Cover

Nicolas Calva. Der allmächtige Armreif

Jennifer A. Nielsen ist in den USA bereits eine erfolgreiche und von Kritikern gelobte Fantasy-Autorin. Sie liebt Schokolade, alte Bücher und entspannte Tage in den Bergen. Mit ihrem Mann, drei Kindern und einem sehr eigensinnigen Hund lebt sie im Bundesstaat Utah, wo sie geboren wurde und aufgewachsen ist. Besuchen kann man sie auf ihrer Homepage: www.jennielsen.com.

Für meine Grundschullehrerin Mrs. Behunin, die in mir die Liebe zu Büchern geweckt hat.

EINS

Mein Leben ergab keinen Sinn mehr. Jedenfalls nicht nach den gängigen Regeln der Logik. Doch das störte mich nicht. Irgendwie fühlte ich mich seltsam ruhig, nachdem ich akzeptiert hatte, dass der einzige Mensch auf der Welt, dem ich trauen konnte, mich umbringen wollte.

Mein Großvater General Flavius Radulf.

Da er aus seinen Plänen, mich zu töten, keinen Hehl machte, nahm ich an, dass er mir auch sonst keine Lügen erzählte. So übel seine Pläne auch waren, im Grunde war ich noch viel schlimmer als er. Radulf wäre schön blöd gewesen, mir zu vertrauen, und von meinen Plänen wusste er nichts.

Aber die mussten erst noch warten. Im Moment hatte ich genug damit zu tun, mich auf das Lenken der Quadriga zu konzentrieren.

Das mit dem Wagenrennen war Radulfs Idee gewesen. Der Gedanke kam ihm vor zwei Monaten, als er mich durch das Amphitheater reiten sah. Damals wollte ich nur die römische Venatio überleben und dafür brauchte ich ein gehorsames Pferd. Nichts lag mir ferner, als bei einem Wagenrennen anzutreten.

Trotzdem lenkte ich nun einen Vierspänner und genoss jede Runde auf der Rennbahn im Circus. Da außer mir auch noch andere Teams fuhren, waren mehrere Hundert Zuschauer anwesend, die alle auf gute Unterhaltung hofften. Nämlich darauf, dass Blut flösse.

Mein Blut womöglich. Auch wenn es nur ein Proberennen war, wollte ich gewinnen, und die führenden Wagen drängten immer zur Innenbahn, wo es am schnellsten und gefährlichsten zuging.

Obwohl die Grünen und Blauen und sogar die Weißen beliebter waren, fuhr ich für die rote Factio, in der Radulf Freunde hatte. Da ich neu war und außerdem den unseligen Ruf hatte, Dinge zu zerstören, wie das großartige Amphitheater, hatten mich die anderen Renngesellschaften gar nicht erst in Betracht gezogen. Keine Ahnung, was es Radulf an Einschüchterungsversuchen und Bestechungsgeldern gekostet hatte, aber nun trug ich die rote Toga. Die anderen roten Teams hatte ich bereits hinter mir gelassen.

Mit acht weiteren Gespannen auf der Bahn war es zwar voll, aber längst nicht so voll wie beim richtigen Rennen, wenn zwölf Gespanne um Ruhm, Ehre und einen schmalen Beutel mit Gold kämpften. Ich nutzte den Vorteil und trieb meine Pferde zur Innenbahn. Der weiß gekleidete Wagenlenker vor mir funkelte mich böse an, ich lächelte bloß. Wenn er sich ärgerte, machte ich offensichtlich etwas richtig.

Auch wenn ich noch wenig Erfahrung hatte, liefen die Trainingsfahrten gut. Nun musste ich mich nur noch in einem richtigen Rennen bewähren. In ein paar Wochen fanden die Ludi Romani statt. Es war das größte Fest überhaupt und wurde zu Ehren Jupiters gefeiert, dem höchsten aller Götter, also würde ganz Rom in den Circus Maximus pilgern. Um dort mitfahren zu dürfen, müsste ich mich erst einmal beweisen. Wenn ich hart an mir arbeitete, wäre ich in ein paar Jahren vielleicht gut genug, um dort mitfahren zu können.

Die Zügel waren um meine Taille gegürtet, dadurch fiel es mir leichter, die Pferde eher intuitiv zu lenken. Nur wenn der Wagen umkippte, hatte ich ein Problem, dann hätten mich die Pferde zu Tode geschleift. Am Gürtel trug ich ein Messer, um mich notfalls losschneiden zu können. Allerdings bewahrte mich das nicht davor, von den nachfolgenden Pferden zu Tode getrampelt zu werden. So wollte ich nicht sterben, deshalb riss ich mich jetzt zusammen. Der Mann vor mir beschimpfte mich wüst, während ich ihn von der Mitte der Bahn vertrieb. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wollte er mich nur zu gerne stürzen sehen. Ich hatte überhaupt wenige Freunde, aber hier im Circus schon gleich gar keine.

Der weiße Wagenlenker stand längst nicht so sicher, wie er mich glauben machen wollte. Bei jeder Wende kämpfte er mit dem Gleichgewicht. Mir bereitete das keine Probleme. Früher als Sklave im Bergwerk hatte mich mein Herr Sal ständig über schmale und steil abfallende Pfade gezwungen. Damals bin ich nicht gestürzt und heute würde ich auch nicht stürzen. So weit der Plan jedenfalls. Nur der schwere Beutel an meinem Gürtel könnte das ändern.

Als ich ein weiteres Mal wendete, schwang er weit zur Seite und riss mich mit sich. Instinktiv wollte ich Magie benutzen, um Halt zu gewinnen, tat es aber nicht. Durfte es nicht. Sobald es wieder geradeaus ging, stand ich wieder fest auf beiden Beinen und legte noch einen Zahn zu.

Radulf hatte mir die Bulla nach dem Kampf im Amphitheater abgeknöpft und mir so die Magie geraubt. Doch etwas war mir geblieben. Seit dem Kampf war der Göttliche Stern auf meiner Schulter zu neuem Leben erwacht. Diese Magie nutzte ich kaum, weil ich nicht wusste, wie Radulf darauf reagieren würde. Deshalb behielt ich die Kräfte in mir und verwendete sie nur, um Pferde zu beruhigen, oder für andere Kleinigkeiten. Aber keinesfalls, um die Balance wiederzufinden, das wäre zu riskant gewesen.

»Ich habe gesehen, was du im Amphitheater angerichtet hast«, rief mir ein weißer Wagenlenker bei einem Überholmanöver zu. »Zerstörst du auch den Circus, wenn du verlierst?«

Lächelnd schnitt ich ihm mit meinen Pferden den Weg ab. »Wohl kaum, denn ich werde nicht verlieren!«

»Dein Wagen ist viel zu schwer mit dem Beutel. Das Blei ist doch nichts wert, du dummer Sklave!«

Für ihn vielleicht nicht. Für mich schon. Das Blei in dem Beutel rettete mir vielleicht noch das Leben.

Die Römer hielten ihren Factiones stets die Treue, mehr noch als dem Reich. Auch wenn es bei anderen Disziplinen verboten war, schlossen sie Wetten auf die Sieger im Wagenrennen ab. Um die Chancen ihrer Teams zu erhöhen, schrieben sie Flüche auf Bleitafeln. Die nagelten sie dann an die Mauern des Circus oder vergruben sie im Sand unter der Bahn. Ich sammelte jeden Tag möglichst viele Tafeln ein. Wenn die Götter die Flüche nicht sahen, konnten sie sie auch nicht wahr werden lassen, das jedenfalls machte ich Radulf weis. Natürlich war das eine blödsinnige Lüge, die ich ihm Abend für Abend erneut auftischte.

Radulf ärgerte sich, dass ich den Beutel trug. Vom ersten Tag an stritten wir darüber, aber mich kümmerte das nicht, ich gab nicht klein bei. Und mittlerweile war er davon überzeugt, dass ich einfach sehr abergläubisch war, was so gar nicht stimmte. In meinem Leben gab es keinen Platz für Aberglauben. Die Wirklichkeit war schon gefährlich genug.

»Den Beutel mit dir herumzuschleppen, ist kindisch und ziemt sich nicht für den Enkel eines Generals«, hatte er erst gestern Abend wieder zu mir gesagt. »Außerdem haben dich die Götter bereits verflucht. Was sollten sie dir denn noch antun?«

Die Antwort kannte ich. Die Götter könnten aufhören, mich tagein, tagaus mit Fluchtafeln zu versorgen.

Unter einem Schwall von Beleidigungen versuchte der weiß gekleidete Wagenlenker mein Gespann gegen die Mauer zu drängen. Mit einer Handbewegung beruhigte ich meine Pferde und trieb sie an, schneller zu laufen. Die Zuschauer jubelten. Als ich mich dankend der Menge zuwandte, machte ich eine überraschende Entdeckung.

Meine jüngere Schwester Livia saß hinter der Senatorenloge auf der Tribüne. Ihre goldenen Locken stachen aus jeder Menge heraus, auch jetzt leuchteten sie auffallend in alle Richtungen. Dennoch war ich überrascht, dass meine Schwester hier war. Seit wir vor zwei Monaten zu Radulf gezogen waren, hatten wir nie gleichzeitig das Haus verlassen dürfen. Radulf glaubte, dass wir so eher flüchten würden. Das hatten wir ihm auch nicht ausreden können, weil sowohl Radulf als auch uns klar war, dass wir genau das tun würden.

Warum war Livia also jetzt ganz allein hier? Gerade drehte sie sich zu der Frau neben sich um, und ich sah, dass es nicht Livia war. Aber abgesehen vom Altersunterschied hätte es ihre Zwillingsschwester sein können.

Mir schlug das Herz bis zum Hals. Nur ein Mensch konnte Livia so ähnlich sehen. Und das war meine Mutter, kein Zweifel.

»Halt deine Pferde im Zaum, sonst lass ich dich von der Bahn werfen«, rief mir ein anderer Wagenlenker beim Überholen zu.

»Was? Oh … tut mir leid.« Ich widmete mich wieder meinen Pferden, die in der Zwischenzeit auf die Außenbahn geraten waren, und dann hielt ich nach den Toren Ausschau, um die Rennstrecke zu verlassen. Die Tore lagen hinter mir, also musste ich noch fast eine ganze Runde drehen, aber ich ließ meine Mutter nicht mehr aus den Augen.

Mir wurde klar, dass meine Mutter nicht in ein Gespräch mit der Dame verwickelt war, sondern ihr diente. Und nebenbei schaute sie so oft es ging zur Bahn. Ob sie mich erkannt hatte? Oder interessierte sie sich einfach für Wagenrennen? Aber was spielte es schon für eine Rolle? Ohne Erlaubnis ihrer Herrin durfte sie nicht mit mir sprechen. Und da sich auch Radulf unter den Zuschauern befand, war es sicher keine gute Idee, auf meine Mutter zuzugehen. Doch ich hatte sie seit drei Jahren nicht gesehen und wusste rein gar nichts über ihr neues Leben. Diese Chance würde ich mir nicht entgehen lassen.

Der Wagenlenker in Weiß hatte mich überholt und brüllte mir zu: »Das wird dir eine Lehre sein, Junge!« Er zog sein Gespann zur Mitte und drängte mich und meine Pferde gegen die Mauer. Mein führendes Pferd geriet ins Stolpern. Bei einem Sturz würde es die anderen mit sich reißen. Hinter mir kamen sieben Wagen. Einer würde mich bestimmt überfahren. Wahrscheinlich sogar mit Absicht.

Suchend sah ich mich nach Radulf um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Auch wenn es mich einiges an Magie kosten würde, die Pferde zu retten, musste ich es riskieren. Als die Pferde strauchelten, brachte ich sie mit einer Handbewegung wieder auf die Beine. Endlich konnte ich einen Teil der aufgestauten Magie herauslassen, es war eine Erleichterung. Allerdings würde ich dafür teuer bezahlen, wenn Radulf davon erfuhr.

Mittlerweile war ich schon in Richtung der Tore ausgeschert, schnitt die Zügel durch, riss mir den Helm vom Kopf und sprang vom Wagen. Während sich Stallburschen meiner Pferde annahmen, sprintete ich von der Bahn und wich dabei den Gespannen aus. Dann rannte ich die Steintreppe hinauf zur Tribüne, wo meine Mutter gesessen hatte. Atemlos und mit klopfendem Herzen kam ich angestürmt, doch ich war nicht schnell genug gewesen. Weder meine Mutter noch die Frau, der sie diente, waren zu sehen. So angestrengt ich mich auch umschaute, ich konnte sie nirgends entdecken. Meine Mutter blieb verschwunden.

ZWEI

»Nic! Warum hast du das Rennen abgebrochen?«

Das war Aurelias Stimme. Als ich mich umdrehte, kam sie in einer sonnengelben Tunika auf mich zugelaufen. Ihr hellbraunes Haar steckte in einer komplizierten Flechtfrisur, die ihren neuen Wohlstand repräsentierte. So hübsch, wie sie war, konnte man kaum glauben, dass sie früher in den Abwasserkanälen Roms gehaust hatte.

Auch wenn ich sie in den letzten zwei Monaten schon vermisst hatte, wurde mir erst in diesem Moment klar, wie sehr sie inzwischen Teil meines Lebens geworden war. Es war unhöflich, sie anzustarren, aber ich konnte nicht anders. Ihre Augen funkelten so schön wie immer. Hatte sie mich gerade etwas gefragt? Ich konnte mich nicht erinnern.

»Nic? Bist du wach da drin?« Mittlerweile stand sie direkt vor mir und fuchtelte mir grinsend mit der Hand vor dem Gesicht herum.

Irgendwie kapierte ich die Situation nicht ganz. Bei unserer letzten Begegnung hatte ich im Amphitheater gegen Radulf gekämpft. Aurelias Vater Senator Horatio war dabei umgekommen. Vielleicht gab sie mir doch nicht die Schuld an seinem Tod. Ihr Lächeln deutete darauf hin, dass wir noch immer Freunde waren. Konnte das sein?

»Was machst du hier?«, fragte ich schließlich. Dabei hoffte ich sehr, dass sie meinetwegen hier war.

»Ich bin …«, stotterte sie. »Ähm, wir sind…«

»Wir?«

»Alles in Ordnung? Das Rennen lief doch so gut.« Crispus kam durch den Torbogen und stellte sich neben Aurelia. Sie warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu, der mir mehr verriet, als mir lieb war. Sie waren gemeinsam hierhergekommen. Offenbar war Aurelias Wut gegenüber Crispus verraucht.

Meine nicht.

»Ich habe dir nichts zu sagen, Crispus«, murmelte ich. Damit wandte ich ihm den Rücken zu und ging. Allmählich ergab alles einen Sinn, aber nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte.

Aurelia eilte durch die Sitzreihen und schnitt mir den Weg ab. »Wir wollen mit dir reden«, meinte sie.

»Du bist mit ihm hier?« Ich deutete auf Crispus, der ein paar Reihen über uns stand. »Beim letzten Mal hätte er uns beide fast umgebracht. Bei deinem Vater ist es ihm ja gelungen und mir hat er dann die Schuld in die Schuhe geschoben.«

»Crispus hatte nichts damit zu tun«, antwortete Aurelia. »Das war sein Vater.«

Das stimmte wohl. Crispus Vater Valerius hatte alles geplant, um Oberster Magistrat zu werden, eine Machtposition, die zuvor Senator Horatio innehatte. Mit der Position übernahm Valerius auch den Schlüssel zu einem magischen Amulett, dem Marsreif. Darüber wusste ich nur, dass der Armreif dem Träger siegreiche Schlachten garantierte und dass er in irgendeinem Versteck lag.

Einziges Problem war nur, dass Valerius den Schlüssel nie erhalten hatte. Alle schienen zu glauben, Horatio hätte mir den Schlüssel vor seinem Tod gegeben. Hatte er aber nicht. Auch Radulf glaubte, ich hätte ihn, was wohl einer der wenigen Gründe war, warum er mich noch am Leben ließ.

Crispus machte einen Schritt auf mich zu, hielt aber noch gebührend Abstand. »Du hattest allen Grund, wütend zu sein, Nic. Und ich kann gut verstehen, wenn du’s noch immer bist. Aber mein Vater ist nicht dein Feind, auch wenn du sein Verhalten in der Arena verurteilst.«

»Ohne Radulfs Schutz hätte mich das Reich längst hingerichtet, und alles wegen deines Vaters.« Ich musste blinzeln, um Crispus schließlich doch anzusehen, denn die Sonne stand direkt hinter ihm. »Dann erklär mir doch mal, warum er nicht mein Feind ist.«

»Mein Vater ist hier, um dir das Leben zu retten.« Wie zum Beweis deutet Crispus zur Kaiserloge, wo Radulf und Valerius in ein Gespräch vertieft waren.

Ich machte auf dem Absatz kehrt und wollte zu ihnen hinüberlaufen. Aurelia holte mich sofort ein.

»Ob du’s glaubst oder nicht, Valerius will dir helfen«, sagte sie. »Auf ihn sauer zu sein, hilft uns nicht weiter.«

»Uns?«, zischte ich spöttisch. »Wann hast du dich denn mit Crispus verbündet? Gleich nachdem Valerius deinen Vater hat ermorden lassen oder hast du noch einen Tag gewartet?«

»Wie kannst du es wagen?« Aurelia boxte mich und versperrte mir den Weg. »Mein Leben lang wollte ich nur zu meinem Vater zurück. Gerade du solltest wissen, wie sehr ich mir eine Familie gewünscht habe! Aber ich habe mich von ihm abgewandt, weil er Schreckliches mit Rom vorhatte.« Ihr Ton wurde sanfter. »Schreckliches mit dir vorhatte, Nic. Ich habe es aus Freundschaft zu dir getan. Ich bin in die Arena gestiegen, um dich im Kampf zu unterstützen, und seither zerbreche ich mir den Kopf, wie du Radulf entkommen kannst.«

Und warum hatte sich Aurelia dann weder sehen noch hören lassen? In der Arena hatte sie wirklich versucht, mir zu helfen, aber sie hatte keine Ahnung, wie schwer die letzten Monate für mich waren!

Kopfschüttelnd drängte ich mich an ihr vorbei. »Und mit Crispus bist du nur befreundet, um mir zu helfen? Oder hilft er dir?«

Wieder holte sie mich ein. Diesmal packte sie mich am Arm. »Was soll das denn heißen?«

Ich drehte mich um. Crispus folgte uns in sicherem Abstand. Für mich konnte der Abstand gar nicht groß genug sein.

»Ich weiß, warum du so nett zu ihm bist.«

Aurelia verschränkte die Arme vor der Brust. »Ach ja? Warum denn?«

»Als dein Vater gestorben ist, hat er dir ein großes Vermögen hinterlassen. Damit hast du für den Rest deines Lebens ausgesorgt. Nur hat Radulf mir erzählt, dass Horatio es an eine Bedingung geknüpft hat.«

»Du weißt davon?« So, wie Aurelia es sagte, hätte ich meinen Mund halten sollen. Doch so schlau war ich nicht.

Mein Blick wanderte zu Crispus und zurück zu Aurelia. »Es gibt nur eine Möglichkeit für dich, das Erbe zu behalten.«

»Glaubst du immer noch, mir ginge es nur ums Geld? Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben?«

»Wir sind jedenfalls nicht zusammen hier.« Mit dem Kopf deutete ich zu Crispus. »Du bist mit ihm gekommen.«

»Um dir zu helfen, Nic! Aus Freundschaft zu dir. Ich bin deine Freundin. Warum willst du das nur nicht verstehen?«

Mir schnürte sich die Kehle zusammen und ich bekam erst keinen Ton heraus. Schließlich sagte ich: »Als du noch nichts hattest, warst du freier. Du hast deine Freiheit für ein bequemes Leben aufgegeben.«

Aurelia stöhnte. »Und bei dir ist das anders? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, wolltest du Rom verlassen, um endlich frei zu sein. Nun genießt du das Leben in Radulfs komfortablem Heim, fährst Wagenrennen und ergötzt dich an den feinsten Speisen.«

Abermals schob ich mich an ihr vorbei. »Das verstehst du nicht.«

»Ach ja?« Aurelia lief neben mir her. »Du findest es schlimm, dass ich mit einem Senator und seinem Sohn befreundet bin, und lebst selbst im Haus eines Mannes, der dich in der Arena beinahe umgebracht hätte. Du wirfst mir vor, meine Freiheit gegen Bequemlichkeit eingetauscht zu haben, dabei tust du das Gleiche!«

Aurelia nahm meine Hand und drehte mich gewaltsam zu sich herum. Ich versuchte, mich zu befreien, doch sie packte nur noch fester zu. Als ihr Blick auf mein Handgelenk fiel, machte sie plötzlich große Augen. »Oh, Nic. Was hast du da?«

Ich riss meinen Arm weg. »Gar nichts.«

Erneut griff sie nach meiner Hand und hielt sie hoch, um besser sehen zu können. Das Handgelenk war rot und voller geschwollener Narben, die nie genug Zeit hatten, auszuheilen. »Woher stammen die Wunden?« Als ich nicht antwortete, sagte sie: »Spuck’s aus.«

»So sieht mein freiwilliges Leben unter Radulfs Dach aus.«

»Oh, verstehe.« Ihre Stimme wurde weich, und in dem Moment hielt ich es für möglich, dass es ihr tatsächlich um unsere Freundschaft ging. »Also bist du nicht aus freien Stücken bei ihm.«

Mein Blick huschte zu Radulf und Valerius. Die beiden schauten kurz zu mir herüber, bevor sie die Köpfe wieder zusammensteckten. Eigentlich wollte ich Aurelia meine Hand entziehen, aber sie strich so behutsam über die Wunden, dass es mir plötzlich nichts mehr ausmachte.

»Lass uns heute Nacht allein treffen«, sagte ich. »Im Abwasserkanal, falls du die Stelle findest, wo ich hinkommen könnte.«

»Klar«, antwortete sie. »Wo denn?«

»Unter Radulfs Haus.« Flüsternd fügte ich noch hinzu: »Bring die Crepundia mit.« Die Kette hatte ihr einmal sehr viel bedeutet. Ihr Leben lang war es die einzige Verbindung zu ihrem Vater. Es überraschte mich, dass sie die Crepundia nicht mehr trug.

Misstrauisch runzelte sie die Stirn. »Was willst du denn damit? Mein Vater ist tot. Die Kette ist jetzt bedeutungslos.«

Inzwischen hatte uns Crispus eingeholt, er schien mir gegenüber schon weniger furchtsam. »Ich möchte, dass wir Freunde werden«, sagte er. »Du brauchst meinem Vater ja nicht zu trauen, auch mir nicht, aber vielleicht reicht dein Vertrauen, um mir wenigstens ein Mal zuzuhören?«

Eigentlich nicht, dennoch fragte ich: »Was hat dein Vater mit Radulf zu besprechen?«

Crispus legte die Stirn in Falten. »Hat Aurelia dir doch schon gesagt. Er versucht, dich zu retten.«

»Vor wem?«

»Vor den wahren Feinden Roms. Die Prätoren kommen, Nic. Wir wissen nicht, ob sie dich umbringen oder bloß unter ihre Kontrolle bringen wollen, aber sie werden kommen. Du bist in größter Gefahr.«

DREI

Offiziell führten die Prätoren als Beamte, Richter und Zöllner die Regierungsgeschäfte Roms. Inoffiziell hatten sie sich aber einer Sache verschrieben, die größer war als das Reich, und das flößte Radulf Angst ein. Wenn die Prätoren jetzt hinter mir her waren, machte mich das ebenfalls ziemlich nervös.

Als ich damals die Bulla gestohlen hatte, konnte ich nicht ahnen, wie viel Ärger ich mir damit einhandeln würde. Dabei hatte mir sogar Julius Cäsar aus dem Grab zugeflüstert, dass das Amulett mir zum Fluch werden würde. Was sich hiermit einmal mehr bewahrheitete.

»Als mein Vater den Vorsitz im Senat übernahm, folgten die Prätoren seinem Kurs«, sagte Crispus. »Aber nicht aus den Gründen, die er erwartet hatte. Die Prätoren haben sich insgeheim höheren Mächten verschworen.«

»Dienen sie den Göttern?«, fragte ich. »Das tut doch ganz Rom.«

»Die Prätoren dienen nur einer Göttin: Diana, der Göttin, die deiner Bulla die Macht gab.«

Instinktiv griff ich mir an die Rippen, nur hing da nichts. Die Bulla trug ich schon seit zwei Monaten nicht mehr. Sie fehlte mir.

Aurelia rückte näher. »Als Cäsar die Bulla bekam, wer hat ihr da Macht verliehen?«

»Venus«, antwortete ich achselzuckend. »Doch später, als Cäsar fand, dass er das Amulett nicht mehr brauchte, hat Diana es mit Kraft versorgt.«

»Habt ihr euch je gefragt, warum sie das getan hat?«

Wieder zuckte ich mit den Achseln. Nachdem ich die Bulla gestohlen hatte, war alles so aus dem Ruder gelaufen, dass mir keine Zeit blieb, mir darüber Gedanken zu machen.

»Weil Diana Rom und den anderen Göttern schaden will«, sagte Aurelia. »Und die Prätoren haben geschworen, ihr zu helfen.«

»Wie denn?«

»Sie wollen alle drei Amulette in Rom versammeln«, meinte Crispus. »Natürlich hat die Bulla Macht, aber die ist nichts im Vergleich zum Marsreif. Die Prätoren haben sich meinem Vater untergeordnet, weil der Oberste Senator den Schlüssel zum Marsreif hütet. Nur hat mein Vater ihn nie erhalten. Vor seinem Tod hat Horatio ihn jemand anderem gegeben.« Crispus Blick wanderte zu mir.

»Ich habe von Horatio keinen Schlüssel bekommen«, sagte ich entschlossen. »Da finden die Prätoren eher Zucker in Salzminen als den Schlüssel bei mir.«

»Mein Vater glaubt, du hast ihn«, entgegnete Crispus. »Alle glauben das.«

»Dann haben eben alle unrecht«, sagte ich. »Radulf hat mich schon etliche Male gründlich durchsucht. Der hätte mir den Schlüssel längst abgeknöpft, wenn ich ihn gehabt hätte. Sollen sich die Prätoren doch Radulf schnappen und mich in Ruhe lassen!«

»Ist der Schlüssel in dem Beutel an deinem Gürtel?«, fragte Crispus. »Den Beutel trägst du bei jedem Rennen.«

»Nein.« Ich nahm den Beutel in die Hand, als fürchtete ich, Crispus könnte ihn mir wegnehmen. »Wie viele Übungsrennen hast du denn schon gesehen?«

»Einige.« Crispus schaute zur Bahn. »Mein Vater ist ein Anhänger der Blauen. Genau wie der Kaiser.«

»Die Blauen fahren, als würden sie von Kätzchen gezogen«, antwortete ich.

»Können wir uns jetzt mal auf das Problem konzentrieren?« Aurelia fasste uns beide am Arm. »Die Prätoren haben es nicht nur auf den Schlüssel abgesehen. Es gibt noch ein drittes Amulett.«

»Den Jupiterstein«, hauchte ich.

»Die Prätoren wissen, wie man ihn herstellt«, sagte sie. »Aber sie brauchen jemanden mit Magie. Dich.«

»Radulf hat mir in der Arena die Magie genommen«, antwortete ich. Was ja auch der Wahrheit entsprach, nur den Rest verschwieg ich und fragte mich, ob mich das zu einem Lügner machte. »Aber selbst wenn er sie mir nicht genommen hätte, würde ich den Prätoren niemals dabei helfen, einen Jupiterstein zu erschaffen.«

»Die Prätoren wollen den Stein nicht für sich selbst«, sagte Crispus. »Sie wollen ihn für Diana. Damit wäre sie unbesiegbar, selbst im Kampf gegen die anderen Götter.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Den Prätoren helfe ich auf keinen Fall. Niemals werde ich Diana so viel Macht gewähren.« Aus meinem Mund klang das ziemlich albern. Ich war immer noch ein entlaufener Sklave. Und Diana herrschte im Götterhimmel.

»Dir bleibt vielleicht keine Wahl«, meinte Crispus. »Wenn sie …« Dann verstummte er, als wären seine Worte gegen eine Mauer geprallt.

Mir ging allmählich die Geduld aus. »Wenn sie was?«

Crispus seufzte. »Vertrau mir und meinem Vater, ganz gleich, mit welchen Mitteln sie dich unter Druck setzen. Denn wenn die Prätoren mit ihrem Plan durchkommen, wird vielleicht ganz Rom untergehen.«

Nun wurde ich wirklich gleich sauer. Leise sagte ich: »Warum werde ich keine Wahl haben, Crispus?«

Fragend schaute ich Aurelia an, doch die senkte nur den Blick. Leise fluchend ließ ich sie stehen und ging zu Valerius und Radulf. Da sie mit dem Rücken zu mir standen, sahen sie mich nicht kommen, und ich schnappte ein paar Brocken auf von dem, was sie sprachen.

»Ihr müsst mir glauben«, sagte Valerius. »Nic ist in großer Gefahr.«

Als sie mich hörten, drehten sie sich zu mir um. Valerius erhob sich, er wirkte besorgt. Doch Radulf lehnte sich lächelnd zurück. »Setz dich zu uns, Nic.«

»Ich möchte, dass ihr beiden geht«, sagte Valerius zu Crispus und Aurelia, die mir gefolgt waren.

»Nein«, entgegnete ich. »Ich will, dass sie bleiben.« Jedenfalls sollte Aurelia bleiben, bei Crispus war ich mir nicht so sicher.

Zögernd willigte Valerius ein und die beiden setzten sich hinter mich. Ich drehte mich zu Aurelia um, die mir aufmunternd über die Schulter strich. Hoffentlich hatte Crispus das gesehen.

Mit Seitenblick auf Valerius meinte Radulf zu mir: »Ich habe dem Senator schon gesagt, dass du dich niemals vor einem Kampf drücken würdest.«

Im Gegenteil, ich würde mich liebend gerne drücken. Mir fehlte das Training, die Magie und im Gegensatz zu einem abgebrühten Krieger hing ich am Leben. Andererseits war ich noch nie vor Radulf zurückgewichen. Erst als er das Leben meiner Schwester bedroht hatte, hatte ich klein beigegeben und willigte ein, in seinem Haus zu leben. Seither habe ich mich ihm kein einziges Mal widersetzt. Zumindest nicht dass ich wüsste.

»Was für ein Kampf?«, fragte ich.

Valerius räusperte sich. »Die Prätoren rebellieren gegen mich und werden bald gegen ganz Rom rebellieren. Und das ist allein deine Schuld, Nic.«

»Was habe ich damit zu schaffen, wenn auf Euch keiner hört?« Ich war ein Nichts in Rom, weniger als ein Staubkorn auf dem Stiefel des untersten Soldaten. Mit dieser Botschaft schickte mich Radulf jede Nacht zu Bett. Beide konnten sie nicht recht haben. War ich nun wichtig fürs Reich oder nicht?

»Du hast die Magie nach Rom gebracht«, fuhr Valerius fort. »Die Prätoren haben fast dreihundert Jahre darauf gewartet, dass jemand Cäsars Bulla findet.«

Radulf und ich tauschten einen kurzen Blick. Er hatte mir die Bulla abgeknöpft und ich hatte sie nicht zurückgestohlen. Noch nicht.

»Die Prätoren werden die Bulla nicht bekommen«, entgegnete Radulf. »Nur ich kenne ihr Geheimnis.«

Beinahe hätte ich laut losgelacht. Denn seit ich in seinem Haus wohnte, hatte er fast jeden Abend verzweifelt versucht, dem Amulett einen Zauber zu entlocken. Radulf behauptete zwar, er könne die Magie spüren, aber das waren wohl eher meine magischen Kräfte, die allmählich zu mir zurückkehrten, denn die Bulla hatte ihre mächtigen Edelsteine nicht mehr. Vor unserem Kampf in der Arena hatte ich sie entfernt. Wenn Radulf nicht so stolz wäre, hätte er mich längst um Hilfe gebeten. Und wenn ich nicht so dickköpfig wäre … aber ich hatte ohnehin nicht vor, ihm überhaupt jemals zu helfen. Radulf stand ganz allein da.

Valerius war viel zu beschäftigt mit Radulf, um meine Reaktion zu bemerken. Zu Radulf meinte er: »Den Prätoren geht es nicht um die Bulla. Sie haben es auf den Marsreif abgesehen und wollen den Schlüssel von Nic. Wenn er ihnen den Schlüssel gibt …«

»Ich habe den Schlüssel nicht!«, brüllte ich. Nur die Götter wussten, wie oft ich das schon gesagt hatte. Wahrscheinlich hatten sie schon vor Wochen aufgehört zu zählen. Mit gesenkter Stimme fügte ich hinzu: »Horatio hat nicht mit dem Tod gerechnet, also hatte er keinen Grund, den Schlüssel aus der Hand zu geben. Und selbst wenn, mich hätte er garantiert nicht auserkoren. Horatio hat mich gehasst und geglaubt, dass Radulf mich und nicht ihn in der Arena töten würde.«

Neben mir lachte jemand leise. Offenbar fand Radulf meine Wortwahl witzig.

»Aber Horatio hat allen gesagt, er hätte Nic den Schlüssel gegeben«, meinte Crispus hinter mir. Als wir uns zu ihm umdrehten, fügte er noch hinzu: »Außerdem ist es egal, ob Nic den Schlüssel hat oder nicht. Die Prätoren gehen davon aus. Nic muss beschützt werden.«

Valerius beugte sich vor. »Radulf, Ihr müsst Nic dazu bringen, den Schlüssel herzugeben, und ihn dann aus Rom fortschaffen. Am besten, Ihr verlasst sogar das Reich, aber selbst das wird wohl nicht reichen.«

»Wenn Nic ohnehin keine Chance hat, vor den Prätoren zu fliehen, kann er genauso gut bleiben.« Radulf lächelte mir zu. »Nic wird Rom nicht verlassen und den Schlüssel wird er ihnen schon gar nicht geben. Nachdem er die Prätoren besiegt hat, werde ich den Marsreif an mich nehmen.«

»Wie?«, fragte ich. »Selbst wenn wir den Schlüssel hätten: Niemand weiß, wo der Armreif versteckt ist.« Dabei schaute ich noch immer zu Crispus, der einen warnenden Blick von seinem Vater kassierte. Das weckte meine Neugierde.

Valerius unternahm einen erneuten Versuch. »Radulf, ich bitte Euch, sucht nicht nach dem Marsreif. Das kann nur böse enden. Wir müssen den Prätoren den Schlüssel überlassen und uns dann alle in Sicherheit bringen. Leben hängen davon ab.«

Als ich endlich begriff, was Valerius wollte, stieg er nicht gerade in meiner Achtung. »Deshalb seid Ihr also hier«, sagte ich. »Ihr wollt weder mich noch Rom vor den Prätoren retten. Wenn Ihr ihnen nicht den Schlüssel gebt, töten sie Euch.«

Plötzlich riss Valerius die Augen auf und deutete mit zitternder Hand hinter Radulf. Wir drehten uns um und sahen eine Gruppe von Prätoren in den Circus strömen. Die Männer waren in Gewänder und Togen der Oberschicht gekleidet, aber um den Arm trug jeder von ihnen ein schmales Silberband in Form eines Pfeils. Damit demonstrierten sie ihre Treue zu Diana, die laut Crispus gegen die anderen Götter rebellierte. Alle Köpfe im Circus wandten sich zu mir um.

Mir schnürte sich die Kehle zu. Was sollte ich nur machen? Valerius meinte, sie kämen mich holen.

»Gib ihnen den Schlüssel«, sagte Valerius und packte mich am Arm. »Bitte, Nic. Es ist deine einzige Chance.«

»Das wird er nicht tun«, entgegnete Radulf und erhob sich. »Stell dich hinter mich, Nic. Und ihr anderen versteckt euch besser.«

Und in Radulfs Hand formte sich ein Feuerball. Während Aurelia, Crispus und Valerius flohen, wappnete ich mich für den Kampf.

VIER

Bis ich zu Radulf kam, hatte ich die Bulla immer bei mir. Und gerade jetzt hätte ich sie liebend gerne benutzt. Seit Radulf mir das Amulett abgenommen hatte, war er mehr als vorsichtig gewesen. Er versteckte die Bulla in seinem Zimmer, wo er sie in Sicherheit wähnte vor Prätoren und Dieben. Und mir. Aber die Magie in dem Mal auf seinem Rücken war außerordentlich stark, sie würde reichen, um die Prätoren abzuwehren.

Beim Anblick der sich nähernden Prätoren erwachte auch mein Mal zum Leben. Der Göttliche Stern brannte auf meiner Schulter wie eine kalte Flamme, doch das durfte Radulf nicht wissen. Dass ich Magie benutzt hatte, um meine Pferde beim Wagenrennen zu retten, war schon viel zu riskant gewesen. Wenn ich jetzt meine Kräfte zeigte, würde Radulf sie mir womöglich wieder nehmen. Ein zweites Mal würde ich diesen Schmerz nicht überleben. Also ballte ich die Hände zu Fäusten und hoffte, so die Magie zu bändigen. Ich vermied es, die Prätoren direkt anzusehen.

Sie näherten sich von der Stirnseite des Circus, es waren um die fünfzig. Jeder Einzelne hatte die Augen auf mich gerichtet, ihre Blicke bohrten sich wie spitze Steine in meine Brust. Wie die Senatoren Roms verfügten diese Männer über unermessliche Macht und Reichtum und sie waren mir nicht freundlich gesonnen.

Die meisten Zuschauer merkten, dass sich ein Kampf anbahnte, und nahmen Reißaus. Selbst die Wagenlenker brachen ihr Training ab und fuhren in die Stallungen. Valerius, Crispus und Aurelia hatten sich gleichfalls aus dem Staub gemacht, übrig blieben nur noch Radulf und ich. Gern versteckte ich mich nicht hinter ihm, aber wenn die Prätoren es wirklich auf mich abgesehen hatten, blieben mir nur zwei Möglichkeiten: zu kämpfen und meine Magie preiszugeben. Oder den Kopf einzuziehen.

»Halt dich dicht hinter mir«, sagte Radulf. »Mit Glück bleiben die Prätoren auf Abstand.«

»Haben sie irgendwelche Kräfte?«, fragte ich.

»Nein, aber sie …«

»General Radulf, wir wollen Euch nichts Böses«, meinte ein Prätor, der sich an der Spitze befand. Er war größer und jünger als Radulf, hatte lockiges Haar wie Crispus, nur war seines schwarz wie die Nacht. Auch seine Augen waren dunkel und sahen aus, als wären sie mit Ruß umrahmt. Ich erkannte ihn wieder. Er war dabei gewesen, als ich im Amphitheater gegen Radulf gekämpft hatte. Dieser Mann hatte Radulf untersagt, mir noch mehr Magie zu entziehen. Womöglich hatte er mir damit das Leben gerettet, doch wenn ich ihn jetzt so ansah, drängte sich mir der Gedanke auf, dass er es bereute. War er gekommen, den Fehler wettzumachen?

Er sagte: »Ich heiße Decimus Brutus und bin Richter des Römisches Reiches. Wir müssen mit dem Jungen über seine Verbrechen reden.«

In meiner Schulter flammte Schmerz auf. Keuchend brach ich auf den Stufen zusammen und biss die Zähne aufeinander. Hoffentlich hatte Radulf nichts gehört. Die Magie des Göttlichen Sterns pulsierte in mir, wollte sich entladen.

»Ich bin der Oberste General. Mir unterstehen sämtliche Truppen im Reich«, entgegnete Radulf. »Wenn sich der Junge eines Verbrechens schuldig gemacht hat, ist es an mir, ihn zu bestrafen.«

Brutus trat einen Schritt näher, seine kalten Käferaugen auf mich gerichtet. »Unser neuer Kaiser Florian kämpft noch in Gallien, aber er bittet um eine Einschätzung zu diesem Jungen.«

»Wenn er Kaiser bleiben will, sollte er sich von mir und meiner Familie fernhalten«, sagte Radulf.

»Ist das eine Drohung, General Radulf?«

»Ja.« Radulf zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Unser letzter Kaiser Tacitus hat mich ein wenig vorschnell abgetan. Hoffen wir mal, Florian macht nicht den gleichen Fehler.«

»Florian ist Euer Herrscher!«

»Das wird sich zeigen.« Radulf deutete auf mich. »Florian braucht sich kein Bild von diesem Jungen zu machen. Und Ihr auch nicht.«

»Da bin ich anderer Meinung«, sagte Brutus. »Der Kaiser muss das Ausmaß seiner Kräfte kennen, seine Fähigkeiten, Rom zu zerstören.«

Radulf lachte in sich hinein und flüsterte mir zu: »Oder deine Fähigkeiten, ihnen bei der Zerstörung Roms zu helfen, was, Nic?«

»Ich werde nicht mitgehen«, wisperte ich. Radulf war zwar ein schrecklicher Mensch, und auch er führte nichts Gutes im Schilde, aber als Großvater war er mir doch irgendwie verpflichtet. Die Prätoren würden mich erbarmungslos in die Zange nehmen.

»Was hast du da in dem Beutel?«, fragte Brutus und deutet mit dem Kopf auf meinen Gürtel.

»Sonnenschein«, antwortete ich. »Und Rosen.«

»Nicht dein Ernst.« Radulf verzog das Gesicht. »Musst du sie auch noch provozieren?«

Dann hob Radulf die Hand und schob sie Brutus entgegen, sodass er auf die Steinstufen stürzte. Sofort zückten sämtliche Prätoren im Circus das Schwert und umzingelten uns. Auch die Eingänge blockierten sie, wahrscheinlich auch in Ecken, die wir nicht einsehen konnten.

Brutus brüllte. »Schnappt euch den Jungen!«

»Horatio hat mir den Schlüssel nicht gegeben!«, brüllte ich zurück. »Ich bin euch zu nichts nutze.«

Brutus grinste. »Das lass mal unsere Sorge sein.«

Radulf wandte sich um und wehrte einen Prätor ab, der sich uns von hinten genähert hatte. Deutlich spürte ich, wie sich die Magie aus Radulfs Göttlichem Stern entlud. Unvorstellbar, dass er meine nicht auch jedes Mal spürte.

»Lass nicht zu, dass sie mich berühren.« Radulf schleuderte einem weiteren Angreifer seine Magie entgegen. »Dann kann ich dich nicht mehr beschützen. Und sie holen sich den Schlüssel.« Ich war drauf und dran zu widersprechen, doch er sah mich vielsagend an: »Du hast ihn, auch wenn du es nicht weißt.«

Radulf hielt die Prätoren auf Abstand, während ich tief in Gedanken versank. Teilweise wollte ich mich einfach nur von dem Druck in mir ablenken, aber ich fragte mich jetzt doch, ob es möglich war, dass ich den Schlüssel zum Marsreif besaß, ohne es zu wissen. Hatte mir Horatio etwas gegeben, das gar nicht wie ein Schlüssel aussah? Nein, ich hatte nie etwas von ihm bekommen, da war ich ganz sicher. Warum hätte er lügen sollen?

Radulf zerrte mich am Arm mit sich, als er sich um die eigene Achse drehte. Seine magischen Schläge wurden heftiger, aber die Prätoren strömten immer schneller nach. Lange könnte er sie nicht mehr abwehren.

Plötzlich stürzte ein Dutzend Prätoren gleichzeitig auf uns zu. Die meisten von ihnen brachte Radulf mit seiner Magie zu Fall, doch der Rest kam mit gezückten Schwertern angelaufen.

Auf den Treppen lagen Steine herum, ich hob sie auf. Mit gut gezielten Würfen schaltete ich ein paar der Männer aus. Leider übersah ich bei dem Manöver die Prätoren über uns auf der Tribüne. Während Radulf noch mit den Männern beschäftigt war, die frontal angriffen, packten mich zwei weitere Männer. Einer hielt mir ein Messer an die Kehle, der andere nahm meine Beine. Ich wand mich und versuchte, eine Hand freizubekommen, um meine Magie einzusetzen. Bei all der Energie, die sich in mir angestaut hatte, könnte ich die Männer schneller zu Boden bringen als Platzregen.

Doch irgendetwas war geschehen. Kaum hatte einer der Prätoren mein Handgelenk gegriffen, verlor ich sämtliche Magie. Sie war komplett verschwunden. Probeweise versuchte ich, meine Kräfte einzusetzen, vergebens.

»Nic!« Radulf fuhr herum. Der Mann, der mir das Messer an die Kehle hielt, drückte noch fester zu, und Radulf ließ die Hände sinken. Als ich nach dem Angreifer trat, ritzte er mir die Haut auf. Schlimm war es nicht, aber ich hörte auf zu strampeln. Beim nächsten Mal hatte ich vielleicht nicht so viel Glück.

»Ihr wollt doch was von mir«, sagte ich. »Also werdet ihr mich schon nicht umbringen.«

»Uns interessiert nur das Mal auf deiner Schulter«, zischte der Mann. »Der Rest ist uns egal.«

Plötzlich schrie der Mann vor Schmerz auf, ließ das Messer los und gab auch meine Hand frei. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass sich ein Pfeil tief in seinen Rücken gebohrt hatte.

Der andere Prätor gab meine Füße frei und ich stolperte über die Stufen und knallte auf den Boden. Der Prätor floh die Stufen hinunter, hielt sich den Arm, in dem ebenfalls ein Pfeil steckte.

Ich rollte mich auf die Seite. Ganz oben auf den Stufen stand Aurelia mit gespanntem Bogen. Kurz nickte sie mir zu und schoss dann einen Pfeil auf einen Prätor in Radulfs Nähe.

Irgendwann muss mir jemand den Beutel mit den Bleitafeln abgeschnitten haben, jedenfalls lag er ein paar Reihen weiter unten. Ich war gerade auf dem Weg zu dem Beutel, als Radulf rief, ich solle lieber zu ihm hochkommen. Das würde ich tun, aber erst, wenn ich den Beutel wiederhatte.

Mit etwas Abstand von den Prätoren spürte ich jetzt die Magie wieder. Sehr seltsam. Doch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, stand Radulf neben mir.

»Der Beutel ist es nicht wert, dass du dein Leben riskierst«, sagte er.

Ehrlich gestanden könnte dieser Beutel mir eines Tages das Leben retten, aber für einen Streit blieb jetzt keine Zeit. Stattdessen murmelte ich nur: »Es kommen immer mehr Prätoren.«

»Versuche, ganz ruhig weiterzuatmen«, sagte Radulf. »Das tut jetzt ein bisschen weh.«

Radulf legte mir die Hände auf die Schultern. Der Circus verschwamm vor meinen Augen und Dunkelheit verschlang mich.

FÜNF

Wir kehrten zu Radulfs Haus zurück, das inmitten der Heerlager im Nordosten der Stadt lag. Dort gab es weit und breit nichts außer Soldaten.

Sobald ich wieder zu mir kam, löste ich mich aus Radulfs festem Griff. Am Hals blutete ich noch von dem Messerstich, aber das kümmerte Radulf nicht. »Geh auf dein Zimmer. Ich habe zu arbeiten.«

»Nein!«, schnauzte ich. Mein linker Arm brannte vom Verschwinden oder Auftauchen, oder was immer Radulf veranstaltet hatte, und die Magie brandete in mir. Innerhalb der letzten Stunde hatte ich erst meine Mutter und dann Aurelia – mit Crispus im Schlepptau – gesehen und war kurz darauf nur knapp einer Entführung durch Brutus und die Prätoren entkommen. Dieses innere Gefühlschaos entlud sich jetzt in einem Wutanfall.

»Du gehorchst mir gefälligst!«

»Ihr habt mir gerade fast das Leben gekostet. Valerius warnt Euch vor den anrückenden Prätoren, und was macht Ihr? Stellt Euch freudig einem Kampf.«

»Ich will den Marsreif. Und wenn wir dabei gegen ein paar Prätoren kämpfen müssen, soll es mir recht sein!«

»Ich kann nicht für Euch gegen die Prätoren kämpfen. Und das werde ich auch nicht. Ob Ihr nun Rom zerstört oder sie, was macht das für einen Unterschied?«

»Den Prätoren ist es egal, ob du am Ende noch lebst«, zischte er.

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Und Euch nicht? Ich bin doch bloß ein Werkzeug für Euren Verrat!«

Radulf lächelte. »Wenn ich siege, schreibe ich Geschichte. Wir schreiben sie zusammen.«

Mein Blick verfinsterte sich. »Ohne mich schafft Ihr es nicht. Und ich unterstütze Eure Pläne nicht.«

Ich machte auf dem Absatz kehrt, marschierte in mein Zimmer und schlug die Tür hinter mir zu. Ich hätte mir einen anderen Rückzugsort gewünscht, denn das war kein richtiges Zimmer. Vor meiner Ankunft hatte Radulf es dazu benutzt, seine militärischen Schachzüge zu planen, so sah es auch aus.

Die Fresken an den Wänden zeigten Minerva, die eine ebenso mächtige Kriegerin war wie ihre Halbschwester Diana. Als Radulf mich zum ersten Mal in das Zimmer gebracht hatte, hatte er mir den zehnjährigen Krieg der Giganten mit den Göttern beschrieben. Minerva war in einen Kampf mit einem Drachen geraten, einem riesigen Schlangenwesen mit Drachenkopf, das die Römer Draco nennen. Als sich die Schlange um Minervas Hals legte, um sie zu töten, schleuderte Minerva das Wesen in den Nordhimmel, wo es sofort gefror. An meiner Zimmerdecke war das Sternenbild des Drachen abgebildet, der sich um den Kleinen und den Großen Bären windet und mit gespaltener Zunge wütend austeilt. Nicht gerade ein Deckenbild, das einem süße Träume bescherte.

Während ich in meinem Zimmer auf und ab lief, vermied ich es, zu Draco hinaufzuschauen. Mir gingen tausend Dinge durch den Kopf, die ich zu Radulf hätte sagen sollen, und ich trat noch einmal gegen die Tür, damit er auch wirklich begriff, dass ich sauer war.

Mein Blick fiel auf die Wachstafel neben meinem Bett. Nachdem ich mir den Hals gesäubert und eine neue Tunika angezogen hatte, nahm ich mir die Tafel und übte schreiben. Radulf ließ jeden Tag Lehrer kommen, die mir Lesen und Schreiben beibrachten, und ich strengte mich an, um genauso gebildet zu werden wie andere Jungen in meinem Alter. Das war ein hochgestecktes Ziel, aber ich machte gewaltige Fortschritte. Auch wenn es ganz schön frustrierend sein konnte, aus Zeichen Wörter zu formen und sie in Wachs zu ritzen, ging es mir mit dem Lernen wie mit der Bulla, es beflügelte mich. Vielleicht sogar aus dem gleichen Grund: Wissen bedeutet Macht.