Beschluss, den sie immerhin auch noch gefälscht hat, damit du denkst, ihre Mutter habe sich umgebracht, weil das Jugendamt Tobias mitgenommen hat, Lisa! Sie musste die Beschlüsse in der Schuhschachtel gründlich studieren, um das hinzukriegen. Sie musste ins Sp@ce gehen, um den Briefkopf in den Text zu kopieren. Da steckt viel Plan dahinter. Und dann wartet sie auf der Treppe auf dich und behauptet, sie habe keinen Schlüssel. Du solltest ihre Mutter finden und den Brief. Und wenn du nicht sofort reagiert hättest, als sich das Licht in der Wohnung nicht anmachen ließ, dann hätte sie behauptet, sie habe Angst reinzugehen. Deshalb hat sie mit der Büroklammer einen Kurzschluss herbeigeführt. Und hinterher heult sie dir was vor.«

Meisner seufzte hustend. »Ja, es gibt nicht viele, die so ausgebufft und kaltblütig handeln. Vor allem bei Mord. So was ist mir noch nicht untergekommen. Ob Katarina wirklich so intelligent und planvoll gehandelt hat, wage ich zu bezweifeln, da muss ich Frau Nerz recht geben. Sie hatte sicherlich nicht geplant, Richterin Depper umzubringen. Katarina hatte ja nicht damit rechnen können, dass sie und Jovana sie treffen, wenn sie den kleinen Tobias im Sonnennest abliefern oder besser: aussetzen. Ich vermute, sie sind der Richterin gefolgt, nachdem Jovana sie erkannt hatte. Und dann hat ein Kleinkrimineller ihr die Handtasche geklaut. Doch Depper hat nur die Mädchen gesehen, ist ihnen gefolgt, hat sie als vermeintliche Diebinnen zur Rede gestellt, sie verdächtigt – zu Unrecht –, sie getadelt, ausgeschimpft, ihnen gedroht. Kurz, sie hat sich aufgeführt wie eine Richterin, allerdings auf ungeschütztem Terrain. Und irgendwann fangen die Mädchen dann an zu schubsen, an ihrem Schal zu ziehen. Depper fällt den Hang hinunter, die Mädchen werfen sich auf sie, das wehrlose Opfer, und erdrosseln sie mit ihrem eigenen Schal.« Meisner seufzte. »Und tags darauf führt Katarina dann ihre Mutter zur Schlachtbank. Ja, sie hat diese Intuition, die Serientäter haben, die der Polizei lange entkommen. Die Inszenierungen zur Verschleierung ihrer Taten waren fast perfekt. Wenn Sonja Depper nicht Richterin gewesen wäre, hätte ich all diese kriminaltechnischen Extrawürste nicht angeordnet. Die KT hätte in dem Matsch da draußen nicht alles nach Genspuren abgesucht, und der Rechtsmediziner hätte nicht so lange ausgemessen, bis er zwei Strangulationsfurchen findet. Und bei Nina Habergeiß lag die Sache ja noch viel eindeutiger. Auf ein Tötungsdelikt kommen zwölf Suizide und was weiß ich wie viele Unfälle. Kein vernünftiger Mensch hätte bei Depper oder Habergeiß ein Tötungsdelikt vermutet. Auf so was kommt man einfach nicht. Und dann auch noch ein Kind … ein Mädchen!«

»Doch damit nicht genug!«, nahm Richard wieder das Wort, leise und unversöhnlich. »Katarina lässt sich von uns scheinbar widerstrebend nach Vingen mitnehmen. Wir sind anders, das hat sie gemerkt. Netter, interessierter, neugieriger, deshalb gefährlicher. Wir schauen nicht weg. Wir gucken nach, vor allem Lisa.«

Ein kleines Lob wie ein Seitenhieb. Ich wuchs innerlich.

»Das hat Katarina schnell begriffen. Sie musste herausfinden, ob wir ihr draufkommen würden. Und als ich dann den Besuch in Metzingen vorschlug …« Er schluckte. »Unbedacht und aus dem Gefühl heraus, ich sei beim Streit um die Betten zu hart gewesen …« Alena mäkelte. Er legte beruhigend seine warme Hand auf den kleinen Leib. »Im Grunde habe ich nur mit meinem Geld geprotzt, meine Macht gezeigt. Oder nennt es Bestechung. Ich habe ihr gezeigt: Pass auf, es lohnt sich, dich mit mir gut zu stellen, ein nettes Mädchen zu sein, dann wirst du Dinge bekommen, von denen du sonst nur träumen kannst. Ich dachte, mit Belohnungen erzieht man besser als mit Strafen. Aber für Katarina muss es eine so irrsinnige, eine so gigantische Belohnung gewesen sein, dass sie mich für einen manipulierbaren Idioten gehalten hat. Und so hat sie an ihre Freundin gemailt: ›Ich kack ab. Aber keine Angst, sie ahnen nichts.‹ Das hat sich jäh geändert, als Lisa ihre Mails las und ihr vorhielt, sie schreibe Drohbriefe an fremde Leute, und als ich sie befragte mit allem Brimborium und vorerst nur als Zeugin. Sie bekam mit, dass Lisa im Sonnennest gewesen war. Sie wusste, dass ihr Schwindel mit den Jugendamtsbeamten und der Polizei, die Tobias angeblich abgeholt hatten, bald auffliegen würde. Und kaum, dass wir sie in Stuttgart bei den Nemkovas abgeliefert hatten, lief sie – vermutlich mit Jovana – los, kaufte Spiritus und legte Feuer in der Wohnung ihrer Mutter. Damit war alles weg, das Blut, ihre Schuhe mit den Verschmutzungen aus dem Glemswald, der gefälschte Amtsbrief, die Schuhschachtel mit der Jugendamtskorrespondenz. Tabula rasa. Sie fühlte sich frei, jeden anderen der Brandstiftung und des Mordes zu beschuldigen, zum Beispiel Detlef Depper. Das ist ja ihre Spezialität. Andere beschuldigen.«

»Und dann sind sie zu Detlef Depper gezogen, um von ihm Geld zu erpressen?«, überlegte Meisner. »Vermutlich für ihre Flucht. Da waren sie wieder ganz Kinder.«

»Wer weiß«, sagte Richard, »was passiert wäre, wenn er sich geweigert hätte, wenn er sie ausgelacht hätte.«

Meisner seufzte. »Wir werden es nie ganz begreifen.« Ihre Schokoaugen hefteten sich in meine. »Und hoffentlich stürzt sich jetzt nicht die Journaille auf die Geschichte.«

Ich legte den Finger auf die Lippen und hob die Hand. »Die Journaille wird ab morgen alle Hände voll damit zu tun haben, Baphomets Geschäftemacherei mit Inobhutnahmen und die Rolle des Jugendamts zu skandalisieren.«

»Hoffen wir’s!« Meisner trank ihren Tee in kleinen Schlucken. Ihr Blick wanderte vom Fenster, in dem der Sonnensonntag verlosch, über die gediegenen Bücherwände, den dicken Teppich und die Clubsessel zu Oberstaatsanwalt Dr. Richard Weber, der dem Butzele in seinem Arm den Bauch krabbelte.

»Was wird denn jetzt mit ihr?«

Alenas Augen waren offen. Die langen Wimpern warfen kleine Schatten auf ihre Bäckchen. Ihr Mündchen schlug Blasen, sie strampelte mit den Füßen und atmete heftig.

»Da! Hast du das gesehen, Lisa?«, rief Richard leise, Glück und Seligkeit in den Augen. »Hast du gesehen? Sie lächelt. Alena hat zum ersten Mal gelächelt.«

Staatsanwältin Meisner senkte ihre Rotznase ins Teeglas und verbiss sich das Lachen.

 

 

Sie möchten wissen, wie es mit Lisa Nerz weitergeht? Einfach umblättern zur Leseprobe von »Die Affen von Cannstatt. Der 11. Fall für Lisa Nerz«.

 

Christine Lehmann

 

Mit Teufelsg’walt

 

Der 8. Lisa-Nerz-Krimi

 

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

cover

 

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Argument Verlag 2009

Lektorat: Iris Konopik

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 17.05.2016

ISBN 978-3-95988-051-0

Über das Buch

In aller Herrgottsfrühe schreckt Lisa Nerz aus dem Schlaf: Die Wohnung über ihr bebt von knarrenden Schritten und wildem Geschrei. Oben trifft sie auf drei Damen vom Jugendamt, die den fünfjährigen Tobias mitnehmen wollen. Ein richterlicher Beschluss liegt nicht vor. Lisa schaltet auf stur, bietet der Obrigkeit die Stirn und setzt die amtlichen Vollstreckerinnen erst mal vor die Tür. Doch die Sache geht ihr nach. Und kurz darauf finden sie und Staatsanwalt Weber im Wald eine Leiche mit seltsamem Gepäck …

 

In ihrem achten Fall stößt Lisa Nerz auf blinde Flecken im deutschen Sorgerecht, entdeckt ungeahnte Eigenschaften bei Staatsanwalt Richard Weber und bringt sich in Teufels Küche.

 

»Um eine Figur wie Lisa Nerz glaubwürdig zu gestalten, muss eine Autorin schon was können. Tatsächlich kann Christine Lehmann viel mehr. Das hat so viel Tempo, die Figuren sind so liebevoll charakterisiert, da verbinden sich dynamischer Vorwärtsdrang und fortgesetzte Seitwärtsbewegung zu einer durchweg unterhaltsamen Provinzinvestigation. Mehr davon!« Ekkehard Knörer, Perlentaucher

 

Über die Autorin

Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR tätig und schreibt Romane, Kurzkrimis, Kriminalhörspiele (Radio Tatort) und Glossen. Mehr Informationen finden Sie auf ihrer Homepage.

 

Weitere Lisa-Nerz-Krimis finden Sie auf CulturBooks.

 

 

 

Selbstverständlich haben die Beamtinnen und Beamten der Jugendämter in Deutschland eine schwierige Aufgabe, und sie bewältigen sie vermutlich nach bestem Wissen und Gewissen. Keineswegs will ich einen Berufsstand oder ein bestimmtes Jugendamt unter Verdacht stellen. Und um auszuschließen, dass der Eindruck entsteht, ich zielte mit meiner Darstellung allgemeiner Missverhältnisse auf das Stuttgarter Jugendamt, habe ich es in meiner Fiktion in einen anderen Stadtteil verlegt. Ähnlichkeiten mit lebenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieses oder eines anderen Jugendamts sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Fällen von brutaler Inobhutnahme wollte ich nicht vermeiden.

Vorwort

Wenn ich Christine Lehmann lese, spüre ich, dass das Genre grenzenlose Möglichkeiten bietet und ich dessen niemals müde werde. Ich liebe literarische Krimis mit starken Charakteren, die mich mitreißen und die düsteren Seiten der Realität nicht aussparen. Am meisten bewundere ich Krimis, die mich nötigen, meinen Standpunkt anzuzweifeln. Wenn ich mich bei Vorurteilen erwische, beim Denken in Schubladen, wo das Leben eigentlich widersprüchlicher ist, dann ist die Lektüre eine Offenbarung. Lisa Nerz hat mich schon öfter so ins Wanken gebracht. Sie hat so eine Art, in Konflikte hineinzuschliddern und Unstimmigkeiten ans Licht zu zerren. Das muss für sie entsetzlich anstrengend sein – ich aber kann gefahrlos genießen, wie ihre turbulenten Erfahrungen meine Welt weiten und an meinen Ansichten sägen. Zuverlässig entwickelt sich alles anders, als ich vorhergesehen habe, und bleibt doch glaubhaft, wasserdicht, exzellent recherchiert. Das ist Krimi-Leseluxus für mich.

»Mit Teufelsg’walt« drängt sich jetzt das Thema Kinder in Lisas Leben: ein Thema voller Emotionen und Fallstricke, die den klaren Standpunkt auf harte Proben stellen. Nicht nur die Tabus und Glücksversprechen rund um Kinder bieten Zündstoff. Die Kinderfrage ist so eng mit großen Menschheitsfragen verwoben – Moral und gesellschaftliche Konditionierung, Macht und Ohnmacht, Lebensraum, Privatsphäre, Verantwortung und Zukunft … Und da stürzt sich Lisa Nerz mitten hinein und durchwühlt diesen Humus unserer Kultur. Ein nüchternes Wort wie Sorgerecht entpuppt sich als Labyrinth aus Machtverhältnissen. Ein obsessiv vernunftbetonter Staatsanwalt mutiert köstlich zum gurrenden Clown. Rasant und wahrhaftig, beklemmend und urkomisch, finster und heiter: »Mit Teufelsg’walt« ist für mich ein schwindelerregend guter Kriminalroman über unsere Welt.

Else Laudan

1

Ein Kind kreischte, eine Frau schrie in höchsten Tönen, die Zimmerdecke über meinem Bett knarrte unter Leuten. Dabei war es stockfinster draußen. Mein Wecker zeigte kurz nach sechs.

Stach da oben gerade der Vater seine Familie ab? Und das in meinem Mietshaus! Der körpereigene Adrenalinalarm wuppte mich aus dem Bett und trieb mich in Jeans und Pullover, ehe ich einen klaren Gedanken fassen konnte. Cipión stand auch schon an der Wohnungstür mit steil aufgestellter Rute. Zum Bellen konnte er sich auch jetzt nicht entschließen. Der Rauhaardackel hatte, seit ich ihn aus einer Höhle gerettet hatte, noch nie gebellt. Erst hatte ich gedacht, er sei traumatisiert, inzwischen war ich zu dem Schluss gekommen, dass er es für sinnlos hielt, Krach zu machen. Wir verstanden ohnehin nie, was er uns damit sagen wollte.

Ich warf mir den Parka über, nahm den Schlüssel vom Haken und öffnete die Tür. Cipión trabte hinaus. Das hölzerne Treppenhaus war dezembernachtkalt. Und es roch nach Stressschweiß. Hier waren Leute mit aggressiven Absichten in den vierten Stock gestiegen. Ich zitterte plötzlich. Nicht vor Kälte. Denn knapp unterhalb meines bundesrepublikanischen Vertrauens in die Rechtsstaatlichkeit polizeilicher Maßnahmen staute sich das viel ältere Menschheitswissen von staatlicher Willkür und nächtlichen Abtransporten in Folterlager.

Ich nahm zwei Stufen auf einmal. Auf halbem Weg verlosch das Treppenhauslicht. Die Wohnungstür ein Stockwerk höher stand halb offen. Lampenlicht fiel auf den Treppenabsatz. Das Holz war, weil weniger Menschen in den vierten Stock stiegen, glatter als in den unteren Bereichen. Ich glaube, ich war noch nie hier oben gewesen. Und nur einmal hatte ich unten im Hauseingang die Frau getroffen, die mit ihren beiden Kindern seit einem halben Jahr über mir lebte und den Briefkasten mit dem Namensschild »Habergeiß« leerte. Sie war bebrillt und dick. Die Tochter zählte schätzungsweise dreizehn Jahre, der Bub fünf oder sechs.

Er schrie tief drin in der Wohnung. »Ich will nicht mit! Ich will nicht!«

Ich stieß die Tür auf, genau in den Rücken einer Frau im Wintermantel. Die Wohnung hatte anders als meine einen Flur. An dessen Ende stand gestikulierend die Tochter und redete auf eine Person ein, die ich nicht sehen konnte. Cipión dackelte unerschrocken hinein. Die Frau im Flur fuhr herum.

»Was ist hier los?«, fragte ich im Polizeiton.

Die Tochter sah mich – ob sie mich auch erkannte, weiß ich nicht – und schrie: »Die wollen Tobi mitnehmen!«

Hinter der Ecke am Ende des Flurs trat eine weitere Frau hervor. Sie war eine von denen, die ihre grauen Haare nicht färbten und naturtrübe Kleidung biologischer Weltanschauung trugen, was sie als bewusst und sozial verantwortungsbewusst lebende Gutmenschen auswies. Unter dem Mantel leuchtete ein möhrenfarbenes Wollkleid.

»Wir sind vom Jugendamt«, erklärte sie. »Gehen Sie bitte und lassen Sie uns unsere Arbeit machen.«

»Und ich bin von der Presse.« Ich zog meinen gewerkschaftlichen Presseausweis aus dem Parka und hielt ihn hoch. »Schwabenreporterin Lisa Nerz. Ich wohne ein Stockwerk tiefer. Und ich bin eine aufmerksame Bürgerin, die sich nicht im Bett umdreht, wenn im Haus ein Kind schreit, als würde es abgestochen.«

Das musste die Dame vom Jugendamt gutheißen, auch wenn der Zeitpunkt gerade ungünstig war.

»Können Sie sich auch ausweisen?«, fragte ich.

»Ja, genau!«, schrie die halbwüchsige Tochter. »Sie haben sich gar nicht ausgewiesen.«

»Doch, das haben wir«, antwortete die Grauhaarige im Möhrenkleid betont leise. »Außerdem kennst du mich, Katarina.«

Jetzt erschien in einer Tür die Mutter. Der Morgenmantel hing schief, das Gesicht war grau, das Haar hing wie welker Schnittlauch vom Kopf, die Brille hatte Schlagseite.

»Bitte gehen Sie wieder auf Ihr Zimmer, Frau Habergeiß«, sagte die Grauhaarige streng.

»Na hören Sie mal!«, entfuhr es mir. »Das ist ihre Wohnung!«

»Und Sie verlassen diese Wohnung jetzt auch!«

Eine dritte Frau erschien, aus dem Kinderzimmer hervorgezerrt durch den Jungen, den sie am Handgelenk gepackt hielt, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Vor lauter Protest und Gegenwehr hatte Tobi sich den Schlafanzug fast ausgezogen und einmal um den Leib gewickelt. Er zerrte an der Hand der Frau zu seiner Schwester, doch die Frau zog ihn so heftig zurück, dass er den Boden unter den Füßen verlor. Er war so erschrocken, dass er nicht einmal brüllte.

»Lassen Sie meinen Bruder los«, kreischte Katarina. »Sie tun ihm weh!« Sie sprang vor, mit erhobener Faust.

»Katarina!«, schrie die Mutter gellend.

Die Grauhaarige stellte sich schützend vor ihre Kollegin. Es gab ein kurzes Gerangel.

»He!«, rief ich.

Cipión knurrte. Er mochte Handgemenge nicht.

Alle Augen richteten sich auf den kleinen Rauhaardackel mit dem borstigen Schlappohrgesicht und der steil erhobenen Rute. Cipión war schätzungsweise zwei Jahre alt und bereit, die Verantwortung des Rudelführers zu übernehmen.

»Schaffen Sie den Hund hier raus!«, herrschte mich die Frau an, die den Flur blockierte. »Und gehen Sie!«

»Nicht, bevor Sie sich ausgewiesen haben.«

»Wir müssen uns Ihnen gegenüber nicht ausweisen!«, belehrte mich die Grauhaarige.

»Dann hole ich eben die Polizei! Für mich sieht das hier nach Indianerüberfall vor Morgengrauen und nach Kindsraub aus.«

»Die Polizei wird Ihnen nicht helfen!« Selbstsicherheit der Staatsmacht straffte die Stimme der Frau im Möhrenkleid.

»Wie Sie wollen!«, antwortete ich lächelnd. »Es war mehr zu Ihrem Schutz gedacht. Denn ich gehöre zu den gewaltbereiten Personen. Aber vielleicht zieht ja Frau Habergeiß eine gewaltfreie Einigung vor.«

Die Mutter nickte mit aufgerissenen Augen hinter dicken Brillengläsern.

»Hier geht es nicht um eine Einigung«, belehrte mich die Dame. »Sie sollten sich nicht einmischen. Sie machen es der Familie nur noch schwerer.«

Ein Zittern flutete mich. »Warum wollen Sie das Kind mitnehmen? Morgens um sechs?«

»Das diskutiere ich mit Ihnen nicht. Verlassen Sie bitte unverzüglich die Wohnung. Sonst hole ich die Polizei.«

»Bleiben Sie hier!«, schrie die Tochter. »Helfen Sie uns!«

Der Junge an der Hand der dritten Frau fing unversehens an zu röcheln und nach Luft zu schnappen.

»Das Spray!«, rief Katarina und stürzte fort in den Raum, der vermutlich das Badezimmer war. Sekunden später kam sie mit einem Asthmaspray zurück. Doch wieder zerrte die Frau Tobi am Handgelenk zurück wie einen unartigen Hund. »He!«, kreischte das Mädchen. »Wenn er stirbt, sind Sie schuld!«

»Gib mir das Spray!«, antwortete die Frau betont ruhig.

Die Mutter wankte mit Neigung zur Ohnmacht. Katarina stampfte mit dem Fuß auf die Dielen und schleuderte, plötzlich grün vor Zorn, das Asthmaspray von sich. Es knallte der Frau, die Tobi am Arm hielt, gegen die Stirn, fiel zu Boden und schoss über die Dielen auf Cipión zu, der mit allen vieren in die Höhe sprang, und blieb vor meinen Füßen liegen.

»Katarina!«, seufzte die Mutter tonlos. »Bitte!«

Das Mädchen brach heulend zusammen und sank mit dem Rücken an der Wand zu Boden.

Die Grauhaarige im Möhrenkleid warf mir einen Da-sehen-Sie-es-Blick zu. Der Junge pumpte angestrengt. Sein Atem ging pfeifend.

Ich bückte mich, hob das Asthmaspray auf. »So, und Sie lassen jetzt den Jungen los, oder Sie haben eine Anzeige wegen Körperverletzung nach Paragraph 223 StGB am Hals.«

Leichte Unsicherheit flackerte zwischen den drei Frauen. Der Paragraph war ein sehr einfacher, der immer galt, wenn es zu Gewalt kam, nur deshalb konnte ich ihn zitieren. Aber es machte Eindruck.

»Außerdem können Sie morgen im Stuttgarter Anzeiger nachlesen«, fuhr ich fort, »dass bei einer Aktion des Jugendamts beinahe ein Kind gestorben wäre, weil Sie eine Hilfeleistung behindert haben. Wollen Sie das?«

Ich kniete mich neben den röchelnden Knaben und setzte ihm das Spray an die Lippen. Er atmete routiniert ein, die Augen auf Cipión geheftet, der hundefreundlich heranwedelte.

»Darf ich ihn streicheln?«

»Na klar.«

Da endlich ließ die Frau seine Hand los.

»Wie heißt er denn?«, fragte Tobi.

»Cipión.«

»Thippionn?«, sprach er mir nach.

Ich gab ihm noch einen Hub aus der Flasche. Doch Tobi war schon ganz auf Cipións Schlappohren, bärtige Schnauze und raues Fell konzentriert und dachte nicht mehr ans Atemholen. Sein dünnes Handgelenk war krebsrot von der Zerrerei an der Hand der Frau vom Jugendamt. Seine Arme, sein Hals und sein Gesicht waren zudem von kleinen Wunden übersät. Vermutlich Neurodermitis.

Aus der Augenhöhe des Jungen, in der ich mich befand, wirkten die drei Damen vom Jugendamt groß, wuchtig und böse. Die Grauhaarige stand starr, als würde sie sich niemals zu einem Kind hinunterbeugen. Die Frau, die Tobi gehalten hatte, rieb sich die Stirn und warf Katarina einen bösen und zugleich triumphierenden Blick zu. »Das wird Konsequenzen haben, das ist dir doch wohl klar!«

Katarina zuckte mit den Schultern.

»Ja, für Sie!«, sagte ich und richtete mich auf. »Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Amtsmissbrauch. Am besten, Sie verschwinden jetzt. Und nächstes Mal bringen Sie einen richterlichen Beschluss mit.«

»Wir benötigen keinen richterlichen Beschluss!«, erklärte mir die Grauhaarige.

Tatsächlich? Ich stutzte. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Aber wie dem auch sei, das nächste Mal wird Frau Habergeiß Ihnen nicht die Tür öffnen.«

Katarina nickte eifrig. »Wir machen Ihnen einfach nicht mehr auf, nie mehr!«

»Und jetzt raus, die Damen!«

»Wir werden nicht gehen!«, erklärte die Grauhaarige. »Jedenfalls nicht ohne Tobias. Wir sind berechtigt …«

»Doch, Sie werden, Frau … äh …«

Sie antwortete nicht.

»Wie heißen Sie denn nun?«

Sie presste die Lippen zusammen, als hätte sie eine Fliege im Mund.

»Haben Sie Angst, mir Ihren Namen zu nennen?«, lächelte ich.

»Ich habe keine Angst! Mein Name ist Hellewart, Leiterin des ASD. Und wenn Sie jetzt diese Wohnung nicht unverzüglich verlassen, werde ich Sie anzeigen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Behinderung …«

Lächelnd trat ich an sie heran. »Sehen Sie die Narben in meinem Gesicht, ja? Ich scheue keine Prügel. Und Sie sind sicher klug genug, der rohen Gewalt zu weichen. Denn wenn ich eins gar nicht abkann, dann behördliche Frechheit. Und das morgens um sechs! Ich brauche nämlich meinen Schlaf! Ich bin gestern ziemlich versumpft. Mir ist es scheißegal, ob Sie mich später verklagen, weil ich Ihr Haar ein bisschen zerzaust habe, verstehen Sie?«