cover

EHP – Edition Humanistische Psychologie

Hg. Anna und Milan Sreckovic

Herausgeberin und Herausgeber

Gianni Francesetti, Gestalttherapeut, Facharzt für Psychiatrie, internationaler Trainer und Supervisor, Programm-Koordinator des Internationalen Trainings für einen gestalttherapeutischen Ansatz zur Psychopathologie, Präsident der EAGT und der italienischen NUO (FIAP, Italienischer Verband der Psychotherapie-Gesellschaften), früherer Präsident der SIPG (Società Italiana Psicoterapia Gestalt), Mitglied von EAP, NYIGT, SPR. Er hat zum gestalttherapeutischen Ansatz zur Psychopathologie viele Arbeiten und Kapitel geschrieben und Bücher herausgegeben.

Michela Gecele, Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapeutin, sie lehrt in den Gestalttherapie-Trainingsprogrammen des Istituto di Gestalt HCC. Sie arbeitet seit 19 Jahren in einer öffentlichen Einrichtung für psychische Gesundheit und koordiniert seit drei Jahren eine psychologische und psychiatrische Einrichtung für ImmigrantInnen. Sie hat Artikel und Bücher auf dem Gebiet der Psychiatrie, Psychotherapie und über transkulturelle Fragen geschrieben. Sie ist Mitglied des HR&SR Komitees der EAGT.

Jan Roubal, Doktor der Medizin, ist Psychotherapeut, Facharzt für Psychiatrie, Trainer und Supervisor. Er lehrt Psychotherapie und Psychiatrie an der Masaryk Universität in Brünn. Er hat in einem psychiatrischen Krankenhaus, vor allem mit depressiven PatientInnen gearbeitet. Derzeit ist er in einer Privatpraxis tätig. Er ist Mitglied von EAP, EAGT, SPR und leitet das Forschungskomitee der EAGT.

Gianni Francesetti, Michela Gecele, Jan Roubal (Hg.) – GESTALTTHERAPIE IN DER KLINISCHEN PRAXIS – Von der Psychopathologie zur Ästhetik des Kontakts – Aus dem Englischen von Anna Jell – In Zusammenarbeit mit der European Association for Gestalt Therapy EAGT herausgegeben von Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie DVG e.V. und Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie ÖVG e.V. – Vorwort zur englischen Ausgabe von Leslie Greenberg – Vorworte zur korrigierten und ergänzten deutschen Ausgabe von Veronica Klingemann und Beatrix Wimmer sowie Lotte Hartmann-Kottek

© für die deutsche Ausgabe 2016 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Gevelsberg www.ehp-verlag.de

imageIn Zusammenarbeit mit der European Association for Gestalt Therapy EAGT herausgegeben von Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie DVG e.V. und Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie ÖVG e.V.
Die Übersetzung wurde finanziert von:
Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie DVG e.V.,
Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie ÖVG e.V.,
Fachsektion für Integrative Gestalttherapie im Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik

Aus dem Englischen von Anna Jell Bearbeitung und Lektorat: Rita Kloosterziel

Redaktion: Nina Andres, Dieter Bongers, Victor Chu, Kathleen Höll, Veronica Klingemann, Andreas Kohlhage, Manuela Manderfeld, Inge Matthies, Friedhelm Matthies, Thomas Maurer, Christiane Molkenbuhr, Bertram Müller, Christian Rabanus, Peter Schulthess, Achim Votsmeier-Röhr, Beatrix Wimmer, Deidre Winter, Rosemarie Wulf

Umschlagentwurf: Gerd Struwe, Uwe Giese

Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin Gedruckt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

print-ISBN 978-3-89797-085-4
epub-ISBN 978-3-89797-590-3
pdf-ISBN 978-3-89797-591-0

Für Isadore From

Inhalt

Vorwort zur englischen Ausgabe (Leslie Greenberg)

Einleitung der Herausgeber (Gianni Francesetti, Michela Gecele, Jan Roubal)

Vorwort zur deutschen Ausgabe (Veronica Klingemann und Beatrix Wimmer)

Vorwort: Klinische Gestalttherapie und die gesundheitspolitische Situation in Deutschland (Lotte Hartmann-Kottek)

Teil I: Grundlegende Prinzipien der Gestalttherapie in der Klinischen Praxis

1. Grundlagen und Entwicklung der Gestalttherapie im Kontext der Gegenwart (Margherita Spagnuolo Lobb)

Kommentar von Gordon Wheeler

2. Psychopathologie: Ein Gestalttherapeutischer Ansatz (Gianni Francesetti, Michela Gecele und Jan Roubal)

Kommentar von Peter Philippson

3. Diagnostik: Ein Gestalttherapeutischer Ansatz (Jan Roubal, Michela Gecele und Gianni Francesetti)

Kommentar, von Antonio Sichera

4. Entwicklungsperspektive in der Gestalttherapie: Die polyphone Entwicklung von Bereichen (Margherita Spagnuolo Lobb)

Kommentar von Ruella Frank

5. Situative Ethik und die ethische Welt der Gestalttherapie (Dan Bloom)

Kommentar von Richard E. Lompa

6. Forschung und Gestalttherapie (Ken Evans)

Kommentar von Leslie Greenberg

7. Die Kombination von Gestalttherapie und psychiatrischer Behandlung (Jan Roubal und Elena Křivková)

Kommentar von Brigitte Lapeyronnie-Robine

Teil II: Spezifische Kontexte und fokussierende Betrachtungen

8. Sozialer Kontext und Psychotherapie (Giovanni Salonia)

Kommentar von Philip Lichtenberg

9. Die politische Dimension der Gestalttherapie (Stefan Blankertz)

Kommentar von Lee Zevy

10. Multikulturelle Kontexte leben (Michela Gecele)

Kommentar von Talia Bar-Yospeh Levine

11. Gestalttherapie und Entwicklungstheorien (Giovanni Salonia)

Kommentar von Peter Mortola

12. Scham (Jean-Marie Robine)

Kommentar von Ken Evans

Teil III: Spezifische Lebenssituationen

13. Der goldene Käfig der kreativen Anpassung: Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen – ein gestalttherapeutischer Ansatz (Nurith Levi)

Kommentar von Neil Harris

14. Das Risiko der Psychopathologie im Alter (Frans Meulmeester)

Kommentar von Martine Bleeker

15. Verlust und Trauer. Manchmal lässt die Abwesenheit eines einzigen Menschen die ganze Welt leer erscheinen (Carmen Vázquez Bandín)

Kommentar von Gonzague Masquelier

16. Die Macht des »Vorwärtsgehens«. Trauma-Behandlung – ein gestalttherapeutischer Ansatz (Ivana Vidakovic)

Kommentar von Willi Butollo

17. Einschätzung des Suizidrisikos (Dave Mann)

Kommentar von Jelena Zeleskov Djoric

Teil IV: Spezifische klinische Leiden

18. »Nach was sieht’s denn aus?« Demenz – ein gestalttherapeutischer Ansatz (Frans Meulmeester)

Kommentar, von Katerina Siampani

19. Abhängiges Verhalten (Philip Brownell und Peter Schulthess)

Kommentar von Nathalie Casabo

20. Jenseits der Säulen des Herakles. Psychotisches Erleben aus gestalttherapeutischer Perspektive (Gianni Francesetti und Margherita Spagnuolo-Lobb)

Kommentar von Gary Yontef

21. Ein gestalttherapeutischer Ansatz bei der Behandlung von Depressionen (Gianni Francesetti und Jan Roubal)

Kommentar von Joe Melnick

22. Bipolares Erleben (Michela Gecele)

Kommentar von Daan van Baalen

23. Angst in der Situation: Störungen der Gestaltkonstruktion (Jean-Marie Robine)

Kommentar von Myriam Muñoz Polit

24. Panikattacken – Eine gestalttherapeutische Perspektive (Gianni Francesetti)

Kommentar von Nancy Amendt-Lyon

25. Gestalttherapie bei phobisch-zwanghaften Beziehungsstilen (Giovanni Salonia)

Kommentar von Hans Peter Dreitzel

26. Anorexie, Bulimie und Hyperphagie: Dramatische Formen weiblicher Kreativität (Elisabetta Conte und Maria Mione)

Kommentar von Irina Lopatukhina

27. Psychosomatische Störungen – Ein gestalttherapeutischer Ansatz (Oleg Nemirinskiy)

Kommentar von Giuseppe Iaculo

28. Beziehungsorientierte sexuelle Themen: Liebe und Begierde im Kontext (Nancy Amendt-Lyon)

Kommentar von Marta Helliesen

29. Persönlichkeitsstörungen. Diagnostische und soziale Bemerkungen (Michela Gecele)

30. Borderline: Die Wunde der verletzten Grenze (Margherita Spagnuolo Lobb)

Kommentar von Christine Stevens

31. Von der Großartigkeit des Bildes zur Fülle des Kontakts. Gedanken zu Gestalttherapie und narzisstischem Erleben (Giovanni Salonia)

Kommentar von Bertram Müller

32. Hysterie: Formale Definition und neuer Ansatz zu einem phänomenologischen Verständnis. Eine psychopathologische Neubewertung (Sergio La Rosa)

Kommentar von Valeria Conte

33. Gewalttätiges Verhalten (Dieter Bongers)

Kommentar von Bernhard Thosold und Beatrix Wimmer

Literatur

Ergänzende Literatur zur deutschen Ausgabe

AutorInnen

Vorwort zur englischen Ausgabe

Ein gestalttherapeutisches Handbuch zur Psychopathologie, das einen beziehungsorientierten Ansatz zu diesem komplexen Thema fördert! Dies ist ein bahnbrechendes und revolutionäres Buch. Neue Wege zu beschreiten ist immer von Kontroversen begleitet, und ich bin sicher, das wird bei diesem Buch nicht anders sein unter GestalttherapeutInnen und unter PsychiaterInnen und PsychologInnen, die sich am traditionelleren medizinischen Modell der Psychopathologie orientieren. GestalttherapeutInnen der ersten Generation wären wahrscheinlich schockiert und überrascht zu sehen, dass die Gestalttherapie bei schweren Störungen und Diagnosen wie Borderline oder Narzissmus angewandt wird. AnhängerInnen des medizinischen Modells andererseits werden es schwierig finden, manche Konzepte und Gedanken zu integrieren, wie z. B. die Tatsache, dass die Psychopathologie an der Kontaktgrenze entsteht, oder die Idee einer prozessorientierten ästhetischen Diagnose. Doch diese revolutionären Ideen werden hoffentlich einen Einfluss auf bestehende Ansichten zu Behandlung und Psychopathologie haben und dabei helfen, der Gestalttherapie eine Stimme im allgemeinen Dialog zu schwereren Störungen verleihen.

Die Gestalttherapie beschäftigte sich ursprünglich damit, das Wachstum des Selbst und eine größere Autonomie bei neurotischen Persönlichkeiten zu fördern. Als Teil der Dritten Kraft der Humanistischen Psychotherapien war sie Teil einer neuen kulturellen Bewegung. Die Gestalttherapie förderte eine Unterstützung der Autonomie und Kreativität bei Individuen, die das Bedürfnis verspürten, sich vom erstickenden gesellschaftlichen »Sollte« und von Familienintrojekten zu befreien. Selbstausdruck, Wachstum und Persönlichkeitsentfaltung waren die therapeutischen Ziele.

Der gestalttherapeutische Ansatz entwickelte sich, ohne schwereren Formen des Leidens und der Psychopathologie große Beachtung zu schenken. Die Gestalttherapie wurde nicht entwickelt, um schwerere Störungen wie Psychose, Selbstverletzung oder schwere Traumata und Persönlichkeitsstörungen wie Borderline oder Narzissmus zu behandeln. Perls pries die Gestalttherapie als Therapie der Wahl für »neurotische« Individuen an, doch er war sich offenkundig darüber im Klaren, dass er Gestalt-Techniken nicht bei psychisch schwer kranken Individuen anwenden konnte.

Außerdem wurde die Gestalttherapie von vielen lediglich mit Techniken in Verbindung gebracht ohne den theoretischen Hintergrund, der ihre Praxis leitete. Sie verbreitete sich durch Workshops und Selbsterfahrung. Forschung und theoretische Entwicklung wurden mit Skepsis betrachtet, und die akademische Arbeit zur Gestalttherapie hat darunter gelitten. Das Bild der Gestalttherapie entwickelte sich dahingehend, dass sie als Wachstumstherapie und als auf schwere Störungen nicht anwendbar gesehen wurde.

Die Sicht auf die Gestalttherapie, die in diesem Buch geboten wird, ist erfrischend anders. Dieses Buch ist revolutionär in seinem Bemühen, das Thema der Psychopathologie aus einer gestalttherapeutischen beziehungsorientierten Perspektive zu betrachten, und es bietet eine spezifisch formulierte gestalttherapeutische Sicht auf das Verständnis von Psychopathologie. Es betrachtet die Psychopathologie als ko-kreiertes Feldphänomen, das an der Kontaktgrenze entsteht und das im Kontaktprozess verwandelt werden kann. Es handelt sich um einen lobenswerten Versuch, die Kernkonzepte einer gestalttherapeutischen Theorie der menschlichen Funktionsweise zu erweitern, um psychisch schwer kranke KlientInnen und psychotisches Verhalten zu verstehen.

Bis vor Kurzem gab es einen Mangel an theoretischer Entwicklung und Forschung in der Gestalttherapie, der die Anerkennung dessen, was die Gestalttherapie zu bieten hat, stark eingeschränkt hat. Als erfahrungsorientierte Therapie basierte die Ausbildung zum großen Teil darauf, die persönliche Erfahrung als eine Art des Lernens zu fördern. Dies führte zur Verunglimpfung intellektueller und wissenschaftlicher Zielsetzungen, zu einer Erhöhung des »Learning by doing« und dazu, dass nur das »Wissen durch Erfahrung« geschätzt wurde. Man musste es erleben, um es zu wissen. Dies stimmte mit der gestalttherapeutisch-phänomenologischen Theorie der Praxis überein, doch dieser Ansatz hatte so seine Probleme damit, Theorie und Forschung voranzutreiben. Dieser Ansatz setzte die Gestalttherapie der Gefahr aus, eine esoterische Praxis zu werden und jegliche Anerkennung als ernsthafter akademischer, professioneller und wissenschaftlich gültiger Ansatz zu verlieren. Der theoretische und klinische Ansatz, der in diesem Buch vertreten wird, ist ein Gegenmittel zu diesem Trend.

Mit dem Beginn des weltweiten Rufs nach evidenzbasierter Praxis fing die Gestalttherapie an, ihren Fokus zu verändern, und begann, theoretische Anstrengungen und Forschungsprojekte zu entwickeln und zu unterstützen. Eine anspruchsvolle Abhandlung der Psychopathologie, wie sie in diesen Kapiteln geboten wird, passt zu diesem neuen Weg und zeigt in eine neue Richtung. Meiner Ansicht nach kann es als Hilfe betrachtet werden, um neue Rahmenbedingungen für eine dritte Generation von GestalttherapeutInnen zu schaffen, einen Weg, der ganzheitlicher ist und theoretische Forschung und Praxis in einem phänomenologischen, beziehungsorientierten und empirischen Rahmen integriert.

Die Kapitel in diesem Buch konzentrieren sich auf viele klassische diagnostische Kategorien: Stimmung, Psychose, Persönlichkeit, Essstörungen und Psychosomatik, sexuelle Probleme, gewalttätiges Verhalten und Demenz. Obwohl sie klassische diagnostische Kategorien behandeln, versuchen die AutorInnen dieser Kapitel die Begegnung mit der KlientIn als zentrales Element zu betrachten, und bewahren die Bedeutung der Einzigartigkeit jedes Menschen und jeder Begegnung.

Außerdem denke ich, dass dieser Ansatz dazu beitragen wird, einen der wesentlichen Punkte zu fördern, den ich vertrete, nämlich die Bedeutung der von mir Prozessdiagnose genannten Diagnose, die die HerausgeberInnen in ihrem Konzept der intrinsischen oder ästhetischen Diagnose zusammenfassen. Aus dieser Perspektive umfasst die Diagnosestellung die Beobachtung von einem Moment zum nächsten. Auch das Nachspüren, wo sich die KlientIn befindet, gehört dazu, eine funktionale Diagnose, die den nächsten Moment der TherapeutIn leitet. Dabei handelt es sich um eine ko-konstruktive Form der Beteiligung, die im Herzen eine Form der Diagnose ist, die zu einer differenzierten Intervention führt. Dem Prozess zu folgen, ein zentrales Prinzip der Gestalttherapie, ist also kein mystischer oder esoterischer Prozess, wild und kreativ, jenseits von Beschreiben und Verstehen, sondern vielmehr eine disziplinierte Art und Weise, das Offensichtliche zu erkennen, eine Form der Wahrnehmungs-Differenzierung, ähnlich wie bei RadiologInnen, die Scans ablesen, um Phänomene zu entdecken, die darauf hinweisen, dass bestimmte Prozesse im Inneren passieren. Wir sind der Ansicht, dass die Therapie von der Identifizierung bestimmter Marker als Indikatoren innerer Zustände profitiert, die Möglichkeiten für bestimmte Arten von Handlungen seitens der TherapeutInnen aufzeigen, die diesen Zuständen am besten entsprechen. Diagnose und Intervention unter diesem Licht zu sehen, trägt dazu bei, dass die Kunst und Wissenschaft der Psychotherapie gemeinsam in der Ausübung qualifizierter Praxis zusammenkommen.

Ich gratuliere den HerausgeberInnen dazu, einen Band geschaffen zu haben, der zur Entwicklung der gestalttherapeutischen Theorie beiträgt und die Komplexität des gestalttherapeutischen Ansatzes zur klinischen Praxis mit komplexen Problemen behandelt.

Leslie Greenberg
Toronto, Dezember 2012

Einleitung der Herausgeber

Dieses Buch begann als Projekt in Athen im Jahr 2007, während der 9. EAGT-Konferenz, als wir davon träumten, ein solches Werk zu schaffen. Wir interessieren uns alle seit vielen Jahren für Psychopathologie und besonders für die spezifische gestalttherapeutische Perspektive zu diesem Thema (siehe z. B. Francesetti 2007; Roubal 2007; Francesetti und Gecele 2009). Wir sind GestalttherapeutInnen und PsychiaterInnen und jede(r) von uns hat einen Prozess durchlebt, um diese Hintergründe zu integrieren. Die Gestalttherapie hat unsere Art, ÄrztInnen zu sein, grundlegend beeinflusst: menschliches Leiden zu verstehen, uns mit der therapeutischen Beziehung zu befassen, unsere KlientInnen zu unterstützen, auf uns selbst als TherapeutInnen Acht zu geben. Außerdem hat unsere klinische Erfahrung uns sensibler für spezifische Aspekte des Gestaltansatzes gemacht. Wir waren begeistert von der Vorstellung, die Unterstützung, die uns die Gestalttherapie als ÄrztInnen geboten hat, mit unseren KollegInnen zu teilen und einen Dialog zur klinischen Anwendung unserer Therapieform zu beginnen.

Drei Elemente sind zugleich Hintergründe und Ziele in unserer Arbeit gewesen: Zuallererst gab (und gibt) es eine Lücke zwischen der reichen klinischen Erfahrung vieler GestalttherapeutInnen und der verfügbaren Literatur. Literatur zur gestalttherapeutischen klinischen Arbeit ist ein grundlegendes Werkzeug für Studierende in Ausbildungsprogrammen und bietet zusätzlich eine Unterstützung für den fortlaufenden Dialog über Psychopathologie und ihre Veränderungen im Laufe der Zeit. Diese Literatur ist auch relevant für den Ruf der Gestalttherapie bei KollegInnen anderer Therapieformen und stellt ein Mittel dar, einen Dialog mit ihnen zu führen: Nur allzu oft ist unser Ansatz ausschließlich mit Techniken identifiziert worden, ohne das Wissen um unseren reichen theoretischen Hintergrund, der unsere Praxis leitet. Dieses Buch ist also ein Versuch, auszudrücken und zu beschreiben, was GestalttherapeutInnen in ihrer klinischen Praxis machen und wie unser spezifisches Verständnis von Psychopathologie aussieht.

Ein zweites Element, das uns zu diesem Projekt animiert hat, waren die Vorbehalte, die GestalttherapeutInnen oft gegenüber der Psychopathologie hegen. Es ist aus epistemologischen, historischen und politischen Gründen keine einfache Beziehung. Dennoch gibt es ein spezifisches gestalttherapeutisches Verständnis von Psychopathologie: Jedes psychotherapeutische Modell verfügt darüber, explizit oder implizit. Wir denken, dass die Lehre der humanistischen Bewegungen – die Einzigartigkeit jedes Menschen und jeder Begegnung – immer wertvoll bleibt: Die gestalttherapeutische Psychopathologie ist ein Verstehen des menschlichen Leidens durch unsere Theorie. Sie ist nicht dazu da, unsere KlientInnen mit Bezeichnungen zu versehen. Dieser Prozess ist eine wertvolle Unterstützung in unserer klinischen Praxis. Tatsächlich denken wir, dass das der Gestalttherapie zugrundeliegende Buch von Perls, Hefferline und Goodman gesundes und neurotisches Erleben gut beschrieben hat, dass seine wesentlichen Konzepte jedoch noch ausgeweitet werden können: So kann z. B. die Theorie des menschlichen Erlebens die Basis sein, um psychisch schwer erkrankte KlientInnen und psychotische Funktionsweisen zu verstehen.

Der dritte Punkt, der uns motiviert hat, war unsere Leidenschaft, menschliches Leiden als ein Feldphänomen zu verstehen: Wir haben täglich bei der Arbeit und in unserem Alltag mit Leiden zu tun und werden immer wieder aufs Neue von Leiden herausgefordert. Wir glauben und wir haben erlebt, dass die Gestalttherapie einen Schlüssel bieten kann, um leidenden Menschen beizustehen und sie zu unterstützen und zu verstehen. Zusätzlich bietet uns die Betrachtung menschlichen Leidens als Feldphänomen die Möglichkeit, das individuelle und das soziale Feld besser zu begreifen.

Dies waren die Motivationen, die uns – gepaart mit einem guten Stück Unwissenheit, was den Arbeitsaufwand anging – dazu gebracht haben, mit diesem Buch anzufangen.

Da unser Verständnis von Psychopathologie in vielen Kapiteln angesprochen wird, wollen wir uns hier auf den Untertitel konzentrieren: Von der Psychopathologie zur Ästhetik des Kontakts. In dieser Zeile findet sich der Kern unserer Vision: Im Kontaktprozess kann das menschliche Leiden erreicht und verändert werden, und diese Verwandlung ist ästhetisch. Hier sind zwei Gedanken enthalten: Erstens, dass die Psychopathologie ein ko-kreatives Phänomen des Feldes ist, das an der Kontaktgrenze entsteht und im Kontaktprozess verändert werden kann. Zweitens, dass diese Verwandlung ästhetisch ist: Das heißt, dass sie mit unseren Sinnen wahrgenommen wird, mit ästhetischen intrinsischen Kriterien bewertet wird und sogar Schönheit erschaffen kann.1

Durch diese Mittel können wir die Psychopathologie ins Herz der gestalttherapeutischen Theorie bringen.

Wir wollen den LeserInnen verdeutlichen, dass die klinische Praxis nur eines der Felder ist, auf die die Gestalttherapie angewandt wird. Die gestalttherapeutische Theorie und Praxis können ein Arbeitsmodell für Organisationen, in der Kunst, der Bildung, in einer sozialen und politischen Dimension sein. Die Gestalttherapie kann als ein Weg gesehen werden, um die Gestaltung, den Prozess der Schaffung von Gestalten, die vereinte Gesamtheit der menschlichen Erfahrung zu unterstützen. Die Psychopathologie und die klinische Praxis sind also nur eines der Felder, in denen unsere Theorien nutzbringend angewandt werden können.

Dieses Buch ist in vier Abschnitte unterteilt.

Der erste Teil konzentriert sich auf die grundlegenden Prinzipien in Verbindung mit der Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Hier finden Sie ein paar grundlegende Themen, die vor oder während der klinischen Arbeit besprochen werden müssen: Kernkonzepte und modernisierte Konzepte der Gestalttherapie, die gestalttherapeutische Perspektive zur Psychopathologie, Diagnose und Entwicklung, Ethik, Forschung und die Beziehung zwischen Psychotherapie und Medikamenten.

Im zweiten Teil werden spezifische Kontexte und Fokusse besprochen: Dieser Abschnitt unterstützt die Feldperspektive des Leiden des Individuums und hilft der LeserIn, es im Rahmen sozialer, politischer und multikultureller Dimensionen zu betrachten. Sie finden hier auch zwei spezifische Fokusse, die besonders relevant für die klinische Praxis sind: Entwicklungstheorien und Scham.

Im dritten Abschnitt werden besondere Lebensumstände und Risikosituationen besprochen: Kindheit, Pubertät, Alter, Verlust und Trauer, Trauma und Suizidrisiko.

Im vierten Abschnitt werden verschiedene klinische Leiden aus einer gestalttherapeutischen Perspektive untersucht. Dieser Abschnitt bietet einen Überblick über klinische Erfahrungen und Forschungen zu den psychopathologischen Hauptthemen. Wir haben uns mit vielen klassischen diagnostischen Kategorien befasst: Demenz, abhängiges Verhalten, Psychosen, depressives und bipolares Erleben, Anorexie, Bulimie und Hyperphagie, Psychosomatik, sexuelle Probleme, Persönlichkeitsstörungen (Borderline, Narzissmus, Hysterie), gewalttätiges Verhalten. Wir haben uns für diese Kategorien entschieden, weil sie zum aktuellen psychopathologischen und diagnostischen Vokabular gehören. Wir hoffen, dass die LeserInnen ihren eigenen Weg finden, sich auf diese Kategorien zu beziehen und sie gleichzeitig zu dekonstruieren, wenn die Begegnung mit einer KlientIn die Einzigartigkeit jeder Begegnung zeigt. Wir haben uns bemüht, diese Reise in allen Teilen dieses Bandes zu unterstützen.

Am Ende unserer Arbeit haben wir bemerkt, dass sich die Struktur dieses Buches vom ursprünglichen Projekt unterscheidet: Wir hatten geplant, uns in einem Band auf spezifische klinische Leiden zu konzentrieren, und jetzt ist das der letzte Teil von vieren. Wir denken, dass diese Entwicklung ein wichtiges Thema hervorhebt: Beim Sprechen über Psychopathologie riskiert man immer, einem gewissen Reduktionismus anheimzufallen. Im Einklang mit unserer gestalttherapeutischen Perspektive haben wir daher die Notwendigkeit gesehen, den Grund des klinischen Leidens und der Arbeit zu nähren und zu beleuchten. Auf diese Weise hat dieses Buch – in gewisser Weise spontan – seine endgültige Form angenommen: Eine ziemlich lange und komplexe Reise in den Hintergrund, bevor man sich dem spezifischen individuellen Leiden widmet. Letztendlich spiegelt diese Form einen theoretischen Eckpfeiler dieses Buches: Das individuelle Leiden entsteht aus einem beziehungsbezogenen Grund, und dies gibt der Therapie eine Bedeutung und eine Richtung.

Auf jedes Kapitel folgt ein Kommentar, der von einer anderen AutorIn geschrieben wurde: Es war unser Ziel, eine zweite Meinung zu jedem Thema zu bieten, um es in einen breiteren kritischen Rahmen zu stellen, eine Art binokulare Perspektive, die eine dreidimensionale Betrachtung ermöglicht. Die LeserIn ist diesen unterschiedlichen Perspektiven ausgesetzt: ein komplexer Horizont, der die Komplexität des Feldes in diesem Moment aufzeigt. Das umfangreiche Literaturverzeichnis kann eine wertvolle Orientierung sein, die die meisten Teile der Literatur zur in der klinischen Praxis angewandten Gestalttherapie abdeckt. Wir haben ein paar sehr kritische Kommentare zu manchen Kapiteln erhalten: Wir denken, dass das ein Zeichen der Lebendigkeit ist, und ein Zeichen für ein sich entwickelndes Feld, in dem unterschiedliche Ansichten noch miteinander ringen und nach weiterer Diskussion verlangen.

Die Perspektiven in diesem Buch kommen von der verfügbaren Literatur und der spezifischen klinischen Erfahrung jeder AutorIn. Wir denken, dass dies ein wertvolles klinisches Kleinod ist, und hoffen, dass es zur Forschung auf diesen Gebieten anregt. Hypothetische klinische Konstruktionen zu haben, bietet tatsächlich einen guten Hintergrund für qualitative und quantitative Forschung.

Als HerausgeberInnen, die von einem gemeinsamen Hintergrund ausgegangen sind, haben wir während dieser Arbeit unsere Verschiedenheiten entdeckt und versucht, mit ihnen umzugehen. Und wir haben auch viele Unterschiede zwischen uns und den Autoren und den Autorinnen entdeckt. Wir haben in diesem Buch mehr als fünfzig Beitragende: Dies ist ein weiterer Grund für die Komplexität. Obwohl wir unser Bestes getan haben, um uns auf einen gemeinsamen Horizont hin zu orientieren, gibt es in allen Kapiteln und Kommentaren unterschiedliche Arten, Psychopathologie zu betrachten. Dieses Buch bietet ein Bild der Komplexität des gestalttherapeutischen Ansatzes, der in der klinischen Praxis angewandt wird. Die LeserInnen können die unterschiedlichen Ansätze mit der geographischen Herkunft der AutorInnen (sie kommen aus ungefähr zwanzig verschiedenen Ländern) und der Entwicklung der gestalttherapeutischen Theorie in Verbindung bringen. Eine reicher Grund und Zeuge eines wachsenden Feldes.

Abschließend hoffen wir, dass dieses Buch eine gute Form bekommen hat: Ein polyphoner Chor, in dem jede Stimme ihre eigenen Qualitäten hat und zu einem holistischen Ganzen beiträgt. Es ist jedenfalls die Form, die wir in diesen Zeiten fördern wollen und die unsere eigenen und die Ressourcen und Stärken des Feldes darstellt. Wir hoffen auch, dass dieser Band ein Ausgangspunkt für zukünftige Entwicklungen sein wird: ein Stimulus für TherapeutInnen und ForscherInnen, die Reichhaltigkeit der Gestalttherapie zu erweitern.

Wenn wir unsere oben beschriebenen Motivationen betrachten, können wir sagen, dass wir zufrieden sind: Wir denken, dass dieses Buch signifikante Literatur in einem breiten Feld darstellt und ein grundlegendes Werkzeug für die klinische Arbeit bieten kann.

Wir wollen dieses Buch Isadore From widmen: Seinen Anstrengungen, die Gestalttherapie zu einem kohärenten klinischen Ansatz bei der Behandlung von Psychopathologien zu machen.

Wir richten dieses Buch an unsere GestaltkollegInnen in der klinischen Praxis, an AusbildnerInnen und Auszubildende in ihrem lehrenden/lernenden Unterfangen. Aber auch an TherapeutInnen anderer Richtungen: Sie können hier einen neuen Weg entdecken, Psychopathologie zu behandeln, und in einer Zeit des Dialogs und der Integration hoffen wir, dass dieser Band eine Brücke zwischen unterschiedlichen Perspektiven bildet.

Gianni Francesetti
Michela Gecele
Jan Roubal

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Dieses Buch hat nicht nur einen imposanten Umfang, es zeichnet sich auch durch gleich vier Vorworte aus, ein Hinweis auf die Besonderheit der deutschsprachigen Ausgabe, die nicht nur eine Übersetzung, sondern Ergebnis eines umfassenden Transfer- und Aneignungsprozesses geworden ist.

Die Entstehung des Buches ist die Bildung einer Figur vor dem Hintergrund der kontemporären europäischen Gestalttherapie, in der Zusammenführung von Menschen und Ideen unterschiedlicher Herkunft, Kontexte und Erfahrungen. Die deutschsprachige Ausgabe entspricht der Differenzierung und Auswertung sowie der Einordnung in den deutschsprachigen Kontext.

Der Prozess der Entwicklung der deutschen Ausgabe war langfristig und kompliziert, immer mal wieder ins Stocken geratend und viele Ressourcen, finanziell, zeitlich und personell bindend. Der Beginn war trotz des erklärten Willens aller Beteiligten ein Kraftakt: Rahmenbedingungen, Handlungsspielräume, Ressourcen und Schnittstellen mussten definiert werden, um den Startschuss geben zu können.

»Passend machen« und »zerkauen statt introjizieren« sind für GestalttherapeutInnen vertraute Prozesse. Und so haben nach der fachkundigen Übersetzung von Anna Jell, GestalttherapeutInnen, die Lektorin Rita Kloosterziel und in einem weiteren Schritt erfahrene GestaltkollegInnen diesen Aneignungsprozess für die deutschsprachige Ausgabe gestaltet. Rosemarie Wulf und Deidre Winter haben mit Unterstützung von Achim Votsmeier-Röhr das Buch mit ergänzenden Literaturverweisen auf deutschsprachige Literatur versehen und geben damit den LeserInnen einen Eindruck des oft nicht sichtbaren Reichtums der deutschsprachigen Gestalttherapieliteratur. Die Literaturliste der Originalausgabe findet sich am Ende des Buches.

Das Erscheinen dieses Werks wurde möglich durch die unkomplizierte Absprache mit den HerausgeberInnen der Originalausgabe, insbesondere mit Gianni Francesetti, und dem erklärten Willen der DVG (Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie), ÖVG (Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie), und der FS IGT im ÖAGG (Fachsektion für Integrative Gestalttherapie im Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik), dieses Projekt zu stemmen. Die Vorstände und Mitglieder der Verbände, insbesondere der DVG, haben durch ihre Zustimmung die Bereitstellung der finanziellen Ressourcen ermöglicht. Ganz herzlichen Dank für diese weichenstellende Unterstützung. Dank und Anerkennung gebührt auch der Übersetzerin Anna Jell, die sich in beeindruckender Geschwindigkeit und Gründlichkeit durch das Werk arbeitete, vielen GestaltkollegInnen, die mit Rat und Tat zur Verfügung standen, insbesondere Christiane Molkenbuhr und Andreas Weichselbraun, der schon einen Vorabdruck im ersten Heft 2013 der Zeitschrift »Gestalttherapie – Forum für Gestaltperspektiven« auf den Weg brachte – und ganz besonders dem Verleger der deutschen Ausgabe Andreas Kohlhage, der kompetent und geduldig diesen Prozess begleitete.

In Hinblick auf eine gendersensible Schreibweise standen wir vor der Herausforderung, einen entsprechenden Ausdruck zu finden, ohne die Lesbarkeit der unterschiedlichen Kapitel zu beeinträchtigen. Auch dazu gab es kontroverse Standpunkte. Nachdem wir durch den bereits erwähnten deutschen Vorabdruck des Kapitels über Depressionen von Francesetti & Roubal Resonanzen von LeserInnen zur verwendeten Genderform berücksichtigen konnten, fiel es leichter, uns auf die nun verwendete Form zu einigen.

Allein im letzten Kapitel des Buches von Dieter Bongers wählen wir die geschlechtsneutrale Formulierung nur dann, wenn es der tatsächlichen Situation entspricht. Weitgehend wird hier die männliche Form verwendet, weil der Autor vorwiegend mit männlichen Straftätern (ge-)arbeitet (hat).

Nun noch einige wenige Worte zum Inhalt des Buches:

Die große Gruppe internationaler AutorInnen hat es geschafft, das schwer Fassbare fassbar zu machen.

Es ist gelungen, Brücken zu schlagen zwischen Sprache und Intuition – wie etwa im dritten Kapitel zum gestalttherapeutischen Ansatz in der Diagnosestellung deutlich wird – sowie eine Verbindung zwischen klinischer Diagnose und Gestaltansatz herzustellen. Mit Akribie und Genauigkeit werden die auf einem phänomenologischen Ansatz beruhenden komplexen Vorgänge einer auf der therapeutischen Beziehung gründenden Psychotherapie versprachlicht.

In seinem Kapitel zur situativen Ethik beschreibt Dan Bloom das Verständnis der Gestalttherapie zur Ästhetik des Kontaktes, und wir hoffen, dass diese Ästhetik auch beim Lesen der deutschen Ausgabe erfahrbar wird. Wie auch schon Leslie Greenberg im Vorwort zur Originalausgabe erwähnt, sind wir der festen Überzeugung, dass dieses Buch ein Meilenstein für die klinische Anerkennung und wissenschaftliche Verankerung der Gestalttherapie ist. Die Gestalttherapie wird mit ihrem reichen Schatz an theoretischen Grundlagen in ihren vielen Facetten und Anwendungsbereichen sichtbar.

Dazu gehört auch die Einordnung dieses Buches in den deutschsprachigen Kontext und die aktuelle Fachdiskussion zur Anerkennung der Gestalttherapie in Deutschland mit dem Geleitwort von Lotte Hartmann Kottek, die als gestalttherapeutische Psychiaterin und Psychotherapeutin seit Jahren die Berücksichtigung der Gestalttherapie in der psychotherapeutischen Versorgung einfordert.

Als GestalttherapeutInnen erachten wir es nicht nur als notwendig und unumgänglich, sondern auch als fruchtbar und förderlich, einen fachlichen Diskurs mit anderen Psychotherapiemethoden und verwandten Professionen zu führen. Dafür bietet dieses Werk einen soliden und sicheren Boden, verwurzelt in unserer eigenen Theoriebildung, um eine fundierte Auseinandersetzung auf dem Parkett der Psychotherapie führen zu können.

Ein Grundlagenwerk, das das Thema der Diagnostik psychischer Störungen im gestalttherapeutischen Verständnis von Beziehung und sozialem Feld verortet, ist von unschätzbarem Wert für die Weiterentwicklung der Gestalttherapie und in ihren Bestrebungen zur wissenschaftlichen Anerkennung.

Es gibt der Identität der Gestalttherapie Form und Figur und ist so im Dialog und Austausch mit anderen von großer Unterstützung.

Wir wünschen diesem Buch viele LeserInnen aus vielen Kontexten. Wir hoffen, dass Sie dieses Buch zerkauen, assimilieren und sowohl in klinisch praktischer Anwendung als auch in der Theoriebildung für sich nutzbar machen, dass es unterstützt, neue Perspektiven zu gewinnen und somit nicht zuletzt jene Menschen, mit denen wir arbeiten, davon profitieren.

Als Vertreterinnen unserer Nationalen Organisationen für Gestalttherapie – DVG und ÖVG – im General Board der EAGT (Europäischen Association for Gestalttherapy) haben wir dieses Projekt initiiert, und nun ist es uns eine große Freude, dass dieses Buch erscheint.

Veronica Klingemann,
Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie, DVG
Beatrix Wimmer,
Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie, ÖVG

Vorwort: Klinische Gestalttherapie und die gesundheitspolitische Situation in Deutschland

Das nun auch in deutscher Sprache erschienene Werk über die weltweite gestalttherapeutische klinische Weiterentwicklung füllt eine gravierende Lücke. Es ist den drei Initiatoren zu verdanken – selbst engagierte und erfahrene gestalttherapeutische Psychiater –, dass das Werk das Erfahrungswissen speziell im Bereich der schwereren psychiatrisch-psychotherapeutischen Störungen erfasst. Dabei wird die vielfältige Behandlungserfahrung bei Patienten aller wesentlichen Problemfelder im Bereich der Psychotherapie, Psychiatrie, Psychosomatik einbezogen. Es beinhaltet auch Gesichtspunkte einer modernen kulturorientierten Soziotherapie mit Migrationsproblematik. Deutlich wird, wie wirksam die Beziehungsdimension gerade bei diesen schweren Krankheitsbildern ist, wenn sie im gestalttherapeutisch-humanistischen Sinn angemessen und im guten Sinne professionell eingesetzt wird. In der Beziehungsgestaltung liegt ein sehr großes Heilungspotenzial verborgen, das die konventionelle Medizin und speziell die Psychiatrie etc. verschenken. Ich kann das aus meiner Erfahrung voll bestätigen. (Ich leitete ab 1978 zehn Jahre lang in Deutschland die erste gestalttherapeutisch geführte Abteilung für Psychiatrie/Psychotherapie/Psychosomatik.)

Der Dank gebührt sowohl dem Idealismus der beteiligten Wissenschaftler und praktizierenden Fachvertreter als auch der EAGT (European Association for Gestalt Therapy), unter deren Schirm die Beiträge in englischer Sprache gesammelt worden sind – sowie schließlich der DVG (Deutsche Vereinigung Gestalttherapie), ÖVG (Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie) und der FS IGT im ÖAGG (Fachsektion für Integrative Gestalttherapie im Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik), die für die deutsche Übersetzung Sorge trugen.

In Verbeugung vor dem dialogischen Prinzip der Gestalttherapie und der Bedeutung seiner Kontaktgestaltung ist das Werk dialogisch konzipiert: Markante Vertreter antworten einander, teils verstärkend, teils kritisierend, teils ergänzend und potenzierend, und setzen so Impulse zur lebendigen Weiterentwicklung. So erweist sich die Gestalttherapie als geistiger Fluss mit bewährten relativierten und innovativen Strängen.

Der Untertitel »Von der Psychopathologie zur Ästhetik des Kontakts« mag manche Kollegin, manchen Kollegen verwundern. Hier taucht ein Gesichtspunkt auf, der im internationalen Mainstream der Fächer Psychiatrie/Psychotherapie/Psychosomatik nicht wahrgenommen wird: Es geht im Kontaktverhalten nach innen und außen auch um Phänomene der Stimmigkeit zwischen den verschiedenen Teil-Kompetenzen, die das Kontaktverhalten modulieren bzw. ihm Dissonanzen oder Konsonanzen verleihen.

Entgegen dem Vorurteil der eigenen ersten Generation konnte – vor allem dank der Forschergruppe um Leslie Greenberg aus Kanada – die gestalt-typische Vorgehensweise der schrittweisen Prozessorientierung schließlich doch für die Forschung zugänglich gemacht werden. Sie entspricht in der Psychotherapieforschung einem Quantensprung. Greenberg sieht durch die Prozess-Forschung für die dritte Generation das Potenzial, Theorie und Praxis der Gestalttherapie auf einem höheren Reflexionsniveau als bisher integrieren zu können.

Die Wirksamkeit von Psychotherapieverfahren wird heute in Effektstärken (ES) angegeben. Nach Cohen gilt 0.5 ES als mittlere, 0.8 ES als gute Wirksamkeit. Der Durchschnitt der amerikanischen Humanistischen Verfahrensgruppe (Gestalttherapie, Gesprächstherapie, Psychodrama, Emotion FocusedTherapy) liegt in der Metaanalyse von R. Elliott1 bei 0.93 ES, punktgleich mit der CBT/Verhaltenstherapie (cognitive behavioral therapy). Die psychodynamische Gruppe, die aus Psychoanalyse und Tiefenpsychologie besteht, liegt jetzt wie früher deutlich darunter.

Gestalttherapie ist heutzutage dasjenige Psychotherapie-Verfahren, das weltweit die höchsten Effektstärken aufweist. Phil Brownell2 berechnete für die Gestalttherapie eine ES zwischen 1.12 und 1.42 ES, je nach Diagnosegruppe.

Ausschließlich in Deutschland herrscht ein beschämender Sonderstatus: Hier wurden 1998 aufgrund einer berufspolitischen Verbandsinitiative der derzeitigen »Richtlinien-Verfahren« die humanistischen und systemischen Verfahren per Gesetz für die staatliche Patientenversorgung nicht zugelassen, obwohl (oder weil!) vor allem die humanistische Gruppe bessere Wirksamkeitsstudien vorlegen konnte als im Durchschnitt die (interessengeleitet) später gesetzlich zugelassenen. Fazit: Deutschen Patienten werden derzeit die wirksamsten Psychotherapien vorenthalten. Die Mehrkosten hat die Versichertengemeinschaft zu zahlen. Korrigierende öffentliche Aufklärungsinitiativen über diesen Missstand sind seit einiger Zeit im Gange.

Wir wünschen uns und unseren Patienten, dass in naher Zukunft auch in Deutschland Wissenschaft, Vernunft und Gerechtigkeit die Oberhand bekommen.

Lotte Hartmann-Kottek
Juli/August 2014

TEIL I

Grundlegende Prinzipien der Gestalttherapie in der Klinischen Praxis

1. Grundlagen und Entwicklung der Gestalttherapie im Kontext der Gegenwart1

Margherita Spagnuolo Lobb

Wenn wir uns ansehen, wie die wichtigsten Prinzipien der Gestalttherapie von ihren Anfängen bis zum heutigen Tag beschrieben wurden, wird deutlich, dass es keine einheitliche Darstellung der Grundwerte unseres Ansatzes gibt.2 Immer, wenn wir versuchen, unsere Theorie zu beschreiben, müssen wir diese Beschreibung in dem historischen Moment verankern, in dem wir leben, und sie den aktuellen Bedürfnissen der Gesellschaft anpassen.

Es mag aussehen, als hätten moderne Darstellungen kaum noch etwas mit den ursprünglichen Prinzipien gemeinsam. Sie sind jedoch das Ergebnis einer natürlichen und nachvollziehbaren Entwicklung, die sich in der Beziehung zwischen der Gesellschaft und der Psychotherapie vollzogen hat – ebenso wie zwischen der Gesellschaft und der Anthropologie, der Gesellschaft und der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Technologie usw. Unser Ansatz braucht Entwicklung, wie jeder andere Ansatz auch. Um sie zu fördern und mit ihr Schritt zu halten, ohne dabei unsere Wurzeln zu verlieren, bedarf es einer hermeneutischen Methode (Spagnuolo Lobb 2001c): Sie ermöglicht es, die ursprünglichen Prinzipien unseres Ansatzes in einen bestimmten sozio-kulturellen Kontext zu stellen, und betrachtet ihre Entwicklung parallel zur Entwicklung der Bedürfnisse von Gesellschaft und Kultur.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist es wichtig, die epistemologischen Prinzipien der Gestalttherapie zu definieren, die es zu respektieren gilt: Sie bestimmen die Grenzen, innerhalb derer Entwicklungen stattfinden können. Ein Beispiel: Bei der Arbeit mit der Technik des Leeren Stuhls, einer grundlegenden und sehr effektiven Technik, die den Kern unseres Ansatzes verkörpert, muss die veränderte Befindlichkeit der Gesellschaft in Betracht gezogen werden. Die Technik des Leeren Stuhls zielt darauf ab, dass sich die KlientIn auf ihr körperliches Erleben konzentriert und dadurch ihre Selbstregulierung unterstützt. Das wesentliche Element der Selbstregulierung entsteht beim Zusammenführen des physiologischen Erlebens (im Gegensatz zum geistigen) mit Systemen vorangegangener Kontakte (die Definition dessen, wer ich bin) und der Fähigkeit zu reflektieren. Diese grundlegende Technik wurde zu einer Zeit entwickelt, in der das Vertrauen in das eigene Potenzial einen wesentlichen Faktor bei dem Bemühen darstellte, Unabhängigkeit vom/von der Anderen zu erlangen. Auf den Leeren Stuhl werde ich an anderer Stelle detailliert eingehen; hier möchte ich jedoch einen Punkt hervorheben: Wenn wir heute mit der Technik des Leeren Stuhls arbeiten, müssen wir berücksichtigen, dass unsere moderne Gesellschaft nicht vorrangig nach Autonomie und der Lösung von Bindungen strebt. Wir haben vielmehr das Bedürfnis, Bindungen zu schaffen, in denen wir die Erfahrung machen können, vom/von der Anderen wahrgenommen und festgehalten zu werden. Die Technik gehört also nach wie vor zu unseren besten Methoden, doch wir müssen sie mit einem anderen Ziel einsetzen (und den Schwerpunkt entsprechend verlagern).

Diese hermeneutische Vorgehensweise ist für unser Modell von entscheidender Bedeutung, wenn es überleben und sich entwickeln soll.3 Gleichzeitig bewahrt sie uns vor einem naiven Einsatz von Konzepten und Techniken. Dies ist besonders wichtig, wenn wir schwere Störungen behandeln und uns im Bereich der Psychopathologie zurechtfinden wollen, die heutzutage überall anzutreffen ist. Das Überleben unseres Modells hängt davon ab, ob es uns gelingt, uns psychopathologischen Themen zuzuwenden (Francesetti 2005).

Uns ist allen bewusst, dass die Gestalttherapie nicht mit der Absicht entwickelt wurde, Psychosen oder schwere Störungen zu heilen. Zur Zeit ihrer Entstehung war jedoch die Psychotherapie im Allgemeinen nicht auf die Behandlung schwerer Störungen ausgerichtet. Die bi-univoke Beziehung zwischen Psychotherapie und Gesellschaft lenkte immer besondere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft durch einen Mangel an Beständigkeit geprägt ist, der zu einem bestimmten Zeitpunkt zutage tritt. In den Anfängen der Gestalttherapie wurde diese fehlende Beständigkeit zum Beispiel in solchen Fragen deutlich: »Wer ist im Besitz der Wahrheit? Die HeilerIn oder die, der geholfen wird? Wohnt menschlichem Beziehungsleiden Würde und eine potenzielle Autonomie inne oder geht es dabei einfach um mangelnde soziale Anpassung? Müssen soziale Minderheiten und ›andersartige‹ Gefühle und Lebensweisen gesteuert und ›normalisiert‹ werden oder sollten sie vielmehr als wichtige Ressource für die Selbstregulierung der Gesellschaft bestärkt werden?«

Damals war die Psychopathologie nicht von großem Interesse für die Psychotherapie: Schwere Störungen betrachtete man als etwas, das sich weitgehend fernab des alltäglichen Lebens abspielte. Verrückte lebten in psychiatrischen Einrichtungen und soziale Probleme hatten nichts damit zu tun.

Als die gesamte Gesellschaft im Lauf der Zeit immer öfter mit psychopathologischem Leiden konfrontiert wurde, war auch die Psychotherapie gezwungen, sich dafür zu interessieren. Seit den 80er-Jahren muss sich jedes Psychotherapiemodell, das überleben will, mit der Tatsache auseinandersetzen, dass schwere Störungen auf dem Vormarsch sind, und nach neuen Ideen und Techniken suchen, um ihnen vorzubeugen und sie zu behandeln. Der Begriff »schwere Störungen« bezieht sich meist auf das Erleben innerhalb menschlicher Beziehungen: unkontrollierbare Angst, das Empfinden, sich selbst zu verlieren, und die gefühlte Unfähigkeit, sein eigenes alltägliches Leben fortzuführen.

In diesem Kapitel schildere ich zunächst, wie sich die Befindlichkeit der Gesellschaft und die Psychotherapie in den letzten sechzig Jahren (seit den Anfängen der Gestalttherapie) entwickelt haben. Anschließend beschreibe ich die Prinzipien und die Grundwerte unseres Ansatzes aus der Perspektive der heutigen Gesellschaft. Dann wird das gestalttherapeutische Konzept von Psychopathologie und kreativer Anpassung erläutert und in der Gesellschaft der Gegenwart verortet. Abschließend möchte ich den notwendigen Wandel in der Gestalttherapie anregen, hin zu einer Auseinandersetzung mit dem Begriff der »Psychopathologie«, der bis in die 80er-Jahre aus unserem Wortschatz verbannt war.

Ich werde versuchen, alle theoretischen Aussagen durch klinische oder auf Beziehungen bezogene Beispiele zu ergänzen, um dem pragmatischen Geist der Gestalttherapie gerecht zu werden.

1. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Befindlichkeit und der Psychotherapie

Fast alle psychotherapeutischen Ansätze entstanden um die 1950er-Jahre herum und erlangten in den folgenden zwanzig Jahren größere Bekanntheit. Seit damals haben sich unsere PatientInnen stark verändert, und so stehen wir vor der Herausforderung, unsere Formulierungen und unsere Methode zu modifizieren und dabei einerseits im Einklang mit der Epistemologie unseres Ansatzes zu bleiben und andererseits neue Instrumente zu schaffen, die geeignet sind, die heutigen Probleme zu lösen. Lassen Sie uns die klinische Entwicklung dieser sechzig Jahre näher betrachten:

• 1950 bis 1970:

Dies war die Zeit, in der die meisten psychotherapeutischen Methoden ihre weiteste Verbreitung fanden. In diesem Zeitabschnitt, in dem Soziologen von der »narzisstischen Gesellschaft« (Lasch 1978) sprachen, zielten alle neuen psychotherapeutischen Ansätze auf die Lösung eines Problems ab, das aus persönlichen Beziehungen und den sozialen Gegebenheiten erwuchs: Wie sollte man dem Potenzial des wirklichen Lebens mehr Würde verleihen, dem Freud in seinen letzten Formulierungen ein Schattendasein zugewiesen hatte, als er der Macht des Unbewussten größere Bedeutung einräumte? Freuds mehr oder weniger rebellische »Nachkommen« – Otto Rank mit seinem Konzept von Wille und Gegenwille (Rank 1941), Adler (1924) mit dem Konzept des Machtstrebens und Reich (1945) mit seinem absoluten Vertrauen in die Sexualität (siehe Spagnuolo Lobb 1996, 72 ff.) – hatten zu Beginn des Jahrhunderts einer veränderten psychosozialen Sichtweise auf menschliche Beziehungen Ausdruck verliehen: Das »Nein« der Kinder (und der PatientInnen) ist gesund, Machtgefühle sind »normal«, körperliche Energie und Sexualität kann man ganz ausleben, ohne in orgiastischem Chaos zu versinken.

Die philosophische Entsprechung dieses Wandels findet sich in den Gedanken Nietzsches.4 Im Bereich der Kunst spiegelten neue Ausdrucksformen, von Jazz bis zum Surrealismus (man denke nur an die fragmentierten Figuren Mirós), den Wunsch wider, neue subjektive Perspektiven zu manifestieren. Auf politischer Ebene zeugten Gesetze zum Schutz von Minderheiten als Reaktion auf diktatorische Regimes von dem Bestreben, allen erdenklichen menschlichen Lebensformen Würde zuzubilligen.