Inhaltsverzeichnis

Vorwort
3:2
Neun Jahre nach Kriegsende wird Deutschland Fußball-Weltmeister
Bundestrainer Adenauer
Internationale Pressestimmen zum deutschen WM-Sieg
Lauterer Sorgen
Scheidet Fritz Walter aus der Nationalmannschaft aus?
Sauerstoff-Stürmer
Wie Ärzte im Vorfeld der WM 1954 die Leistung der Fußballer steigern wollten
„Helmut Rahn . . . Lichterloh!!!“
Der Mythos Sepp Herberger und sein legendäres Notizbuch
Wie ein kleiner König (Teil 1)
Serie über Sepp Herberger: Fußball unterm Hakenkreuz
Wie ein kleiner König (Teil 2)
Serie über Sepp Herberger: Aus dem Jammertal zur Weltmeisterschaft
Der Chef und sein Boss
Sönke Wortmanns Film „Das Wunder von Bern“
Ewiger Knaben Wunderhorn
Rückblick auf das „Wunder von Bern“ 50 Jahre danach
Mensch, glaubste das?
Wie SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann den 4. Juli 1954 erlebte
22 Minuten mehr vom Wunder
Unbekanntes Filmmaterial vom WM-Finale 1954
Das Leder von Bern
Die Bälle des Endspiels von 1954
Papa Gnädigs treue Enkel
Der DFB sperrt sich dagegen, Verstrickungen mit dem NS-Regime aufzuarbeiten
Fritz Walter
Ein Nachruf
Impressum
Einleitung

Das Wunder von Bern

„Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus!“

Für seine Spieler war er „der Chef“, er selbst nannte sich einen „Feldherrn und Feldwebel“. Für das Deutschland der Nachkriegszeit wurde Sepp Herberger zu einem Erlöser, einer „säkularisierten Legendenfigur“, wie sein Biograf Jürgen Leinemann Jahrzehnte später schrieb. Die höheren Weihen gab dem Mann, der von 1936 bis 1942 und von 1950 bis 1964 Trainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft war, der 3:2-Sieg im Finale der Weltmeisterschaft 1954 gegen die hochfavorisierten Ungarn: das „Wunder von Bern“. Die Deutschen waren plötzlich wieder wer. Sie berappelten sich, ihr Selbstwertgefühl, nach Nazi-Greuelzeit und bedingungsloser Kapitulation auf dem Tiefpunkt, bekam Auftrieb. 
Nach Schätzungen sollen an diesem 4. Juli 1954, einem verregneten Sonntag, rund 60 Millionen Deutsche vor Radiogeräten mitgefiebert und der Reportage Herbert Zimmermanns gelauscht haben, der aus dem Berner Wankdorfstadion nach Schlusspfiff die legendären Sätze ins Mikrofon schrie: „Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“ 
Die emotionale Wucht, die der erste WM-Titel einer deutschen Nationalmannschaft auf die junge, mit dem Wiederaufbau beschäftigte Bundesrepublik entfaltete, ergreift die Menschen bis heute. Der Film „Das Wunder von Bern“ des Regisseurs Sönke Wortmann, der 2004 anlief, zog bislang rund dreieinhalb Millionen Menschen in die Kinos, und das gleichnamige Musical, das seit November 2014 acht Mal pro Woche in Hamburg aufgeführt wird, sahen bereits nach einem Jahr über eine halbe Million Zuschauer. 
Der SPIEGEL hat sich mit der Bedeutung, die Sepp Herberger für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft und die die deutsche Fußball-Nationalmannschaft für die Deutschen hatte, immer wieder intensiv auseinandergesetzt. Dieses E-Book enthält eine Auswahl von 14 Texten, darunter eine Titelgeschichte vom 7. Juli 1954 – damals erschien der SPIEGEL noch mittwochs – über Bundestrainer Herberger, der sein Team „zum größten Triumph der deutschen Sportgeschichte geführt hatte“. 
Außerdem findet sich in der Textsammlung eine zweiteilige Serie des 2013 verstorbenen SPIEGEL-Reporters Jürgen Leinemann über Herbergers Karriere. Sie fasst die wichtigsten Aspekte der rund 500 Seiten starken Biografie zusammen, die Leinemann zum 100. Geburtstag Herbergers im Jahr 1997 veröffentlichte. Leinemanns Recherche zu Leben und Legende des „Fußball-Magiers“ ist bis heute unerreicht – der SPIEGEL-Mann durchforstete den kompletten schriftlichen Nachlass Herbergers, abgeheftet und abgelegt in 361 Ordnern im Archiv des Deutschen Fußball-Bundes.
Michael Wulzinger
SPIEGEL Titelbild 28/1995 Der sanfteste Tyrann: Bundestrainer Herberger
SPIEGEL Titelbild 28/1995 Der sanfteste Tyrann: Bundestrainer Herberger
SPIEGEL-TITEL 28/1954

3:2

In Washington ließ Sir Winston Churchill seinen Blick über dieses Jahrhundert schweifen und meinte, die Völker hätten im „Jahrhundert des kleinen Mannes eine sehr rauhe Zeit gehabt“. Jetzt aber könnten angesichts der atomaren Gewalten Politik und Geschichte nur noch einen Sinn haben: den kleinen Leuten überall, auch in Rußland, die Chance zu gönnen, „Spaß zu haben“. Woran? „Am Fernsehen und am Fußballspiel“, sprach Sir Winston, der späte Friedensfürst.
In der gleichen Woche noch erhoben sich die kleinen Leute Deutschlands, die eine besonders rauhe Zeit hatten, erhoben sich mit Geschrei vor Fernsehschirmen(1) und an Fußballfeldern der Weltmeisterschaft(2). Vor aller Welt gaben sie sich, als hätten sie nun, Ende Juni 1954, nach zwanzighundertjährigem geschichtlichem Irrweg den alleinigen verheißungsvollen Sinn und die wahre Bestimmung ihrer nationalen Existenz entdeckt. Deutschland erhob sich, und Europa erbebte, weil Josef Herberger, ein gemütlicher kleiner Mannheimer mit verwittertem Bergbauern-Gesicht, die von ihm trainierte deutsche Mannschaft zum größten Triumph der deutschen Sportgeschichte geführt hatte. Am Schluß des 3:2-Spiels gegen Ungarn sangen die deutschen Schlachtenbummler und Sportfunktionäre statt des bundesamtlich konzessionierten „Einigkeit und Recht und Freiheit“ das altvertraute „... über alles in der Welt“.
Nationale Begeisterungsstürme um sportliche Ereignisse hat es vorher schon gegeben: als Max Schmeling die Weltmeisterschaft erboxte, als die deutsche Olympia-Vertretung 1936 Goldmedaillen wie Fallobst sammelte. Niemals zuvor in Europa aber schäumten die kollektiven Gefühle der Deutschen so ausschließlich für nichts als ihre Fußballmannschaft. Früher feierten nationale Leidenschaften in Europa politische Triumphe, heute strömen die nationalen Empfindungen, die sich noch nicht „integrieren“ lassen, zum Sport ab. Sie verschärfen den Sport, „machen etwas aus ihm, was er nicht sein will“, wie Dutzende von Kommentatoren warnen. Aber umgekehrt entschärft auch der Sport die Gefühle. Sir Winston hat den neuen Instinkt der Völker gespürt, die Deutschen haben ihn genossen.
Wie Sternstunden oft, begann auch die Fußballerhebung mit einer tiefsten Erniedrigung, als die deutsche Nationalmannschaft in ihrem ersten Spiel gegen Ungarn am 20. Juni 3:8 überrollt wurde. Von den wirbelnden Magyaren wurde sie auseinandergenommen wie eine kaputte Uhr - vor den geweiteten Augen von 35 000 Deutschen, die, von lange aufgestauter Siegessehnsucht prall, wider alle vernünftige Aussicht auf einen Erfolg hofften, ja, ihn blindlings forderten.
Auf das braungebrannte Haupt des kleinen, versonnen blickenden Mannes von 57 Jahren, der still am Rand des Spielfelds hockte, schien sich in diesem Augenblick grauses Verhängnis zu senken. Seit Monaten schien der Zeitpunkt unerbittlich näherzurücken, an dem die wiedererwachte Nation den verräterischen Bundestrainer Josef Herberger an einem sauren Apfelbaum würde aufhängen müssen. Jetzt hielt man den Zeitpunkt für gekommen.
Herberger hatte ausgerechnet den klopffesten Superspielern aus Ungarn einen verlorenen Haufen von nur sechs Standard-Nationalspielern und fünf Ersatzmännern entgegengeschickt, um seine erste Garnitur für künftige Prüfungen zu schonen. Damit hatte er den langerwarteten Kampf im vorhinein verloren gegeben.
Als der Sport-Journalist Dr. Leo Hintermayr seine Debakelmeldung nach Deutschland telephonierte, schlug ihm ein Landsmann auf die Schulter und schrie erregt: „Schreiben Sie es aber auch rein, diese Gemeinheit! Der Herberger gehört wegen Sabotage vor Gericht.“
Die Journalisten schrieben es rein: „Herbergers taktisches Manöver schädigte den deutschen Sport“, knirschte der Westberliner „Abend“. In der „Welt“ zürnte Chefreporter Dr. Joachim Besser: „Dieses Spiel war das traurige Ergebnis einer taktischen Überlegung des Bundestrainers ... Ist das noch Sport ...? Für uns Deutsche war es eine beschämende Vorstellung.“
Nichts, so schien es, hatte der Bundestrainer unversucht gelassen, um die deutsche Niederlage zu sichern. Er hatte sich in ein paar überalterte, von Hannover 96 abgestrafte Trottel aus Kaiserslautern verliebt - vermutlich ihres katholischen Glaubens wegen. Die Matadoren des Nordens - wie Posipal - stellte er hinterlistig auf falsche Positionen. Er spielte defensiv, wo jeder normale Mensch offensiv spielen würde - und umgekehrt.
Drei Tage nach dem Ungarn-Fiasko jedoch preschten die fünf Aufrechten unverzagt aus Herbergers Schonung und überrannten die Türkei im Entscheidungsspiel um den Eintritt ins Viertelfinale 7:2. Jetzt strahlte jener Dr. Joachim Besser: „Sie bestätigten damit, daß Herbergers Taktik, gegen Ungarn nur mit zweiter Garnitur anzutreten, berechtigt war.“
Beim Spiel gegen Jugoslawien löste sich dann aus der lähmenden Spannung zwischen Durchhaltemut und Defaitismus der Erdrutsch. Aus dem Gewühl in ihrem Strafraum unterlief den Jugoslawen ein Selbsttor, und die deutsche Abwehr (der vorher allgemein für besonders schwach erkannte Teil der deutschen Mannschaft) begann, erbittert, „hingebungsvoll“ zu kämpfen, um den Vorsprung gegen die wütend anstürmenden Jugoslawen zu halten.
Zitternde Erregung pflanzte sich durch die Pressezellen fort. Rundfunksprecher Gerd Krämer warf in der zweiten Halbzeit seine Seltersflasche um. Dann riß ein gestikulierender Kollege dem Dr. Joachim Besser das Telephon vom Tisch. Schwitzende Finger preßten Taschentücher. Einer wurde kreidebleich, als wieder desperater Nahkampf vorm deutschen Tor malmte. „Ich kann das nicht mehr mit ansehen“, stammelte ein Reporter und verschwand. Ihm wurde schlecht. Wacker würgten die anderen, und mancher harte Mann verlor die Herrschaft über seine Tränendrüsen, als die Deutschen sich zu einem Durchbruch aufrafften und das befreiende 2:0 errangen. Langverschüttete Urquellen brachen auf.
Unterschwellig war der Strom, auf dem die Deutschen nun ritten. Österreich wurde ausgespielt, während deutsche Fanatiker auf den Tribünen Platzpatronensalven abfeuerten. „Ein solches Stürmerspiel haben wir bei dieser Weltmeisterschaft noch nicht gesehen“, staunte der stets reservierte Züricher „Sport“. In Berlin erlitt der 57jährige Feuerwehrmann Wilhelm Lange nach Schluß der Radioübertragung vor Erregung einen tödlichen Herzschlag unter den Augen seiner plötzlich verstummten Kollegen.
Durch die Gassen Wiens schlich pestilenzialische Trauer. Bundeskanzler Raab, der seine Koffer schon für Glückwunschreise und Endspielbesuch in der Schweiz gepackt hatte, mußte wieder auspacken.
In Bonn war der Sieg Tischgespräch beim Empfang für den Marschall Papagos. Diesmal hatte nicht nur Bundesinnenminister Gerhard Schröder, sondern auch Vizekanzler Blücher ein Glückwunschtelegramm geschickt, worauf Schröder, der die Zeichen der Zeit zu lesen versteht, wenn er sie sieht, keck den Kollegen Blücher fragte: „Seit wann gehören denn nationale Siege ins Ressort des Marshallplans?“
Wenn je ein Phönix aus der Asche stieg, wenn je ein Gerechter auffuhr aus dem Orkus schnöder Verachtung ins Licht der Ehre - sein Name war Herberger. Doch auch der Bundessepp war von der überpersönlichen Wucht des Umschwungs ein wenig überfordert. Noch als er in die Schweiz fuhr, winkte er alle Glückwünsche ab: „Na ja, wir sind wenigstens dabei.“ Was war geschehen? Herbergers Erklärung klingt zunächst wie eine ratlose Untertreibung: „Wenn ich die Mannschaft mal vier Wochen beisammen habe, dann sind wir eben dran.“
Immer wenn die Deutschen selbst nicht zu wissen scheinen, was mit ihnen passiert, klingeln in ausländischen Hirnen die Alarmglocken. Die italienische „Gazzetta dello Sport“ bibberte: „Das war Deutschland wieder einmal, wie es leibt und lebt. Teutonische Unberechenbarkeit, die sich auf den Fußballrasen geschlichen hat ...“ „Eine Orgie“ schrieb selbst die Londoner „Times“ zum Österreich-Massaker.
Der Franzose Hanot meint, daß die Wurzeln der sportlichen Leistung bei den Deutschen tiefer als sonstwo in unkontrollierbare Düsternis hinabreichen, woher die rätselhafte Fähigkeit rühre, in Augenblicken, in denen es am wenigsten erwartet wird, weit über sich selbst hinauszuwachsen, oder aber weit unter sich selbst zu sinken. Hanot fand das Luftballon-Aperçu: „Die Deutschen spielen einen metaphysischen Fußball.“
Aber das für die Deutschen selbst Überraschende und für die Nichtdeutschen Unheimliche am Furor Teutonicus ist nicht so sehr seine tatsächliche Wucht, vielmehr seine althergebrachte Eigenheit, aus Situationen der Schwäche und Zersplitterung, aus Stimmungen der Verwirrung und Mutlosigkeit scheinbar unvermittelt und unkontrollierbar hervorzubrechen. Der Kontrast zwischen lange währender Niedergeschlagenheit und plötzlicher Wallung ist es, der die Nachbarn Deutschlands in Unruhe hält.
Dieser Kontrast wird im deutschen Fußball besonders offen sichtbar. Mehr als andere Fußball-Nationen haben sich die Deutschen zerspalten und gegeneinander eingezäunt. Nach dem Krieg waren zwar an Stelle der alten „Gau-Ligen“ als oberste Spielklasse die sogenannten „Oberligen“ eingeführt worden, die die jeweils stärksten Vereine von Nord-, West-, Süd- und Südwestdeutschland zusammenfassen. Aber immer noch vertreiben die Liga-Angehörigen ihre Zeit im Grunde damit, an dreißig Sonntagen im Jahr im Schatten ihres Provinz-Kirchturms untereinander Punktspiele auszutragen. Lediglich die ein oder zwei besten Vereine jeder Liga treffen in der Meisterschafts-Endrunde zu entscheidenden Kämpfen auf andere Stämme deutscher Nation. Pokalrunden, Vergleichsrunden und Freundschaftsspiele sind nur Einlagen, die von den in lokalen Fehden erschöpften Spielern in lustloser „Sommerform“ absolviert werden.
Dem föderalistischen Prinzip war damit Genüge getan, aber die nationale sportliche Auswahl, die in anderen Ländern durch National-Ligen (wie in England) fast von selbst hervorgebracht wird, wurde abgewürgt, mit unansehnlichen Konsequenzen. Ein talentierter Spieler etwa in Hamburg hat in der Hauptsaison kaum Gelegenheit, sich mit Stuttgarter Begabungen zu messen. Statt dessen rackert er sich damit ab, seine klotzbeinigen Klubkameraden zum Sieg über Provinzvereine zu schleppen, die oft noch nicht einmal das sind, was man in Frankfurt „Uganda-Kicker“ nennt.
In der Ortsgemark wird der gute Spieler als einäugiger König der Blinden verehrt und dazu überredet, seine Fähigkeiten zu hoch einzuschätzen; hat er Selbstkritik, merkt er gar bald, wie seine Umgebung ihn hindert, sich weiterzuentwickeln.
Denn selbst wenn der Bundestrainer solch einen Mann als Edelstein inmitten des fußballerischen Lehms entdeckt, sträuben sich die eigenbrötlerischen Vereine, ihre Publikums-Attraktionen an den wenigen punktspielfreien Sonntagen für Vergleichstreffen regionaler Auswahlmannschaften herzuleihen. Sogar für die kurzen Lehrgänge des Bundestrainers und für Länderspiele werden die Stars von ihren kassenbewußten, partikularistischen Klubs oft nur mit größtem Widerwillen beurlaubt.
Noch vor wenigen Wochen forderten die Vereine eine Beschränkung des Länderspielverkehrs auf vier Begegnungen im Jahr. Mehr Spiele - so argumentierten die mit Klubhausbrettern vernagelten Vereinsmeier insgeheim - lohnten nicht, denn eine deutsche Nationalelf werde sich ohnehin nicht in die Weltklasse emporrackern können. Schlagend steht dem entgegen, daß eine Nationalmannschaft, genau wie jede andere Elf, desto besser wird, je mehr sie spielt. Im deutschen Fußball-Erfolgsjahr 1935 trug die deutsche Vertretung nicht weniger als 17 Länderkämpfe aus. Und Ungarn hat hauptsächlich deshalb den Gipfel mannschaftlicher Möglichkeiten erklommen, weil es in den vier Jahren vor der Weltmeisterschaft 1954 an 30 Länderspiele hat bestreiten können - von denen übrigens kein einziges verlorenging.
Und da wunderten sich die Vereine, daß ihre Zuschauerzahlen zurückgingen, und sahen nicht, daß die Popularität des Sports direkt mit dem internationalen Prestige zusammenhängt. So sinkt in England die Besuchermenge, auch der Liga-Mannschaften fast proportional mit dem Ruhm der Nationalvertretung.
Doch bei aller selbstverschuldeten Kurzsichtigkeit waren die deutschen Klubs auch Opfer des unglücklichen deutschen Kompromisses zwischen Turnvater Jahnscher Breitenarbeit einschließlich olympischer Amateurideale und dem Zwang zum professionellen Hochleistungssport, dessen Produkt der „Vertragsspieler“ ist.
In der Bundesrepublik war 1948 mit dem „Vertragsspieler“ ein Zwitter eingeführt worden, der sich vom Amateur dadurch unterschied, daß er von seinem Verein einen monatlichen Salär von 320 Mark brutto(3) regulär beziehen durfte und sich vom „Voll-Profi“ im besten Fall dadurch abhob, daß er offiziell einem bürgerlichen Beruf nachging. In der Wirklichkeit ist dieser Beruf oft nur eine Farce.
Vor diesem deutschen Wintermärchen stand 1950 mit skeptisch gefältelter Miene Josef Herberger. Der Deutsche Fußballbund hatte den ehemaligen „Reichstrainer“ zum Bundestrainer ernannt, als die internationalen Sanktionen gegen die deutschen Sportler aufzutauen begannen, und hatten ihm „Fahr wohl“ gewünscht. Seine Aufgabe war nicht nur, gute Leute aus dem Dickicht und den Höhlen der Fußball-Stämme und -Sippen hervorzulocken und zu re-kultivieren, um eine Mannschaft alten Stils zusammenzubekommen. Es mußte eine Mannschaft werden, besser als alle vorherigen, wenn sie das Fußball-Spiel so spielen sollte, wie es sich inzwischen im Denken und Wollen von Männern weiterentwickelt hatte, die wie Sepp Herberger mit dem Fußball großgeworden waren, um dann den Fußball mit sich wachsen zu lassen.
Den Stil, der ihm für seine Nationalelf als Ideal vorschwebte, beschrieb Sepp Herberger 1950 im Jubiläums-Jahrbuch des Deutschen Fußball-Bundes: „Mit scheinbar sinnlosem rochierendem(4) Durcheinander wird die gegnerische Deckung abgeschüttelt, die Ordnung der Abwehr gestört, verwirrt und aufgerissen und ... die Lücken und Gassen geöffnet, in die hinein wirbelnde Blitzkombinationen, Dribblings und Alleingänge sich zu erfolgreichen Attacken vereinen.“
Das „scheinbar sinnlose Durcheinander“ war bestimmt, das System endgültig zu überwinden, das noch in den dreißiger Jahren in Europa eindeutig dominiert hatte und von Herbergers Vorgänger Otto Nerz(5) nach Deutschland verpflanzt worden war: den athletischen und geradlinigen Mannschafts-Fußball der Engländer.
Nerz hatte sein Reformwerk