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SPHINX

Anne Garréta

Mit einem Nachwort von
Antje Rávic Strubel

Aus dem Französischen von
Alexandra Baisch

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© Isabelle BOCCON GIBOD/Opale/Leemage

A

nne Garréta wurde 1962 in Paris geboren. Sphinx, erschienen 1986 bei Grasset, ist ihr erster Roman. Die amerikanische Übersetzung erregte 2015 großes Aufsehen. Garréta arbeitet als Dozentin an der Université de Rennes 2 und an der Duke University in North Carolina, USA. 2000 wurde sie aufgrund von Sphinx in den Autorenkreis Oulipo aufgenommen – als erstes Mitglied, das nach der Gründung der Gruppe (1960) geboren wurde. Sie hat bisher sechs Romane geschrieben, zuletzt Éros mélancolique (mit Jacques Roubaud), erschienen 2009. Für ihren Roman Pas un jour erhielt sie 2002 den Prix Médicis, der jährlich für das Werk eines großen, aber viel zu unbekannten literarischen Talents verliehen wird.

1. Auflage

© 2016 editionfünf

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

aus dem Französischen von Alexandra Baisch

© Editions Grasset & Fasquelle, 1986

Lektorat: Kirsten Gleinig, Karen Nölle

ISBN 978-3-942374-83-5

www.editionfuenf.de

To the third.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Nachwort

1

M

ich zu erinnern, macht mich traurig, auch nach all den Jahren noch. Wie vielen genau, weiß ich nicht mehr. Zehn, vielleicht auch dreizehn. Warum nur muss ich auf ewig in der Erinnerung, im Gedenken leben? Die Seele, schwer vom vielen Wissen, wünscht sich Verleiblichung; der Körper, müde vom vielen Nachdenken und zugleich machtlos, ist so von Unlust ergriffen, dass ihn nichts, fast nichts mehr ablenkt. Wenn ich mich recht entsinne, beschrieb ich damals die Welt als Theater, als makabren Ball der Triebe, auf dem Kadaver in Formation tanzten. Verachtung und Abwehr hinderten mich nicht, das Geschehen von Liebeswalzer zu Liebeswalzer zu verfolgen. Müde Nächte im Spiel von synkopierten Rhythmen, flüchtigen Frequenzen; der Weg zur Hölle von schwachen Laternen beleuchtet wie von Sternen; die Sohle des Abgrunds immer dichter vor Augen. An den glatten Wänden des Strudels, in dem ich kreiste, sah ich verzerrte Bilder von ekstatischen, gemarterten Körpern und hörte ihr heiseres Röcheln.

Doch ich rutschte weiter und konnte weder mein Herz verlieren noch mich losreißen oder mit meinem Schicksal brechen, indem ich mich der Faszination entzog. Wäre es wirklich ein Verrat, mich der Gnade zu verweigern, wo ich sie undenkbar fand? War es ketzerisch zu meinen, die bewusste Durchquerung der Hölle würde geradewegs zur Erlösung führen? »Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest. Du würdest mich nicht wollen, wenn du mich nicht einst in deinen Armen gehalten hättest.«

Diese Arme, diese Süße, die vielen Szenen, die mir noch in der Erinnerung heiß durch die Sinne ziehen. A*** tanzte: ich saß abendelang im Eden, einem angesehenen Cabaret an der Rive Gauche, und wartete auf den Auftritt. Und wer wäre nicht für diese lange Gestalt entbrannt, für diese wie von Michelangelo gemeißelte Muskulatur, die seidige Haut, der nichts gleichkam, was mir bis dahin begegnet war? Ich legte damals fünfmal in der Woche als DJ im Apocryphe auf, einer seinerzeit angesagten Disco.

Ich schaffe es nicht, mir die ersten Eindrücke von A*** richtig in Erinnerung zu rufen. Meine Tatenlosigkeit, das Treibenlassen in der Welt, bei dem ich nichts steuere, weder plötzlichen Irrwitz noch das Versinken in Niedergeschlagenheit, hat mir schon immer die Freiheit zu Ablenkungen aller Art und den verrücktesten Abschweifungen eröffnet. Ich muss A*** damals zum ersten Mal gesehen haben, als ich in einem Cabaret niedergeschlagen und schlecht gelaunt auf ein Ballett stierte, bei dem ich die einzelnen Körper auf der Bühne gar nicht zu unterscheiden versuchte. Ein freundlicher Trinkgenosse hatte mich nach der Disco, wo wir uns den Abend über in unseren Enttäuschungen ergangen hatten, dorthin geschleppt. Ich nahm den undeutlichen Anblick, der sich mir bot, kaum wahr, aber es muss mir etwas aufgefallen sein: Unter der Oberfläche begann etwas zu arbeiten. Das, was blind auf meine Netzhaut getroffen war, bohrte sich in mein Hirn, grub sich ein. Denn wenn ich mich später fragte, was diesen Ort so verlockend machte, tauchte es immer wieder auf. Ohne dass ich hätte sagen können, warum, hatte ein Körper, ein ganz bestimmter Körper, den ich gar nicht explizit ausgemacht hatte, dem Ort etwas Verführerisches gegeben, das ihm blieb und dessen Grund ich nicht erfassen, dessen Wurzel ich nicht erkennen konnte.

Kurz nach diesem ersten Abstecher ins Eden schleppte mich Tiff, eine meiner damaligen Freundinnen, die von einer Akrobatin zur Striptease-Tänzerin geworden war, auf ihrer Runde durch die Cabarets mit. Damit erfüllte sie mir einen lang gehegten Wunsch: zum Schatten eines Körpers zu werden, dem das Scheinwerferlicht den eigenen Schatten raubte. Sie hatte mich gegen zehn Uhr abends in eines dieser riesigen Cafés an der Place Pigalle bestellt. Es war Herbst. Auf dem Weg zu meiner Verabredung lief ich gegen einen wirren Strom dahineilender Menschen an – wohin wollten sie nur so schnell? –, die zugleich wachsam waren und ihre Schritte vorsichtig setzen. Eine Prostituierte, ausstaffiert mit Strumpfbändern und Lederriemen als einziger Kleidung, kreuzte meinen Weg. Ihr Oberkörper, die Gelenke und Gliedmaßen waren mit schwarzen Lederbändern und Metallschnallen verschnürt und in Szene gesetzt. Bei ihrem Nachtschwärmerballett auf dem Bordsteinrand mutete sie an wie ein Gladiator oder ein Stück Vieh im Geschirr. Sobald ich an ihr vorbei war, drehte ich mich um und betrachtete ihren Aufzug in allen Einzelheiten. An diesem Boulevard trifft man überall auf diese Boutiquen, halb Sexshop, halb Geschäft für erotische Dessous, die alles für ein solches Outfit bieten. Ein Stück weiter blieb ich vor dem halbverhängten Schaufenster eines solchen Ladens stehen. Gab es wirklich noch Frauen, die diese blutroten Mieder trugen, die ich zwischen lila Strapsen und durchsichtigen Spitzenhöschen sah? Darüber sann ich im Weitergehen nach, als ich plötzlich in den breiten Lichtkegel trat, der am Eingang eines Cabarets auf den Bürgersteig und die Treppe davor fiel, und mir wieder das Licht auf der Bühne des Eden während des Finales vor Augen stand, wie es sich über den letzten tanzenden Körper ergoss. Flüchtig durchzuckte mich das Verlangen, dahin zurückzukehren, das Gefühl, dort etwas verloren zu haben.

Mit schnellem Schritt ging ich weiter zum Café an der nordwestlichen Ecke des Platzes, an dem ich soeben angekommen war. Am Tresen lehnten dichtgedrängt Nordafrikaner in abgetragenen Anzügen. Die Neonlampen warfen schmutziges, schmieriges Licht auf diese unsteten Gestalten. Tiff stand in der Nähe der Kasse und unterhielt sich mit einem der Kellner. Ich erkannte sie am Glanz ihrer im dichten Rauch der Zigaretten nur matt schimmernden Pailletten und Strasssteinchen. Tiff hatte die Angewohnheit, mich, sobald sie mich erblickte, lauthals zu begrüßen. Durch ihre Kurzsichtigkeit – ihre Eitelkeit hinderte sie daran, diese korrigieren zu lassen – verringerte sich glücklicherweise die Reichweite dieses Zurufs: ein Hallo begleitet von so vielen Kosenamen, dass ich in der ersten Zeit unserer Freundschaft immer rot anlief. Da mir diese Begrüßung aber an jedem Ort, an dem ich verkehrte, entgegenschallte, hatte sie bald nichts Befremdliches mehr. Doch hier, in diesem Café, das nur so nach Angst und Gewalt roch, »mein Schätzchen«, »mein Täubchen« gerufen zu werden, ließ mir bange, nervöse Schauer über den Rücken laufen. Inmitten der arabischen Klänge und der Zurufe der Kellner, die ihre Bestellungen weitergaben, mussten solche Donnerschläge doch alles zum Erliegen bringen. Allerdings schien keiner bemerkt oder auch nur gehört zu haben, was mich so überaus besorgte. Fast hatte ich den Eindruck, als wäre ich ein Resonanzkörper und verstärkte ungewollt alle um mich herum schwirrenden Geräusche und Gespräche. Die schwachsinnige Musik des Flippers und das Hämmern der Knöpfe, auf die gedroschen wurde, hallten schmerzvoll in mir wider wie Schläge auf den Schädel. Wie ein Blitzlicht war Tiffs Stimme in mein Gehirn gedrungen. Die Erschütterung setzte sich in meinem Innern als Beben fort, sodass eine Unruhe entstand, eine Empfindlichkeit oder Spannung. Sie hatte mit dem Gedanken an das Eden zu tun, der mir durch den Kopf gegeistert war, und es gab einen ersten Riss: einen Riss im Schleier, der meine Wahrnehmung blockiert hatte und diese nun ungeschützt allen Eindrücken der Umgebung aussetzte.

Tiff bestellte uns beiden einen erstklassigen Weinbrand und einen Kaffee und teilte mir die einzelnen Stationen unseres nächtlichen Streifzugs mit: etwa fünfzehn Nachtlokale, von Pigalle bis Opéra, heruntergekommene illegale Schuppen und Revuen mit dem Anschein von Luxus, in denen alle Viertelstunde dieselben Stripper auftraten und unermüdlich von einer Bühne zur nächsten wechselten. Sie beschrieb mir die Hölle mit der Unbekümmertheit einer Verdammten. Der sehr heiße Kaffee zusammen mit dem sehr trockenen Weinbrand verursachte ein heftiges Brennen in meiner Kehle, der Alkohol stieg mir in die Nebenhöhlen und trieb mir Tränen in die Augen. Tiff bemerkte es: »Mein Kind, wenn man gerade erst der Muttermilch entwöhnt ist, sollte man sich besser nicht in finstere Spelunken wagen und so starke Sachen trinken.« »Mein Schätzchen«, »mein Kind« – wir mussten lachen.

Die Runde durch die Cabarets war nur ein Vorwand, mich einer meiner größten Leidenschaften hinzugeben, dem Betrachten von Körpern. Da Leidenschaft an sich gleichermaßen zufällig, blind und gleichgültig ist, lässt sie sich nur genießen, indem man sie auslebt. Wie armselig oder mittelmäßig die betrachteten Objekte sind, ist belanglos. Worauf sie sich bezieht, unwesentlich. Ich hatte ebenso klassische Ballettaufführungen besucht wie Cabarets, und mir galt die Stripperin genauso viel wie die Primaballerina. Was als Laster oder schlechter Geschmack durchging, war einfach nur der hochmütigen Unkenntnis dessen zuzuschreiben, worauf es ankam. Schönheit wird oft geringgeschätzt und verliert dadurch ihren Reiz; ich aber strebte nach dem Erhabenen, das alles für gut befindet und als absolut erachtet. Mir schwebte ein ganz bestimmtes Bild vor: flatternde Segel wie von einem Geisterschiff, das auf spiegelglattem Meer den Anker lichtet, dahintreibt, stehen bleibt, durch unmerkliche Passatwinde in Bewegung versetzt wird, einen unendlichen Schmerz in alle vier Ecken der Bühne trägt. Ob es eine Galeere, ein Schoner, ein Handels- oder Kaperschiff war, war mir gleich. Allein seine Irrfahrt war mir wichtig. Was bedeutete es schon für mich, ob es die Segel hisste oder sie nach und nach strich?

In dieser Nacht irrte ich von einem Hafen zum nächsten. Während ich auf Tiff wartete, lümmelte ich in schäbigen Garderoben herum, nicht mehr als Treppenabsätzen, vollgestellt mit kaputten Stühlen, leeren Sektkartons, darüber niedrige grauen Decken, von denen der feuchte Putz rieselte. In der geschäftigen Hölle der Stripper, die herumschwirren, hereinkommen, hinauswirbeln, sich an- und auskleiden, nachschminken, zurechtrücken und parfümieren, muss ich mich geistesabwesend im Widerschein eines mit rotem Lippenstift und ungeschickten Schriftzügen verschmierten Spiegels gemustert haben. Das asthmatische Surren des Ventilators, der Lärm von der nahen Bühne, der Anblick eines mit rotem Samt bezogenen, von unzähligen Kippen durchlöcherten Sofas, diese Exilatmosphäre zwischen blauen Mauern voll dreckiger Fingerabdrücke brachte mich dem giftigen, so schwer zu greifenden Gefühl näher: dem Weltschmerz. In dieser Nacht erfasste ich sein Wesen. Ich kostete ihn aus, bis ich ganz davon berauscht war. Von diesem Zufluchtsort aus, einem Hafen der Melancholie, konnte ich mich in aller Ruhe meinen Eindrücken hingeben: schweißglänzende Körper, durch das blinde Scheinwerferauge herausgepickt, inmitten von Schwüle und der stinkenden Masse Mensch, die sich im finsteren Saal dem Rausch der Nacht hingab. Das war es, was ich gesucht hatte: vor meinen Augen ein dichtes, feuriges Aufeinanderprallen von Licht und Fleisch in roter, wogender Dunkelheit.

Das Black-Jack und das Tahiti waren zwei Tage zuvor nach einer Razzia der Sittenpolizei geschlossen worden. Das ließ uns etwa eine Dreiviertelstunde bis zum nächsten Auftritt; dann mussten wir im Ambigu sein, einem der letzten Cabarets, das noch aus der Blütezeit von Montparnasse übrig war. Wir überquerten die Seine am Pont Neuf. Tiff fuhr zu rasant, als dass ich die Umgebung hätte genießen können. Während der Fahrt durch die fast leeren Straßen von Paris begann ich durch die Geschwindigkeit, die feierlich wirkende Verlassenheit der Stadt, den harten Kontrast von Licht und Halbschatten vor Erregung zu zittern.

Ein leichtes Gedränge in einer kleinen Querstraße zum Seine-Ufer zwang Tiff, die Geschwindigkeit zu drosseln, und im Vorbeifahren erkannte ich den noch erleuchteten Eingang des Eden. Ihr entging nicht, wo mein Blick kurz verweilte, und sie schlug vor, dort rasch ein paar Bekannte zu begrüßen und uns auf einen Drink einladen zu lassen. Ich kam gar nicht schnell genug aus dem Auto, und sie hatte Mühe, mir auf ihren hochhackigen Schuhen zu folgen. Nachdem wir Kellner, Kassiererin und Garderobendame begrüßt hatten, führte mich Tiff hinter die Bühne. Das Neonlicht blendete mich zunächst. Vor den Spiegeln schminkten sich eine ganze Reihe halbnackter Frauen ab. Ich konnte sie kaum in Augenschein nehmen, da zog mich Tiff auch schon weiter hinter sich her, durch ein Labyrinth aus Türen und Treppen, zu den Einzelgarderoben der Revue-Stars und Tänzer. Am Ende des Ganges kam uns jemand aus einer Garderobe entgegen, A***, wie ich später erfuhr, damals noch mit kahlgeschorenem Kopf, auf dem Weg zur Bühne für das Finale, dem Hinunterschreiten der breiten Treppe, die von oben bis unten von einer lebenden Mauer aus schwarzen und weißen Federn gesäumt war. Die Vorstellung war fast zu Ende. In den Garderoben herrschte das Kommen und Gehen der Garderobieren, die die Bühnenkostüme einsammelten, und viele Tänzer machten sich bereits daran, sich in aller Eile abzuschminken. Tiff stellte mir einen befreundeten Tänzer vor sowie den Star der Revue, eine ihrer ehemaligen Akrobatikkolleginnen. Zu meinem Erstaunen kannten sie mich aus dem Apocryphe oder einem der anderen Clubs, in denen sie manchmal nach der Vorstellung zu ihrem eigenen Vergnügen tanzten.

Uns blieb gerade genug Zeit für die unzähligen Begrüßungen und einen Drink, ehe wir uns auf den Weg zum achten Cabaret in dieser Nacht machten. Der Abstecher ins Eden war eine kurze Auszeit in dem Wettlauf, der eine typische Schicht für Tiff darstellte. Um fünf Uhr morgens war die Runde durch die Cabarets zu Ende, und sie waren alle gleich: eine schwitzende Hölle, ein Bombardement abwechselnd düsteren und grellen Lichts, eine von Scheinwerfern durchzuckte Nacht ohne Morgen- oder Abenddämmerung.

Am Ende dieser Odyssee hatte Tiff wundgelaufene Füße von den hochhackigen Schuhen und einen ruinierten Rücken von den schweren Taschen, in denen sie die Kostüme mit sich herumschleppte, vom Auto in ihre erbärmlichen Garderoben, immer in Eile, so dass sie das Geld für ihre Darbietung (geschätzte zwanzig bis sechzig Francs, je nach Ansehen des Etablissements) nur rasch im Hinausgehen einsammelte.

Sie fuhr mich nach Hause. Liebevoll wünschte ich ihr gute Nacht, und als ich mich zum Abschied zu ihr hinüberbeugte, stieg mir ihr Parfum in die Nase. Wie hieß es doch gleich, und woran erinnerte es mich? Diese Fragen gingen mir noch lange durch den Kopf, ehe ich endlich einschlafen konnte. Am nächsten Abend, als ich gerade mit einem frisch erstandenen Vorrat an Schallplatten für das Apocryphe nach Hause ging und dabei an der Guerlain-Boutique auf den Champs-Elysées vorbeikam, fiel mir der Name ganz unvermittelt wieder ein: Parure – Geschmeide.

Das Eden übte eine Faszination auf mich aus, derer ich mich nicht erwehren konnte. Ich machte es mir zur Gewohnheit, abends, bevor ich arbeiten ging, auf zwei Stunden dort vorbeizuschauen, von zehn bis Mitternacht. Rasch wurde ich von der Truppe aufgenommen: Ich musste das letzte Urteil in Sachen Schminken fällen und wurde bei allen Dramen ins Vertrauen gezogen. Ich mochte es, wenn mich nackte Haut, flauschige Boas oder Federfächer streiften. Ich mochte es, wie ein Gesicht durch einen Kajalstrich und das Bestäuben mit dem Pinsel seine eigentliche Struktur enthüllte, wie die Linie einer Augenbraue verfeinert, die Form eines Wangenknochens betont wurde. In dieser lebenden Zurschaustellung blinder Passagier zu spielen, das Phantom nach der Schließung, war für mich wie eine Entzauberung von antiken Statuen. Ich kannte kein Museum, das nach Parfum und Schweiß duftete.

Von allen in der Truppe brachte mir A*** die stürmischste und spöttischste Sympathie entgegen. Unsere Zusammentreffen verliefen anfangs sehr zeremoniell. Sobald A*** eingetroffen war, betrat ich die Garderobe und überbrachte dabei häufig ein Zeichen meiner Verbundenheit: Blumen; einen heimlichen Schnappschuss, aufgenommen kurz vor A***s Auftritt; eine Modezeichnung aus den dreißiger Jahren. Ich hofierte, wie man es in den Romanen des vergangenen Jahrhunderts tat.

Nach dem Kuss auf den Mund, der hier jedem zur Begrüßung zuteilwurde, bekam ich Einzelheiten zum Tag und Anekdoten vom Abendessen zu hören. Meistens ließ ich mich tief in das Sofa aus rotem Samt in der Garderobe sinken, legte die Beine über die Armlehne und betrachtete schweigend den langsamen Akt des Schminkens und Anpassens des Bühnenkostüms. Mir schien es ironisch, dass es länger dauerte, den delikaten Hauch von Nichts zu arrangieren, der die Nacktheit verbarg, als sich von Kopf bis Fuß für einen Galaabend in der Oper zu kleiden. Beim Anziehen eines einfachen Strings sind tausend Details zu beachten, an die weder die Frau von Welt denkt, die ein langes Kleid überstreift, noch der Mann, der unter dem Kläppchenkragen seines Hemdes eine Fliege bindet. Tausend Details, um einen Hintern in Szene zu setzen, Oberschenkel und Hüfte sichtbar zu lassen, ohne dabei jedoch den Schritt zu entblößen. Ich war erstaunt, wie viel Pflege ein Körper bedarf, um stets glatt, unbehaart, geschmeidig und makellos zu wirken, in einem Wort, engelsgleich. Ich lernte, dass das Schminken von schwarzer Haut wie der von A*** nach einer ganz anderen Farbpalette und Vorgehensweise verlangte als weiße; hier offenbarte sich für mich die Zerbrechlichkeit des Körpers, wie viel Sorgfalt man walten lassen musste, damit Glieder und Gelenke biegsam blieben. Vor dem Verlassen der Garderobe vollführte A*** immer ein paar Tanzschritte, ganz allein zu meinem Vergnügen; so trennten wir uns. Das letzte Bild, das ich zurückbehielt, bevor ich arbeiten ging, waren die changierenden, goldschimmernden Spiegelungen auf A***s Haut von den schwachen Lampen im Gang, ehe die Schatten der Kulissen alles verschlangen. Ich blieb noch einen Moment in der Garderobe, betrachtete die Utensilien dieser Metamorphose und die überall verteilte Alltagskleidung. Häufig stellte ich irgendetwas, das heruntergefallen war, nachdenklich wieder an seinen Platz; bevor ich ging, hinterließ ich, eingeklemmt zwischen Spiegel und Rahmen, noch eine kurze Nachricht. Ich verspürte keinerlei Bedürfnis, mir mehr als Bruchstücke oder kurze Ausschnitte der Vorstellung anzusehen. Was bedeutete mir die Bühne schon? Ich eilte zum Ausgang, während das Publikum vor seinen Champagnergläsern sitzend dem Auftakt applaudierte. Draußen machte ich mich zu Fuß ins Apocryphe auf und wurde immer nüchterner während dieses viertelstündigen Fußmarsches, an dem ich festhielt, ganz gleich bei welchem Wetter oder zu welcher Jahreszeit.

L’Apocryphe! Rote Nacht, nicht schwarze. Sein zweideutiges Wesen, zwischen Bordell und Fleischmarkt, enthüllte sich ausschließlich dem, der die Spiegelbilder zu enträtseln verstand. Dort war alles bloß zu erahnen, von Lippen gebildete, lautlose Worte, flüchtige Zeichen, Begebenheiten, die der Spiegel einfing, während man vorgab, sich selbst darin zu betrachten. Ein makabrer Maskenball, die Tanzenden verheddert in Luftschlangen, die von der Decke rieselten und sich um die tragenden Säulen ringelten. Musik auszuwählen, den Körpern einen Rhythmus vorzugeben, war, als machte man sich zum Priester eines ekstatischen Kults. Als mir das klarwurde, ging ich der Frage nach, was es mir hier eigentlich so angenehm machte, abgesehen von dem Zufall, der mich hergeführt hatte, und der verfänglichen Leichtigkeit, die mich festhielt. Doch wozu denn weggehen? Es war so einfach, den Eintritt hier als Prüfung zu verstehen, eine Läuterung durch den Schmutz. Und ich hätte so tun müssen, als wäre ich auf der Suche, obwohl ich längst wusste, dass es nichts zu finden gab und alles in Schrecken und Schweigen enden würde.

Der Moment, in dem ich dort anfing, fiel mit meiner Entscheidung zusammen, auf das zu verzichten, was eine anständige intellektuelle Laufbahn hätte sein können. Ich hatte vier oder fünf Jahre in den Sälen einer Theologischen Fakultät vergeudet. Hatte ich überhaupt je die Absicht gehabt, mich der Religion zu verschreiben? Ich wollte gerade mit meiner Doktorarbeit beginnen, als sich bei mir ein vages Gefühl tiefer Ablehnung einstellte. Es war keine Abwendung vom Glauben oder der Metaphysik, sondern von der Sinnlosigkeit des verschulten Denkens, das die Universität mir abverlangte. Das Unverständnis meiner Kommilitonen, ihre beständige Neigung, jeden auch nur ansatzweise eigenen Gedanken auf eine persönliche Motivation zurückzuführen und somit die geringste Originalität als Ausdruck individuellen Lasters zu verstehen, trug nur noch weiter zu meiner Melancholie und meinem Abscheu bei. Jedes Gespräch wurde zum Anlass, mit mir ins Gericht zu gehen; schließlich wurde ich so schweigsam, dass es arrogant anmutete. Ich ließ mich nicht mehr beim Unterricht oder in den Cafés blicken, in denen sich die neuen Inquisitoren versammelten, zog mich in meine vier Wände zurück und las bis spät in die Nacht in den Romanen, die hier verblieben waren, in dieser Wohnung, die meine Großmutter mir vermacht hatte. Sechs Monate lang, von Oktober bis März, gab ich mich meinem natürlichen Hang zur Zurückgezogenheit hin: Ich lebte zwischen Bett und Schreibtisch.