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ANDI LAPATT

 

DIE SIEGEL

ASINJAS

 

DARYA YE NOOR

Ozean des Lichts

  

Roman

Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG

 

Coverbild: Nabil Kharraz (shinu real art's)

Buchumschlag: Jacqueline Spieweg

Korrektorat/Lektorat: Petra Liermann

Verantwortlich für den Inhalt des Textes ist die Autorin Andi LaPatt

Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH

Druck und Bindung: bookpress.eu

 

2. überarbeitete Auflage

 

ISBN 978-3-945509-67-8

 

Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH

Hollerallee 8, 28209 Bremen

 

Copyright © 2018 Franzius Verlag GmbH, Bremen

www.franzius-verlag.de

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

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Inhaltsverzeichnis

 

Dank

1. Der Stein

2. Abschied

3. Breithorien

4. Iras Geschichte

5. Erlass der neuen Königin

6. Roberta‘s Geheimnis

7. Asinja – ein neues Zuhause

8. Neue Freunde

9. Sagen & Legenden

10. Drachenkinder

11. Nachtgeflüster

12. Meeresbrise

13. Donnerschlag

14. Runenzauber

15. Die magischen 36

16. Dunkle Zeichen

17. Anders als geplant

18. Der Skorpion

19. Schwarze Katzen bringen Unglück

20. Vertraue den Raben

21. Freunde

22. Die Siegel Asinjas

Über die Autorin

Weitere Veröffentlichungen der Autorin Andi LaPatt

Veröffentlichungen des Franzius Verlages:

 

Dank

 

An die Menschen, die mich gefördert und gefordert haben:

Jeder von Euch war mir ein Lehrer,

manch einer ein Freund,

ein paar davon Seelengefährten.

Geblieben ist die Liebe,

geblieben ist mein Dickkopf, dem ich verdanke, diesen Weg zu gehen.

Und geblieben ist die unauslöschliche Leidenschaft, dem Künstler meines Herzens die Feder zu übergeben.

 

1. Der Stein

 

»Bei Vodanos Raben, Nyella, wo zum Henker bist du? Wie oft muss ich dich noch rufen?« Meine Mutter brüllte durch das ganze Gehöft. Widerwillig erhob ich mich, verabschiedete mich von den kleinen Katzen, mit denen ich im Stroh gespielt hatte, und schlich mich aus der Scheune. Schnell klopfte ich mir den Schmutz vom Kleid. Lautlos tigerte ich um den Kuhstall herum, rannte am Schweinestall vorbei und gab mich zu erkennen:

»Ich komme gleich.«

Meine Mutter stand im Hauseingang, eine schmutzige Schürze umgebunden und sah mich aufgebracht an: »Du weißt genau, wie Vater reagiert, wenn ich dich so lange bitten muss. Musst du mir immer so viel Kummer machen? Bin ich nicht schon gestraft genug?« Ihr Gesicht war voller Falten, verzogen von Kummer und Wut.

Es musste schwer gewesen sein, nach dem Tod meines Vaters einen anderen Mann heiraten zu müssen, um sich und ihr Kind zu schützen. In unser altes Dorf hatten wir nicht zurückkehren können, denn dort fürchteten sich die Leute vor meiner Mutter. Sie mussten wohl glauben, meine Mutter wäre eine Hexe. Die Färbung der Augen war so außergewöhnlich. So, als wäre meine Mutter nicht von dieser Welt. Und genau das ging vielen durch den Kopf, wenn sie meiner Mutter begegneten. Nun waren wir hier gelandet, auf dem Schierlingshof. Hier war ich die meiste Zeit allein und das nagte an mir. Ich wäre am liebsten für immer weggelaufen, im Rucksack die kleinen Katzen aus der Scheune. Sogar in den Norden wäre ich geflohen, wenn es hätte sein müssen. Alles war besser, als hier zu sein.

 

Als ich schließlich in die alte Küche kam, saß Hangar auf seinem Stuhl, breitbeinig, mit seinen schmutzigen Händen und dicken Armen auf dem Tisch. Er schlug mit der Faust auf das Holz und brüllte mich an: »Was hab ich für eine Familie geheiratet! Zwei Weiber, die zu faul sind und die zu nichts zu gebrauchen sind. Nicht einmal zum Essen kannst du pünktlich erscheinen. Du bist ein Krüppel, den man bei der Geburt hätte ersäufen sollen. Wahrscheinlich kann ich dich nicht einmal den Wanderhuren verkaufen, so strohdumm, wie du bist!«

Ich zuckte zusammen und sah, wie meine Mutter beinahe die Schüssel fallengelassen hätte. Die Wanderhuren? Ich schluckte leer, entschuldigte mich und setzte mich artig an den Tisch. Ich wusste, dass ich nichts weiter sagen durfte, sonst würde er mich halb totschlagen. Hangar grunzte zufrieden. Es schien ihn zu erheitern, mir Angst einzujagen. Es blieb meist nicht beim Angsteinjagen. Mein geschundener Körper wusste ein Lied von seinen Prügeln zu singen, ganz zu schweigen von den nächtlichen Besuchen, die er mir abstattete. Er nahm sich, was er wollte, und er tat es grob und ohne jede Rücksicht. Ich hatte es aufgegeben, meine Mutter darum zu bitten, ihn nicht »Vater« nennen zu müssen. Er war nicht mein Vater. Mein Vater war tot.

Beim Faustschlag auf den Tisch war Hangars Trinkhorn umgekippt. Mutter konnte den Met nicht schnell genug nachschenken, als Hangar schließlich explodierte. Er schrie in der Küche herum, warf den üppig gefüllten Teller an die Wand. Das Holz zerbarst und die Suppe ergoss sich über die Wand. Der Krach war ohrenbetäubend. Er sprang auf, warf den Stuhl um, wetterte weiter und warf sich auf meine Mutter. Mit einem Holzlöffel prügelte er auf sie ein und riss sie schließlich an den Haaren aus der Küche. Er schleifte sie ins Nebenzimmer, während sie versuchte, mit zappelnden Füßen mitzuhalten. Sie bemühte sich, jeden Laut zu unterdrücken. Wir beide wussten, wie sehr ihn das noch mehr in Rage bringen würde.

Ich saß zitternd am Tisch und musste zuhören, wie sich die Schläge anhörten, die Hangar meiner Mutter verpasste. Dumpfe Schläge, ein schreiender, tobender, wütender Hangar und das Wimmern meiner Mutter. Nur zu gut wusste ich, wie sich die Schreie dahinter anfühlen musste, die sie nicht schreien durfte, wenn sie nicht wollte, dass er sie zu Tode prügelte.

Bis in die Küche konnte ich Hangar brüllen hören: »Du nichtsnutziges Weib. Ein solches Balg kannst du austragen, aber meine Kinder gebärst du nicht. Ich will dir zeigen, wer hier der Herr im Haus ist. Ich werde dich so lange schwängern, bis du mir endlich einen Sohn gebärst.« Damit knallte er die Tür so laut zu, dass das ganze Haus erzitterte. Ich hörte das Poltern und die Schreie meiner Mutter, wie sie ihn anbettelte, er möge aufhören. Er aber schrie weiter, meine Mutter weinte, während bald darauf ein gleichmäßig schlagendes Geräusch aus dem Nebenzimmer zu vernehmen war, bis Hangar schließlich wie ein Berserker aufstöhnte. Dann wurde es still.

Als die Türe wenig später wieder aufging, sah ich, wie Hangar den Rest seines Hemdes in die Hose stopfte und den Hosenbund wieder verschloss. Blut klebte an dieser Stelle und ich sah seine triumphierende Miene. Genüsslich strich er sich mit dem rechten Arm über die Oberlippe und herrschte mich an: »Du bist nicht besser als deine Mutter. Dir werde ich auch noch beibringen, was es heißt zu gehorchen. Wenn deine Alte die Kinder nicht gebären will, wirst du es tun.« Daraufhin setzte er sich wieder an den Tisch, nahm die Schüssel meiner Mutter, schöpfte sich neue Suppe und aß laut schmatzend, während er mich lüstern ansah. Gleich darauf polterte er mit seiner Hand wieder auf den Tisch und herrschte mich an: »Iss, ich will keine dünnen Weiber!«

Ich hatte Angst, mich übergeben zu müssen, aber ich aß, wie Hangar mich geheißen hatte. Die Suppe in meiner Schale war längst kalt geworden. Jeder Bissen drohte wieder hochzukommen, aber mit aller Kraft würgte ich das Essen hinunter.

Hangar streckte sich, gähnte und erhob seinen dicklichen Körper. Er kümmerte sich nicht um meine Mutter, als er am Wohnzimmer vorbeiging. Kein Blick für meine Mutter, kein Wort, gar nichts. Plötzlich hielt er inne und machte kehrt. Noch bevor ich begriff, was geschah, stand er vor dem Küchentisch und zog mich an den Haaren. »Es geht niemanden etwas an, was auf diesem Hof passiert, hast du verstanden?«, flüsterte er und festigte seinen Griff um das Haarbüschel.

Ich schluckte leer und nickte langsam. Voller Verachtung blickte er mich an und ließ meine Haare los. Ich wandte den Blick ab und Hangar lachte leise. Dann schlenderte er hinaus zum Pferdestall und ich hörte, wie er das Pferdegeschirr bereitlegte. Erst, als ich mir sicher war, dass er seinen Hengst sattelte, huschte ich verängstigt ins Wohnzimmer. Wie ich im Türrahmen stand, sah ich meine Mutter auf dem Tisch liegen, fast bewegungsunfähig, gezeichnet von Schmerz und Demütigung. Obwohl sie versuchte, sich mit dem Kleid und der Schürze zu bedecken, sah ich überall Blut.

»Nein, Nyella, geh‘ wieder raus, es ist nichts. Es wird schon wieder gut, ich bin nur … gestürzt.« Ihre Stimme war belegt, versagte fast. Sie bedeckte ihr Gesicht mit der rechten Hand und hielt sich die linke Hand verkrampft gegen den Unterleib.

»Kann ich dir helfen?«, fragte ich unbeholfen.

»Es geht schon«, meinte sie zu mir.

Sie blickte verlegen zu Boden, als ich mich ihr langsam näherte. »Wir hätten Hangar nicht reizen sollen, Liebes«, flüsterte sie und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Es hätte noch schlimmer kommen können, das wussten wir beide. Schließlich wollte uns niemand mehr. Ich spürte, wie sich das Essen vom Mittag bemerkbar machte. Ich versuchte es wieder hinunterzuschlucken, aber ich kam nicht dagegen an. Ich würgte das ganze Essen hoch und erbrach mich direkt auf den blutverschmierten Rock meiner Mutter. Sie blieb ruhig und streichelte meinen Hinterkopf. Wir schwiegen lauter als Hangars Gebrüll.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erhob sich meine Mutter. »Hilfst du mir mit der Küche? Ich möchte mich kurz umziehen. Bist du so lieb?«

Ich nickte nur, denn ich verstand plötzlich, warum sich meine Mutter so verändert hatte. Er konnte sie körperlich schänden. Aber sie entzog ihm ihre Seele und ihr Herz genauso. Ich begriff, dass meine Mutter jede Nacht im Traum zu meinem Vater zurückkehrte, um sich dort in seinen Armen schlafen zu legen.

Es war die Zeit, die vor uns lag, die mir große Angst machte, nicht das, was hinter uns lag. Was würde die Zukunft bringen? Konnte Hangar sich noch mehr einfallen lassen, um uns zu demütigen und zu verletzen? Wäre es nicht klüger, auf der Stelle zu sterben, als noch lange Zeit zu leiden? Die Aussichtslosigkeit schnürte mir die Kehle zu.

Ich machte mich an den Abwasch. Es waren nur wenige Töpfe und Schüsseln übrig geblieben. Wir hatten immer einen Bottich voller Wasser in der Küche. Am Rande des Waldes, der noch zum Schierlingshof gehörte, gab es eine Wasserquelle, aus der wir jeden Tag frisches Wasser holten. Völlig vertieft trocknete ich die Schüsseln ab, hängte die Kellen wieder an das Wandgerüst und deckte die Suppe mit dem alten, verbeulten Deckel zu. Dann drehte ich mich um und sah das Desaster, das Hangar angerichtet hatte. Gemüsereste klebten an der Wand und am Boden. Die Flüssigkeit war heruntergetropft und hatte sich in einer bräunlichen Lache am Boden gesammelt. Dazwischen Holzsplitter und Teile von der zerschlagenen Holzschüssel.

Ich nahm einen alten Topf und machte mich daran, die Holzsplitter einzusammeln. Danach klaubte ich die Gemüsereste von der Wand. Ich holte einen Lappen und reinigte den Boden.

Es dauerte eine Weile, bis Mutter in die Küche zurückkehrte. Sie hatte ein neues Kleid angezogen und sich eine neue Arbeitsschürze umgebunden. Sie nahm mir den Topf ab und ging damit aus dem Haus. Wenn ich nicht bei den Katzen die Zeit vergessen hätte … Wenn ich auf ihre Rufe vorher reagiert hätte … Dann wäre das alles gar nicht passiert. Ich war schuld.

Als Mutter von draußen zurückkehrte, wusch sie den Topf schweigend aus. Schließlich drehte sie sich zu mir um und fragte: »Wo warst du eigentlich vor dem Essen?«

Ich hatte Angst, dass meine Mutter mich bestrafen würde, weil ich mich so lange hatte bitten lassen. Bevor ich nachdenken konnte, war mein Mund jedoch schneller als ich: »Ich war in der alten Scheune.« Meine Mutter hob eine Augenbraue. Ich wusste, dass ich dort nicht hingehen durfte. Schnell ergänzte ich: »Da ist eine Katze mit Jungen drin.«

Meine Mutter sah mir tief in die Augen. Dann verzog sich ihr gequältes Gesicht zu einem kleinen Lächeln: »Du und deine Tiere. So so, wir haben also wieder junge Katzen.« Dann wurde sie ernst, griff mir mit der rechten Hand unters Kinn, hob es sanft an und sagte eindringlich zu mir: »Nyella, wenn du willst, dass diese Katzen am Leben bleiben, schaff sie so schnell wie möglich vom Hof. Du weißt, was Hangar mit ihnen macht. Außerdem sollst du nicht in die gefährliche Scheune. Es könnte dir sonst was passieren.«

Ich dachte bei mir, dass es hier im Haus viel gefährlicher für mich war als in der alten Bruchbude. Wenn ich dort vom Dachboden fallen würde, käme mir ein Genickbruch gerade recht.

Ich sah meine Mutter dankbar an, dass sie mich die Kätzchen retten ließ, und rannte aus dem Haus, vorbei an den Ställen, hinüber zur alten Scheune. Im Laufschritt erblickte ich einen leeren Korb, den ich mit mir nahm. Vorsichtig öffnete ich die Türe, trat ein und kletterte die alte Leiter hoch bis zur ersten Ebene hinauf, wo die schwarz-weiße Kätzin ihre fünf jungen Kitten hingebracht hatte. Dort lag sie gerade still da und säugte ihre Katzenkinder, als ich auftauchte. Ich hörte das Schnurren der Kleinen. Die Mutter öffnete ein Auge und blinzelte mich an. Ich hätte die Katzen gerne eine Weile beobachtet, aber es fehlte mir die Zeit dazu. Ich schob die Katzen liebevoll, aber bestimmt in den Korb. Die Kitten wurden durcheinander geschüttelt, die Mutter sah mich missmutig an. Wohin sollte ich nur gehen mit den Katzen? Sie mussten weg von dem Hof, so viel war klar.

Ich zog meine Jacke aus und legte sie über die lebende Fuhre. Dann schnappte ich mir den Korb und kletterte wieder die Leiter hinunter. Bei der Tür blieb ich stehen, sah mich vorsichtig um und rannte los zum Wald. Ich spürte den weichen Waldboden unter meinen Füßen. Die großen Büsche ließ ich hinter mir, auch die Sträucher, dann die gewaltigen, alten Baumstämme. Der erdig-nasse Geruch des Waldes füllte meine Lungen. Ich war oft im Wald gewesen, bevor Hangar mich dort erwischt hatte, und ich erinnerte mich. Plötzlich wusste ich, wohin es mich zog. Ich hatte einmal eine Hütte gesehen, die ich gerne erkundet hätte. Aber so weit war es nicht gekommen. Hangar hatte mir buchstäblich eingeprügelt, dass ich nichts im Wald verloren hätte. Zu diesem Haus wollte ich die Katzen bringen.

Schließlich erreichte ich die Lichtung im Wald und sah die kleine Hütte, die in den Felsen hineingebaut worden war. Sie sah schöner aus, als ich sie in Erinnerung hatte.

Ich wollte gerade auf das kleine Erdhaus zugehen, als ich entdeckte, dass Rauch aus dem Kamin aufstieg. Abrupt blieb ich stehen und war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, hier herzukommen. Ich kannte mich in dem Wald nicht aus, wusste nichts über seine Umgebung oder seine Bewohner. Als ich mich umdrehen und gerade wieder weglaufen wollte, öffnete sich die Eingangstüre und eine alte Frau kam aus dem Haus geschlurft. Hinter ihr erschien ein roter Kater und schlich ihr um die Beine. Zwar konnte ich aus der Entfernung die Worte nicht verstehen, aber sie redete offensichtlich mit ihrem vierbeinigen Freund. Trotz der grauen, langen Haare wirkte sie jünger, als sie aussah. Ich konnte den Klang ihrer Stimme hören. Sie hatte eine weiche, tiefe Stimme, angenehm und einladend. Dann drehte sie sich um und bückte sich zu dem Kater hinunter, streichelte ihn und tätschelte ihm den Kopf.

Etwas in mir fasste Vertrauen, und ohne jede Überlegung schritt ich auf das Haus zu. Die alte Frau hob ihren Kopf, als mich das Knacksen der herumliegenden Äste, auf die ich getreten war, verriet. In ihrem Blick zeichnete sich ein Lächeln ab:

»Sieh an, wir haben Besuch. Herzlich willkommen in unserer bescheidenen Hütte.« Leise erwiderte ich ihren Gruß.

»Was hast du uns denn Schönes mitgebracht?«, fragte sie mich und deutete auf den Korb. Die Katzen hatten sich bisher still verhalten, aber jetzt machte sich unter dem Stoff meiner Jacke Leben bemerkbar. Ich hob den Stoff hoch und ließ die alte Frau in den Korb blicken.

»Ho ho, was für eine schöne Überraschung. Die sind ja allerliebst.« Sie lächelte und streckte ihre Hand in den Korb, streichelte jedes der Kätzchen und glitt mit der Hand über den Kopf der Katzenmutter, die sich sofort an sie schmiegte. »Das hast du fein hingekriegt, altes Mädchen. Deine Kinder sind wunderschön.«

Und als ob die Katze das verstehen würde, fing sie an zu schnurren und drückte ihre Augen fest zu.

»Ich glaube, der Kater ist der Vater der Kitten«, sagte ich zu der alten Frau und deutete auf den Kater zu ihren Füßen.

»Ha, und jetzt willst du wohl, dass er seine Vaterpflichten erfüllt, was?«, lachte sie.

»Nein, so meinte ich das nicht. Verzeihen Sie, aber ich muss die Kätzchen vom Hof bringen. Sie würden dort sonst nicht lange leben.« Ich schaute beschämt zu Boden.

»Von welchem Hof kommst du denn?«, wollte sie wissen.

»Vom Schierlingshof.« Ich traute mich kaum aufzublicken, und wich ihrem Blick aus.

»So so, von Hangar kommst du also. Dann bist du die kleine Prinzessin, die er sich mit deiner Mutter zusammen auf den Hof geholt hat.« Sie lächelte.

Ich stutzte. Nicht, weil sie Hangar kannte, nein. Sie hatte mich »Prinzessin« genannt. So hatten mich meine Eltern genannt, als ich noch klein gewesen war. Ich nickte: »Ja, und Hangar will keine Katzen auf seinem Hof.« Ich hielt ihr den Korb hin, den sie ohne zu zögern entgegennahm.

»Hangar will überhaupt keine Tiere auf seinem Hof. Ich war erstaunt, dass er Menschen auf seinem Hof haben wollte. Er ist ein Grobian. Dass er eine Frau gefunden hat, grenzt an ein Wunder.« Ihr Lächeln war erstorben.

»Sie halten wohl nicht so große Stücke auf Hangar?«

»Nein, ich halte nicht einmal kleine Stücke auf den alten Bock. Was treibt eine so wunderschöne Frau wie deine Mutter in die Arme eines solchen Barbaren?«

»Sie kennen meine Mutter?«, wollte ich wissen.

»Ich weiß, wer deine Mutter ist«, sagte sie knapp zu mir und lächelte dann wieder. »Komm herein, dein Tee ist gleich fertig.«

Ich folgte ihr wortlos und dachte über ihre Worte nach.

Im Inneren des Hauses war es einfach und sauber. Es war auf eine schlichte Art und Weise gemütlich. Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken und atmete tief durch.

Die alte Frau schlurfte mit dem Korb in der Hand zu einer Ecke, wo ein großes Tuch zusammengefaltet auf dem Boden lag, und hievte die Katzenmutter aus dem Korb, kurz danach auch die Kleinen. Müde kugelten sie sich sofort wieder wie kleine Wollknäuel in der Nähe ihrer Mutter ein und schlossen ihre Augen. Ich war froh, dass wenigstens die Katzen hier in Sicherheit zu sein schienen.

Ich sah mich um. Es war ein einziger, großer Raum. Das Haus schmiegte sich in den Felsen an der Lichtung und nur ein Bruchteil davon schaute aus dem Dickicht hervor. Nur wer scharfe Augen hatte, konnte das kleine Erdhaus finden.

Da hingen ein paar Bilder an der Wand. Wen sie wohl zeigten? Die Gesichter darauf waren mir fremd. Doch da hingen auch Kräuter, Muscheln und Federn. Ein Bild, das mir ins Auge stach, sah einem Raben ähnlich, geflochten aus schwarzen Federn.

»Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, Prinzessin. Nenn mich einfach Roberta.« Sie hantierte an einem Topf herum.

Dampf stieg auf und ein Geruch von herben Kräutern vermischte sich mit der Luft. Roberta nahm den Krug mit einem Lappen in der Hand vom Feuer, griff mit der anderen Hand nach zwei Holzschalen und kam zu mir an den Tisch, an dem ich mittlerweile Platz genommen hatte.

»Du brauchst nicht nervös zu sein. Hangar wird heute lange im Wirtshaus bleiben. Er kehrt nicht vor der Dunkelheit zurück. Er wird heute etwas länger unterwegs sein als sonst.« Sie sah mich mit einem unerklärlich durchdringenden Blick an. Dann schüttete sie den Tee in die beiden Schalen und schob mir eine zu. »Trink das, das wird dir guttun«, sagte sie.

»Was ist das?«, wollte ich wissen.

»Es sind verschiedene Kräuter, die ich gemischt habe. Sie wirken beruhigend und lassen Schwellungen abheilen.« Sie deutete mit ihrem Kinn auf meine linke Schulter.

Ich war vor drei Tagen direkt in eine Kommode gestürzt, als Hangar mir eine saftige Ohrfeige verpasst hatte.

Der Tee duftete herrlich. Ich konnte Pfefferminze herausriechen und Süßholz. Da waren noch andere Kräuter, deren Namen ich nicht kannte. Also blies ich den Dampf weg und kostete vorsichtig. Er schmeckte süß und hinterließ einen leicht pfeffrigen Geschmack auf meiner Zunge.

»Schmeckt er dir?«, wollte Roberta wissen. Ich nickte nur und trank gierig die ganze Schale leer. Sie lächelte selig. »Dann ist es gut.«

»Woher kennen Sie meine Mutter?«, wollte ich wissen.

»Du kannst ›du‹ zu mir sagen«, erklärte mir Roberta.

»Also gut, woher kennst du meine Mutter?«

»Ich habe sie einmal auf dem Markt in Breithorien getroffen. Außerdem habe ich Kleider gesehen, die sie genäht hat.«

Ich sah sie fragend an.

»Ich bin viel herumgekommen, Prinzessin. Ich war am Königshaus in Brintesia und ich habe die Delfinbucht gesehen. Ich kenne die Roseninsel und war auch im Tal der Hoffnung. Da trifft man viele Leute und man erfährt so einiges.« Roberta streichelte liebevoll den roten Kater, der sich neben sie gesetzt hatte. »Nicht wahr?«, sagte sie zu ihm. »Und Vodano sieht alles.« Kaum einer traute sich, den Namen des Göttervaters leichtfertig auszusprechen. Roberta blickte auf. Aus ihrem Lächeln wurde eine ernste Miene. »Vodano sieht alles, mein Kind. Alles. Und er wird sich um seine Kinder kümmern, glaub mir.«

Ich nickte, aber ich verstand nicht, was die alte Frau meinte.

»Jene, die Unrecht tun, wird Vodano bestrafen«, sagte Roberta beinahe feierlich. Damit tätschelte sie den Kopf des Katers, als könnte er ihre Worte verstehen. Wir schwiegen beide einen Moment. Mir machte die alte Frau langsam ein wenig Angst. Dann nahm Roberta das Gespräch wieder auf. »Wie, sagtest du noch mal, kam deine Mutter auf den Schierlingshof?«

»Ich habe noch nichts darüber erzählt«, entgegnete ich unsicher.

»Möchtest du mir davon erzählen?«, fragte die Alte.

»Nach dem Tod meines Vaters hat meine Mutter wieder geheiratet. Sie hat in Breithorien Hangar kennengelernt über die Kupplerinnen. Und so sind wir auf den Schierlingshof gekommen.«

Roberta nickte. »Dein Vater ist tot?«, fragte sie nach.

Ich nickte nur. Ich sprach nicht gerne darüber.

»Es muss sehr schwer für dich sein.« Sie machte eine Pause. »Ist er schon lange tot?«, bohrte sie nach.

Ich schüttelte nur den Kopf, dann gab ich mir einen Ruck, ihr mehr zu erzählen. »Mein Vater ist auf einer seiner Reisen verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Wir haben lange gebetet und die Götter um Hilfe angefleht. Aber er kam nicht zurück. Schließlich kam die Kunde zu uns, dass er wohl durch einen Hinterhalt von Gaunern zu Tode gekommen sei. Die Leute in unserem Dorf waren sich sicher, dass meine Mutter damit etwas zu tun hatte. Als Großmutter wollte, dass ich alleine bei ihr bleibe, ist meine Mutter mit mir fortgegangen. Sie hatte Angst, sie würden sie verjagen und sie könnte mich nie wiedersehen. Also sind wir geflohen.« Ich machte eine Pause.

»Und was denkst du?«, fragte mich Roberta.

»Worüber?«, fragte ich.

»Ob deine Mutter was mit diesem Hinterhalt zu tun hatte«, ergänzte die Alte.

Ich schüttelte nur den Kopf. »Niemals, meine Mutter hat meinen Vater abgöttisch geliebt.« Ich seufzte schwer.

»Wie ging es dann weiter?«, wollte Roberta wissen.

»Wir waren zu Fuß unterwegs auf den Straßen Arcadiens. Es war sehr gefährlich für uns.« Erneut setzte ich ab und sah Roberta an. Als sie keine Anstalten machte, etwas zu erwidern, fuhr ich fort: »Wir erreichten schließlich Breithorien und meine Mutter suchte eine Seherin auf. Sie las ihr die Zukunft aus den Händen und sah nichts Gutes. Sie riet meiner Mutter, sich bald zu verheiraten zum eigenen Schutz und zum Schutz ihres Kindes. Also folgte meine Mutter dem Ratschlag der Seherin und zerrte mich zu den Kupplerinnen, um diese um Hilfe zu bitten. Diese versprachen, meiner Mutter zu helfen. Wir sollten am gleichen Abend ins Wirtshaus ›Zum goldenen Löwen‹ kommen, wo meiner Mutter Hangar vorgestellt wurde.

Ich habe gleich gesehen, dass er meine Mutter haben wollte. Schon wie er sie angestarrt hat. Wir mussten am selben Abend noch zum Schierlingshof aufbrechen. Es ging sehr schnell. Zwei Tage später wurde geheiratet. Der Dorfälteste kam auf den Hof, zusammen mit dem Altmeister der Stadt, und vollzog die Trauung. Seither leben wir auf diesem Hof.«

Ich endete mit diesem Satz und blickte auf den Tisch. Wenige Emotionen waren aus meinem Gesicht abzulesen gewesen, ich unterdrückte sie, so gut es ging.

»Der Dorfälteste also. War er einigermaßen nüchtern?«, fragte Roberta abschätzig. »Dieser alte Gauner ist einer der Saufkumpanen von Hangar. Ich verstehe nicht, warum die Disen das zulassen. Ich dachte, sie dulden die Kuppeleien des Dorfältesten nicht länger … Seltsam …« Roberta machte eine Pause und wirkte nachdenklich.

»Disen? Was sind Disen?«, wollte ich wissen.

»Die Disen, Prinzessin, sind die Weberinnen des Schicksals. Es sind dies die Schicksalsfrauen Vodanos. Der Dorfälteste strickt im Schicksal der Menschen ohne den Segen der Disen. Das wird Vodano nicht gefallen.« Roberta sah mir in die Augen. Dann erhob sie sich plötzlich und meinte: »Es ist wohl besser, wenn du gehst. Es ist Zeit. Die Kätzchen brauchen ihre Ruhe und die alte Roberta auch. Besuchst du mich wieder?«

Ich erhob mich ebenfalls und nickte. Schweren Herzens verabschiedete ich mich von den Katzen und von Roberta. Dann nahm ich den Korb und machte mich auf den Heimweg. Ich drehte mich mehrmals um und winkte.

Auf dem Weg nach Hause konnte ich nicht mehr aufhören, an Roberta zu denken und an das, was sie gesagt hatte. Ich wusste noch nicht viel über unsere Götter. Mein Vater hatte mir davon erzählen wollen, aber meine Mutter hatte es ihm verboten. Roberta hatte mich neugierig gemacht.

 

Ich trödelte nicht auf dem Heimweg, aber ich beeilte mich auch nicht. Ab und zu wagte ich einen Blick in die Bäume und atmete den Waldgeruch ein. Als ich auf den Hof zurückkam, sah ich, wie meine Mutter über einem Bottich kniete und Wäsche wusch, vielmehr das Kleid von heute Mittag. Sie strich sich mit der rechten Hand über die Stirn und wischte den Schweiß ab. Dann vertiefte sie sich wieder ins Waschen, lehnte sich über den Zuber und begann den Stoff zu schrubben.

»Ich bin wieder da«, rief ich ihr zu.

Sie blickte kurz auf und winkte zurück. Es war so viel friedlicher auf dem Hof, wenn Hangar nicht da war. Ich streifte herum, hing meinen Gedanken nach und ließ es Abend werden. Schließlich kehrte ich ins Haus zurück, wo meine Mutter am Herd stand. Das Feuer loderte bereits in der Kochnische und die Suppenschüssel hing darüber. Sie schnitt Gemüse klein und warf es in den Topf. Als ich hereinkam, drehte sie sich um und lächelte mir zu. Mit einem Mal wirkte sie so zerbrechlich.

Während die Suppe vor sich hin köchelte, setzte ich mich auf den Stuhl und starrte in die Flammen. Als es draußen schließlich dämmerte, schaute meine Mutter aus dem Fenster.

»Wo Hangar nur bleibt«, murmelte sie vor sich hin. So fing sie an, in der Küche auf und ab zu gehen und setzte sich abwechselnd an den Küchentisch zu mir, um dann wieder zum Fenster zu gehen und nachzusehen, ob Hangar auf den Hof geritten kam. Aber Hangar kam nicht. Er war wohl so wie oft im Wirtshaus hängen geblieben. Aber das hatte meine Mutter bisher nie gestört. Sie war immer zu Bett gegangen. Aber heute war sie auffallend nervös. Doch ich war froh, dass er noch nicht da war. Ich war froh, dass er wegblieb. Von mir aus konnte er für immer wegbleiben. »Von mir aus müsste er nie wieder kommen«, sprach ich laut aus.

Meine Mutter sah mich entsetzt an. »So was darfst du nicht mal denken, Nyella. Wir haben Hangar viel zu verdanken.«

Ich wollte entgegnen, dass das nicht stimmte, als sie mir das Wort abschnitt, bevor ich etwas sagen konnte.

»Du musst dankbar sein, Nyella. Man will uns nicht in dieser Welt, mich noch viel weniger als dich. Ich sehe anders aus, die Menschen haben Angst vor mir. Was glaubst du, wie es uns ergehen würde, wenn wir keinen Mann mehr hätten, der uns beschützt?« Sie sah mich lange eindringlich an. »Dann sind solche Dinge wie heute Mittag an der Tagesordnung, und nicht nur mit einem Mann, Nyella. Willst du das?«

Ich biss mir auf die Lippe. Daran hatte ich nicht gedacht. Betreten senkte ich den Blick und schwieg.

»Nyella, ich weiß, dass das alles nicht so ist wie in unserem früheren Zuhause, und ich würde alles tun, um mit deinem Vater weiterzuleben. Aber er ist nun mal tot. Er ist einfach nicht mehr wiedergekommen. Und er hat nicht dafür gesorgt, dass wir in Sicherheit sind. So sehr ich ihn auch geliebt habe. Aber es ist wahr. Er hat uns nicht beschützt. Also sei ein liebes Kind und mache es uns nicht noch schwerer. Hangar beschützt uns hier vor Ganoven und Männern, die noch viel weniger Gutes im Sinn haben als Hangar selbst.« Sie zitterte und holte tief Luft. »Glaubst du, ich wüsste nicht, was ich dir zumute? Ich …«

Ihre Stimme erstarb. Wir schwiegen beide, dann sagte sie: »Wir haben keine Wahl, Nyella. Es sei denn, du willst wirklich zu den Wanderhuren, wie Hangar es angedroht hat. Als Dirne zu arbeiten ist schwer. Als Wanderhure zu arbeiten, ist der lebendige Tod. Es würde mich umbringen, dich zu verlieren. Dich ausgerechnet an die Wanderhuren zu verlieren.«

Ich wusste, dass sie geweint hätte, wenn sie noch Tränen gehabt hätte. Aber die hatte sie alle vergossen nach dem Tod meines Vaters.

 

Schweigend saßen wir lange in der Küche, bis es endgültig draußen dunkel wurde. Irgendwann stand meine Mutter auf, nahm eine Kerze, zündete sie an und holte zwei Schalen, um sie mit der heißen Suppe zu füllen. Widerwillig aß ich davon, die Worte von Hangar noch im Hinterkopf, dass er dünne Frauen nicht mochte. Ich nahm mir vor, meiner Mutter zu helfen und artig zu sein.

Wir hatten heute nichts mehr zu tun auf dem Hof, also konnte ich meine Mutter zu einem Spaziergang überreden. Das war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie zustimmte. Sie hieß mich, nicht zu weit zu gehen, es wäre gefährlich, wenn wir uns zu weit vom Hof entfernen würden. Der Mond war über dem Hof aufgegangen, die Nacht war sternenklar. Der Mond schimmerte ein wenig Licht auf die Erde hinunter. Es war vor wenigen Tagen neuer Mond gewesen und so füllte sich der Mond ganz langsam, Nacht für Nacht. Wir schlenderten um die Scheune herum, als ich im hohen Gras ein rotes Fell erblickte. Der rote Kater, den ich bei Roberta gesehen hatte. Ich konnte nur noch seine Hinterpfoten und seinen Schwanz erkennen und schon war er wieder weg. Ich folgte dem Kater. Warum war er hierhergekommen? Hier war es nicht sicher für ihn.

»Wohin willst du?«, fragte mich meine Mutter, als ich in Richtung des hohen Grases spazieren wollte.

»Ach, ich wollte nur was schauen. Ich glaube, ich habe Raupen gesehen«, log ich.

»Aber nur kurz, wir wissen nicht, was sich hinter dem Gras verbirgt«, entgegnete meine Mutter und blickte besorgt in diese Richtung.

Das Gras war bestimmt über einen Meter fünfzig hoch. Ich suchte mit meinen Augen nach dem Kater, aber ich konnte nichts erkennen, bis ich schließlich einen schwarzen Stein entdeckte, der am Boden lag. Ich hätte ihn beinahe übersehen, als ich plötzlich das Bild vor Augen hatte, das im Haus von Roberta gehangen hatte. Das Bild von einem Raben, geflochten aus schwarzen Federn. Ich wusste nicht, warum, aber ich musste den Stein einstecken, weil er ebenfalls die Form eines Raben zeigte.

»Hast du was gefunden?«, wollte sie wissen.

»Nein, es ist doch nichts, ich habe mich getäuscht«, log ich. Ich rannte zu meiner Mutter zurück, hakte mich bei ihr unter und führte sie langsam zurück zum Hof.

Wir ließen gerade den Schweinestall hinter uns, als Ronjo, der schwarze Hengst von Hangar, donnernd über den Hof galoppierte. Er trug den Sattel und das Zaumzeug, hatte Schaum vor dem Maul und kam erst kurz vor dem Stall zum Stillstand. Von Hangar keine Spur. Der Hengst war schweißgebadet, das Zaumzeug hing auf einer Seite herunter und das Ross war voller Blätter. Seine fast bodenlange Mähne war wild zerzaust.

Meine Mutter schlug entsetzt die Hände vor den Mund und rannte zu Ronjo. Sie verlangsamte ihren Schritt, als sie sich ihm näherte, aber der kräftige Hengst ließ sich nicht besänftigen. Er schnaubte, drehte sich nervös, tänzelte und fing an, nach hinten zu treten, als meine Mutter näherkam.

Mich durchfuhr plötzlich ein Schmerz. Siedend heiß meldete sich der Stein in meiner Tasche. Reflexartig warf ich ihn zu Boden und schrie auf. Meine Mutter blickte kurz zu mir herüber. Ich ließ den Stein liegen, und ein innerer Impuls ließ mich festen Schrittes auf den Hengst zugehen. Mit jedem Schritt fühlte ich mich erhabener, klarer, kräftiger. Irgendetwas in mir erinnerte sich an eine uralte Kraft, die nun neu in mir erwacht war. Nicht ich war es, die da ging. Etwas ging in mir vor, etwas bewegte mich. Etwas Stolzes in mir, etwas Majestätisches. Ich wusste nicht, was ich tat, aber plötzlich rief ich Ronjo bei seinem Namen. Er drehte seinen Kopf in meine Richtung und blieb ruhig stehen.

Nun wusste ich plötzlich, was zu tun war, und näherte mich dem Hengst seitwärts, ohne ihn anzusehen. Ich blieb neben ihm stehen, die linke Schulter an seiner rechten Flanke. Der schwarze Hengst war mit einem Mal ganz still geworden und schnaubte nicht mehr so laut. Er zitterte leicht und hob neugierig seinen Kopf. Ich sah ihn nicht an, ich stand nur da und wusste, dass ich die Kraft hatte, ihn zu beruhigen. Mit jedem Atemzug wurde er ruhiger, meine innere Kraft wuchs. Es vergingen Sekunden, die sich anfühlten, als wären sie kleine Ewigkeiten. Meine innere Achse drehte sich um mich, mir war schwindlig.

»Ich bin bei dir«, sprach eine Stimme in mir. Eine männliche, tiefe Stimme voller Kraft und Wärme.

Mir wurde schwindlig, es drehte sich alles. Ich sah wunderschöne Farben, endlose Auen, herrliche Täler, als wäre ich selbst ein Adler. Ich flog über die Täler. Schließlich atmete ich diese grenzenlose Freiheit ein, öffnete meine Flügel und schwebte über die uralten Bäume der riesigen Wälder. Ich schloss die Augen und sah die Täler unter mir, fühlte den Wind unter meinen Flügeln. Ich hob meinen Kopf gen Himmel. Ich musste mich zwingen, wieder hierher zurückzukommen und den Boden wieder unter den Füßen zu spüren. Dann öffnete ich meine Augen wieder und blickte verstohlen über meine Schulter zu Ronjo. Der Hengst drückte die rechte Vorderhand durch, lehnte die Mähne darauf und verneigte sich vor mir. Ich hielt den Atem an. Dann drehte ich mich zu ihm hin, als er sich wieder hinstellte und seinen Kopf an meine Schulter lehnte, ganz nah. Er stand da und offenbarte sich mir, sein Kopf an meiner Schulter, völlig ruhig. Ich konnte die Haare seiner Mähne riechen, fühlte seine Wärme. Er zappelte mit einem Ohr und drückte sich gegen meine Brust. Ich verharrte reglos.

Bisher war ich Ronjo aus dem Weg gegangen. Er war Hangars Hengst gewesen, alle anderen Menschen hatte er nie geduldet. Und wenn sich ein Fremder dem Hengst nähern wollte, schlug er nach ihm. Hier aber stand nicht der Hengst Hangars vor mir, sondern ein Verbündeter, ein Freund, der sich mir anvertraute.

Meine Mutter sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Sie war kreidebleich geworden. Ich tat so, als wäre nichts passiert, schluckte leer, griff das Zaumzeug von Ronjo, drehte ihn sanft um seine eigene Achse und führte ihn in den Stall. Dabei stockte selbst mir der Atem und ich überlegte, was passiert sein könnte. Ich suchte nach einer Erklärung, die nicht völlig verrückt war.

Das Gefühl der Angst schoss mir in die Magengegend. Etwas Außergewöhnliches war soeben geschehen, etwas, was nicht normal war. Ich kleines Mädchen beruhigte einen riesigen, schwarzen Hengst, der zweimal so groß war wie ich selbst. Nachdem meine Mutter schon wegen ihres Aussehens verstoßen worden war, machte mir die Situation mit Ronjo plötzlich großen Kummer.

Nachdem ich Ronjo in den Stall gebracht hatte, entfernte ich den Sattel, das Zaumzeug, brachte ihm Wasser und rieb ihn mit frischem Stroh ab. Der Hengst war die Ruhe selbst, ließ alles geduldig mit sich geschehen. Nachdem ich ihn versorgt hatte, schmiegte ich mich an ihn, umarmte seinen Hals und drückte meinen Kopf an seine Schulter, so, wie er es vorher mit mir gemacht hatte. Ich fühlte mich diesem Tier mit einem Mal stark verbunden. Ein neues, tiefes Band war entstanden, das konnte ich spüren.

Als ich wenig später ins Haus zurückkehrte, saß meine Mutter im Dunkeln. Ich konnte ihren Blick trotz des mangelnden Lichts geradezu auf mir spüren.

»Seit wann tust du solche Dinge?«, fragte sie in einem eisigen Ton.

»Was für Dinge?«, fragte ich sie und setzte mich zu ihr.

»Du weißt genau, was ich meine«, meinte sie ernst. Ich wusste nicht, wie ich ihr das erklären sollte.

»Nyella«, sie packte mich an den Schultern und schüttelte mich durch.

Ich wich zurück auf den Stuhl und sah sie fragend an. »Das war das erste Mal, dass ich …«, antwortete ich, aber sie hob gebieterisch ihre Hand.

»Schweig!«, befahl sie mir. Ich verstummte. Sie rückte näher, immer noch meine Schulter festhaltend, und schaute mir tief in die Augen. Als ich etwas sagen wollte, hielt sie mir den rechten Zeigefinger vor den Mund und hieß mich erneut zu schweigen.

»Lass uns spazieren gehen«, sagte sie. Sie erhob sich, zerrte mich vom Stuhl und ging energischen Schrittes aus der Küche. Ich konnte ihr kaum folgen, verhedderte mich, stolperte beinahe, aber sie hatte mich fest in ihrem Griff. Sie schleifte mich beinahe aus der Küche.

Sie marschierte aus dem Haus, weg von dem Hof, bis wir beim hohen Gras angekommen waren, als sie stehen blieb, mich wieder fest an der Schulter packte, mit ihrem Gesicht so nahe wie möglich kam und völlig aufgebracht flüsterte: »Bei allen Disen, um Vodanos willen, Nyella, du bringst uns direkt in die Höhlen von Lodur. Was hast du dir nur dabei gedacht? Wenn das jemand gesehen hätte.« Ihr Gesicht war meinem so nahe, dass ich ihren Atem riechen konnte.

»Momma, ich hab wirklich nichts gemacht«, sagte ich.

»Nichts gemacht? Nyella, nichts gemacht? Du hast den wildesten Hengst dieses Tals dazu gebracht, sich vor dir zu verneigen. Das ist nichts?« Sie sah mich noch immer wütend an und hielt mich an der Schulter fest.

»Momma, du tust mir weh«, sagte ich ihr und versuchte, ihrem Griff zu entkommen. Sie ließ nicht locker. »Momma, es tut weh«, wiederholte ich und versuchte mich abermals aus ihrem Griff zu befreien.

Sie ließ mich plötzlich los und trat einen Schritt zurück. Sie sah mich lange eindringlich an, ohne ein Wort zu sagen. Dann – plötzlich – drehte sie sich um und ging wortlos zum Haus. Ich blieb lange stehen und sah meiner Mutter nach.

 

Erst später folgte ich ihr ins Haus. Ich beschloss, dass es besser wäre, das Thema nicht mehr anzuschneiden. Am besten würde ich es den ganzen Tag nicht mehr erwähnen. Irgendetwas war passiert heute. Nicht nur die Angelegenheit heute Mittag. Meine Mutter benahm sich seltsam.

Ich hatte mit einem Mal das Gefühl, dass sie ein Geheimnis hatte vor mir.

 

2. Abschied

 

Mitten in der Nacht erwachte ich, weil auf dem Hofplatz draußen ein Tumult entstanden war. Männerstimmen waren zu hören, die laut fluchten. Nach wenigen Momenten war ich hellwach, erkannte, dass darunter auch Hangar war. Er war offenbar nicht allein. Ich hörte, wie die Männer herumschrien, und so kletterte ich aus dem Bett, schaute aus dem kleinen Fenster, das zum Hof zeigte.

Als sich die Türe zu meiner Kammer öffnete, stockte mir der Atem. Meine Mutter lugte zu mir herein und hieß mich, in der Kammer zu bleiben und auf keinen Fall mein Zimmer zu verlassen. Sie hatte ihr Nachthemd an und rannte die Treppe hinunter. Ich richtete meinen Blick wieder nach unten. Mehrere Männer waren auf dem Hofplatz und ein Ross, das vor einen Wagen gespannt war. Hangar schrie herum und meine Mutter mischte sich zu den Besuchern und ihrem Mann. Ich hörte Hangar brüllen. Meine Mutter versuchte ihn zu beruhigen. Er stieß sie von sich. Er war sturzbetrunken, lallte und konnte sich kaum gerade auf den Beinen halten. Ich konnte nur einzelne Wortfetzen heraushören.

»Der vermaledeite Gaul gehört totgeschlagen. Kein Ross wirft einen Hangar von Hacken ab. Ich schlag dich tot, du verfluchtes Mistvieh.«

Er taumelte in Richtung Stall. Einer der Männer stützte ihn. Ronjo? Er musste ihn offenbar abgeworfen haben. Deshalb war er alleine zurückgekehrt. Ich hatte das völlig ausgeblendet. Panik kam in mir auf. Ich begriff sofort: Er wollte Ronjo etwas antun. Hangar schleifte sich torkelnd zum Stall.

In Windeseile schlüpfte ich in mein Kleid, ließ die Haare offen und riss die Türe auf. Als ich die Treppe herunterrannte, stolperte ich und kugelte mindestens vier Treppenstufen hinunter. Ich fluchte leise, versuchte den Schmerz zu unterdrücken, den ich im linken Knie und im Rücken spürte, und rannte weiter die Treppe hinunter. Meine Haare verhedderten sich bei einem Holzstift des Treppengeländers und ich riss mir ein Büschel Haare aus. Nein, er durfte Ronjo nichts antun. Ich musste mich beeilen. Ich musste Hangar von Ronjo ablenken. Draußen wurde das Fluchen von Hangar immer lauter. Die Männer schrien durcheinander.

Als ich den Hof betrat, schlug Hangar gerade meiner Mutter so hart ins Gesicht, dass sie zu Boden fiel. Er griff sich das große Beil, das an der Stalltüre lehnte. Wie von Sinnen schrie er und schüttelte einen Saufkumpanen ab, der – betrunken wie dieser auch war – hinfiel und auf seinem Hosenboden sitzen blieb. Er machte keine Anstalten, sich wieder zu erheben. Hangar riss indessen die Stalltüre auf, die laut ächzend aufging.

»Du verfluchtes Mistvieh. Ich werde dir zeigen, wie dir geschieht. Mich abzuwerfen.«

Er marschierte wild entschlossen auf Ronjo zu, als ich den Stall erreicht hatte.

»Nein, Hangar, nicht!«

Ich schrie ihn an, aber Hangar reagierte nicht. Humpelnd rannte ich hinter ihm her, bis ich ihn am Ärmel zu fassen bekam. Ich überlegte nicht lange. Er war viel größer als ich, aber ich griff seinen Ledergürtel und zog daran.

»Nein – nicht Ronjo«, schrie ich ihm entgegen, als er sich plötzlich umdrehte.

Ich konnte den Met riechen. Der Hass hatte seine Gesichtszüge verzogen. Er taumelte einen kurzen Augenblick, sah mich in seinem Suff an und fasste grob meinen rechten Arm, verdrehte ihn und ich schrie vor Schmerz auf.

»Dieser verfluchte Gaul. Du verfluchtes Balg«, schrie er mich an und kugelte mir den Arm aus. Ich schrie auf vor Schmerzen und wand mich, um ihm zu entkommen, was mir nicht gelang. Ich spürte einen höllischen Schmerz. Er schlug mir den Handrücken mit dem Schaft des Beils ins Gesicht. Mir wurde schwindlig und ich sackte zu Boden. Er gab mir einen heftigen Tritt, mit dem ich aus dem Stall zur Eingangstüre geschleudert wurde, dann drehte er sich um und ging auf Ronjo zu.

Ich versuchte aufzustehen, taumelte und fiel wieder hin. Alles drehte sich. Ich hörte nur das Gebrüll von Hangar und wenig später dumpfe Schläge, ein sich wiederholendes, schmatzendes Geräusch und schrecklich lautes Quieken eines Tieres. Dieses schrille Quieken ging mir durch Mark und Bein. Unfähig, mich zu bewegen, hoffte ich, dass Ronjo wenigstens sofort tot war. Ich hoffte es für ihn. Ich hatte unsagbare Schmerzen. Ich hatte Ronjo nicht helfen können. Tränen stiegen in mir auf. Ich hatte versagt und plötzlich bekam ich erneut einen Schlag. Ich sackte zusammen und es wurde Nacht um mich herum.

 

Als ich aufwachte, lag ich in meinem Bett. Meine Mutter saß neben mir, unterdrückte die Tränen und betupfte mein Gesicht mit einem Leinentuch, das stark nach Kräutern roch. Auf dem Schoß hielt sie eine Schüssel mit Wasser. Als ich die Augen öffnete, ließ sie das Tuch fallen, stellte die Schüssel ab und umarmte mich stürmisch.

»Oh, Vodano sei Dank, du bist wach«, sagte sie und schluchzte in meine Haare. Sie zitterte und hielt mich so fest, dass ich kaum atmen konnte.

»Mom – ma – Luft«, stammelte ich, als sie mich wieder losließ und die Schüssel hochhob, um mein Gesicht weiter abzutupfen.

»Ist Ronjo …?«, wollte ich fragen, aber ich war nicht imstande, die Frage zu Ende zu formulieren.

Meine Mutter hielt einen Moment inne, senkte den Blick und begann, langsam zu nicken. Die Tränen stiegen mir in die Augen. Ich saß da, betäubt von den Schmerzen am ganzen Körper. Es war nicht der körperliche Schmerz, der mich regungslos dasitzen ließ. Es war ein Schmerz, einen alten Freund, den ich eben gewonnen hatte, im Stich gelassen und verloren zu haben.

Ich ließ es zu, dass meine Mutter die Wunden in meinem Gesicht abtupfte. Aber es machte keinen Unterschied. Wenn er Ronjo totgeschlagen hatte, würde er in baldiger Zukunft jemanden von uns totschlagen. Dessen war ich mir sicher. Und es war mir egal. Je schneller, desto besser.

Meine Mutter sprach nicht mit mir. Ich hatte tausend Fragen, aber ich konnte sie nicht stellen. Ich war genauso gelähmt wie sie. Und ich hatte Angst, die Fragen zu stellen. Ich kannte die Antworten, die ich nicht hören wollte. Ich spürte den Schmerz im Gesicht von dem Schaft des Beils. Ich konnte den Schmerz im Arm spüren, den er mir ausgekugelt und herumgerissen hatte, und ich spürte meinen ganzen Körper von den Tritten und dem Fall zu Boden. Mein Knie und mein Rücken taten mir vom Treppensturz weh.

Meine Mutter bat mich zu schlafen und entfernte sich bald aus meinem Zimmer. Sie schloss die Türe hinter sich und so wurde es still in meiner Kammer. Eine greifbare Stille, die mir beinahe den Atem raubte. Ich fühlte mich einsam, einsamer als je zuvor. Ronjo – totgeschlagen. Welch‘ barbarischer Akt. Hangars Ross, das er über alles geliebt hatte. Totgeschlagen von ihm selbst.

Es war still geworden im ganzen Haus. Schließlich setzte ich mich auf und versuchte auf die Füße zu kommen. Ich selbst war Opfer von Hangars Schlägen geworden, nicht zum ersten Mal. Überall konnte ich sie spüren. Ich hatte meine Kleider noch an, offenbar hatte man mich so ins Bett gelegt. Meine Kammertür ließ sich ohne Geräusch öffnen. Ich horchte und verharrte einen Moment. Es war ruhig, also schlich ich mich auf Zehenspitzen bis zur Treppe. So leise wie möglich schlich ich an der Kammer von Hangar und meiner Mutter vorbei, hielt einen Moment inne und horchte an der Tür. Nach wenigen Augenblicken vernahm ich ein unregelmäßiges Schnarchen von Hangar. Was für ein erlösendes Geräusch. Wenn er so schnarchte, dann konnte ihn nichts und niemand wecken. Ich wollte auch, dass meine Mutter mich nicht hörte. Also blieb ich auf der Hut und schlich mich so leise wie möglich die Treppe hinunter.

Schließlich gelangte ich über den Hof und zum Stall. Der Mond gab noch immer ein wenig Licht ab und schien unbeeindruckt von den Ereignissen, die den Hof vor wenigen Stunden erschüttert hatten. Als ich bei der Stalltüre angekommen war, zögerte ich einen Moment. Die Schreie von Ronjo waren schrecklich gewesen. Ich fürchtete mich vor dem, was mich hier erwartete. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen, das musste ich einfach tun. Selbst wenn er mir nicht verzeihen würde. Selbst wenn ich mir nicht verzeihen konnte. Ich musste Abschied nehmen, das war ich ihm schuldig.

Langsam tappte ich ihm Dunkeln zu Ronjo, dessen lebloser Körper am Boden lag. Er sah riesig aus. Ich spürte unter meinen Füßen eine warme, dickliche Flüssigkeit und merkte zu spät, dass Ronjo in seinem eigenen Blut lag. Darüber, dass es dunkel war, war ich froh, und dass der Mond nur wenig Licht spendete. Ich hätte den Anblick bei Licht nicht ertragen. Ich spürte nur sein Blut, ich konnte es riechen. Es war schlimm genug. So, wie er dalag, war es fast schon friedlich. Er musste nicht mehr leiden. Die lange Mähne lag im Blut und war nass von der schweren Flüssigkeit. Eine Spur von Neid kam in mir auf. Er hatte allen Schmerz bereits hinter sich. Ich wusste nicht, welcher Schmerz noch auf mich wartete.

Als ich vor ihm stand, wie er auf dem Boden lag, überkam mich Verzweiflung, und ich ließ mich auf meine Knie fallen. Ein Schmerz durchfuhr mich und ließ mich einen Moment zusammenzucken. Ich vergrub mein Gesicht im Fell von Ronjo, vergrub meine Finger in seiner blutüberströmten Mähne, spürte, wie sich das Blut auch hier über meine Finger ergoss, und ich schluchzte hemmungslos.