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ISBN 978-3-492-97464-6

© Piper Verlag GmbH, Berlin / München 2016

Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Illustration des Autors

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Inhalt

Cover & Impressum
Widmung
Abschlag
I - Quimp

1

2

3

4

5

II - Blind

6

7

8

III - Belfast

9

IV - Erwachen in Gold

10

11

Das Leben zwischen 33 und 34

12

13 oder (für die, die 13. Reihen und 13. Stockwerke meiden) 14

Umweg

15

16

Krieg

17

18

19

20

21

22

23

24

25

Pause

26

27

Rückkehr

28

29

30

31

32

33

Das Kapitel zwischen dem 33. und 34.

34

35

36

37

38

Drei Schritte nach rechts

Endnote

Für Bruno, der die Sperks erfand.

*

Und außerdem für alle außer Horst.

Abschlag

»Du stehst falsch, Schatz.«

Ich dachte mir: »Na, das kommt drauf an.« Und genauer: »Das kommt drauf an, was man vorhat.«

Ich spürte, wie die Frau, die mich »Schatz« nannte, von hinten meine beiden Schultern berührte und mit leichtem Druck versuchte, meinen Körper in eine Position zu dirigieren, die geeignet war, den Golfball hinunter auf den Fairway zu spielen. Statt hinein in die Bäume, wie zu befürchten war, sollte ich so stehenbleiben, wie ich stand.

Über den Sinn des Golfspiels kann man streiten. Erst recht, wenn der Spieler blind ist. Richtig blind. Mein Augenlicht ist vor Jahren verloschen. Vieles kenne ich von früher, als ich noch sehen konnte. Etwa auch diesen Golfplatz, der sich glücklicherweise kaum verändert hat.

Im Wissen um das eigene langsame Erblinden schaut man sich die Welt sehr viel genauer an, als wenn man sich ihres Anblicks sicher zu glauben meint. Welcher Sehende könnte aus dem Gedächtnis schon sagen, wo denn alle Dinge stehen und wie ihre äußere Form beschaffen ist? Wobei ich nicht sagen will, die visuelle Welt auswendig gelernt zu haben sei ein guter Ersatz für die Schlampigkeit derer, die sehen. Natürlich wäre ich lieber geblieben, was ich war: ein nachlässig Sehender statt ein genauer Blinder. Doch das ging eben nicht. Die Blindheit zwang mich zur Präzision.

Freilich stolpern auch Blinde. Und auch blinde Golfspieler stehen mitunter falsch zum Ball, falsch zum Platz und zielen in die falsche Richtung.

Die Frau hinter mir – eine gute Freundin, die sich die spezielle Anrede erlauben durfte – meinte also, mich ein wenig umlenken zu müssen, damit ich meinen Ball nicht ins sogenannte Rauhe schlug, einen Bereich unberührter oder wenigstens fast unberührter Natur. Wobei das Rauhe an dieser Stelle gar nichts Rauhes hatte, eher lieblich zu nennen war: ein Wäldchen aus hohen Bäumen und Hecken, so gut wie undurchdringlich, an dessen Rand ich Jahre zuvor einmal einen Parasol gefunden hatte, also einen Gemeinen Riesenschirmling, einen herrlichen Speisepilz. – Klar, das Pilzesammeln hatte ich aufgegeben, das wäre dann doch zu weit gegangen; als Pilze sammelnder Blinder wäre ich mir wie ein Clown vorgekommen.

Ach ja?! Und kleine Bälle blindlings in ebenfalls nicht sehr große Löcher zu schlagen, war das keine Clownerie? – Nun, es war nicht so, daß ich einbeinig oder einarmig auf Berge stieg und dabei die Luft anhielt oder auf einem Rollstuhl einen ganzen Marathon auszusitzen versuchte, sondern ich schlug meinen Ball in der gewohnten Weise über den mir vertrauten Platz. Wobei ich diesen Ball sogar besser wahrnahm als früher. In der Dunkelheit, in der ich nun lebte – mehr ein Blau als ein Schwarz, aber das satteste Blau, das sich denken läßt –, erschien mir der Ball als ein großer, fetter Leuchtkäfer. Gut, das war natürlich ein eingebildeter Ball, doch er befand sich stets exakt an der Stelle, wo ich auch den tatsächlichen Ball plaziert hatte. Während wiederum die Landschaft vor meinem geistigen Auge etwas von einer Skizze besaß: zarte Linien, umrißartig, aber perfekt gestrichelt. Ein Golfplatz, gezeichnet wie von Gustav Klimt – eine nackte liegende Dame als domestizierte Natur. (Ich bin mit Klimt aufgewachsen, meine Mutter liebte ihn. Und überall sehe ich seine Frauen eingebunden, erst recht, seitdem ich blind bin.)

Ich stand also ein wenig falsch und bemerkte die leichte Irritation meiner Golffreunde, die so etwas nicht gewohnt waren. Noch nie war ich falsch gestanden, schon gar nicht beim Abschlag.

Ich aber beharrte: »Ich bin schon richtig, danke.«

Die Hände der guten Freundin glitten von meinen Schultern, als hätte mir jemand zwei kleine Singvögel heruntergeschossen.

Worauf ich erklärte: »Heute versuche ich mal einen Double Albatross.«

Nun, das war absurd, weil man einen Double Albatross nicht versuchte. Man kündigte ihn nicht an, sondern er geschah wie ein Wunder. Und zwar ein seltenes, was zu einem Wunder wiederum bestens paßt.

Double Albatross bedeutete, daß man auf einer Bahn, für die ein Topspieler durchschnittlich fünf Schläge benötigte, mit einem einzigen Schlag einlochte, einem Hole-in-one. Etwas, was den normalen Bedingungen und Möglichkeiten einer Anlage widersprach, die ja ganz darauf ausgerichtet war, es einem schwer und nicht leicht zu machen. Einen solchen Schlag gab es derart selten, daß man nicht einmal darauf wetten konnte (und heutzutage auf etwas nicht wetten zu können war an sich schon ein Wunder. Das ganze Leben kann einem als eine Wette erscheinen und darin die Wirtschaft als die Wette schlechthin – aber das galt offensichtlich nicht dafür, auf einen doppelten Seevogel zu setzen).

Realistisch wurde ein solcher Schlag nur, wenn die Architektur des Platzes sowie die Architektur des soeben blasenden Windes dies zuließen und somit ein perfektes, wenngleich verrücktes »Haus« entstand. Und natürlich der Spieler selbst verrückt genug war, das Wesen dieses Hauses zu erkennen und nutzen zu wollen.

Ich war verrückt genug. Und blind. Sehend hätte ich es gar nicht erst versucht.

Die Spielbahn, an dessen Abschlagbereich wir standen, hatte in etwa die Form eines Bumerangs, auf dessen längerem rechten Flügel wir uns aufhielten, während das weit entfernte Loch am Ende des etwas kürzeren linken Flügels lag. In der Tat wurde dieser Fairway intern der »Australian Way« genannt. In der gewaltigen Achselhöhle, die zwischen den beiden Flügeln und der verbindenden Biegung lag, befand sich jenes Rauhe in Gestalt einer dichten und üppigen und windbewegten Waldlandschaft, in der auch schon mal Pilze wuchsen und eine kleine Tierwelt versammelt war. Um auf dieser Spielbahn einen Double Albatross zu spielen, ihn zu wagen, war es also nötig, daß man die beträchtliche Strecke von 450 Metern mit all ihren schmucken Hindernissen umging und stattdessen den Ball in direkter Linie über das Waldstück schlug. Auf daß der Ball auf der anderen Seite landen und den steil abfallenden Hang hinunter zum sogenannten Grün rollen konnte, also zu jenem besonders kurz geschorenen Bereich, der im Vergleich zu den anderen Rasenflächen eines Golfplatzes gar nicht so grün wirkt, eher blaß: ein krankes Grün, ein Grün mit Migräne. Darin das zielgebende Loch.

Keine Frage, die Wahrscheinlichkeit, daß der Ball in den Wald flog und dort einen Hasen oder ein Reh traf, war um einiges größer (dafür hätte sich vielleicht sogar ein Wettbüro gefunden), als ihn über die Wipfel oder durch die Lücken im Geäst zu schlagen und ungebremst auf die andere Seite zu befördern, hinein in das migränoide Grün und von diesem ins Loch.

Aber genau das war es, was ich vorhatte. Nicht zuletzt, weil ich den günstigen Wind bemerkte und mir die feine Landschaftsskizze in meinem Kopf – die auf ihre linke Seite gebettete dösende Klimt-Frau – eine vorzügliche Flugbahn suggerierte, wie in einem Video, wenn die eingeblendete Flugkurve dem Zuseher die ideale Zukunft eines Schlags vorgaukelt. Die beste aller möglichen Welten dank des besten aller möglichen Winde.

Ich erklärte also meinen Freunden, ich würde schon richtig stehen, faßte den Schläger in einer Weise, als würde ich ein Seil halten, an dem drei Kinder – und eins der Kinder mit einem Hund im Arm – über einem Abgrund hängen, holte weit aus und traf den Ball, wie ich ihn noch nie zuvor getroffen hatte.

Ich schwang den Schläger durch, atmete aus und schaute dem Ball hinterher.

Blind, wie ich war, sah ich ihn noch, da war er bereits aus unserem Blickfeld geraten.

*

Ein Buch ist nichts anderes als eine Vorbereitung auf das Sterben – und auf das, was danach kommt, gleich, ob es sich um ein ewiges Gähnen, eine Wiederholung, eine Verwandlung oder um eine Party handelt, eine Party, bei der endlich einmal niemand zu kurz kommt.

I

Quimp