B. Bruder

18997.jpg

Die dunkle Macht der Wolkenbestie

Mit Illustrationen
von Zapf

Logo

Impressum

© KERLE

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.kerle.de

Umschlagillustration: Zapf

Abbildung Karte S. 9: didecs/Fotolia.com

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80550-9

ISBN (Buch) 978-3-451-71273-9

001.psd

Inhalt:

1. Das Wolkenreich

2. Wetterunterricht

3. Ein donnerndes Wiedersehen

4. Die Wolkeninsel

5. Die weiße Mauer

6. Der Dunkeldämon

7. Blitzschwerter

8. Der Kampf beginnt

9. Die letzte Chance

10. Die Lichtflut

11. Die Rückkehr

„Zwei Jungen werden es sein – der eine so gewöhnlich wie der andere, gemeinsam aber stark. Stark genug, um Grenzen zu überwinden und sich dem Bösen zu stellen.

Seite an Seite. Hand in Hand.
Als zwei, die doch eins sind.“

1. Das Wolkenreich

Die Stille hing schwer wie eine dicke Regenwolke über dem Reich. Nicht das leiseste Geräusch war zu hören. Und doch war das ganze Land in Bewegung: das weite, milchig-weiße Meer aus Wolken. Die hohen wulstigen Türme, die daraus emporragten. Die leichten, beinahe durchsichtigen Fetzen, die aussahen wie Gespenster. Keines der Wolkengebilde behielt länger als für eine Sekunde seine Form bei.

„Kein Wunder, dass man hier ständig die Orientierung verliert“, seufzte ein etwa neunjähriger Junge.

Seine Stimme klang dumpf und verlor sich sofort, als steckte sein Kopf in einem Haufen Watte.

„Diese Wolkenlandschaft ist wie verhext. Komplizierter als das Wasserreich, das Feuerreich und das Wüstenreich zusammen. Jetzt ist es schon Tage her, seit wir in Nuvola angekommen sind. Aber ich habe trotzdem keine Ahnung, wie weit wir schon ins Innere des Landes vorgedrungen sind und ob wir überhaupt auf dem richtigen Weg sind. Außerdem dauert es ewig, bis man auf diesen wackligen Wolken mal ein Stückchen vorwärts… aaaaaaaah!“

007.tif

Der Junge schrie auf, als irgendetwas schnell wie ein Blitz auf ihn zuschoss und sich in seinen hellbraunen halblangen Haaren verfing. Vor Schreck machte er einen Satz rückwärts.

„Bist du verrückt geworden, Drechse? Du hast mich fast zu Tode erschreckt!“

Der Junge keuchte. Seine goldfarbenen Augen waren weit aufgerissen.

„Ich dachte schon, Lasslos Biest hätte mich erwischt! Du weißt doch, dass es hier irgendwo …“

Dem Jungen verschlug es die Sprache, als er in einen tiefen Abgrund blickte.

Plötzlich, ohne dass er es bemerkt hatte, musste sich die Wolkenschlucht vor seinen Füßen geöffnet haben.

Der Junge starrte auf das riesige dunkle Loch, das nun keine zwei Meter vor ihm klaffte. Sein Puls raste, und ihm wurde schwindlig.

„Puh, das war knapp. Ich möchte nicht wissen, wie weit es da hinuntergeht!“

„Wiep-wiep!“, fiepte es empört als Antwort.

Ein kleines orange-grün gestreiftes, schuppiges Wesen mit langem gezacktem Schwanz schlug aufgebracht mit seinen kurzen Stummelflügeln und riss empört seine riesigen Nüstern und blauen Klimperaugen auf. Aus seinen überdimensionalen Ohren stiegen Rauchschwaden.

„Ja, ja, ist schon gut, Drechse, beruhige dich!“, erwiderte der Junge und tätschelte dem Wesen besänftigend die Nase.

„Entschuldige, dass ich dich angemeckert habe. Und danke, dass du mich gerade noch gewarnt hast. Du hast ja recht: Ich muss mich wirklich besser konzentrieren.“

Er seufzte. „Aber weißt du, seit wir hier oben im Reich der Wolken sind, fällt mir das Atmen und Denken richtig schwer. Das muss an der dünnen Luft in Nuvola liegen. Da hast du es besser. Schließlich bist du ein Drachen-Echsen-Weibchen und damit etwas ganz Besonderes. Als Mischung aus Wasserechse und Feuerdrache kannst du überall leben. Tief unter der Erdoberfläche und in diesen extremen Höhen!“

008.tif

„Wiep-wiep!“

Stolz vollführte das Wesen einen kunstvollen Looping, bevor es auf der Schulter des Jungen landete und ihm freundschaftlich über die Wange schleckte.

Der Junge lachte.

„Wenn ich dich nicht hätte, Drechse! Du bist wirklich die beste und schlaueste kleine Begleiterin, die man sich nur wünschen kann.“

Aber im nächsten Moment wurde sein Ausdruck wieder ernst und ein tiefer Seufzer entfuhr ihm.

„Wiep-wiep-wiep“, machte das Drachen-Echsen-Weibchen tröstend. Es schien genau zu spüren, was im Kopf seines Freundes vor sich ging.

„Ob Lasslos Biest schon in der Nähe ist?“, murmelte der Junge.

„Irgendwie habe ich das Gefühl, es lauert bereits zwischen den Wolken und sammelt seine Kräfte, um uns bald zu überraschen.“

Er schaute sich um. „Es wird höchste Zeit, dass wir das Wolkenvolk finden, damit es uns weiterhilft. Und dass Jonas zurück nach Mirfanija kommt. Du weißt doch, was die Prophezeiung sagt: Nur zusammen sind wir stark genug, um das Böse zu besiegen.“

Eigentlich war es verrückt. Jonas stammte noch nicht einmal aus Mirfanija. Er war in einer komplett anderen Welt zu Hause.

Und trotzdem verband die beiden Jungen eine enge Freundschaft. Beiden kam es so vor, als kannten sie sich schon ewig.

Drei Reiche Mirfanijas hatten sie schon gemeinsam von den Biestern des machthungrigen Schurken Lasslo befreit. Nun war Nuvola, das vierte von sechs Gebieten, an der Reihe.

„Was meinst du, Drechse?“, fragte der Junge. „Ob Jonas schon spürt, dass wir in Nuvola angekommen sind und ihn brauchen?“

Wie immer, wenn der Junge auf seinen besten Freund wartete, fühlte er sich allein und viel zu schwach für ihre große Mission.

Mit Jonas an seiner Seite war das anders. Zusammen fanden sie Lösungen für jedes Problem. Außerdem brachte Jonas ihn immer zum Lachen.

„Wiep-wiep-wieeeep!“

Wie um den Jungen aufzuheitern, schoss das Drachen-Echsen-Weibchen in die Luft und flatterte vor seinem Gesicht auf und ab. Es sah beinahe so aus, als wollte es seine düsteren Gedanken verscheuchen wie lästige Fliegen.

Doch im nächsten Moment schnellte es schon wieder auf den Jungen zu und krallte sich an seiner Schulter fest. Ängstlich schmiegte es sich an seinen Nacken und japste.

„Was ist denn los, Drechse?“, fragte der Junge verstört und drehte sich um.

Da sah er es auch: Lautlos hatte sich die Landschaft hinter ihm verändert. Eine riesige graue Wolkenwand türmte sich dort, wo gerade noch endlose cremeweiße Weite gewesen war. Sie schien sekündlich zu wachsen und sich zugleich auf ihn und das Drachen-Echsen-Weibchen zuzubewegen.

Ein eisiger Wind kam auf, und in die Stille mischte sich ein eigenartiges, tiefes Grollen.

„Ganz ruhig, Drechse“, flüsterte der Junge atemlos.

„Vielleicht ist es nur eine Schlechtwetterfront, wie manchmal zu Hause in Laguna. Du weißt doch, die ziehen meistens schnell vorüber und sehen schlimmer aus, als sie sind.“

Doch insgeheim ahnte er, dass es etwas anderes war als eine ungewöhnlich große Regenwolke oder ein ungemütliches Gewitter.

Dieses Gebilde hier ließ seine Nackenhaare sich aufstellen, was nicht nur an der Eiseskälte lag. Es strahlte auch etwas aus, wovor ihm schrecklich graute, obwohl er es noch nicht einmal kannte. Etwas, weswegen er hier war.

Auch wenn er noch keine Ahnung hatte, wie er sich davor schützen, geschweige denn, es besiegen konnte.

Wie gelähmt starrte der Junge auf die Front, die immer näher rückte und sich zunehmend verfinsterte.

Und auf einmal tat sich inmitten dieser riesigen dunklen Wolkenmasse etwas auf: Eine grauenhafte Fratze wurde sichtbar. Sie wuchs aus der Wolkenmasse empor und wurde größer, immer größer.

Die Augenhöhlen waren tiefe schwarze Löcher in einem hasserfüllten Gesicht. Das weit aufgerissene Maul sah aus wie ein scharfer Adlerschnabel und war mit dolchartigen Zähnen besetzt.

In dem unendlichen Schlund tobte das reinste Unwetter: Blitze zuckten, Hagelkörner wirbelten umher, und es brauste wie ein Orkan daraus hervor.

009.tif

„Lasslos Biest“, wisperte der Junge mit klopfendem Herzen.