Wunibald Müller Henri Nouwen – Mit Leidenschaft für das Leben

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HAUPTTITEL

Wunibald Müller

Henri Nouwen – Mit Leidenschaft für das Leben

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Patmos Verlag

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Inhalt

Vorwort von Anselm Grün

Einleitung

TEIL I: Vom Mitgefühl über Mitleid bis zur Barmherzigkeit

Begegnung mit Henri

Von der Zärtlichkeit Gottes

Erbarmen geht über Empathie hinaus

Der Barmherzige stellt keine Fragen – er hilft

„Schmeißt ihn hinaus, er bricht mir das Herz!“

Mitleid kann peinlich sein

„Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist“

Kann Barmherzigkeit „zweitrangig“ sein?

Unseren Blick auf das Antlitz des liebenden Gottes richten

Sich zu erbarmen ist göttlich

TEIL II: Der eine leidet, der andere leidet mit – was passiert zwischen den beiden?

Der verwundete Heiler

Die Schwäche des Hilfsbedürftigen ist auch unsere Schwäche

Barmherzigkeit tut auch dem Helfer gut, nicht nur dem Hilfsbedürftigen

Der Weg in das Schwachsein und die Nichtigkeit

Sich zu erbarmen heißt, auf gleicher Augenhöhe zu sein

Uns für andere hingeben

Gibt es falsches Mitleid und falsche Barmherzigkeit?

Der Kampfbegriff „Gutmensch“ ist einer christlichen Gesellschaft unwürdig

TEIL III: Der Flamme des Ursprungs treu sein und dem Geist der Zeit gerecht werden – Nouwens ganz persönliche Spiritualität

Wenn die Fühler meiner Seele die Seele des anderen berühren

Zu viel Professionalität schafft lieblose Distanz

„Ich bin der, der für dich da ist“

Nouwens große Botschaft: Du wirst bedingungslos geliebt

Eine Seelsorge, die sich an Jesus orientiert

Zirkus statt Klerus

Der Funke muss überspringen: von Herz zu Herz

TEIL IV: Mit dem Blick für das Wesentliche in die Zukunft

Ein Klima der Barmherzigkeit

Klima der Barmherzigkeit: Die inner­kirchliche Reform hat begonnen

Eine Kirche, die auf dem Felsen von Gottes Barmherzigkeit gründet

Barmherzigkeit über alles!

Beten als Herzschlag eines mitleidenden Herzens

Beten beruhigt, entschleunigt und stärkt den Sinn fürs Wesentliche

„Feier des Kusses“

Unseren Gottesdiensten fehlt oft die Wärme

Nachwort

Wichtige Daten aus Henri Nouwens Leben

Literatur

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Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Vorwort von Anselm Grün

Nur zweimal durfte ich Henri Nouwen begegnen. Das erste Mal hatte Wunibald Müller ein kleines Treffen von Theologen mit Henri Nouwen in Freiburg organisiert. Wir sprachen über das geistliche Leben, über das, was uns im Tiefsten bewegt, über unsere Suche und Sehnsucht nach Gott. Zum Abschluss dieses Treffens feierte Henri mit uns im kleinen Kreis die Eucharistie. Mein Eindruck von ihm war: ein Mann, der ganz und gar präsent ist und der absolut ehrlich ist, der sein Herz vor den anderen ausbreitet und sich nicht mit abstrakten Theorien abgibt. In seiner kurzen Ansprache hat er über den Propheten Elija gesprochen, der innerlich verwirrt war, weil Gott seine Vorstellungen von ihm durcheinandergebracht hatte.

Die zweite Begegnung war die Eröffnung unseres Reco­llectio-Hauses vor 25 Jahren. Dr. Wunibald Müller, der Henri während seines Studiums in den USA kennengelernt hatte, hat ihn zur Eröffnung eingeladen. Nouwen hielt vor den Gästen des Recollectio-Hauses und einigen Mitbrüdern in der Kapelle eine Ansprache, die mich tief bewegt hat. Er sprach über die vier Worte Jesu beim Abendmahl: „Jesus nahm das Brot, segnete es, brach es und gab es seinen Jüngern.“ Ich war so berührt, dass ich am Abend diese Predigt aus dem Gedächtnis niedergeschrieben habe. Nach der Einweihung durften Abt Fidelis und ich noch gemeinsam mit Henri Nouwen und Wunibald Müller zu Abend essen. Da war sofort eine Vertrautheit da. Alle Förmlichkeit löste sich in der Begegnung mit Henri sofort auf. Und das Gespräch kreiste immer um Wesentliches: Was heißt es heute, Priester, Mönch, Christ oder ein Gottsucher zu sein?

Schon vorher hatte ich Bücher von Henri Nouwen gelesen, einmal seinen Klassiker, der ihn in Deutschland bekannt gemacht hat: Ich hörte auf die Stille. Da habe ich seine Beobachtungsgabe bewundert. Er schildert immer liebevoll und barmherzig die verschiedenen Typen von Mitbrüdern. Und ich las verschiedene Bücher über die Seelsorge. Dabei hat mich seine Auslegung der Barmherzigkeit berührt. Ihm verdanke ich den Hinweis, dass das griechische Wort für Mitleid splanchnizomai bedeutet: in den Eingeweiden ergriffen werden. Und – so meint Nouwen – die Eingeweide sind für die Griechen der Ort der verwundbaren Gefühle. Barmherzig sein heißt also, sich dort vom andern Menschen berühren lassen, wo die verwundbaren Gefühle liegen, sich vom andern verwunden lassen, mit ihm mitfühlen und mitleiden.

Papst Franziskus hat das Jahr 2016 zum Jahr der Barmherzigkeit erklärt. Henri Nouwen steht für diese Barmherzigkeit. Er musste lernen, mit sich selbst barmherzig zu sein. Denn manchmal litt er an seiner eigenen Empfindlichkeit und an seinem Bedürfnis, von Freunden genügend beachtet zu werden. Aber er verurteilte sich nie, sondern schaute mit einem barmherzigen Blick auf seine eigene menschliche Begrenztheit. Und wenn er über andere Menschen sprach oder schrieb, tat er es immer im Geist der Barmherzigkeit. Er bewertete die Menschen nicht, er sprach einfach über sie und von ihnen. Ihm war es wichtig, wie wir als diese begrenzten und verwundeten Menschen mit uns selbst und miteinander barmherzig umgehen können.

So wünsche ich im Jahr der Barmherzigkeit, dass die Erinnerungen von Wunibald Müller an seinen einstigen Lehrer den Geist der Barmherzigkeit auch in den Herzen der Leserinnen und Leser wecken. Papst Franziskus und Henri Nouwen würden sich heute sicher gut verstehen. Sie sehen mit dem gleichen Blick auf die Menschen. Wenn Papst Franziskus die Kirche auffordert, an die Ränder zu gehen und sich den Armen zuzuwenden, so hat Henri Nouwen das ganz konkret getan. Er ist zu den Behinderten in der Arche gegangen und hat sich wie jeder andere Pfleger ganz konkret auf sie eingelassen. Und er hat sie für sich selbst als Lehrer angesehen, die ihm die eigenen Behinderungen und Begrenzungen wie ein Spiegel vor Augen hielten. So wünsche ich uns allen, dass wir vom Geist der Barmherzigkeit, der in der Person von Henri Nouwen allen entgegengestrahlt hat, die ihm begegnet sind, ergreifen lassen und diesen Geist auf je eigene persönliche Weise in dieser Welt aufleuchten lassen.

P. Anselm Grün

Einleitung

Es ist Samstagvormittag im Advent. Ich befinde mich im ZDF-Gelände auf dem Lerchenberg in Mainz. Anlässlich des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit, das Papst Franziskus vor wenigen Tagen in Rom feierlich angekündigt hat, soll ich für die Sendung Sonntags zum Thema Barmherzigkeit interviewt werden. An diesem Samstagmorgen wirkt das riesige Areal wie ausgestorben. Im Fernsehstudio werde ich herzlich begrüßt von Michaela Pilters, der Leiterin der ZDF-Redaktion Kirche und Leben kath. Wir kennen uns seit vielen Jahren. Sie hier zu sehen erwärmt mein Herz. Das anonyme ZDF-Zentrum mit seinem weithin sichtbaren Hochhaus, unzähligen weiteren Gebäuden, dem Fernsehgarten und dem Rundbau für den Sendebetrieb, in dem ich mich befinde, bekommt jetzt ein Gesicht. Dem Gefühl von Fremdheit, das mich bis jetzt beschlichen hatte, weicht ein Gefühl von Vertrautheit.

Dann bin ich im Fernsehstudio, umgeben von etwa einem Dutzend Mitarbeitern, die das Interview unter Livebedingungen aufzeichnen. Die Moderatorin Andrea Ballschuh, die bei ihrer Ankündigung bereits die Frage gestellt hatte, was es denn mit der irgendwie angestaubt und altmodisch klingenden Barmherzigkeit auf sich habe, stellt mir jetzt dieselbe Frage. Ich versuche aus der Sicht des Theologen und Psychotherapeuten aufzuzeigen, dass Barmherzigkeit für mich alles andere als antiquiert ist und dass sich mit ihr etwas zutiefst Menschliches in uns regt. Ich sage aber auch, dass echte Barmherzigkeit immer etwas ist, das auf Augenhöhe geschieht und bedingungslos geschenkt wird. Je länger ich mich mit ihr über Barmherzigkeit, Erbarmen und Mitleiden unterhalte, umso mehr – so mein Eindruck – bekommt das Wort Farbe, fällt der Staub von ihm, der vielleicht noch auf ihm lag, ja, es beginnt sogar zu funkeln und erfüllt das Fernsehstudio, zu dem es nicht länger einen Kontrast darstellt.

Als ich eingeladen wurde, anlässlich des 20. Todestages meines Freundes Henri Nouwen, für den Patmos-Verlag ein kleines Büchlein zu schreiben, das an ihn erinnern und das, was er uns heute noch zu sagen hat, verdeutlichen und damit etwas von ihm und seinem Geist in uns erwecken sollte, wurde mir zunehmend klar: Mit diesem Papst und dem Klima der Barmherzigkeit, das mit ihm beginnt, in der katholischen Kirche einzuziehen, hat sich erfüllt, wofür sich Henri Nouwen und vor ihm Thomas Merton ein Leben lang eingesetzt haben. Mir war schon zu dem Zeitpunkt, als ich das erste Mal einen längeren Text von Papst Franziskus las, der Gedanke gekommen: Das hätte Henri auch so sagen können! Etwa, wenn der Papst feststellt, „dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, die Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit“. (2013, 10)

Dazu kommt: Will ich ein wesentliches Kennzeichen der Person, der Wirkkraft, dessen, was Henri Nouwen ein Leben lang umtrieb und ihn schließlich auch in den Tod trieb, anlässlich seines 20. Todestages aufleuchten lassen, dann ist es seine Leidenschaft für das Leben und für die Menschen, die sich in seinem Erbarmen für sie niederschlägt. Anselm Grün antwortete einmal auf die Frage, wer sein Vorbild sei: Henri Nouwen. Als ich ihn am Telefon über den Tod von Henri informierte – ich weilte gerade in den USA und hatte in der New York Times gelesen, dass er an einem Herzinfarkt gestorben sei – war er sehr betroffen, meinte aber auch, dass das bei jemandem, der so brannte wie Henri, zu erwarten und stimmig gewesen sei.

Wie sehr Anselm recht hatte, wurde mir bewusst, als ich in den letzten Wochen versuchte, mich Henri wieder anzunähern, mich in ihn hineinzuversetzen, ihn noch besser zu verstehen und dabei herauszufinden, was er mir, uns, der Kirche, den Menschen von heute zu sagen hat. Mir kam dabei zugute, dass ich bereits einige Monate zuvor, als ich noch nicht die Absicht hatte, dieses Buch zu schreiben, einen ganzen Tag lang in Toronto, der letzten Wirkungsstätte von Henri, einen „Henri Nouwen Tag“ zelebrierte. Ich benutze bewusst das Wort zelebrieren, da ich diesen Tag tatsächlich als eine Feier in Erinnerung an meinen Freund Henri Nouwen gestaltet und erlebt habe.

Dieser Tag ist in meine Ausführungen eingeflossen, da er für mich auf vielfältige Weise auch zu einem Tag der Begegnung mit Henri wurde, der mir sonst immer wieder in meinen Träumen begegnet, von denen ich bestärkt und mit einem Gefühl von leisem Glück aufwache. Sie, meine Leserinnen und Leser, werden Henri Nouwen, so hoffe ich, auf eine neue Weise begegnen: durch meine Erinnerungen an ihn und meine Schilderungen, bei denen ich vor allem auf seine Haltung zur Barmherzigkeit und wie er sie in seinem Leben deutete, eingehe.

Henri Nouwen hat zu Lebzeiten an die 40 Bücher geschrieben. Die meisten von ihnen wollen dazu beitragen, den Menschen von heute das Menschenherz Gott und dem Nächsten zuzuwenden. Auf einige seine Bücher werde ich hinweisen und eingehen. Im Mittelpunkt steht aber ein weniger bekanntes Buch von Henri Nouwen mit dem Titel Das geteilte Leid, das er zusammen mit seinen Kollegen Donald P. McNeill und Douglas A. Morrison (1983) herausgab, wobei er eindeutig der eigentliche Verfasser ist. Der englischsprachige Titel Compassion, der mit „Leidenschaft“, „Mitleiden“ oder auch „Barmherzigkeit“ übersetzt werden kann, gibt die Idee, um die es Henri Nouwen in diesem Buch ging, besser wieder.

Es geht ihm um nicht weniger als die Leidenschaft für die Menschen und für Gott und den Aufruf, wahrzumachen und dann auch umzusetzen, wozu wir im Lukasevangelium (6,36) aufgerufen werden: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist.“ Wir haben das vielleicht schon oft gehört und können (oder wollen) es gar nicht mehr hören. Doch damit bin ich schon da angelangt, wovon im Folgenden die Rede sein soll. Ich warne die geschätzte Leserin, den geschätzten Leser: Was Sie hören werden, ist keine leichte Kost. Wer ernst nimmt, was Henri Nouwen zum Mitleiden und über die Barmherzigkeit sagt, kann davon nicht unberührt bleiben. Vor allem aber kann es für ihn und sie nicht ohne Konsequenzen bleiben.

Das Schöne ist, dass wir in Henri Nouwen ein Vorbild haben, das uns nicht nur zeigt, wie wir die Leidenschaft für Gott, sein Erbarmen in unserer Welt, in der Kirche, in der Seelsorge und in unserem Alltag umsetzen können. Wir sehen außerdem, wie er versucht hat, es selbst zu leben. Dass ihm das nur mit aller Unvollkommenheit gelang, kann uns Mut machen, zumindest zu versuchen, es ihm gleichzutun.

Wunibald Müller

TEIL I: Vom Mitgefühl über Mitleid bis zur Barmherzigkeit

Begegnung mit Henri

Ich glaube nicht, dass es Zufälle gibt. Ich bin davon überzeugt, dass unsichtbare Kräfte auf unser Leben einwirken, die dazu beitragen, dass am Ende unser Leben die Gestalt annimmt, die es annehmen soll. Freilich bedarf es unseres Hinzutuns, damit geschehen kann, was geschehen soll. Auch müssen wir damit rechnen, dass wir viele Umwege gehen müssen, bis es so weit ist, ganz abgesehen davon, dass Umwege die Ortskenntnis erhöhen, wie Pater Meinrad Dufner, mit dem ich seit vielen Jahren im Recollectio-Haus zusammenarbeite, zu sagen pflegt.

So ist es für mich kein Zufall, dass ich im Jahre 1980 Henri Nouwen in der Grace-Kathedrale in San Francisco begegnete. In seinem Buch Nachts bricht der Tag an (1989, 161) schreibt er darüber: „Als ich vor einigen Jahren in der Grace Cathedral bei William Sloane Coffin jr. in San Francisco war, habe ich Wunibald Müller kennen gelernt, der damals seine pastoralpsychologische Dissertation fertig gestellt hatte.“ Er war auf mich aufmerksam geworden, als ich mich mit einigen anderen Studenten nach seinem Vortrag mit ihm unterhielt. Ich hatte wohl seine Aufmerksamkeit geweckt, als ich von meiner Doktorarbeit erzählte, bei der es um das Thema Homosexualität und Kirche ging. Jedenfalls bat er mich nach der Runde, mit ihm auf die Seite zu gehen, sodass wir uns ungestört miteinander unterhalten konnten.

Ich schreibe dies – inzwischen sind seitdem 25 Jahre vergangen –, während ich in einem Café in Toronto sitze, in unmittelbarer Nähe des Henri Nouwen Archivs, wo ich – schweren Herzens – meine Korrespondenz mit Henri Nouwen abgeben werde. Am frühen Morgen war ich zu Henri Nouwens Grab gefahren, das ich schon wiederholt besucht hatte. Als ich bei der kleinen anglikanischen Kirche ankomme, auf dessen Friedhof Henri seine letzte Ruhestätte gefunden hat, blendet mich die Sonne so sehr, dass ich für einen Augenblick zunächst nichts sehe. Zunächst bin ich mir nicht sicher, ob ich am richtigen Ort bin, da ich bisher immer mit anderen hier gewesen war und mir die Umgebung nie richtig angeschaut hatte.