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Hans Herlin

Reise ohne Ankommen

Die Tragödie der ›St. Louis‹ 1939

Mit 22 Abbildungen und Dokumenten

Herbig

Die Originalausgabe dieses Buches erschien 1961
unter dem Titel »Kein gelobtes Land«

Dokumentation und Interviews:

Zwy Aldonby, Carl-Heinz Mühmel, Yvonne Spiegelberg

Zeittafel:

Arnim v. Manikowsky

Bildnachweis:

Associated Press 1, European 3, Hapag 4, Anna Herz 1, Eitel Lange 1, Yvonne Spiegelberg 1, Ullstein 1, United Press International 3, Wiener Library 2, Archiv der Buchverlage Langen Müller Herbig 1

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www.herbig-verlag.de

© für das eBook: 2016 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© 1979 Limes Verlag in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte Vorbehalten

Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel

Karte: Eckehard Radehose, Holzkirchen

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7766-8258-8

Inhalt

Zu diesem Buch

1

»St. Louis Extrafahrt angesetzt …«

2

»Situation in Havanna unübersichtlich …«

3

»Kann ich die Passagiere nun an Land lassen?«

4

»Die ›St. Louis‹ hat den Hafen noch am selben Tag zu verlassen!«

5

»Bald werden wir auf der Höhe von Miami Beach sein …«

6

»Heute verhüllt unsere Göttin der Freiheit ihr Gesicht vor Scham …«

7

»Wir wollen nicht zurück … wir stecken das Schiff in Brand«

8

»Belgien, Holland und Frankreich haben ›ja‹ gesagt!«

9

»17. Juni, 14 Uhr, Antwerpen erreicht …«

10

»Die Deutschen werden euch doch erwischen!«

Dokumente

Bildteil

Zeittafel

Personen- und Ortsregister

In memoriam

der Frauen, Kinder und Männer der ›St. Louis‹,

die die Freiheit suchten – und den Tod fanden

Zu diesem Buch

Dieser Bericht erzählt von über 900 Frauen, Kindern und Männern, die an Bord des deutschen Luxusschiffes ›St. Louis‹ dem Land, das ihre Heimat war, zu entfliehen versuchten. Ihre Pässe trugen ein rotes ›J‹. Niemand glaubte, daß sie zu Hauptakteuren in einer der vielen Tragödien werden sollten, die sich 1939 bei der jüdischen Auswanderung abspielten – der Tragödie der ›St. Louis‹.

Noch gab es keinen Krieg. Noch waren die Grenzen nicht geschlossen. Noch fuhren Schiffe in die Freiheit. Aber die Flucht der Neunhundert wurde zu einer dramatischen Irrfahrt über den Ozean. Damals beherrschte diese Geschichte einige Wochen lang die Schlagzeilen der Weltpresse. Aber die ganze Geschichte, warum die Passagiere der ›St. Louis‹ ihr letztes Geld für eine vergebliche und qualvolle Reise hergaben, warum sie nirgends aufgenommen wurden, ist damals nicht bekanntgeworden.

Ich selbst hörte 1947 zum erstenmal von der ›St. Louis‹. Das Schiff lag, nach einem Bombenangriff Ende des Krieges halb ausgebrannt, als Hotelschiff im Hamburger Hafen an den Landungsbrücken. Zehn Jahre später – die ›St. Louis‹ war längst verschrottet – las ich, daß der Kapitän des Schiffes mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet werden sollte. Die Begründung: Verdienste um Volk und Land bei der Rettung von Emigranten.

Bei der Verleihung am 4. Februar 1957 im Dienstzimmer des Präses der Behörde für Wirtschaft und Verkehr sah ich den Kapitän der ›St. Louis‹ zum ersten Mal. Gustav Schröder war damals 72. Er wirkte noch kleiner und zierlicher, als er war. Er schien stolz über die Auszeichnung und doch wieder unbeteiligt, so als nehme er sie für einen anderen entgegen. Nachher kam es unten in der Halle zu einer unerwarteten eigenartigen Begegnung; ein Mann ging, auf seinen Stock gestützt, auf Schröder zu. Sie hätten Brüder sein können, und sie waren wirklich im gleichen Monat und im gleichen Jahr geboren –, er ging auf Schröder zu, er nahm den Stock von der rechten in die linke Hand. Dann sagte er, ohne seinen Namen zu nennen: »Ich habe etwas nachzuholen.« Er streckte dem ehemaligen Kapitän der ›St. Louis‹ die rechte Hand hin.

Schröder nahm sie, ein wenig verwundert. »Sie können mich nicht kennen«, erklärte der Mann. »Ich war damals in Kuba und wartete auf meine Familie. Ich habe erst später erfahren, was Sie für die Passagiere der ›St. Louis‹ getan haben.«

Sein Name war Moritz Heymann. Er war Stellas Vater. Aber Stella und die anderen lebten nicht mehr. Heymann war damals zum ersten Mal wieder in Deutschland. Er wußte, daß Stella und die anderen tot waren. Aber er wußte nicht, wie sie gestorben waren. Er war zurückgekommen, um Gewißheit zu erhalten. – Er hat sie bekommen. Eine bittere Gewißheit.

Ich erfuhr damals längst nicht alles; sie waren beide nicht für viele Worte. Kapitän Schröder war ein Mann, der alles mit sich selber abmachte, und Heymann fürchtete sich vor nichts so sehr als vor Mitleid. Aber was ich erfahren hatte, war genug, um auf der Spur zu bleiben. Ich habe zwei Jahre gebraucht, um sie zu verfolgen. Ich war manchmal daran aufzugeben, denn sie führte allzuoft in die düstersten Sackgassen menschlicher Hartherzigkeit.

Es war eine unheimliche Suche. Achtzehn Jahre waren vergangen. Und dennoch: Ich wußte von Tausend, die auf der ›St. Louis‹ gefahren waren, aber nur wenige haben diese Fahrt und den Krieg überlebt. Sie leben verstreut in der ganzen Welt; in Santiago de Chile, in Tel Aviv, in Toronto und in kleinen Städten der USA. Und einige auch mitten unter uns. Viele waren es nicht.

So habe ich ihre Geschichte erfahren, nach und nach, in kleinen Episoden, in Bruchstücken. Ich hatte nichts zu tun, als zu versuchen, die Bruchstücke ihrer Schicksale zusammenzufügen.

Hans Herlin

Schiff mit der Menschenfracht, die es den Küsten

Wie ein Hausierer seine Ware bietet.

Wo ist das Land, das Menschen kauft, tauscht, mietet? Wo öffnet sich ein Hafen, zu empfangen

Die ausgestoßenen Tausend?

Wo wird der neue Bürger eingetragen?

Wer wagt es, seine Ankunft zu verkünden?

Wir aber leben auch in diesen Tagen

Das Dasein unserer Unterlassungssünden.

Berthold Viertel

15. Juni 1939, ›Aufbau‹, New York*

* siehe Dokumente

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1

»St. Louis Extrafahrt angesetzt …«

Der Mai 1939 war in Hamburg ein Monat mit kalten Winden und grauem Himmel, aber am 13. Mai – am Tag der Ausreise – war es sonnig und fast frühsommerlich warm. Die ›St. Louis‹ lag im Freihafen in Kuhwerder am Schuppen 76, dem Kaiser-Wilhelm-Höft. Es war ein Schiff mit schneeweißen Aufbauten und schwarz-weiß-rot leuchtenden Schornsteinen, auf dem reiche Amerikaner ihre Vergnügungsfahrten machten. Es war ein Schiff, das auf KdF-Reisen nach Norwegen und Madeira fuhr. Es war ein Schiff jener Reederei, deren Slogan hieß: »Es reist sich gut mit der Hamburg-Amerika-Linie.«

Das Schiff ragte hoch aus dem brackigen Wasser. Arbeiter schleppten Kisten mit Proviant die Gangway hinauf. Ein Kran schwenkte aus und hievte eine große Transitkiste über die Hakenkreuzfahne am Heck hinweg zur Ladeluke.

Die Kisten waren im Hafen jedem bekannt. Sie waren massiv gebaut und groß wie Zimmer. Die Beschriftungen waren weithin zu lesen; die Namen der Städte, woher sie kamen und wohin sie gingen: LEIPZIG – NEW YORK, WIEN – MONTEVIDEO, BERLIN – HAVANNA.

Im Hafen hießen sie nur die ›Judenkisten‹.

Vom Zoll versiegelt, standen sie an allen Kais, hunderte; manche schon verwaschen und das Holz aufgequollen vom Regen. Es gab viele Kisten und wenige Schiffe.

Steward Leo Jockel ging am 12. Mai an Bord. Damals war er vierundzwanzig Jahre alt, klein, hager, mit dunklem Haar und einem verschmitzten Gesicht. Er fuhr seit fünf Jahren im Obersee-Dienst. Er sprach vier Sprachen, für jede gab es eine Sonderzulage. Er war Berliner. Er sagte: »Berliner aus New York«, denn er hatte eine kleine Wohnung in Manhattan, ganz in der Nähe des Hafens. Er war einer, dem man gern ein Trinkgeld gibt. Leo Jockel nahm es wie ein König.

Leo Jockel berichtet heute:

»Alles war wie sonst. Wir bezogen unsere Kabinen im Achterdeck. Wir meldeten uns beim Obersteward und bekamen unsere Arbeit zugeteilt. Ich bekam fünf Tische der ersten Klasse und vier Kabinen am B-Deck. Die Kabinen B 104, 106, 108 und 110. In der Borddruckerei wurden die Speisekarten für den ersten Tag gedruckt. Die Bordkapelle probte im großen Speisesaal. Ich putzte mein Silber.

Am Abend vor der Abreise wurden wir zusammengerufen. Wir erfuhren nur, daß die Passagiere von dem Augenblick an, in dem sie die ›St. Louis‹ betraten, als Ausländer zu behandeln seien. Ausländer – das war eine Sprachregelung der Reederei; sie brauchten an den Feiern zum Führergeburtstag oder an den Nationalfeiertagen nicht teilzunehmen. Das war am Abend. Am nächsten Morgen war es natürlich auf dem ganzen Schiff bekannt, daß diese Ausländer Juden waren. Die ›St. Louis‹ nahm auf ihren Vergnügungsreisen sonst höchstens fünfhundert Passagiere auf. Diesmal waren es neunhundert; alles Juden mit deutschen Pässen.

Die ersten kamen gegen Mittag des Dreizehnten an Bord, einem Sonnabend. Besucher waren nicht erlaubt. Um 18 Uhr sollte die Gangway eingezogen werden. Die dienstfreie Besatzung stand hinten am Achterdeck und beobachtete die Einschiffung …«

Auf den Fotografien, die damals bei der Einschiffung gemacht wurden, sieht man, daß die meisten der Passagiere ihre Mäntel über dem Arm tragen. Helles Licht liegt auf dem rot-weißen Markisenstoff über der Gangway.

Es gibt heute in Deutschland noch jemanden, der sich sehr genau an diesen 13. Mai erinnert: Johannes Lüttgens, gebürtiger Hamburger, damals achtundzwanzig Jahre alt. Er hatte nichts anderes im Kopf als Musik. Ihn interessierten nur die Kapellen im Café Heinze und Geschäfte, in denen man noch amerikanische Schallplatten bekam. Sein Vater hielt ihn für einen verlorenen Sohn, weil er die Haare zu lang trug und amerikanische ›Negermusik‹ spielte. Jan Lüttgens war Klarinettist in der zehn Mann starken Bordkapelle der ›St. Louis‹. Es war seine erste Seereise; er war für einen erkrankten Musiker eingesprungen.

Er erzählt:

»Eine lange Schlange von Männern, Frauen und Kindern schob sich an den drei Tischen der Paß-, Devisen- und Zollkontrolle vorbei. Die Beamten hatten ihre Tische im Freien auf der Pier aufgebaut. Niemand drängte. Alles ging fast lautlos zu. Es wurde kaum gesprochen. Nur die Schritte auf den Holzplanken waren zu hören und das schwappende Geräusch des Wassers zwischen der Kaimauer und der aufragenden Metallhaut des Schiffes; hin und wieder ein schriller Schrei der Möwen, die noch abwartend auf den dunklen, vom Wasser vollgesogenen Poldern saßen.

Das An-Bord-Gehen dauerte den ganzen Nachmittag. Die Passagiere öffneten ihr Handgepäck und zeigten den Inhalt vor. Sie reichten den Beamten ihre Pässe über den Tisch und verfolgten ängstlich, was damit geschah. Sie passierten die Kontrollen mit gesenkten Köpfen, und selbst vor der Gangway zögerten sie noch und starrten scheu auf das große Schiff, als erwarteten sie bis zum letzten Augenblick, daß etwas geschehen würde …«

Jan Lüttgens berichtet, er habe das Schiff noch einmal verlassen, um Noten zu holen. Als er zurückkam, war die Schlange vor den Tischen kürzer geworden. Dann sah er Stella zum ersten Mal, noch ohne zu wissen, wer sie war:

»Ich sah das Mädchen vor dem Tisch der Zollkontrolle stehen, in einem dunklen, hochgeschlossenen Samtkleid. Sie war vielleicht achtzehn, hatte tiefschwarzes, zerzaustes Haar, das aussah, als hätte sie es selber geschnitten. Sie hatte große dunkle Augen, die mutigsten Augen, die ich je gesehen hatte. Ihre Mutter, eine Frau mit in der Mitte gescheiteltem Haar und einem dichten Knoten, und zwei kleine Geschwister standen hinter ihr.

Sie hatten nicht viel Gepäck. Der Beamte war mit dem Durchsuchen der Koffer schnell fertig. Sie waren schon auf dem Weg zur Gangway, als plötzlich zwei Männer neben dem Mädchen standen und es wortlos abführten. Das Unheimliche war die Unauffälligkeit, mit der das geschah. Die beiden trugen keine Uniform.

Ich sah, wie sie mit dem Mädchen in einem Lagerschuppen verschwanden. Und ich sah die Mutter, wie sie dastand, die Pässe in der Hand und neben ihr die beiden Kinder, die nicht begriffen, was hier geschah.

Die Frau stand dort, entsetzt und wortlos. Viele Jahre später habe ich so ein Gesicht noch einmal gesehen; das Gesicht meiner Mutter, als wir sie nach dem großen Angriff auf Hamburg aus den Trümmern des Hauses bargen – damals am Kai sah ich ein solches Gesicht zum ersten Mal. Es war alles darin, ihr ganzes Schicksal, wie zum Lesen. Aber es war, als sei es in einer Sprache geschrieben, die ich damals noch nicht verstand …

Sie brachten Stella so unauffällig zurück, wie sie sie geholt hatten. Das Mädchen war noch bleicher und ihre Augen noch größer. Sie sah mich einen Augenblick an. Und ich hörte, wie die Mutter fragte: ›Großer Gott, was war denn …?‹

›Leibesvisitation‹, sagte sie. ›Laß nur, es hat alles sein Gutes. So werden wir wenigstens nie Heimweh haben.‹

Und dann ging sie an Bord, ihre Geschwister an der Hand, eines rechts, eines links. Sie hatten alle drei Platz auf der schmalen Gangway.«

Um 18 Uhr waren alle Passagiere an Bord der ›St. Louis‹. Von den Dokumenten über die Fahrt ist der Bericht des Oberzahlmeisters des Schiffes, Ferdinand Müller, erhalten geblieben. Er vermerkt unter dem 13. Mai:

Ab 15.30 Uhr wurde in der Halle der I. Kajüte und im vorderen und hinteren Speisesaal der Touristenklasse Kaffee und Kuchen und zwischen 18 und 19 Uhr in beiden Klassen ein kleines Abendessen serviert.

Die Gesamtzahl der in Hamburg an Bord Gekommenen beträgt 388 in der I. Kajüte und 511 in der Touristenklasse. In Cherbourg werden weitere 38 erwartet. Besatzungsstärke einschließlich Kapitän 373. Ladung: 68 Tonnen.

Kurz vor acht Uhr machten die Schlepper fest. Es war kühler geworden. Wind war aufgekommen. Die Zehn-Mann-Bordkapelle stand fröstelnd auf dem Achterdeck und machte ihre Instrumente bereit. Nur ganz wenige Passagiere lehnten an der Reling. Die meisten hielten sich in ihren Kabinen auf.

Die Schlepper zogen an, und in ihr klagendes Tuten hinein begann die Kapelle ihr Abschiedslied.

Muß i denn, muß i denn …

Die Musiker spielten vor einem leeren Kai auf dem ausgestorbenen Deck. Sie spielten wie immer. Vielleicht ein wenig schneller als sonst. Dann packten sie ihre Instrumente zusammen. Langsam zog das Schiff hinaus, gefolgt von den Möwen. Ihr zeternder, schriller Schrei hing in der Luft, wenn sie hinunter aufs Wasser stiegen. Die letzten Umrisse des Hafens, die Konturen der Stadt verschwanden. Vorab tauchten die Lichter des Süllberg auf.

Im obersten Stock des ehemaligen Parkhotels an der Elbchaussee 277 beobachtete der diensttuende Beamte vom Schiffsmeldedienst das näher kommende Schiff. Er ging zum Fenster. Linker Hand lag die Lotsenstation; rechts leuchteten die Lichter der Deutschen Werft in Finkenwerder.

Er starrte in die Dunkelheit, dem immer größer werdenden Schatten entgegen. Er brauchte kein Glas; er erkannte die ›St. Louis‹ an den Aufbauten, und er machte in seinem Meldebuch folgende Eintragung: 13. Mai 1939. Finkenwerder-Zeit 20.30 Uhr. Groß-Hamburg ausgehend.

Nation: Deutsch.

Art: Motorschiff.

Name: ›St. Louis‹.

Reederei: Hapag.

Tonnage: 16 732 BRT.

Zielhafen: Havanna.

Der Beamte ging noch einmal zum Fenster. Das erleuchtete Schiff zog vorüber. Jetzt nahm er sein Glas. Keine winkenden Menschen an der Reling. Niemand zu sehen. Nur die Schatten der Männer auf der Brücke.

Der Mann auf der Brücke, dem die neunhundert Passagiere anvertraut waren, der Kapitän der ›St. Louis‹, Gustav Schröder, fuhr seit zwanzig Jahren bei der Reederei. Er galt als einer der zuverlässigsten Kapitäne.

Zur Zeit dieser Fahrt – der 98. der ›St. Louis‹ – war er vierundfünfzig Jahre alt. Bilder aus jenen Tagen zeigen den schmächtigen Körper, die Kapitänsmütze, die ihm trotz des eingelegten Papierstreifens immer noch bis auf die Ohren rutscht, sie zeigen viel Bitterkeit um den Mund und viel Güte in den Augen.

Der Kapitän war als letzter an Bord gekommen, kurz vor der Ausfahrt und schon bei beginnender Dämmerung. Er trug, wie immer, wenn er an Land ging, Zivil; einen alten verwaschenen Trenchcoat. Er kam mit einer Aktentasche vom Bürohaus der Hapag aus der Ferdinandstraße. Dort hatte er seine letzten Instruktionen für die Fahrt erhalten. Schröder war an diesem Abend sehr niedergeschlagen. Er sprach mit niemandem. Er zog sich in seiner Kabine um und erschien in Kapitänsuniform auf der Brücke.

Wie es zu dieser Fahrt der ›St. Louis‹ kam, weiß der damalige Direktor der Hapag, Claus Gottlieb Holthusen, ganz genau: »Damals buchten immer mehr Juden, die noch ausreisen konnten, unsere Schiffe; nach Ostasien, hauptsächlich Shanghai, nach New York und nach Südamerika. Die Nachfrage war so stark, daß wir die meisten abweisen mußten. So viele Plätze hatten wir gar nicht. Sie standen Schlange vor unseren Reisebüros. Das Ganze war schon eine Transportfrage geworden. Besonders nach Südamerika war es schwierig, sie unterzubringen. Wir fuhren dorthin mit vier Schiffen, der ›Caribia‹, der ›Cordillera‹, der ›Iberia‹ und der ›Orinoko‹. So waren wir froh, als wir ein Schiff frei hatten, das zwischen zwei Reisen eine Sonderfahrt machen konnte, die ›St. Louis‹. Ende Juni sollte sie von New York aus eine Vergnügungsreise machen, mit Amerikanern. Es blieb also noch genug Zeit, um eine Sonderfahrt nach Kuba einzuschieben.

Wir standen damals mit allen Stellen, die mit der jüdischen Auswanderung zu tun hatten, in dauerndem Kontakt. So haben wir dem Leiter der europäischen jüdischen Vereinigung in Paris, Morris Troper, mitgeteilt, daß wir dieses Schiff frei hatten. Die Antwort war: ›Ja, sehr schön, aber wir haben eine große Sorge, hoffentlich werden die Länder nicht nervös, wenn mit einem Mal ein so großer Schub ankommt.‹«

Sie gaben die Warnung an die Reederei weiter; mit halbem Herzen, denn sie wußten am besten, wie bedrohlich die Lage der Juden in Deutschland war.

»Wir konnten nur sagen«, berichtet der Direktor der Hapag weiter: »Hier ist die Möglichkeit, fast tausend Menschen herauszubringen. Unsere Bedingungen sind: die Passagiere zahlen die Hinreise – 800 Mark in der ersten Klasse und 600 Mark in der Touristenklasse – ohne alle Extras; aber sie müssen für alle Fälle, falls wir sie nicht landen können, 230 Mark für die Rückreise deponieren. Damit war das Komitee einverstanden. Und so wurde der Start der Abreise festgesetzt.

In einem Kabel vom 15. April 1939 telegrafierten wir an unsere Agentur in Havanna:

ST. LOUIS EXTRAFAHRT ANGESETZT DREIZEHNTEN MAI AB HAMBURG NACH HAVANNA, RÜCKREISE CIRCA ERSTEN JUNI.

Es gab da noch Schwierigkeiten mit den Landepermits für Kuba. Der größte Teil der Passagiere der ›St. Louis‹ war im Besitz dieser Permits, die von der kubanischen Immigrationsbehörde ausgestellt waren. Diese waren am 4. Mai in Havanna plötzlich für ungültig erklärt worden. Aber drei Tage vor der Abfahrt erreichte uns die schriftliche Zusicherung, daß die Passagiere der ›St. Louis‹ in Havanna an Land dürften.

Nun wußten wir allerdings, daß noch zwei andere Schiffe unterwegs nach Kuba waren, ein englisches Schiff, die ›Orduna‹, und ein französisches Schiff, die ›Flandre‹. Auch sie hatten jüdische Emigranten an Bord. So bekam der Kapitän der ›St. Louis‹ von uns den Auftrag, alles zu tun, um vor diesen Schiffen Kuba zu erreichen.«

Das war die Situation bei der Abfahrt. Und das war es, was Kapitän Schröder bedrückte, als er auf der Brücke seines Schiffes stand.

An Bord der ›St. Louis‹ war es in dieser ersten Nacht sehr ruhig. Die Bars und Tanzsäle blieben leer. Es war, als wagten die Passagiere noch immer nicht daran zu glauben, daß ihr Ausgangsverbot aufgehoben war; an Land, in Deutschland, hatten sie ihre Wohnungen von abends 20 Uhr bis morgens um 6 Uhr nicht verlassen dürfen. Um 1 Uhr passierte die ›St. Louis‹ das Feuerschiff Elbe I. Draußen war es wolkig bis bedeckt, bei leichten Regenschauern. Der Seewetterdienst meldete Windstärke 5 bis 6. Es war jetzt Sonntag, der 14. Mai 1939.

In den sechs Wohndecks der ›St. Louis‹ – vom hellen Bootsdeck bis hinunter zum D-Deck, wo das Vibrieren der Maschinen nie verstummte – waren 409 Männer, 350 Frauen und 148 Kinder untergebracht, 258 Familien.

Sie hießen Hoppe, Bergrün, Michaelis, Lustig und Schoeps. Wassermann, Danziger, Friedman und Tischauer. Sie kamen aus Gleiwitz, Berlin, München, Hindenburg und Stuttgart, aus Rheydt, Breslau, Salzwedel und Bielefeld. 872 waren Deutsche, 23 Polen. 9 kamen aus der Tschechoslowakei, 5 aus Ungarn. 21 waren ohne Staatsangehörigkeit.

Unter den Neunhundert waren gläubige Juden, die nur Koscheres aßen, und andere, die erst durch das rote ›J‹ in ihrem Paß daran erinnert wurden, daß sie Juden waren.

Es waren angesehene Anwälte, kleine Handwerker, Kaufleute und Ärzte. Auf die einen warteten reiche Verwandte, andere hatten sich mit der Schiffskarte nur eine Freiheit erkauft, die ins Nichts führte. Und doch glichen sich die Neunhundert der St. Louis in einem: Sie waren alle gleichsam Auserwählte. Sie hatten eine Welt verlassen, die zur selben Stunde die Grenzen befestigte, die Heere einberief und zum Krieg rüstete. Für Hunderttausende, die zurückblieben, würden nicht mehr viele Schiffe fahren.

Der Rapport des Oberzahlmeisters der ›St. Louis‹ berichtet über diese ersten Tage nach der Abfahrt:

14. Mai: Verschiedene Passagiere äußern den Wunsch, rituelle Verpflegung zu erhalten. Unter Hinweis darauf, daß kein koscherer Proviant an Bord sei, wurde darauf aufmerksam gemacht, daß die Speisefolge so zusammengestellt sei, daß zu jeder Mahlzeit Eier, Fischspeisen und dgl. bestellt werden können.

15. Mai: Schon gleich nach der Abfahrt in Hamburg setzte wegen der starken Belegung der Kabinen eine große Nachfrage nach Umbettungen ein, besonders von Ehepaaren, die getrennt untergebracht waren. Da jedoch nur wenige Plätze freigeblieben waren, konnte den Wünschen der Reisenden nur in beschränktem Maße entsprochen werden. Erreichen Cherbourg um 9.30 Uhr. Die Einschiffung der ab hier gebuchten 38 Passagiere erfolgte nach Ankunft des Pariser Zuges um 14.30 Uhr. Unter den Passagieren befinden sich 6 Kubaner und Spanier, alle übrigen sind nichtarische Auswanderer.

16. Mai: Um allen Reisenden Gelegenheit zu geben, den Kinovorführungen beizuwohnen, werden die Filme für die frühe und späte Tischordnung getrennt vorgeführt. In der I. Kajüte sind die Spielzeiten auf 19.30 Uhr und 21.30 Uhr festgesetzt worden. In der Touristenklasse werden die Filme um 9.30 und 20.30 Uhr vorgeführt. Die beiden Kapellen werden abends jeweils dort beschäftigt, wo keine Kinovorführung stattfindet.

19. Mai: Heute wurde das auf Luke V auf gebaute Schwimmbad in Betrieb genommen. Dasselbe ist von 6 bis 18 Uhr geöffnet, und zwar vormittags für die Reisenden der I. Klasse und nachmittags für die der Touristenklasse.

20. Mai: Zur Abhaltung von Gottesdiensten am jüdischen Sabbat und an den auf Mitte der nächsten Woche fallenden Feiertagen wurde die Halle der I. Kajüte zur Verfügung gestellt. Die orthodoxen Juden halten ihre Gebetsübungen im hinteren Damenzimmer der Touristenklasse ab.

21. Mai: Die Überfahrt war von herrlichem Wetter begünstigt. Die Passagiere haben sich schnell an Bord eingewöhnt. Während des Tages herrschte reger Betrieb auf den Promenadendecks und auf dem Sportdeck. Abends wurden in der Halle der I. Kajüte und in beiden Speisesälen der Touristenklasse abwechselnd Kino, Konzerte, Tanz-, Bockbier-, Winzer- und Kostümfeste veranstaltet. Die Abendunterhaltungen waren immer sehr stark besucht. Von allen Seiten wurde immer wieder zum Ausdruck gebracht, daß die Verpflegung und Bedienung ausgezeichnet sei und alle Erwartungen übertreffe.

Man muß wissen, was diese Menschen hinter sich hatten, um zu verstehen, was das für sie bedeutete. Jahrelang hatten sie wie Ausgestoßene gelebt. Hier gab es ein Kino für Menschen, die seit Jahren nur die Schilder über den Kassen kannten: ›Juden unerwünscht!‹ – die neuesten Filme: ›Bel Ami‹ mit Willy Forst, ›Wasser für Canitoga‹, in der Hauptrolle Hans Albers, Zarah Leander in ›Zu neuen Ufern‹, ›Das unsterbliche Herz‹ mit Heinrich George. Ein Schwimmbad für Menschen, die keine Badeanstalt, keine Schwimmhalle oder Sauna betreten durften.

Liegestühle an Deck und ein höflicher Steward, der morgens um zehn Uhr heiße Brühe reichte – für Menschen, die in den Parks und Anlagen Bänke sahen mit der Aufschrift ›Nur für Arier!‹

Ein Gebetsraum für die, deren Gotteshäuser man angezündet und geplündert hatte. »Wir sahen nur freundliche Blicke«, erzählt Wolfgang Philippi, der damals als Siebzehnjähriger an Bord kam und der heute in Chile lebt. »Ein guter Geist schien alle über unser Schicksal aufgeklärt zu haben. Es war ein ganz neues Gefühl, zu wunderbar, um daran zu glauben …«

Am 20. Mai passierte die ›St. Louis‹ die Azoren. Die normale Schiffsroute lag südlich der Inselgruppe. Der Funker der ›St. Louis‹ hatte eine Positionsmeldung der ›Orduna‹ aufgefangen. Die ›Orduna‹ war eines der Schiffe, die auch nach Kuba unterwegs waren. Der 15 507 BRT große britische Dampfer kam aus Liverpool und hatte, neben anderen Reisenden, 154 Juden aus Deutschland, Polen und der Tschechoslowakei an Bord. Bei der Ausfahrt hatte die ›St. Louis‹ noch einen Vorsprung von 38 Stunden vor der ›Orduna‹ gehabt. Nach der letzten Positionsmeldung waren es nur noch 12 Stunden. Das dritte Schiff, das sich an dem Wettrennen nach Kuba beteiligte, war die französische ›Flandre‹, 8575 BRT groß. Sie kam aus St. Nazaire mit 104 zum größten Teil aus Österreich geflüchteten Juden. Der Vorsprung vor der ›Flandre‹ betrug 24 Stunden. Nachdem die Meldung von der ›Orduna‹ eingegangen war, hatte sich Kapitän Schröder entschlossen, nördlich der Azoren zu fahren; er sparte so etwa 75 Seemeilen, oder fünf Stunden. »Wir wußten bis jetzt sehr wenig von unseren Passagieren«, geht aus Berichten Kapitän Schröders hervor. »Ein Schiff auf hoher See, schönes Wetter, gute Bedienung – das ist eine Welt, in der die meisten Menschen auftauen und gesprächig werden. – Diese Passagiere wurden nicht gesprächig. Ich habe an drei Tagen die Brücke zur Besichtigung freigegeben, es kamen nur wenige.

In Hamburg, vor der Ausreise, habe ich die Offiziere der ›St. Louis‹ zusammengerufen. Ich habe ihnen klipp und klar gesagt: ›Wer diese Fahrt nicht mitmachen will, wer glaubt, daß er mit sich in Konflikt kommt, der kann von Bord gehen, sofort.‹ Keiner hat sich gemeldet. Alle machten diese Fahrt mit, und wir bemühten uns alle um unsere Passagiere.«

Leo Jockel, der Steward, tat seinen Dienst wie bei jeder Fahrt. Er kannte jetzt die Namen seiner Passagiere in den vier Kabinen im B-Deck, die er betreute – nicht viel mehr. In B 108 wohnte ein älterer Mann mit seiner Frau, das Ehepaar Weiler; er war ein Professor aus Köln. B 106 war belegt mit zwei Personen: zwei Kubanern, die in Cherbourg an Bord gekommen waren. B 110, die Außenkabine, bewohnten die Heymanns. Sie waren Berliner. Die Mutter hieß Liesel Heymann. Irma und Steffi, die beiden kleinen Kinder, waren sechs und sieben Jahre alt. Und Stella.

Auch B 104 war erst in Cherbourg belegt worden. Dort war Arthur Heymann an Bord gekommen. Ein junger Mann von sechsundzwanzig Jahren, Stellas Bruder.

»Ich hatte herausbekommen«, erzählt Leo Jockel, »daß der Vater der Familie, Moritz Heymann, nach Kuba vorausgefahren war, aber das war auch alles. Ein Steward weiß meist nach ein paar Tagen alles von seinen Passagieren, aber hier stand man wie vor einer Mauer. Ich bin jeden Abend bis elf Uhr aufgeblieben, aber nie hat man nach mir geklingelt. Und ihre Kabinen! Eine Kabine ist sonst nach ein paar Tagen wie ein Zuhause, da stehen Bilder, da liegen Bücher herum, da gibt es Blumen. Die Kabinen meiner Passagiere waren so nüchtern und schmucklos wie am ersten Tag. Die Betten sahen aus, als hätte niemand darin geschlafen, und die Teppiche lagen genauso rechtwinklig, wie ich sie ausgelegt hatte. Nur bei Arthur Heymann, Stellas Bruder, bei dem kannte man sich aus. Er machte keinen Hehl daraus, daß er uns haßte.

Dieser Arthur hatte Deutschland schon 1935 verlassen. Er war nach Holland gegangen, nach Amsterdam. Er hatte dort in einem Schiffskontor gearbeitet. Als er in Cherbourg an Bord kam, verlangte er, ich solle ihn Arthur Israel Heymann nennen. Sie mußten diese Vornamen tragen, die Männer Israel, die Frauen Sara, aber er war der einzige, der stolz darauf war …«

Nach zehn Tagen näherte sich die ›St. Louis‹ den Bermudas. Die See war ruhig, und der Atlantik war das Abbild des wolkenlosen sonnigen Himmels, eine weite, glänzende Fläche. Der Bordfotograf mußte Überstunden, machen, um nachts die Bilder zu entwickeln, die er am Tage aufnahm. Die Passagiere schienen sich eingelebt zu haben.

Jan Lüttgens, der Klarinettist der Bordkapelle, hatte Stella in diesen ersten zehn Tagen der Reise kaum gesehen. Ihren Namen hatte er von Leo Jockel erfahren, aber er sah sie weder beim Tanzen noch bei den anderen Mädchen, die in der Turnhalle Tischtennis spielten. Schließlich entdeckte er sie bei den Kindern im Spielzimmer. Stella hatte die Aufsicht über die Kinder übernommen.