cover

EHP – PRAXIS

Hg. Andreas Kohlhage

Die AutorInnen:

Ina Jäkel, Jg. 1961; Pädagogikstudium und sozialtherapeutisches Zusatzstudium an der Humboldt-Universität Berlin, Masterabschluss in Kommunikationspsychologie an der Dresden International University; seit mehreren Jahren in Leitungsfunktionen bei einem gesetzlichen Unfallversicherungsträger; Mitarbeit in Gremien der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) und freie Dozentin in den Themenfeldern »Gesundheitsgerechte Kommunikation«, Gesundheitsförderung und Prävention u. a. an der Dresden International University.

Gisbert Stein, Jg. 1958; Pädagogikstudium an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Masterabschluss in Gesundheitswissenschaften an der Leuphana-Universität Lüneburg; zunächst Tätigkeit als Gruppenpsychotherapeut, dann als Verwaltungsleiter in einer Fachklinik für Abhängigkeitskranke. Anschließend übernahm er eine Stabstelle beim Senator für Wirtschaft, Gesundheit und Soziales bei der Hansestadt Lübeck, danach führte er als Geschäftsführer ein mittelständisches Unternehmen. Seit 2009 ist er selbstständiger Trainer und Dozent für Führungskräfte, Supervisor und Business Coach.

Ina Jäkel / Gisbert Stein – UNTERNEHMEN(S)GESUNDHEIT – Betriebliches Gesundheitsmanagement in der Praxis – EHP 2016 –

Zeichnungen: Matthias Jäkel
Redaktion: Monika Cyran

Umschlagentwurf: Uwe Giese

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-89797-095-3 (print)

Inhalt

Vorwort (Herbert Bock)

Einleitung

Aus der Praxis für die Praxis: das Themenfeld Unternehmen(s)gesundheit

Welcher Inhalt erwartet Sie?

Gesundheit in Unternehmen

Situation und Auswirkungen

Prävalenz psychischer Störungen und Entwicklung der Arbeitsunfähigkeitstage

Auswirkungen von psychischen Störungen

Auswirkungen und Folgen für Betroffene

Exkurs: Historische Dimension psychischer Störungen

Auswirkungen und Folgen für Angehörige

Auswirkungen und Folgen im Arbeitsumfeld

Auswirkungen und langfristige Folgen von psychischen Störungen für Unternehmen

Führungskräfte als Akteure und Betroffene

Führungskräfte im Netz von Anforderungen

Führungskräfte als selbst Betroffene

Gesundheitsverhalten und Gesundheitszustand von Führungskräften

Einstellungen von Führungskräften gegenüber Menschen mit psychischen Störungen

Warum Führungskräften das aktive Handeln so schwer fällt

Wie findet Personalführung bei psychischen Auffälligkeiten im Unternehmen statt?

Unternehmen im Netz von Anforderungen und ihre Auswirkungen für Menschen mit psychischen Belastungen und Störungen

Präventionsnotwendigkeiten und Präventionsmöglichkeiten in Unternehmen

Verhaltensprävention im Setting Unternehmen

Verhältnisprävention im Setting Unternehmen

Führung als Präventionsinstrument für psychische Gesundheit

EAP: Externe Mitarbeiterberatung, ein Instrument der Sekundärprävention

Wie betrieblicher Arbeits- und Gesundheitsschutz mit gesundheitsrelevanten Themen umgeht

Arbeits- und Gesundheitsschutz aus Sicht der verantwortlichen Akteure

Erlebter Arbeits- und Gesundheitsschutz im Unternehmen kommunikationspsychologisch betrachtet

Gesundheit als Last – was die Sprache des Gesetzes bei den Beteiligten auslösen kann

Wie gesundheitsrelevante Themen kommuniziert werden

Handeln im systemischen Kontext

Handlungsableitungen für die Praxis

Gesundheit als Lust vermitteln: primärpräventive Strategie im Unternehmen

Reflexionsphasen in Meetings einbauen: zwei Beispiele

Der präventive Nutzen des bewussten Umgangs mit sprachlichen Bildern

Lage- und Handlungsorientierung der Individuen im betrieblichen Gesundheitsmanagement erkennen, beachten und nutzen

Kommunikationskultur situations- und persönlichkeitsgerecht gestalten

Selbstreflexion als Weg zur Achtsamkeit auf allen Ebenen fordern und fördern – Selbstreflexion als Kernelement von Achtsamkeit und Selbstsorge

Selbstreflektiertheit in der Gesprächsführung als Merkmal gesundheitsgerechter Kommunikation im Unternehmen

Unternehmenskommunikation gesundheitsgerecht gestalten

Gesundheitsgerechte Kommunikationskultur: Aspekte für das Unternehmensmanagement

Gesundheitsgerechte Kommunikationskultur: Aspekte für Führungskräfte der mittleren und der unteren Ebene

Anspruch an eine gesundheitsgerechte Kommunikationskultur: Aspekte für das Arbeitsschutz- und Gesundheitsmanagement

Das HaSiER -Modell® – Orientierungsangebot für die gesundheitsgerechte Kommunikationsgestaltung in Unternehmen

Das HaSiER-Modell® im Überblick

Anwendungsmöglichkeiten des Modells in der Praxis

Gesundheitsgerechte Kommunikationskultur: Aspekte für das Problemfeld der »psychischen Störungen« in Unternehmen

Handlungsableitungen für den Umgang mit auffälligen Mitarbeitern als Sekundärprävention

Gespräche mit auffälligen Mitarbeitern – Hinweise für Führungskräfte

Wie spreche ich Auffälligkeiten an? – Allgemeine Hinweise

Wie spreche ich Auffälligkeiten an? – ein Fallbeispiel

Besonderheiten in der direkten Kommunikation mit psychisch belasteten oder psychisch gestörten Beschäftigten

Abschließende Gedanken anstelle eines Schlusswortes

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Vorwort

Das vorliegende Buch ist viel mehr als eine wissenschaftlich fundierte Belehrung zu wünschenswerten Führungskompetenzen in einer globalisierten, beschleunigten und verdichteten Arbeitswelt, in deren Rahmen seit Jahrzehnten eine Zunahme an psychischen Erkrankungen von Mitarbeitern Fakt ist. Ina Jäkel und Gisbert Stein ist es gelungen, die einschlägigen Themen zur Prävention von psychischen Erkrankungen auch durch eigene Untersuchungsergebnisse auf den Unternehmenskontext zu beziehen und in Handlungsempfehlungen praxisnah und durch Fallbeispiele veranschaulicht überzeugend zu präsentieren.

Das Buch bietet zunächst eine hoch informative Zustandsbeschreibung psychischer Belastungsfaktoren sowie einen Überblick über deren Auswirkungen und Folgen für den Einzelnen und die Unternehmen in der modernen Arbeitswelt. Um die nötigen Impulse für eine erfolgreiche Prävention psychischer Erkrankungen in Unternehmen wirksam werden zu lassen, wird der Stellenwert von Führungskräften zur Sicherung der betrieblichen Arbeitsund Gesundheitsschutzmaßnahmen herausgearbeitet. Auf der Basis eigener Untersuchungsergebnisse zeigen die Autoren sehr deutlich auf, dass nicht wenige Führungskräfte die Kommunikation von Arbeits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen als lästige Zusatzbelastung bewerten, die das eigentliche operative Geschäft behindert.

Im Gegensatz dazu sind entsprechende Aufgaben aus Sicht der Autoren nicht als Pflicht, sondern als wichtige Führungsaufgabe anzusehen. Eine erfolgreiche Realisierung dieser Aufgaben dient letztlich sowohl den einzelnen Mitarbeitern als auch den Unternehmen als Ganzen.

Der Umgang mit gesundheitsrelevanten Themen in Unternehmen wird von Jäkel & Stein aus gesundheitswissenschaftlicher und kommunikationspsychologischer Perspektive beleuchtet und kritisch diskutiert. Handlungsempfehlungen werden u. a. mit dem Ziel aufgezeigt, die kommunikative Vermittlung von Gesundheitsthemen mit Lust als ernsthafte Aufgabe in Angriff zu nehmen. Dabei sind sowohl die eigenen Haltungen zu reflektieren, sprachliche Besonderheiten der Kommunikation zu beachten und Persönlichkeitsbesonderheiten von Mitarbeitern zu berücksichtigen. Dass auch diese Aufgaben – wie das operative Geschäft – im Kontext der Unternehmensziele und der Unternehmenskultur zu betrachten sind, versteht sich für die Autoren von selbst und wird als wesentliche Führungskompetenz an zahlreichen Fallbeispielen veranschaulicht.

Dass Führungskräfte neben ihrer fachlichen Kernkompetenz zunehmend als weitere Kernkompetenz auch ausgewiesene kommunikative Fertigkeiten z. B. bei der Realisierung ihrer Aufgaben der Betrieblichen Gesundheitsförderung benötigen, wird dem Leser des Buches nachdrücklich vor Augen geführt und durch vielfältige praktische Erfahrung bestätigt.

Prof. Dr. Herbert Bock, Dresden im Sommer 2015

Einleitung

Gesundheit als individuelles Phänomen wurde in den letzten Jahren öffentlich immer stärker ganzheitlich und im gesellschaftlichen Kontext diskutiert. Warum auch nicht? Schließlich ist jeder von uns Teil eines oder mehrerer sozialer Gebilde. Ob in der Partnerschaft, der Familie, im sozialen Umfeld von Nachbarschaft, Beruf oder Aus- und Weiterbildung, wir treten in Interaktion mit anderen Individuen und beeinflussen uns in unseren Gedanken, Emotionen, Haltungen und damit im Handeln gegenseitig. Außerdem sind wir geprägt von dem, was global um und mit uns geschieht. Wir sind Element in Mikro- und Makrosystemen mit allem, was wir an Prägungen, Erfahrungen und erworbenen Mustern im Rahmen der Interaktion mit anderen Menschen einbringen und durch andere erfahren.

Seit Gründung der Weltgesundheitsorganisation 1946 besteht Konsens darüber, dass Gesundheit nicht nur »das Freisein von Beschwerden und Krankheit« einschließt, sondern als ein »Zustand des vollständigen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens« zu begreifen ist (vgl. WHO 2002).

Nach systemischem Ansatz kann Gesundheit des Einzelnen nur im Kontext mit den heutigen gesellschaftlichen Fragen und im Zusammenhang mit der herrschenden Kultur der Teilsysteme, denen wir angehören, betrachtet werden. Gesundheit ist damit nicht nur Privatangelegenheit, sondern Merkmal, Indikator und Einflussfaktor eines funktionierenden Unternehmenssystems.

In modernen Unternehmen wird dem Thema Mitarbeitergesundheit immer mehr Beachtung geschenkt. Die Ausstattung der Arbeitsplätze, die Umsetzung technischer Arbeitsschutzmaßnahmen und die Minimierung von Arbeitsunfällen haben in den letzten Jahren immer größere Fortschritte zu verzeichnen. Psychische Fehlbelastungen und psychische Erkrankungen bei der Arbeit gewinnen in der öffentlichen Diskussion immer mehr an Bedeutung. Die betrieblichen Akteure des Arbeitsschutzes und der Gesundheitsförderung ringen gemeinsam mit den Unternehmensleitungen um einen adäquaten Umgang mit dieser Herausforderung, nicht zuletzt aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen von psychisch bedingten Fehlzeiten der Beschäftigten. Deshalb wenden wir uns in den einzelnen Kapiteln immer wieder besonders der psychischen Gesundheit in Unternehmen zu.

Dieses Buch soll vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse und unserer Erfahrungen aus der Praxis den Umgang mit dem Thema Gesundheit in Unternehmen hinterfragen und beteiligte Akteure für eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Gesundheitsmanagementpraxis sensibilisieren und motivieren. Gesundheit im Unternehmen systemisch zu analysieren, zu denken, zu ermöglichen und gesundheitsgerecht zu kommunizieren, heißt, den Anspruch zur Förderung der physischen und insbesondere der psychischen Gesundheit bei der Arbeit zu leben. Im Unterschied zu anderen Veröffentlichungen greifen wir die Thematik nicht nur in erster Linie im Sinne von Leitfäden, Checklisten oder Handlungsanleitungen für Führungskräfte auf. Führungsverhalten ist bei der Prävention psychischer Störungen im Arbeitsgeschehen ein wesentlicher Dreh- und Angelpunkt. Es findet jedoch unter Rahmenbedingungen und in individuellen und organisationsspezifischen Mustern statt, die es wesentlich prägen und die es zu reflektieren gilt. Daher blicken wir auf das Gesamtsystem Unternehmen und ermutigen zu einer veränderten und gesunden Unternehmenskultur. Unser Buch richtet den Fokus auf die menschlichen und unternehmerischen Kommunikationsstrukturen mit ihren systemischen Verknüpfungen und damit verbundenen Auswirkungen.

Nur wer Verhalten, Kommunikationsformen, -muster und -strukturen versteht, kann sein eigenes Handeln auf Dauer effizient und zufriedenstellend für sich und andere ausrichten.

Wir wenden uns an Führungskräfte aller Hierarchiestufen, an HR-Verantwortliche, Betriebs- und Personalräte, Personalentwickler sowie alle Interessierten, die zu einem gesunden Unternehmenserfolg, einem zeitgemäßen Umgang mit Gesundheit und damit zur Prävention psychischer Störungen im Unternehmen beitragen wollen. Wenn wir die Akteure der betrieblichen Organisation und Sie als »Leser« in der männlichen Form ansprechen, schließen wir dabei jedes Mal das weibliche Geschlecht mit ein.

Wir stellen systemische Zusammenhänge dar und leiten Handlungsempfehlungen für die unterschiedlichen Akteure in den Bereichen Management, Führung sowie Arbeits- und Gesundheitsschutz ab. Dabei legen wir Wert auf die Anregung zur individuell kritischen Auseinandersetzung der Leserinnen und Leser mit unseren Gedanken und Ideen, denn in erster Linie geht es uns um die Verdeutlichung von Zusammenhängen, Abhängigkeiten, Wechselwirkungen und Verzahnungen innerhalb eines komplexen Kontextes, der in der primär- und sekundärpräventiven Betrachtung des Themenfeldes psychischer Gesundheit, psychischer Belastung und psychischer Störung bei der Arbeit eine Rolle spielt. So werden diesbezüglich das Wechselspiel zwischen verhaltenspräventiven und verhältnispräventiven Gesichtspunkten im Bereich der Primärprävention beschrieben und sekundärpräventive Maßnahmen und Notwendigkeiten im Zusammenhang mit psychischen Störungen aufgezeigt.

Mit unserer langjährigen Erfahrung aus Mitarbeiterführung und Beratungsund Dozententätigkeit im Themenbereich Arbeit und Gesundheit laden wir Sie mit diesem Buch zu einer praxisbezogenen Auseinandersetzung ein. Wir greifen dabei Fallbeispiele und Analysen aus unserer eigenen beruflichen Praxis auf, spiegeln sie an zeitgemäßen wissenschaftlichen Erkenntnissen und entwickeln daraus praxistaugliche Handlungsalternativen für die beteiligten Akteure im Unternehmen.

Ina Jäkel und Gisbert Stein, Berlin und Reinfeld im Juli 2015

Aus der Praxis für die Praxis: Das Themenfeld Unternehmen(s)gesundheit

Nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern zunehmend auch in Unternehmen werden psychische Belastungen und Störungen mehr und mehr zum Thema. Als Gründe für Krankschreibungen stehen sie zurzeit noch an dritter Stelle (DAK, 2014, 17). Nach den Prognosen der WHO werden psychische Erkrankungen im Jahr 2020 – hinter Herz-Kreislauf-Beschwerden – an zweiter Stelle der weltweit häufigsten Krankheiten stehen (Deutsches Ärzteblatt 17/2008, 880). Schon seit einigen Jahren bilden sie nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung (Richter, 2006, 212 ff.) die Hauptursache bei Frühberentungen. Moderne Unternehmen werden sich künftig aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und des demografischen Wandels noch mehr der Thematik annehmen müssen, wollen sie diese gesellschaftliche Entwicklung nicht sträflich ignorieren. Die dramatische Steigerung der Fallzahlen ist u. a. in einer zunehmenden Arbeitsverdichtung und -beschleunigung, einem erhöhten Leistungs- und Konkurrenzdruck, einer ständigen Erreichbarkeit, der damit einhergehenden Grenzverwischung zwischen Arbeit und Privatheit, eigenen Ansprüchen an sich selbst, einer beruflichen und persönlichen Sinnentleerung sowie in einer verbesserten und differenzierten Diagnostik zu suchen. Die Thematik gewinnt infolgedessen zunehmend im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements an Bedeutung. Wie können und müssen Unternehmen reagieren? Was sind die notwendigen Strategien und Interventionen zur Reduzierung und Prävention? Hier werden in der Theorie ein konsequentes betriebliches Gesundheitsmanagement wie auch eine bewusste Selbstfürsorge und Achtsamkeit eines jeden Einzelnen als besonders wirkungsvoll benannt. So hat sich inzwischen im Rahmen des »Betrieblichen Gesundheitsmanagements« ein Klima von Aktivismus für den Bereich der psychischen Belastungen entwickelt, welches mit Hilfe von Einzelmaßnahmen zu partiellen Veränderungen führt. Gesundheit, zunehmend auch psychische Gesundheit, wird immer mehr zum Unternehmen im Unternehmen mit Akteuren, Strukturen, Hierarchieebenen, Zielen, Kennzahlen und damit verbundenem Wettbewerbs- und Wachstumsdenken. Die Gesundheitsquote gewinnt als wesentliche Kennzahl im Gesundheitsmanagement der modernen Großunternehmen mehr und mehr an Bedeutung. Eine erhebliche Senkung der Fehlzeiten lässt sich jedoch noch nicht feststellen, obwohl eine Vielfalt verhaltenspräventiver Maßnahmen für Beschäftigte in Unternehmen angeboten wird. Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht ist dies zu kurz gedacht und ineffektiv. Die wesentlichen Schlüsselstellen, die zum einen mit den strukturellen Gegebenheiten verbunden sind und zum anderen die persönlichen Einstellungen und Kommunikationsformen der Führungsverantwortlichen betreffen, finden häufig zu wenig Berücksichtigung. In der Praxis lässt sich beobachten, dass trotz Wissens über die Ursachen und die notwendigen Maßnahmen zur Vermeidung oder Verringerung von psychischen Störungen, insbesondere seitens der Verantwortlichen, bislang nicht oder nur vereinzelt das entsprechende Handeln erfolgt. Ein Ausflug ins Weltall scheint einfacher zu sein, als innerhalb von Unternehmen ein umfassendes Gesundheitsbewusstsein zu etablieren. Die Gründe hierfür sind so spannend wie vielfältig.

Psychische Störungen werden als abweichendes Verhalten von der Idealnorm gesehen, und die davon betroffenen Menschen werden nicht selten mit Begriffen belegt wie komisch, seltsam, verschroben, schwach, verklemmt, durchgedreht, verrückt, geistesgestört etc. Die gesellschaftliche Einstellung diesen Menschen gegenüber ist oft stigmatisierend und diskriminierend. Trotz der inzwischen vorhandenen Kenntnisse über die enormen Verbreitungszahlen werden »Charakterschwäche« und das »Sich-nicht-zusammenreißen-Können« als persönliche, private Ursache angeführt. Mag dies auch ein Grund für die zögerliche Herangehensweise sein? Oft werden Betroffene gemieden, ausgegrenzt, manchmal sogar verhöhnt. Sicher ist nur: Jeder, ja, jeder Mensch, kann an einer psychischen Störung erkranken, und so wird die eigene Betroffenheit nicht selten zu einem mehrfachen Problem, wie an der Aussage einer 57-jährigen Personalleiterin (die Fallbeispiele in diesem Buch wurden aus Datenschutzgründen so verändert, dass die realen Personen nicht zu erkennen sind) zu sehen ist:

»Wissen Sie, was für mich das Schlimmste ist, womit ich fertig werden muss? – Den Zustand, den ich jetzt habe, habe ich viele Jahre lang bei meinen Mitarbeitern überhaupt nicht ernst genommen und nachvollziehen können. Für mich stellten die sich nur an – waren eben etwas weich und wenig belastbar. Jetzt selbst zu erleben, dass ich aus meinem Tief, meiner Hoffnungslosigkeit nicht mehr rauskomme, macht mir nicht nur große Angst – ich schäme mich auch so, weil ich so vielen Menschen Unrecht getan habe.«

Das Thema psychische Gesundheit wird in Unternehmen oft entweder nur vom verhältnis- oder vom verhaltenspräventiven und personenbezogenen Ansatz her beleuchtet. Bei unserer Betrachtung sind die Einbeziehung von intra- und interpersonellen Kommunikationsebenen sowie die Wirkung sprachlicher Bilder im ex- und internen Kontext von Gesundheitsmanagementprozessen vorgesehen und der Begriff »gesundheitsgerechte Kommunikation«, der sich von »Gesundheitskommunikation« abgrenzt, gewinnt eine sehr bedeutungsvolle Rolle. Es geht dabei nicht darum, »nur« Gesundheit zu kommunizieren. Gesundheit muss bei der Gestaltung von Kommunikationsprozessen und betrieblichen Abläufen einen selbstverständlich integrierten Platz einnehmen, unabhängig von der Funktion und Hierarchieebene der Akteure. Wissenschaftliche Erkenntnisse, für den Leser verständlich und praxisbezogen aufbereitet und integriert, begründen die Analyse des Zustandsbildes und die vorgeschlagenen Handlungsmöglichkeiten. Diese Kombination sensibilisiert für und ermöglicht eine systemische Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen Organisation – Umgang mit psychischen Belastungen – Individuum und Unternehmenskultur. Das Buch leistet damit nicht nur einen Beitrag zu einer verstehbaren Organisation, sondern regt durch den Anstoß zum Um- und Neudenken zu einem ganzheitlichen, gesundheitsgerechten Handeln an. Es leistet so einen Beitrag zur Verbesserung der Unternehmens- und individuellen Gesundheit. Es zwingt den Leser zur selbstkritischen Reflexion des Verhaltens gegenüber anderen und im Umgang mit sich selbst. Der Blick auf die menschlichen und unternehmerischen Kommunikationsstrukturen mit ihren systemischen Verknüpfungen ermöglicht einen bislang nicht geleisteten Ansatz zur dauerhaften Reduzierung und Prävention psychischer Störungen in Unternehmen. Kompetentes Handeln setzt voraus, sich seiner persönlichen Einstellungen, Urteile, Vorurteile, Motive und inneren Leitsätze bewusst zu sein. Das Buch soll somit dazu anregen, sich als Führungskraft, Personalverantwortliche und Prozessbeteiligte das Thema persönlich zu erschließen. Problemfelder zu erkennen und zu reflektieren, welche Bedeutung sie im beruflichen Kontext in der Vergangenheit eingenommen haben und was dies für die aktuelle und künftige betriebliche Realität bedeutet, lässt Rückschlüsse auf Werte und Haltungen zum Thema Gesundheit zu. Nur wer seine Haltung kennt, kann sich auch entsprechend verhalten.

Welcher Inhalt erwartet Sie?

In unseren Ausführungen beginnen wir zunächst mit einer gesundheitswissenschaftlichen Analyse über Hintergründe, Situation und Auswirkungen des Phänomens Psychische Störungen im Kontext Arbeit. Der Umgang mit psychisch Erkrankten, gesellschaftspolitische und unternehmensbezogene Auswirkungen sowie deren Dimensionen und Ebenen werden beleuchtet und interpretiert.

Wir wollen das Themenfeld »Psychische Störungen im Arbeitsgeschehen« nicht nur mit seinen Symptomen, sondern in Verbindung mit bereits bestehenden Strategien der Gesundheitsprävention in Unternehmen betrachten. Hier liegen unseres Erachtens Ressourcen für den Umgang mit psychischen Störungen im Arbeitsgeschehen. Den Umgang und die Ansiedlung von Gesundheitsförderung in unternehmerischen Strukturen zu hinterfragen bietet Ansatzpunkte für die Entwicklung erfolgreicher Strategien für eine gesundheitsförderliche Unternehmenskultur. Deshalb setzen wir uns anschließend mit dem konkreten Erleben von Arbeits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen auf der Grundlage der qualitativen Analyse von Sichtweisen unterschiedlicher betrieblicher Akteure deutscher Dienstleistungsunternehmen kommunikationspsychologisch auseinander. Dann verdeutlichen wir, warum das Thema (psychische) Gesundheit in einen systemischen Rahmen zu setzen ist. Im vorletzten Kapitel folgen Handlungsableitungen für die unternehmerische Praxis. Hier gehen wir zunächst auf primärpräventive Strategien ein, zeigen beispielhaft Möglichkeiten der Kommunikationsgestaltung in betrieblichen Kontexten auf und begründen die Vorteile der dargestellten Vorgehensweisen. Wir leiten Fragestellungen und Handlungsmöglichkeiten für die unterschiedlichen Ebenen, Organisationseinheiten und Akteure zur betrieblichen Auseinandersetzung mit dem Thema Gesundheit und Gesundheitsförderung ab. Da Restrukturierungsprozesse zu einem erhöhten Risiko von psychischen Störungen führen können, zeigen wir auf, wie im Rahmen von betrieblichen Veränderungsprozessen eine gesundheitsgerechte Kommunikationskultur auf der Grundlage salutogenetischer Gestaltungsprinzipien umgesetzt und psychischen Fehlbelastungen entgegengewirkt werden kann. Abschließend werden Gestaltungsmöglichkeiten einer gesundheitsgerechten Kommunikationskultur für den Umgang und die Gesprächsführung mit psychisch auffälligen Mitarbeitern vorgestellt. Mit unseren abschließenden Fragestellungen im letzten Teil möchten wir den Leser inspirieren, das bisher Gelesene an eigenen Haltungen und Werten zu spiegeln und mit sich in einen inneren Dialog zu treten.

Gesundheit in Unternehmen

Situation und Auswirkungen

Psychische Erkrankungen sind eines der drängendsten Probleme in der Arbeitswelt und kosten Unternehmen und Sozialversicherungen Milliarden
(…)

Jetzt ist es höchste Zeit, dass wir auch bei den psychischen

Belastungen voran kommen.

(Ursula von der Leyen am 29.1.2013 in Berlin, Pressemitteilung BMAS)

Anfang des Jahres 2013 forderte die ehemalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales auf einer Tagung der Gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie Gesellschaft, Wirtschaft, Krankenkassen und Unfallversicherungsträger auf, der Zunahme psychischer Erkrankungen bei der Arbeit den Kampf anzusagen. Die fast genau ein Jahr später veröffentlichte Studie der Bundestherapeutenkammer zur Frühverrentung aufgrund psychischer Erkrankungen belegt den Handlungsdruck für präventive Maßnahmen zur Minimierung psychischer Fehlbeanspruchungen in deutschen Unternehmen. Nicht zuletzt findet das Thema der psychischen Gesundheit bei der Arbeit Eingang in den Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD nach der Bundestagswahl 2013. Die Gesundheits- und Sozialsysteme halten dem Ansturm psychisch kranker Menschen kaum stand, weder hinsichtlich finanzieller Ressourcen in den öffentlichen Kassen noch personeller und institutioneller Möglichkeiten zur Therapie und Rehabilitation der Betroffenen (vgl. BPtK 2014).

Die Begriffe »psychische Belastung«, »psychische Beanspruchung«, »psychische Fehlbeanspruchung« und »psychische Störung« werden häufig im gleichen Atemzug genannt und daher nicht selten undifferenziert verwendet. Tatsächlich unterscheiden sie sich aber in ihrer Bedeutung erheblich:

Unter Psychischer Belastung wird die »Gesamtheit der erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und auf ihn psychisch einwirken« verstanden (DIN EN ISO 100 75-1: 2000). Dies kann im Einzelnen bspw. Zeit- und Termindruck, Lärm, Raumluft, Überforderung, Unterforderung, Informationsflut, Zeitdruck, ständige Unterbrechungen, schlechtes Betriebsklima, Führungsverhalten, o. ä. sein.

Als Psychische Beanspruchung bezeichnet man die zeitlich »unmittelbare (nicht die langfristige) Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien« (DIN EN IS0 100 75-1: 2000). Dies bedeutet, dass es bei scheinbar gleichen Belastungen von außen zu sehr individuellem Belastungserleben beim Einzelnen kommt. Dieser Aspekt ist mit Blick auf das Thema »Gesundheitsgerechte Kommunikation« (auf den Begriff gehen wir auf S. 131 ff. ein) von entscheidender Bedeutung, da deutlich wird, dass eine gesundheitsgerechte Kommunikation immer auch individuell geführt werden muss. Werden psychische Beanspruchungen nicht hinreichend ausgeglichen, können während des Arbeitsprozesses oder danach negative Beanspruchungsfolgen (erhöhter Blutdruck, Ermüdung, depressive Verstimmungen, …) auftreten.

Während es sich bei den Begriffen »Psychische Belastung« und »Psychische Beanspruchung« zunächst um wertneutrale Definitionen handelt, wird unter der Psychischen Fehlbeanspruchung die Folge einer dauernden Fehlbelastung verstanden. Psychische Belastungen werden also dann als Fehlbelastungen bezeichnet, wenn sie zu negativen Beanspruchungen und Folgen führen. Es kann daher erst aufgrund der Belastungsfolgen gesagt werden, ob eine Belastung auch eine Fehlbelastung ist. Die langfristigen Folgen von psychischer Fehlbeanspruchung zeigen sich häufig in gesundheitlichen Beschwerden und Krankheiten wie bspw.:

Herz-/Kreislauferkrankungen,

Magen- und Darmbeschwerden und -erkrankungen,

Muskel- und Skeletterkrankungen,

psychische Störungen (z. B. Depressionen, Neurosen, Nervosität, Angstzustände, Konzentrationsstörungen, Suchtverhalten u. a.),

Hörsturz,

einem schwachen Immunsystem (begünstigt Infektionskrankheiten wie Erkältungen, aber auch Krebs),

einem höheren Schmerzerleben (kann sich u. a. in Kopf- und Migräneattacken sowie Rückenschmerzen zeigen).

Liegt eine psychische Störung vor, dann sind viele Lebensbereiche, Verhaltens- und Erlebnismuster eines Menschen betroffen, was dazu führt, dass seine Leistungsfähigkeit und -bereitschaft stark beeinträchtigt ist. Dieser Zustand kann, muss aber nicht das Resultat von Fehlbeanspruchungen sein. Eine genaue Beurteilung und Diagnose kann daher nur von fachärztlicher Seite erfolgen. Die Bezeichnungen »psychische Erkrankung« und »psychische Störung« werden umgangssprachlich oft sinngleich verwendet, obwohl sich in der fachärztlich-psychiatrischen Diagnostik inzwischen durchgesetzt hat, nur noch von »psychischer Störung« zu sprechen (vgl. Riechert 2011, 7). Beide Begriffe sind aber keine wertneutralen Bezeichnungen, denn sie tragen den Charakter von sozialen Urteilen und Bewertungen in sich. In beiden Fällen werden eher negative Assoziationen ausgelöst, unabhängig davon ob ein Mensch als »psychisch krank« oder »psychisch gestört« bezeichnet wird.

Was führt nun zu psychischen Fehlbelastungen und auf Dauer zu psychischen Erkrankungen bei der Arbeit? Die Fehlzeitenreporte der letzten Jahre identifizieren im Wesentlichen folgende Aspekte als Ursachen:

Führungsverhalten bzw. Kommunikationsverhalten Vorgesetzter (Badura et al. 2011),

Flexibilisierung der Arbeitswelt (Badura et al. 2012).

Beide Faktoren existieren nicht im »luftleeren Raum«. Sie sind Ergebnis und gleichzeitig Ursache eines sich stetig im Prozess befindenden und auf höherem Niveau antreibenden Zyklus’, den berufstätige Menschen als Schnelligkeit, Kurzlebigkeit und Atemlosigkeit erleben. Ursache dafür ist eine gesellschaftliche Wirtschaftskultur, die auf Wettbewerb und (möglichst lineares) Wachstum setzt. Der Einsatz »neuer Medien« in modernen Unternehmen verändert das Kommunikationsverhalten zwischen Organisationseinheiten und auch die Beziehungsgestaltung zwischen den Interaktionspartnern enorm. Eine mangelhafte Beziehungsgestaltung zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern führt zu psychischen Beeinträchtigungen und auf Dauer zu gesundheitlichen Beschwerden.

image

Abb. 1: Kommunikationsverhalten Vorgesetzter als Ursache gesundheitlicher Beschwerden von Mitarbeitern (Daten für Diagramm entnommen aus wIdo 2012, 3)

Weiterhin konnte auf der Grundlage von Datenerhebungen der gesetzlichen Krankenkassen im Fehlzeitenreport 2011 unter der Schwerpunktsetzung Führung und Gesundheit folgendes nachgewiesen werden:

Je weniger das Vorgesetztenverhalten mitarbeiterorientiert ist, desto stärker sind die Symptome Verspannungen, Kopfschmerzen, Erkältungen, Schlafstörungen, Kreislaufstörungen, Mutlosigkeit bei Beschäftigten (in diesem Ranking) ausgeprägt (vgl. Gunkel et al. 2011, 124).

Die Auswertung von 693 Gesprächsprotokollen von Mitarbeitern, die ihre Gespräche anhand eines vorgegebenen Leitfadens selbst protokolliert hatten, ergab, dass jedes fünfte Gespräch mit dem Vorgesetzten als selbstwertbedrohlich erlebt wurde, auch wenn es nur um die Übermittlung von Informationen ging (vgl. Eillies-Matthiessen / Scherer 2011, 20).

Ein als kalt, aggressiv, überheblich erlebter Vorgesetzter löst Wut, Empörung und Kränkung bei Mitarbeitern aus. Rachestrategien als Bewältigungsform durch Zurückhalten wichtiger Informationen, Verschwendung von Arbeitsmaterial, Diebstahl und Streuen von Gerüchten durch betroffene Mitarbeiter sind die betrieblichen Folgen (vgl. ebd.).

Negative emotionale Situationen im betrieblichen Alltag werden intensiver erlebt als positive (vgl. ebd.).

Glaubwürdigkeit als grundsätzlich positives Merkmal von Vorgesetzten wirkt in Verbindung mit negativer Kritik am Mitarbeiter verstärkend (vgl. ebd.). Wird beispielsweise einem Vorgesetzten aufgrund der Verlässlichkeit seines Urteilsvermögens in anderen Zusammenhängen Respekt, Achtung und Vertrauen entgegengebracht, wiegt für den betroffenen Mitarbeiter eine sachlich vorgetragene Kritik durch den Vorgesetzten umso dramatischer und kann schneller als eigenes Versagen empfunden werden. Die Vorgesetzten-Mitarbeiter-Beziehung ist kein »Nullsummenspiel«. Kränkendes Verhalten wird nicht durch anschließend positive Äußerungen wieder aufgehoben, aber Wertschätzung und Anerkennung schaffen »Puffer« (vgl. ebd.).

Die Beziehungsgestaltung zwischen Führungskräften und Mitarbeitern wird aus unserer Sicht häufig aufgrund eines mangelnden Bewusstseins über die Bedeutung der zwischenmenschlichen Interaktion für Wohlbefinden, Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit in allen Führungsebenen vernachlässigt. Ein weiterer Aspekt ist der subjektiv empfundene oder tatsächlich vorhandene Zeitmangel von Führungskräften aufgrund anderer operativer Aufgaben.

Prävalenz psychischer Störungen und Entwicklung der Arbeitsunfähigkeitstage

Ausgelöst durch die Betroffenheit bekannter Personen wie die Sportler Robert Enke, der sich im November 2009 in Folge seiner Depression suizidierte, oder Sven Hannawald und Sebastian Deisler wurde die Thematik zunehmend in den Medien und der Öffentlichkeit diskutiert. »Jeder vierte Arbeitnehmer leidet an einer psychischen Erkrankung«, so eine Titelzeile der Süddeutschen Zeitung im Dezember 2009. Ganz so dramatisch war es jedoch nicht, denn im Weiteren wurde darauf hingewiesen, dass es sich nicht um einen aktuellen Zustand handelt, sondern bei 25 Prozent der Beschäftigten mindestens einmal im Laufe des Berufslebens vorkommt.

Nicht nur für die Betroffenen, auch für die Solidargemeinschaft bekommt die Angelegenheit eine immer größere Bedeutung. Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind beträchtlich, denn »höher als die Krankheitskosten aufgrund von psychischen und Verhaltensstörungen liegen in Deutschland nur noch die Kosten für Krankheiten des Kreislaufsystems und des Verdauungssystems« (Böhm / Cordes 2010, 51). Wie schon erwähnt, sind inzwischen psychische Störungen der häufigste Grund für krankheitsbedingte Frühberentung. Bei der Verteilung der Arbeitsunfähigkeitstage nach Krankheitsarten (siehe Abb. 2) liegen sie mit 14,6 Prozent nach Erkrankungen des Muskel-/ Skelettsystems und des Atmungssystems an dritter Stelle.

Bei der Verteilung innerhalb der einzelnen Krankheitsbilder lassen sich signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede feststellen: Frauen fehlen deutlich häufiger wegen psychischer Störungen als Männer und sie sind von psychischen Belastungs- und somatoformen Störungen (unklare körperliche Beschwerden) wie affektiven Störungen (z. B. Depression) stärker betroffen als Männer. Wohingegen bei Männern psychische Verhaltensstörungen und der Gebrauch von psychotropen Substanzen, insbesondere Alkohol und Tabak, weiter verbreitet sind. Bei den vier wichtigsten Diagnosegruppen wurde für die Versicherten der AOK für das Jahr 2008 festgestellt, dass bei den »Psychischen Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (z. B. Alkoholabhängigkeit) die deutlichsten Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen. Der Anteil dieser Störungen an der Gesamtanzahl psychischer Störungen ist hier bei Männern um ca. viermal höher als bei Frauen, was sich leicht mit dem deutlich höheren Konsum von Alkohol und Nikotin (DHS 2010) erklären lässt.

image

Abb. 2: Rangfolge der Erkrankungen (Daten entnommen aus Gesundheitsreport DAK 2013)

Einen weiteren Grund für die Unterschiede bei den Diagnosen zwischen den Geschlechtern sehen Lademann und Kolip in dem unterschiedlichen Verhalten bei Diagnosestellung. Männer sprechen deutlich seltener über ihre Ängste und Sorgen als Frauen. Daher werden bei ihnen organische Ursachen eher vermutet (Lademann / Kolip 2008) und diagnostiziert. Bei Männern kommt es daher häufiger zu einer Unterdiagnostizierung von psychischen Störungen.

Insgesamt haben sich die Arbeitsunfähigkeitsfälle aufgrund psychischer Störungen von 1997 bis 2008 verdoppelt (Heyde / Macco 2010, 33). Damit einhergehend erhöhten sich auch die diesbezüglichen Kosten. Im Jahr 2006 wurden für die Behandlung von psychischen und Verhaltensstörungen in Deutschland 26,7 Mrd. Euro aufgewendet (Böhm / Cordes 2010, 52). Neben den direkten Krankheitskosten entstanden auch noch Kosten bzw. volkswirtschaftliche Verluste für verlorene Erwerbstätigkeitsjahre wegen Arbeitsunfähigkeit, Invalidität und vorzeitigem Tod der potenziell Erwerbstätigen. Diese lagen kalkulatorisch im o. g. Zeitraum bei 638.000 verlorenen Erwerbsfähigkeitsjahren und nahmen damit hinter den Verlusten in der Gruppe der Verletzungen und Vergiftungen den zweiten Rang ein. Invalidität war in 70 Prozent der Fälle bei den psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen Ursache für verlorene Erwerbsfähigkeitsjahre. Der Anteil der Frauen lag bei 41 Prozent, der der Männer bei 59 Prozent (vgl. ebd., 56 f.). Bei keiner anderen Krankheitsklassifikation lag der Anteil höher.

Bei den Krankheitskosten für psychische Störungen können ebenfalls Unterschiede festgestellt werden. Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes entfielen im Jahr 2006 etwa 63 Prozent dieser Gesamtkosten auf Frauen und 37 Prozent auf Männer. Dieser Unterschied kam allerdings in erster Linie aufgrund der großen Populationsdiskrepanz in der Gruppe der über 65-Jährigen zustande. Angesichts der höheren Lebenserwartung gab es in Deutschland im o. g. Zeitraum 2,7 Millionen mehr Frauen als Männer (ebd., 53). Auch die unterschiedliche Inanspruchnahme des Gesundheitswesens von Frauen und Männern ist nachgewiesen (Bardehle / Stiehler 2010) und kommt als Ursache in Frage. In der Gruppe der unter 65-Jährigen konnten keine bedeutsamen Unterschiede in den Krankheitskosten für psychische Störungen bei Männern und Frauen festgestellt werden.

Insgesamt konnte in den vergangenen Jahren belegt werden, dass die Krankheitstage von Mitarbeitern eher rückläufig waren (TK 2012 33). Für den Bereich der psychischen Störungen gilt dies jedoch nicht. Hier hat sich zum Beispiel bei AOK-Mitgliedern zwischen 2004 und 2014 ein dramatischer Anstieg von 74,1 Prozent ergeben (vgl. Abb. 3).

Bei den Arbeitsunfähigkeitszeiten lässt sich eine kontinuierliche Steigerung bei den psychischen Störungen feststellen. Im Jahr 2008 wurden die durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) pro Einzelfall mit 40,5 Tagen nur noch von Neubildungen (Krebserkrankungen) mit 42,2 Tagen übertroffen (vgl. BEK 2010 12). Während bei den Neubildungen keine Steigerungen von 2007 auf 2008 zu verzeichnen waren, lassen sich für die Gruppe der psychischen Störungen für diesen Zeitraum Steigerungsraten von 10,7 Prozent feststellen (2007 = 35,3 Tage, 2008 = 39,1 Tage). Im Jahr 2010 lag die durchschnittliche Erkrankungsdauer je Fall bei psychischen und Verhaltensstörungen erstmals über der der Neubildungen (Barmer GEK 2011, 76; DRV 2012, 88).

Damit ist die Erkrankungszeit bei diesem Störungsbild je Einzelfall inzwischen am längsten.

image

Abb. 3: Relative Veränderung der AU-Tage bei AOK-Mitgliedern in Prozent (Meyer et al., 2015, 370)

In Dienstleistungsberufen Tätige sind von psychischen Störungen im Vergleich zu anderen Berufsgruppen besonders betroffen. Nach Angaben der AOK, BKK und DAK lässt sich hier ein überproportional hoher Anteil an AU-Tagen verzeichnen. Dies trifft hauptsächlich auf die Arbeitsbereiche Gesundheit und Soziales sowie Banken und Versicherungen zu (vgl. Lademann et al. 2006, 126).

In vielen internationalen Studien wird auf die besondere Vulnerabilität von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen für psychische Störungen hingewiesen (WHO 2000, Lorant et al. 2003). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1998 belegt, dass in Deutschland Menschen mit niedrigem sozialen Status häufiger an psychischen Störungen wie depressiven Erkrankungen, Angststörungen und substanzbezogenen Störungen leiden als Menschen mit einem höheren Sozialstatus (RKI 2005, 14 ff., Jacobi et al. 2004). Ähnliches wird durch die Ergebnisse der GEDA-Studie 2009 bestätigt, die einen deutlichen Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und Bildungsstand, Einkommen und beruflicher Position zeigen (RKI 2011, 9).

Über die Ursachen für den enormen Anstieg psychischer Störungen existieren überaus unterschiedliche Standpunkte und Zuschreibungen (DAK 2005, Lademann et al. 2006). Kentner (1999) verweist zunächst auf die Ungenauigkeit der Diagnostik, da es sich »im Prinzip … bei der Krankschreibung um einen Aushandlungsprozess zwischen Patient und Arzt« (ebd., 453) handelt. Er meint sogar, »bei bösartiger Interpretation kann man die Krankschreibung als kostenlose Marketing-Maßnahme für den Arzt einstufen. Sie liegt außerhalb aller Budgets und Kostendeckelungsverfahren. Auch der Patient zahlt nichts dafür« (ebd.).

Neben einer inzwischen verbesserten Diagnostik durch Hausärzte muss auch die gestiegene Sensibilität gegenüber der Thematik in der Allgemeinbevölkerung und das frühere Aufsuchen von Fachärzten durch Betroffene als Grund für die steigenden Fallzahlen angeführt werden. Dies würde jedoch bedeuten, dass die Störungsraten zuvor faktisch auch schon vorhanden waren, jedoch nur nicht als solche entdeckt wurden. Daneben gibt es aber auch eine real gestiegene Inzidenz (Neuerkrankungen), hierfür werden folgende Einflussfaktoren benannt: