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Lotte Minck (*1960) ist von Geburt halb Ruhrpottgöre, halb Nordseekrabbe. Nach 50 Jahren im Ruhrgebiet und etlichen Jobs in der Veranstaltungs- und Medienbranche entschied sie sich, an die Nordseeküste zu ziehen. Erst kürzlich überkam sie heftiges Heimweh nach dem Ruhrpott, als sie nach Jahren auf dem Land zum ersten Mal in einen echten Stau geriet, der aus mehr als sieben Autos vor einer Ampel bestand und sich diese Bezeichnung dank einer halben Stunde totalen Stillstands redlich verdient hatte. Ihre Heldin Loretta Luchs und alle Personen in Lorettas Universum sind eine liebevolle Huldigung an Lotte Mincks alte Heimat.

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Ruhrpott-Krimödien mit Loretta Luchs bei Droste:
Radieschen von unten
Einer gibt den Löffel ab
An der Mordseeküste
Wenn der Postmann nicht mal klingelt
Tote Hippe an der Strippe
Cool im Pool

Lotte Minck

Die Jutta saugt
nicht mehr

Eine Ruhrpott-Krimödie mit Loretta Luchs

Droste Verlag

Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf
Umschlaggestaltung: Droste Verlag unter Verwendung einer Illustration von Ommo Wille, Berlin
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7700-4129-9

www.drosteverlag.de

Kapitel 1

Warum es für die Arbeit an der Sexhotline von Vorteil ist, wenn man schon einmal mit einem Blinden im Kino war

»Weil ich sowieso gerne telefoniere! Mit einigen Freundinnen sogar stundenlang. Und dann kann ich doch damit auch gleich Geld verdienen, dachte ich.«

Die bezopfte Studentin namens Linda strahlte mich an, während ich mit aller Kraft meine Augäpfel kontrollierte, damit sie nicht wild in den Höhlen rollten.

Ein paar Sekunden zuvor hatte ich den vier hoffnungsvollen Aspirantinnen die Frage gestellt, warum sie sich für einen Job in unserem Callcenter beworben hatten. Na ja, in Dennis Kargers Callcenter, um genau zu sein. Seiner Sexhotline, um ganz genau zu sein.

Ich wage hier mal die dreiste Behauptung, dass diese Antwort bei neunzig Prozent aller Bewerbungsgespräche für Callcenterjobs gegeben wird. Ich telefoniere sowieso gerne bedeutet allerdings in hundert Prozent der Fälle, zu Hause gemütlich in einem Sessel oder auf dem Sofa zu lümmeln, vielleicht eine Tüte Chips auf dem Schoß und ein Glas Wein in der Hand – und dann durchzukakeln, was gerade so anliegt.

In einem Callcenter zu telefonieren ist ein ganz anderer Schnack: Man sitzt auf einem Schreibtischstuhl, trägt ein Headset und bekommt einen Anruf nach dem anderen.

Noch mal: einen Anruf nach dem anderen.

Acht Stunden lang.

Von Leuten, die etwas von einem wollen.

Von Leuten, die man sich nicht selbst als Gesprächspartner aussucht. Das ist harte Arbeit – und dabei ist es erst einmal schnuppe, ob es um Termine des Heizungsablesers, eine Hotline für Kühlschränke oder eben um Dennis Kargers Unternehmen geht, das zufälligerweise sexuelle Dienstleistungen anbietet.

Ich telefoniere sowieso gerne reichte da als Qualifikation bei Weitem nicht aus – aber es war immerhin ein Anfang.

Diese Antwort ließ ich erst einmal unkommentiert im Raum stehen, zumal die anderen drei Mädels eifrig nickten. Aha, die telefonierten also auch gerne. Super.

»Und dass es sich um eine Sexhotline handelt, ist für euch okay?«, fragte ich weiter. »Es ist wirklich etwas anderes, als für einen dieser Homeshopping-Sender Bestellungen für hübsche Porzellanfigürchen anzunehmen …«

Wangen färbten sich rosig, schelmische Blicke gingen hin und her, vierstimmiges Kichern erklang.

Lasst mich raten, Mädels, dachte ich, ihr habt gerne Sex, stimmt’s? Und zwar mit coolen Jungs, bevorzugt denen mit den momentan so angesagten Hipsterbärten, die ihr nachts in einer coolen Location kennenlernt.

Ich seufzte innerlich.

»Ihr müsst euch darüber klar sein, dass ihr euch an der Hotline euren Partner nicht aussuchen könnt«, sagte ich. »Und auch nicht, was ihr mit ihm macht. Der Kunde entscheidet, was passiert. Wenn er möchte, dass ihr ihn als tollen Macker anhimmelt und ihm vor lauter Bewunderung die Hose runterreißt, dann ist das so, auch wenn ihr es blöd findet. Das darf er keinesfalls merken.«

Hihihihihihi.

»Vielleicht habt ihr schon irgendwann einmal einen Orgasmus vorgetäuscht, ohne dass euer Partner es gemerkt hat«, fuhr ich fort, »das macht ihr dann acht Stunden lang täglich. Oder vier, wenn ihr halbtags arbeiten wollt. Je nachdem.«

Das Hihihihihi wurde leiser und erstarb schließlich ganz.

»Sag mal, willst du uns den Job vermiesen?«, fragte Linda.

Ich schüttelte den Kopf. »Ist nicht meine Absicht. Aber ihr müsst wissen, worauf ihr euch einlasst. Ihr verdient hier deutlich mehr als in«, mit den Fingern zeichnete ich Anführungsstriche in die Luft, »normalen Callcentern, deshalb wollt ihr ja auch hier anheuern und nicht woanders. Aber das Geld ist hart verdient. Mit der Zeit werdet ihr Routine bekommen, ganz sicher. Allerdings hatte ich auch immer wieder Kolleginnen, die den Job auf Dauer nicht geschafft haben.«

»Woran lag das?«, fragte eine kecke Blondine, die sich als Babsi vorgestellt hatte.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ganz unterschiedlich. Der Partner kam damit nicht klar. Oder das Mädel hat es mit der Distanz zum Job nicht hingekriegt.«

»Distanz?« Linda flüsterte fast. »Wie ist das gemeint?«

»Ganz einfach«, erwiderte ich. »Wir verkaufen etwas. Wie Jeans oder Wurst oder Tulpen. Nur mit etwas mehr Interaktion mit dem Kunden. Wir bewerten nicht, was der Kunde möchte, wie absurd uns seine Fantasie auch immer erscheinen mag. Unsere persönliche Meinung dazu ist vollkommen irrelevant. Er möchte ein hartgesottener Cop sein und ihr sollt eine Ladendiebin mimen? Er ist der Manager und ihr die Sekretärin? Oder er ist der Filmstar und ihr der Fan, der zu allem bereit ist? Bitte sehr.«

»Das kommt vor?«, fragte Babsi grinsend.

Ich nickte. »Das und noch viel mehr. Lastwagenfahrer und Anhalterinnen, zufällige Begegnungen im Aufzug, vielleicht sollt ihr putzen …«

»Putzen?«, kreischten die Mädels im Chor.

Ich erzählte vom erstaunlichen Erfolg der putzenden Hausfrau Uschi, die im kurzen Nylonkittel mit nichts drunter ihre anrufenden Fans beglückte, wenn sie unter dem Sofa nach Staubmäusen suchte und dabei den Hintern hochreckte.

Meine Zuhörerinnen wollten sich schier nicht mehr einkriegen. Uschi, die putzende Hausfrau, also wirklich …

»Ihr seht also«, fügte ich hinzu, »der Fantasie der Männer sind keine Grenzen gesetzt. Und ihr spielt die jeweilige Rolle. Ihr müsst den Film kreieren, der vor ihren Augen abläuft. Mit euren Worten. Das ist unsere Kunst.«

Sie wollten ein Beispiel, also bemühte ich Uschi noch einmal.

»Also, ihr seid jetzt die Uschi und sollt putzen. Im minikurzen Kittelchen. Entweder, ihr seid darunter von Beginn an nackt, oder ihr tragt ein Höschen, das ihr euch aber rasch auszieht, weil das Putzen euch ins Schwitzen bringt. Wenn ihr die Fenster wienert, müsst ihr euch recken – und der Kittel rutscht hoch. Und – oje, der Nachbar von gegenüber sieht euch zu, und ihr seid ganz verschämt. Ihr bekleckert euch mit Wasser, und der Kittel klebt an euch, sodass man alles sieht, auch das noch! Was soll der Nachbar von euch denken? Und so weiter und so weiter. Vergesst nicht: Das alles müsst ihr dem Kunden erzählen. Wart ihr schon mal mit einem Blinden im Kino und musstet alles beschreiben, was auf der Leinwand passierte?«

Sie mussten heimlich Synchron-Kopfschütteln trainiert haben, anders konnte ich mir die nun demonstrierte Performance nicht erklären.

Ich verkniff mir ein Grinsen und fügte hinzu: »So müsst ihr euch das vorstellen. Ihr beschreibt, was passiert, und konzentriert euch dabei aufs Wesentliche. Ob der Himmel blau oder bewölkt ist, interessiert kein Schwein. Sehr wohl von Interesse für den Anrufer kann allerdings sein, ob ihr im richtigen Moment einen Schweißtropfen zwischen eure Brüste rinnen lasst. Ihr müsst den Film in seinem Kopf entstehen lassen, durch eure Worte. Versteht ihr?«

Ich sah sie nacheinander an, und sie nickten. Nicht ganz so synchron, wie sie gerade noch die Köpfe geschüttelt hatten, aber sie waren auf einem guten Weg.

»So, und jetzt gibt es zwei Möglichkeiten«, fuhr ich fort. »Der Anrufer wird zum Voyeur von gegenüber, und es macht euch natürlich total heiß, dass ihr beobachtet werdet. So heiß, dass ihr euch unbedingt Erleichterung verschaffen müsst. Am Fenster, versteht sich. Möglichkeit zwei: Der Anrufer ist bei euch im Raum und will, dass der Voyeur dabei zusieht, was ihr miteinander treibt.«

»Oder er will gar keinen Voyeur, weil er mich für sich allein haben will«, schlug Linda vor.

»Du hast das Prinzip verstanden, Linda.« Ich grinste anerkennend, und sie freute sich.

Wenn ich eine Prognose abgeben müsste: Linda und Babsi würden es zumindest versuchen. Aber die beiden anderen, die während der ganzen Zeit nur zugehört hatten – mit wachsendem Unbehagen, aber das nur nebenbei –, die hatten sich den Job wesentlich romantischer vorgestellt. Oder einfach nur irgendwie anders.

Aber mal ehrlich: Wer sollte sich diesen Job auch vorstellen können, ohne ihn je selbst gemacht zu haben?

»Und?«, fragte Dennis.

Ich hatte die Mädels zum Mithören bei Kolleginnen geparkt und war jetzt in seinem Büro, um einen kurzen Zwischenbericht zu erstatten.

»Zwei von denen bleiben, die beiden anderen werden die Flucht ergreifen«, erwiderte ich.

Sorgfältig zupfte er die Bügelfalte seiner Schlagjeans in Form und inspizierte seine blank geputzten Cowboystiefel. Dann sah er mich an. »Immerhin. Zwei ist doch gut. Wir brauchen Leute. Und ich bin froh, dass du mir diese Gespräche abnimmst. Du als Frau kannst das viel besser als ich.«

Ich winkte ab. »Geschenkt. Besser, als wenn du die Damen bei eurer ersten Begegnung mit deiner Kostümierung verschreckst. Sie könnten glauben, du hast dich seit Halloween nicht mehr umgezogen.«

Ich durfte das sagen: Kostümierung. Bei jedem anderen wäre er jetzt aus seinem knallengen Rüschenhemd gesprungen. Ich hatte mir das Privileg, sein Faible für authentische Klamotten aus den Siebzigern bespötteln zu dürfen, hart erarbeitet.

Genau genommen unter Einsatz meiner Gesundheit, als es darum gegangen war, seinen Laden vor dem gierigen Griff eines größenwahnsinnigen Kiezkaspers und dessen Schergen zu retten.

Na ja, nicht ich allein.

Auch mein bester Kumpel Frank Kropka war dabei gewesen, und seine Freundin Bärbel. Und Erwin natürlich, der Exbulle, dessen angebetete Angetraute, die zweiundsiebzigjährige Doris, meine mit Abstand allerliebste Kollegin im Callcenter war. Wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft, und Dennis Karger gehörte jetzt dazu.

Seit gut sechs Jahren arbeitete ich mittlerweile für ihn an der Hotline, und ich muss zugeben, dass er meine gelegentlichen Ausflüge ins Ermittlerfach immer mit Humor genommen hat. Nein, mehr: Er hat sie unterstützt, indem er sich nie querstellte, wenn ich dafür kurzfristig freie Tage benötigte. Dann war es um sein Callcenter gegangen, und seitdem hatte ich praktisch Narrenfreiheit bei ihm. Ständig war er auf der Suche nach neuen Aufgaben für mich, mit denen er mir seine Dankbarkeit – die ich nie eingefordert hatte – beweisen konnte. Irgendwie schien ihm der Gedanke, dass ich wie alle anderen acht Stunden täglich an der Hotline schuftete, nicht mehr zu behagen, nachdem ich höchstpersönlich seine Existenz und damit gleichzeitig sein Einkommen und meinen Arbeitsplatz gerettet hatte.

Dass ich neuerdings die Einstellungsgespräche führte und die Bewerberinnen trainierte, gehörte dazu. Und das machte mir wirklich Spaß, wie ich ehrlicherweise zugeben muss.

Aber das war noch nicht alles.

Da mein Chef uns – Erwin, Frank und mich – um unsere Ermittlungsabenteuer heiß beneidete, hatte er zusammen mit Erwin vor einigen Wochen eine Detektei gegründet, deren Büro sich praktischerweise in den Räumlichkeiten des Callcenters befand.

Fehlte nur noch, dass er für mich ein rotes Schleifchen draufgepappt hätte.

Aber ich will nicht übertreiben. Erwin langweilte sich in seinem Rentnerdasein und war regelmäßig aufgeblüht wie ein Veilchen im Frühling, wenn ich mal wieder in kriminalistische Verwicklungen geraten war, die wir dann gemeinsam aufdröselten. Mal mit der Kripo in Gestalt seiner Patentochter, Kommissarin Astrid Küpper, mal ohne sie. Erwin war eine Frohnatur und wahrlich kein Kandidat für Depressionen, aber die Wehmut, die ihn nach dem jeweiligen Ende unserer gemeinsamen Abenteuer regelmäßig befiel, war nicht zu übersehen.

Schon lange war er mit der Idee, Privatschnüffelei als Hobby zu betreiben, das vielleicht auch etwas Geld einbrachte, schwanger gegangen. Aber sein Plan, in der heimischen Garage ein behelfsmäßiges Büro einzurichten, war am erbitterten Widerstand seiner Gattin Doris gescheitert, die bei ihnen zu Hause keinen Publikumsverkehr duldete. Räumlichkeiten anzumieten, wäre finanzieller Wahnsinn gewesen.

Und dann brachte sich Dennis ins Spiel.

Schon während unseres letzten Falls, der mit der Hochzeit meiner besten Freundin Diana zu tun gehabt hatte, setzte Dennis ihm wieder den Floh ins Ohr, eine Detektei aufzumachen. Als Trumpf hatte er diesen Büroraum im Ärmel; ein absolut unwiderstehliches Angebot für Erwin.

Büromöbel gab es als Sahnehäubchen obendrauf, Kommunikationslogistik sowieso, und Dennis stellte mich bei Bedarf für Erwin frei. Oder anders formuliert: Er beförderte sich selbst zu meinem Doppelchef – Callcenter und Detektei. Nun ja, es gab Schlimmeres, zumal sich mein Monatslohn nicht verringerte. Ganz im Gegenteil: Dennis hatte ihn erhöht, wegen der besonderen Aufgaben wie eben diesen Einstellungsgesprächen.

Also hatte sich die Situation für mich absolut verbessert: mehr Geld, Abwechslung durch zwei verschiedene Jobs unter einem Dach und besondere Aufgaben.

Ich konnte nicht klagen.

Ich glaube, man nennt das Win-Win.

»Und wie ich bereits vorausgesehen hatte, bleiben von den vier Bewerberinnen zwei übrig, die tatsächlich bei uns anfangen wollen«, sagte ich zu Pascal.

Wir saßen am Küchentisch, aßen zu Abend, und ich erzählte von meinem Arbeitstag. Er hatte eine meiner Lieblingsspeisen gemacht: gebratene Blutwurst mit Kartoffelpüree und Apfelkompott. Sehr ruhrpöttisch und wahnsinnig lecker. Fand auch Kater Baghira, der zu unseren Füßen hockte und von Zeit zu Zeit ein herzzerreißendes, lang gezogenes Miauen ausstieß.

Ich beugte mich zu ihm hinunter. »Herrje, Baghira, hab doch wenigstens so viel Stolz und Würde, abzuwarten. Du kriegst doch was. Du kriegst immer was ab. Aber nicht während des Essens. Und nicht vom Tisch. Da kannst du wimmern, so viel du willst.«

»Miaaaaaooooooooooo …«

Der große pechschwarze Kater sah mich flehend an. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine und legte mir eine Pfote aufs Knie, aber ich blieb hart.

»Lass dir Daumen wachsen, dann kannst du dir selbst Essen machen.«

»Du kannst so grausam sein, Loretta«, sagte Pascal.

Er stippte den Zeigefinger ins Kartoffelpü und machte leise »Ksskss«, das weltweit gültige Locksignal für Tiere aller Art.

Sofort ließ Baghira von mir ab, trippelte mit hocherhobenem Schwanz zu Pascal und durfte zur Belohnung den Finger ablecken.

»So lernt das Kind nie bessere Manieren, wenn du ständig meine Autorität untergräbst.« Ich runzelte vorwurfsvoll die Stirn.

Pascal lachte, wurde aber rasch wieder ernst.

Allzu rasch, wie ich fand.

Außerdem bildete ich mir plötzlich ein, dass er mich nicht angucken konnte. Nein, stimmte nicht, er konnte mich tatsächlich nicht angucken, wie ich feststellte, als ich testhalber seinen Blick suchte. Noch immer hielt er dem verwirrten Kater den Finger vor die Nase, an dem längst nicht einmal mehr das winzigste Atom Kartoffelpüree zu finden war, denn Baghira hatte selbstredend ganze Arbeit geleistet. Also stippte Pascal erneut ins Püree, und der Kater konnte sein Glück kaum fassen. Eifrig schrappte die kleine rosa Zunge über den Finger, dann wurde das Spielchen noch ein drittes Mal wiederholt. Allmählich machte ich mir ernsthafte Sorgen um die Fingerkuppe meines Liebsten. Als seine Hand zum vierten Mal in Richtung Teller wanderte, griff ich blitzschnell über den Tisch und hielt sein Handgelenk fest.

Erschrocken sah er mich an.

»Was ist los?«, fragte ich, ohne ihn loszulassen.

»Du wirst nicht begeistert sein«, murmelte er.

Er glubschte aus der Wäsche wie ein achtjähriger Bengel, der einen Fußball durchs geschlossene Wohnzimmerfenster des Nachbarn geschossen hatte.

Ich ließ ihn los und lächelte aufmunternd. »Raus damit. Wird schon nicht so schlimm sein.«

Um ehrlich zu sein: Ein wenig ging mir schon die Düse. Seit wann hatte er das Gefühl, mir nicht alles sagen zu können? Beziehungsweise: Wieso rechnete er damit, dass ich unentspannt reagieren würde?

Pascal musste tatsächlich dreimal tief Luft holen. Dann sagte er: »Ich habe heute Nachmittag ein kurzfristiges Jobangebot bekommen. Sehr kurzfristig.«

Ähem … das war alles?

Ich zuckte mit den Schultern. »Ist doch super! Und passiert ja auch nicht zum ersten Mal. Du hast hoffentlich angenommen.«

»Noch nicht.«

»Warum denn nicht? Dann bist du halt ungeplant ein paar Tage unterwegs. Kam auch schon häufiger vor. Und wir haben es jedes Mal überstanden.«

»Jaaaaaaa … schoooooon … aber ich werde länger unterwegs sein. Sechs Wochen lang. Im Ausland. Eine Band. Europatournee. Ich kann für einen Kollegen einspringen, der einen Unfall hatte.«

Oh. Sechs Wochen. Ausland.

Deshalb hatte er so rumgedruckst.

»Das machst du auf jeden Fall«, sagte ich. »Das kannst du unmöglich ablehnen. Wie lange wünschst du dir das schon?«

»Ziemlich lange.«

»Na also. Also sei nicht blöd. Wann geht es los?«

Er biss sich auf die Unterlippe, dann erwiderte er: »Sonntagmittag.«

Hui. Das war kurzfristig, denn es war Freitagabend.

Zugegeben: Ich hüpfte nicht gerade durch die Küche vor Begeisterung. Nicht weil er für sechs Wochen unterwegs sein würde, nein, das war absolut okay für mich. Aber dass er bereits übermorgen abreisen würde – das war tatsächlich ein harter Brocken.

Aber ich zauberte mir ein strahlendes Lächeln ins Gesicht. »Umso mehr werden wir die Zeit genießen, die uns noch bleibt, okay? Morgen gehen wir lecker frühstücken, und dann trödeln wir entspannt durch den Tag. Wir machen nur, wozu wir Lust haben.«

Sein Blick ging an mir vorbei zur Schlafzimmertür. »Können wir damit nicht sofort anfangen?«

Aber natürlich konnten wir das.

Da war ich außerordentlich flexibel.

Kapitel 2

Ob ein Frühstück positive Lebensgeister oder einen zähnefletschenden Dämon weckt, hängt immer davon ab, woraus es besteht

Meine Laune war nicht die beste, als der Wecker am Montagmorgen zu piepsen begann.

Erst kürzlich hatte ich mir einen sogenannten Tageslichtwecker angeschafft, also strahlte das Ding sanftes Licht aus, als ich die Augen aufschlug. Besonders im Winter sollte er mir das Aufstehen erleichtern, denn als passionierte Langschläferin kam ich nur schwer aus den Federn. Und ich hasste es besonders, im Stockdunklen aufzuwachen.

Außer dem nervtötenden Piepsen bot der Wecker diverse weitere Optionen an: zum Beispiel Vogelgezwitscher, das allerdings nicht die allergeringste Chance hatte, mich aufzuwecken und zum Verlassen meines Bettes zu animieren. Wie auch? In den Bäumen vor dem Schlafzimmerfenster wohnten zahllose Piepmätze, die regelmäßig bei Sonnenaufgang mit ihrem hysterischen Zwitscherkonzert loslegten. Daran hatte ich mich längst gewöhnt. Eine weitere Möglichkeit war das Geräusch strömenden Regens, was leider mein bevorzugtes Schlaflied war. Regen entspannte mich mehr als alles andere und ließ mich sanft einschlummern, todsicher.

Miiiep miiiep miiiep miiiep …

Ich seufzte ergeben, schwang die Beine aus dem Bett und starrte den Terror-Wecker an. Ob es wohl meine Laune heben würde, wenn ich ein wenig auf ihm herumtrampelte? Nein, dachte ich dann, das würde es nicht. Im Gegenteil: Ich müsste mir einen neuen Wecker besorgen.

Ich stellte das Ding also ab, und das Licht erlosch. Es war stockdunkel. Beste Voraussetzungen, mich noch einmal ein wenig hinzulegen … nur fünf kleine Minütchen vielleicht …

»Maaaoooooooooh.«

Nicht nur ich hatte den Wecker gehört, sondern auch Baghira. Für ihn das Startsignal, vor der Schlafzimmertür herumzuquengeln. Ich muss ihm zugutehalten, dass er sich wirklich erst meldet, wenn es piepst. Aber dann heißt es auch umgehend Flotti Karotti, wenn er höflichst bitten dürfte. Leerer Fressnapf am Morgen, wenn der Mensch wach ist? Geht gar nicht.

Ich öffnete die Schlafzimmertür, und der Kater flitzte vor mir her ins Bad. Baghira kannte das Ritual: Erst geht der Mensch aufs Töpfchen, und danach gibt es Fressi. Im Bad saß er schweigend vor mir und starrte mich an, während ich … nun ja. Kaum hatte ich die Spülung betätigt, ging es auch schon im Schweinsgalopp in die Küche, wo ihn dann der Veitstanz packte, bis endlich das gefüllte Schüsselchen vor ihm stand. Erst wenn das Tier zufrieden schmatzt, kann ich meinen Espresso aufsetzen und mich auf den Tag vorbereiten.

Manchmal hatte so ein Montagmorgen im November das Potenzial, der schlimmste Morgen des Jahres zu werden. So wie dieser hier. Er war der erste Morgen einer mehrwöchigen Phase ohne meinen Liebsten. Das war schon mal ein Bombengrund für miese Laune, wie ich fand. Wenn alles gut ging, würde er Weihnachten wieder da sein.

Außerdem fielen im November endgültig die allerletzten Blätter von den Bäumen. Irgendwann gab es den finalen Herbststurm, der sich so richtig gewaschen hatte, und danach waren die Äste kahl.

Dann gab es noch diese Novembertage, an denen sich alles in mir dagegen aufbäumte, dass es morgens dunkel war. Mal mehr, mal weniger, aber immer fand ich das eine Frechheit. Ab der Wintersonnenwende kurz vor Heiligabend konnte ich mich immerhin psychologisch damit überlisten, dass die Nächte ab sofort wieder kürzer wurden. Das klappte natürlich im November nicht; da waren wir noch in der Jeder-Tag-einige-Minuten-kürzer-Phase, und das allgegenwärtige Grau um mich herum verstärkte sich noch durch die Wolke, die permanent über meinem Haupte zu schweben schien und aus der immer mal kleine Blitze zuckten.

Nein, der November war definitiv nicht mein Lieblingsmonat.

»Was ist mit dir denn los? Hast du heute Morgen die Böse Hexe des Westens gefrühstückt?«, fragte Dennis und ahnte nicht einmal, wie knapp er an einem tätlichen Angriff meinerseits vorbeischrammte.

»Clowns waren aus«, gab ich pampig zurück.

Erwin grinste, und Dennis schlug sich vor Lachen auf die Schenkel, während ich ihn lauernd anstarrte und nur darauf wartete, dass er sich noch weitere kecke Bemerkungen traute.

Wir hatten uns zur ›Montagsrunde‹ im Büro der Detektei eingefunden. Was sich nach einer Podiumsdiskussion mit nationalen Entscheidungsträgern und hochrangigen Politikern anhört, ist in Wirklichkeit die Besprechung zum Wochenbeginn, die Erwin eingeführt hat. Aus Ermangelung an Aufträgen gab es meist zwar nichts zu besprechen, aber dann schwelgten wir immerhin in Zukunftsvisionen darüber, wie wir spektakuläre Fälle lösten.

Übers Wochenende hatten sich offenbar Heinzelmännchen im Büro zu schaffen gemacht, denn die vorherige Kargheit war durch eine beinahe schon wohnzimmerhaft-penetrante Gemütlichkeit abgelöst worden. Plötzlich lag da ein Teppich, auf dem sich vier abgewetzte, braune Ledersessel um einen niedrigen Tisch gruppierten. Erwin hatte bei ebay eingekauft, schloss ich messerscharf. Oder Dennis hatte in seiner Scheune noch ausgemustertes Mobiliar stehen gehabt. Die großen Pflanzen und die Bilder von Fördertürmen und sonstiger Ruhrpott-Romantik an den Wänden hingegen trugen Täubchens Handschrift, die natürlich wollte, dass ihr Erwin es hübsch kuschelig hatte.

Mehrere hohe Birkenfeigen standen in einer Reihe und bildeten einen blickdichten Sichtschutz zu den beiden schlichten Schreibtischen und den Regalen. Auf der Grenze zwischen den beiden Bereichen hatte sich zudem eine Holzkommode materialisiert, auf der eine Kaffeemaschine stand.

»In der hübschen Kommode da sind Tassen, Gläser und Getränke. Für Klientenbesuch«, sagte Erwin, der amüsiert verfolgt hatte, wie ich das Büro und die Neuerungen darin scannte. »Und Plätzchen«, fuhr er fort. »Hat mein Täubchen gebacken.«

»Bisschen früh für Weihnachtsbäckerei, oder?«, maulte ich. »Außerdem: welcher Besuch?«

Wie gesagt: Die Kunden rannten uns bislang nicht gerade die Bude ein. Unsere Referenzliste war kurz: zwei untreue Ehemänner beobachtet, fotografiert und somit überführt, einen inmitten eines Trennungsdramas entführten Hund aufgespürt und dem Besitzer zurückgebracht, eine lange verdächtigte Nachbarin einer Kundin beim nächtlichen Müll-in-den-Vorgarten-Werfen auf frischer Tat ertappt, in einem beschaulichen Vorort einem eifrigen Schlüpfer-von-der-Wäscheleine-Klauer aufgelauert und ihn der Ordnungsbehörde übergeben.

Noch nie seit der Existenz der Detektei hatte sich ein potenzieller Kunde in unser Büro verirrt. Wir hatten alles per Telefon, Mail oder an neutralen Treffpunkten mit den jeweiligen Kunden abgekaspert, also hatte bisher auch nicht die Notwendigkeit bestanden, das bisherige karge Messehallen-Ambiente in eine Wohlfühl-Oase für Spießer zu verwandeln.

Aber nein, das war unfair.

Es war durchaus gemütlich. Und die Sessel waren überaus bequem, wie ich merkte. Als ich kurz davor war, mich zusammenzurollen und ein kleines Nickerchen zu machen, meldete Erwin sich wieder zu Wort.

»Aufwachen, Schlafmütze. Wir haben gleich einen Termin. Jemand benötigt unsere Dienste. Und eines kann ich jetzt schon verraten: kein Fremdgeher, kein Hund, kein Müllterrorist, kein Schlüppidieb.«

Zack, war ich hellwach und saß kerzengerade. Noch immer schlecht gelaunt, aber wach. Deshalb also die wundersame Verwandlung, die mir zuerst so unmotiviert erschienen war. Ich konnte buchstäblich hören, wie Doris gesagt hatte: In dieser ungemütlichen Klitsche empfangt ihr mir keinen Klienten, verstanden? Was sollen denn die Leute von euch denken? Und dann hatten Dennis und Erwin bedröppelt auf ihre Schuhspitzen gestarrt, sich von ihr auf Trab bringen und so lange nerven lassen, bis alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt war. Danach dürfte Doris in einer Nachtschicht Plätzchen gebacken haben. Bestimmt stand für Notfälle welcher Art auch immer zusätzlich eine Plastikdose mit Frikadellen im Kühlschrank der Personalküche des Callcenters.

Kaum vorstellbar, dass ein Klient zufällig gerade am Rande des Hungertodes entlangmanövrierte oder derart unterzuckert war, dass er umgehend einen herzhaften Happen benötigte, damit ihm nicht die Sinne schwanden. Aber man konnte schließlich nie wissen.

Außerdem war Doris eine leidenschaftliche Verfechterin der Theorie, dass essen immer half. Egal, bei welchem Gemütszustand. Es geht dir schlecht? Hier, nimm ein halbes Dutzend Frikadellchen, dann wird’s gleich wieder besser. Sollte ein Klient also in seelischen Nöten sein – was gar nicht so unwahrscheinlich war, wie ich zugeben musste –, stand Nervennahrung bereit, um das bedauernswerte Wesen kulinarisch zu trösten.

Das gesamte Personal im Callcenter profitierte von ihrer vorauseilend-mütterlichen Sorge um unser aller Wohlbefinden. Irgendwas gab es immer zu picken, das aus ihrer heimischen Küche stammte: Kuchen, Plätzchen oder eben ihre legendären und zu Recht heiß begehrten Frikadellchen, für die auch ich jedes drei Stunden lang bei Niedrigtemperatur geschmorte Kalbsbäckchen in die Tonne treten würde. Ob ich mal rasch im Kühlschrank nachsehen sollte …?

»Bist du überhaupt nicht neugierig?«, fragte Erwin und riss mich damit aus meinen lukullischen Fantasien.

»Doch, natürlich. Wir bekommen Besuch.«

»So ist es.« Erwin nickte und ließ seine stahlgrauen Minipli-Löckchen tanzen. »Eine Frau Berger. Waltraud Berger. Sie hat mich am Freitag angerufen. Sie braucht Hilfe.«

»Na, das ist aber mal eine faustdicke Überraschung. Jemand ruft eine Detektei an, weil er Hilfe benötigt? Verrückte Welt.«

Dennis musterte mich mit gerunzelter Stirn. »Herrje, komm mal klar, Loretta. Ich kenne ja deine spitze Zunge, aber heute versprühst du reine Salzsäure. Jetzt weiß ich auch, was du gefrühstückt hast: das Monster aus Alien

»Ich an deiner Stelle würde meine Stirn lieber nicht so in Falten legen«, fauchte ich. »Du siehst gerade aus wie ein Klingone. Und wenn dann plötzlich dein Gesicht so stehenbleibt, musst du immer so rumlaufen. Für den Rest deines Lebens. Alle Kinder werden weinen und schreiend weglaufen, wenn sie dich sehen.«

»Alter Falter«, murmelte Dennis sichtlich beeindruckt. »Zwei Monster, mindestens.«

»Auf Toast. Mit Käse überbacken. War lecker. Aber jetzt hab ich ein bisschen Sodbrennen.«

Ich zuckte mit den Schultern.

Bisher hatte ich ihnen noch nichts davon erzählt, dass ich meinen Liebsten schon jetzt fürchterlich vermisste – und ich würde es auch nicht tun. Jedenfalls heute nicht.

Ich atmete tief durch. »Tut mir leid, Jungs. Ist heute einfach nicht mein Tag.«

Erwin lachte. »Dann geh mal wacker zu meinem Täubchen und bitte sie um ihr Schminktäschchen, damit du dir ein freundliches Gesicht aufpinseln kannst.«

»Pfff. Wozu? Am Telefon kann keiner sehen, ob ich eine Fresse ziehe. Das mag ich an dem Job ja so.«

»Nix Telefon«, warf Dennis ein. »Du wirst gleich mit Erwin diese Frau empfangen. Und du wirst so sanft wie ein Lämmchen sein. Wir wollen doch einen guten Eindruck machen, oder?«

Ach, so war das. Ich sollte Miss Moneypenny geben.

»Und das stellt ihr euch genau wie vor? Kaffee servieren und dann mit dem Stenoblock auf den Knien dasitzen?«

»Quatsch«, sagte Erwin, »ich hätte dich einfach gerne dabei. Ich schätze dein Einfühlungsvermögen, das weißt du doch. Frau Berger hörte sich am Telefon ziemlich … ich weiß nicht … verzagt an, das trifft es wohl am besten. Ich hatte den Eindruck, dass es sie enorme Überwindung gekostet hat, mich anzurufen. Sie schien mir sehr unsicher. Und ich will sie nicht gleich wieder verjagen.« Er sah mich bittend an und fuhr fort: »Am liebsten wäre mir, du würdest mit ihr reden, und ich halte mich ein bisschen zurück, weißt du?«

»Befürchtest du etwa, dass du in deine alten Muster zurückfällst und die Ärmste einem hochnotpeinlichen Verhör unterziehst? Gestehen Sie, Sie sind entlarvt!« Ich kicherte. »Und dann sehen wir von ihr nur noch den Kondensstreifen.«

»Wer hätte es gedacht – es kann ja doch lachen.« Dennis schüttelte grinsend den Kopf. »Ich dachte echt schon, die Körperfresser hätten über Nacht von dir Besitz ergriffen.«

»Genau!« Ich hob die Hand und klatschte mit ihm ab. »Wer sind Sie, und was haben Sie mit Loretta gemacht?«, fügte ich mit Grabesstimme hinzu.

Erwin beobachtete unser albernes Gegacker einen Moment lang, dann sagte er: »Fertig mit euren Film- und Fernsehzitaten?« Er blickte auf die große Bahnhofsuhr, die – wie ich erst jetzt bemerkte – ebenfalls neu in unseren heiligen Hallen war. »Frau Berger kommt um neun. Wir haben also noch eine Viertelstunde, um uns vorzubereiten.«

Ich war so glücklich über meine Stimmungsaufhellung, dass ich am liebsten weiter herumgealbert hätte. Aber ich riss mich zusammen. Jetzt ging es um Business.

»Hat diese Frau Berger denn schon verraten, worum es bei ihrem Auftrag geht?«, fragte ich.

Erwin schüttelte den Kopf. »Nicht so richtig. Sie braucht Hilfe, hat sie gesagt, und dass es um jemanden geht, den sie schon lange nicht mehr gesehen hat.«

»Also ist alles möglich: von einem Vater, der kurz nach ihrer Geburt das Weite gesucht hat, bis zum entflogenen Wellensittich«, erwiderte ich.

Dennis stand auf und wandte sich der Tür zu, die ins Callcenter führte. »Ich werde dann mal.« Grinsend hob er beide Daumen. »Toi, toi, toi. Ihr macht das schon.«

Tür auf, Dennis weg.

»Was meinst du – soll ich mal Kaffee machen?«, fragte ich. Erwin zuckte mit den Achseln. »Könnte nicht schaden.«

Wie man sieht: Weder er noch ich hatten auch nur die geringste Vorstellung, wie man sich als Detektiv verhielt, wenn Kundenbesuch anstand. Handbücher zu diesem Thema gab es meines Wissens nicht. Detektiv werden für Dummies – das wäre doch mal eine Idee, oder? In den alten Hollywoodschinken hatte der hartgesottene Privatermittler immer eine Pulle Whisky aus seiner Schreibtischschublade gezaubert, um die obligatorische Dame in Nöten zu beruhigen. Das erschien mir irgendwie nicht angemessen. Außerdem waren wir ja auch nicht in Schwarz-Weiß.

Bereits wenige Minuten später ging die Türglocke. Praktischerweise verfügte dieses Büro über eine Tür zum Parkplatz, und Erwin hatte dort ein glänzendes Schild mit der Aufschrift Detektei Schneider angebracht.

Als ich öffnete, sah ich mich einer Dame von circa Mitte fünfzig gegenüber, die mich von Kopf bis Fuß musterte.

»Bin ich hier richtig? Ich habe einen Termin mit einem Herrn Schneider«, sagte sie.

Ich widerstand dem Impuls, auf das Schild zu zeigen, und bat sie mit einer Geste hinein.

»Frau Berger, nicht wahr? Schönen guten Morgen, Sie sind hier absolut richtig. Herr Schneider erwartet Sie bereits. Mein Name ist Luchs.«

Sie ging an mir vorbei ins Büro, und der zweifelnde Ausdruck in ihrem Gesicht verstärkte sich noch. Ihr Blick flog über den Teppich und die abgewetzten Ledersessel. Erwin tauchte hinter der Grünpflanzenwand auf und streckte die Hand aus.

»Erwin Schneider, guten Morgen.«

»Herr Schneider.« Frau Berger schüttelte ihm beinahe geistesabwesend die Hand und sah an ihm vorbei auf die Glasscheibe, durch die man ins Callcenter und somit auf die eifrig telefonierenden Damen gucken konnte.

Ach du Schande – wir Idioten hatten vergessen, die Jalousie zu schließen!

Mit einem beherzten Schritt war ich am Fenster und stellte die Lamellen auf blickdicht. Dann drehte ich mich zu unserer Besucherin um. »Wie Sie sehen, arbeiten wir Tür an Tür mit einem Dienstleister, an den wir zuweilen Rechercheaufträge weiterreichen. Uns fehlt meist die Zeit, stundenlang am Telefon zu hängen.«

Innerlich dankte ich auf Knien der Tatsache, dass Wände, Fenster und Türen schalldicht waren. Ich wollte mir erst gar nicht Frau Bergers Gesicht vorstellen, wenn sie gewahr wurde, welcher Art die Dienstleistungen der Damen waren, auf die sie einen kurzen Blick erhascht hatte. Ziemlich unwahrscheinlich, dass man bei Recherchetätigkeiten laut stöhnte und versaute Dinge sagte.

Erwin warf mir einen erleichterten Blick zu. »Aber nehmen Sie doch bitte Platz, Frau Berger. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«

Zögernd und beinahe widerwillig trennte sie sich von ihrem schützenden Kleidungsstück, das Erwin erst auf einen Bügel – Doris dachte wirklich an alles – und dann an einen der rustikalen Garderobenhaken beförderte.

»Ein Käffchen für Sie?«, fragte er dann.

Sie nickte und ließ sich von Erwin zu einem Sessel geleiten. Ich goss zwei Tassen Kaffee ein – auf dem Tisch stand schon alles bereit. Mir selbst nahm ich ein Glas Wasser.

Dann setzte ich mich zu den beiden und nahm Block und Stift zur Hand. Miss Moneypenny wäre dann so weit.

Kerzengerade saß Frau Berger auf der Sesselkante, die Knie unter ihrem schmalen Kostümrock eng zusammengepresst. Ihre Kleidung war bieder, aber keineswegs billig, ihre bereits ergrauten Haare tadellos frisiert. Schräg oberhalb der linken Braue hatte sie ein kleines, dunkles Muttermal. Es wirkte wie ein verirrter Schönheitsfleck, der vom Wangenknochen aus – wo er eigentlich hingehörte – einfach mal frech auf Wanderschaft gegangen war.

Nervös nippte sie an ihrem Kaffee; Zucker und Milch hatte sie nicht angerührt.

Erwin ließ ihr Zeit, sich zu sammeln, dann fragte er in seinem sanftesten, vertrauenerweckendsten Exbullen-Bariton: »Was führt Sie zu uns, Frau Berger?«

Unsere Besucherin stellte die Tasse mit einem lauten Klirren auf die Untertasse zurück. Sie atmete tief durch, und die Augen hinter der randlosen Brille füllten sich mit Tränen.

»Die Jutta saugt nicht mehr«, sagte sie.

Kapitel 3

Wenn man denkt, ein Tag könnte nicht mehr schlimmer werden, kommt bestimmt irgendjemand des Wegs und zieht eine Kleinanzeige aus der Tasche

Ich bin nicht stolz darauf, aber in mir brandete unbändiges Gelächter hoch. Rasch ließ ich meinen Stift fallen, damit ich unter den Tisch kriechen und mein zuckendes Gesicht verbergen konnte. Am liebsten hätte ich in den Teppich gebissen.

Ich meine: Die Jutta saugt nicht mehr?

So ein Satz, in dieser Umgebung? Schlagartig waren mir gut zwei Dutzend Knaller-Gags durchs Hirn geschossen, die natürlich samt und sonders vollkommen unangemessen waren. Unter Callcenter-Kolleginnen – okay. Aber vor den Frau Bergers dieser Welt? Niemals.

Miss Moneypenny wusste, was sich gehörte.

Mein Gesicht brannte, als ich endlich wieder so weit war, mich vernünftig hinzusetzen; höchstwahrscheinlich hatte ich eine knallrote Birne.

Erwin schleuderte mir einen warnenden Blickblitz zu, dann fragte er unsere Besucherin: »Wer ist Jutta?«

Sie suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und schnäuzte sich dezent. »Jutta Dengelmann: meine Freundin. Und Nachbarin. Sie wohnt über mir. Und sie saugt jeden Morgen um Punkt neun die Wohnung. Danach konnte ich immer die Uhr stellen. Seit Jahren. Bis vor drei Wochen.« Sie sah erst Erwin, dann mich flehend an. »Bitte, ich mache mir schreckliche Sorgen um Jutta. Können Sie sie finden?«

»Aber vielleicht ist Frau Dengelmann nur verreist?«, sagte Erwin.

Frau Berger schüttelte heftig den Kopf, aber kein einziges Haar ihrer Beton-Frisur geriet in Bewegung, was mich irgendwie faszinierte. »Jutta würde niemals verreisen, ohne mich zu informieren.«

»Hm«, machte Erwin nachdenklich und runzelte die Stirn. »Sie haben also bei Frau Dengelmann geklingelt, und niemand hat geöffnet?«

Wieder schüttelte sie den Kopf. »Oh nein, Gerhard war natürlich da.«

»Und Gerhard ist …?«

»Gerhard Dengelmann, Juttas Gatte. Seit drei Monaten im Vorruhestand.«

Gerhard Dengelmann, Ehemann, krakelte ich auf meinen Block.

»Und der Herr Dengelmann – was hat der Ihnen gesagt, wo Jutta sich aufhält?«, fragte Erwin.

Frau Berger sah uns empört an. »Sie hätte ihn verlassen, stellen Sie sich das mal vor. Dieser unverschämte Kerl. Blafft mich an, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, und knallt mir die Tür vor der Nase zu. Als würde die Jutta das Weite suchen, ohne mir Bescheid zu sagen!« Sie zögerte und fuhr fort: »Und selbst wenn, dann hätte sie sich längst bei mir gemeldet. Seit geschlagenen drei Wochen habe ich kein Sterbenswörtchen von ihr gehört. Da muss was passiert sein, ich bin ganz sicher.«

»Aber er hat Ihnen gesagt, sie habe ihn verlassen?«, wollte Erwin wissen.

Frau Berger nickte. »Die Jutta ist mir abgehauen, wenn Sie es genau wissen wollen, hat er gesagt, und jetzt kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck und lassen mich gefälligst in Ruhe! In einem so unverschämten Tonfall, da ist mit glatt die Spucke weggeblieben. Bumm, war die Tür zu. Dann hat er sie noch einmal aufgerissen und mir hinterhergeschrien: Das Gute daran ist, dass ich Sie jetzt nicht mehr sehen muss, Frau Berger!« Sie schnaufte entrüstet. »Das muss man sich mal vorstellen. Gott, war mir das unangenehm. Wenn das jemand von den Nachbarn gehört hätte! Ich wäre vor Scham im Boden versunken. Wir sind ein ordentliches Haus.«

»Wie alt ist Ihre Freundin Jutta?«, fragte ich.

»Sie ist fünfundfünfzig, genau wie ich«, erwiderte Frau Berger. »In unserem Alter macht man keine Experimente mehr. Oder packt seine Koffer und verschwindet bei Nacht und Nebel. Wohin sollte sie denn auch gehen? Sie hat mir immer alles anvertraut, absolut alles. Über ihre Ehe, wie unglücklich sie mit ihm war …«

Erwin horchte auf. »Unglücklich? Inwiefern?«

»Gerhard war … ist ein verknöcherter Beamter. Ein Erbsenzähler, wie er im Buche steht. Für sie war es einigermaßen zu ertragen, solange er noch im Dienst war. Ordnungsamt, wissen Sie? Er war den ganzen Tag im Amt, und abends musste halt das Essen pünktlich auf dem Tisch stehen. Danach hat er sich meistens in seinen Hobbyraum im Keller verzogen, und sie hatte wieder ihre Ruhe. Aber seit er im Vorruhestand war, wurde es für die arme Jutta unerträglich. Ständig hat er sie kontrolliert und ihr in die Hausarbeit gefunkt. Ihr Vorschriften machen wollte er, wie sie den Haushalt zu organisieren hätte. Ausgerechnet er, der selbst keine Hand gerührt hat. Natürlich war es mit Juttas und meinem traditionellen Vormittagskäffchen irgendwann auch vorbei. Ständig scharwenzelte er um uns herum. Jutta, wird es nicht allmählich Zeit, das Bad zu putzen? Oder: Jutta, das Mittagessen kocht sich nicht von alleine. Frau Berger hat doch bestimmt zu tun. Und wenn sie unten bei mir war, klingelte alle fünf Minuten das Telefon. Schließlich haben wir damit aufgehört und uns nur noch dann gesehen oder miteinander telefoniert, wenn Gerhard unterwegs war.«

»Kam das häufig vor?«, fragte ich.

»Viel zu selten. Er verschwand natürlich weiterhin im Keller, dann konnte sie mich anrufen. Aber das hat er auch kontrolliert. Anhand der Telefonrechnung. Heutzutage wird ja jedes Telefonat aufgelistet, wann, mit wem, wie lange. Also habe ich ihr ein altes Handy von mir geschenkt, mit so einer Prepaid-Karte.«

»Nicht leicht, mit einem Kontrollfreak zu leben, der alles überwacht«, sagte ich.

Erwin hob fast unmerklich die Augenbraue, und ich schluckte nervös. Er hatte natürlich recht – der Begriff Kontrollfreak war unangemessen gewesen. Diese Bewertung stand mir nicht zu. Nicht der Klientin gegenüber. Selbst wenn sie ihn einen Erbsenzähler genannt hatte.

»Ich mache mir wirklich Sorgen«, fuhr sie fort. »Wenn Sie Jutta persönlich kennen würden, dann würden Sie mich ganz sicher verstehen.«

»Was glauben Sie denn, was passiert ist?«, fragte ich sie.

Sie starrte mich erschrocken an, als hätte ich damit eine ganze Reihe von Horrorfantasien von der Leine gelassen, die sie sich bisher nicht erlaubt hatte.

»Ich weiß es nicht«, wisperte sie schließlich. »Irgendetwas furchtbar Schlimmes, fürchte ich.«

»Zum Beisp…«, wollte ich sofort nachhaken, aber Erwin stoppte mich mit einer Handbewegung.

»Frau Berger«, sagte er dann, »sind Sie bei der Polizei gewesen und haben Ihre Sorgen dort vorgetragen? Eventuell sogar eine Vermisstenanzeige erstattet?«

Sie sah ihn an, als hätte er eine Schraube locker. »Wie bitte? Selbstverständlich nicht. Glauben Sie, ich will mich dort von einem jungen Schnösel in Uniform abkanzeln lassen, dass ich zu viele schlechte Krimis lese? Andererseits bekomme ich genug von der Welt mit, um zu wissen, dass volljährige Menschen ein Aufenthaltsbestimmungsrecht haben.«

Alle Wetter – mir schlackerten die Ohren, als sie plötzlich in die Kiste mit Fachbegriffen griff.

»Nun ja, dass Jutta plötzlich fort ist, reicht der Polizei tatsächlich nicht für einen begründeten Anfangsverdacht aus, um Ermittlungen aufzunehmen. Da braucht es schon klare Indizien, dass es sich um ein Verbrechen handeln könnte. Zumal, wenn Herr Dengelmann als nächster Angehöriger nicht selbst aktiv wird …«, murmelte Erwin. »Wenn, dann müsste eigentlich er Vermisstenanzeige erstatten.«

»Sehen Sie? Das hat er nicht getan. Denn sonst wären doch irgendwann Polizisten bei mir aufgetaucht, um mich zu befragen, oder? Und deshalb glaube ich auch, dass etwas nicht stimmt. Ich bleibe dabei: Jutta büxt nicht einfach aus. Wie hätte sie das heimlich vorbereiten sollen? Ohne eigenes Geld? Verstehen Sie? Sie hätte mich nur fragen müssen, und ich hätte ihr ein Flugticket nach sonst wo gebucht. Oder eine Zugfahrkarte gekauft. Sie hat sich doch nicht mit einem Köfferchen an die Straße gestellt und den Daumen rausgehalten!«

Nun, wer wollte das beurteilen? Jedes Jahr verschwinden Hunderte Menschen, ohne dass ein Verbrechen dahintersteckt. Erst kürzlich waren die Zeitungen voll mit der Geschichte von einer Frau gewesen, die seit mehr als dreißig Jahren vermisst und nur durch einen dummen Zufall entdeckt wurde. Nicht etwa, weil sie es wollte, sondern weil sie in einen banalen Verkehrsunfall geraten war, eigentlich eine Bagatelle. Aber dann stellte sich heraus, dass ihre Papiere nicht in Ordnung waren, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Und selbst danach verweigerte sie jeglichen Kontakt mit ihrer Familie, die jahrzehntelang um sie getrauert hatte. Längst hatte man sie für tot erklärt. Sie war einfach plötzlich weg gewesen.

Genau wie jetzt Jutta Dengelmann.

So etwas kam tatsächlich vor.

»Vielleicht hat Ihre Freundin seit Jahren heimlich gespart, könnte das eventuell sein?«, fragte ich.

Wieder schüttelte sie entschieden den Kopf. »Unmöglich. Sie bekam ein bestimmtes Haushaltsgeld und hatte jeden ausgegebenen Pfennig zu belegen. Wenn ein Kassenbon fehlte oder eine Summe nicht belegbar war, selbst wenn es nur um ein paar Euro ging, machte Gerhard Theater. Nicht, dass er sie schlug oder so …«, erschrocken hielt sie inne. »Zumindest weiß ich nichts davon. Aber wenn sie einen Bon verloren hatte, half ich ihr mit der Summe aus, damit sie sich nicht wieder seine endlosen Litaneien anhören musste.« Sie beugte sich vor und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Ganz unter uns: Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie ihm irgendwann mal eine Pfanne über den Schädel gehauen hätte. Und ich hätte es verstanden. Nicht nur das: Ich hätte ihr sogar dabei geholfen, ihn irgendwo zu verbuddeln.« Sie verzog das Gesicht. »Dann hätte sie behaupten können, er hätte sie verlassen. Aber man kann auch jemanden terrorisieren, ohne die Hand zu erheben, wissen Sie? Und Gerhard hat sie seit mehr als dreißig Jahren terrorisiert, die Ärmste. Sicher fragen Sie sich, warum sie nicht längst gegangen ist, warum sie das all die Jahre ertragen hat. Nun, das will ich Ihnen sagen: Jutta ist eine ehrbare Frau. Für sie hat das Ehegelöbnis noch eine Bedeutung. Bis dass der Tod euch scheidet.« Sie hielt erschrocken inne und biss sich auf die Unterlippe. »Denken Sie ... denken Sie, dass er ... oh mein Gott.«

Fahrig nestelte sie am Verschluss ihrer Handtasche. Endlich, als ich bereits kurz davor war, helfend einzugreifen, weil ich das Elend nicht mehr mit ansehen konnte, kriegte sie ihn auf. Sie kramte ein blütenweißes Stofftaschentuch heraus und schnäuzte sich geräuschvoll.