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White Zone - Letzte Chance

Katja Brandis, geboren 1970, studierte Amerikanistik, Anglistik und Germanistik und arbeitete als Journalistin. Sie schreibt seit ihrer Kindheit und hat inzwischen zahlreiche Romane für Jugendliche veröffentlicht. Sie lebt mit Mann, Sohn und drei Katzen in der Nähe von München. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihr u. a. bereits die Romane Freestyler, Floaters. Im Sog des Meeres sowie zusammen mit Hans-Peter Ziemek Ruf der Tiefe und Schatten des Dschungels.

www.katja-brandis.de

Für meinen Vater

Tür ins Nirgendwo

Eine berühmte Video-Bloggerin hat mich mal gefragt, wie es sich anfühlt, ein Auto mit achtzig Stundenkilometern gegen eine Mauer zu fahren. Ich wünschte, ich hätte das beschreiben können. Es gibt einen Ruck, der versucht, dir die Seele rauszureißen, alles ist Lärm, dein Körper will fliegen, aber der Gurt umarmt dich zu fest. Schon knallt dir der Airbag ins Gesicht wie die Faust eines Engels, beschützt dich.

Aber das ist mir in dem Moment leider nicht eingefallen. Also habe ich einfach gesagt: »Krass fühlt sich das an – und total echt, irgendwie.«

Als die Bloggerin mich anschaute, konnte ich genau sehen, was sie dachte. Das Mädel hat sie ja nicht mehr alle.

Sie hat sich wahrscheinlich nicht gewundert, als ich mitten in ihrer nächsten Frage aufgestanden und gegangen bin.

Seitdem hatte ich Zeit genug, mir eine richtige Antwort zu überlegen. Aber hier existieren keine Blogger, die mich interviewen wollen. Mauern gibt’s auch keine und wahrscheinlich nicht mal Autos. Gerade fliegen wir über ein paar Inseln, die aussehen wie nicht mehr ganz frische Sahneklumpen, und danach ist alles weiß unter uns. Ein blendend helles Weiß – ich krame in meinem Rucksack nach der Gletschersonnenbrille.

Unser Betreuer Martin sitzt in der Twin Snowbird auf der anderen Seite des Ganges, er lehnt sich zu mir herüber. »Tja, Crash … hier auszubrechen, kannst du dir sparen. Man würde deine Silhouette noch den ganzen Tag lang am Horizont sehen.«

Arschloch!

Ich habe nicht vor, abzuhauen, schließlich bin ich zumindest halb freiwillig hier. Mir war nur nicht klar, dass dieser Trip nicht erst nächstes Jahr losgeht, sondern schon im Dezember 2030. Im Winter ist es auch in Deutschland erträglich. Eigentlich war mein Plan, mir diese ganze Frühlingsqual zu ersparen. Die Haselnusspollen, durch die meine Augen aussehen wie die eines Zombie-Kaninchens. Die blühenden Erlen, die mit Erfolg verhindern, dass ich Luft bekomme. Die Birkenpollen, die meine Nase in einen außer Kontrolle geratenen Wasserhahn verwandeln. Ich bin allergisch gegen praktisch alles, was irgendwo wächst und blüht. Zum Glück wächst hier in der Antarktis, soweit ich das überblicken kann, überhaupt nichts.

Anscheinend habe ich so was in der Art vor mich hin gemurmelt, denn der türkisch oder arabisch aussehende Typ in der Sitzreihe vor mir wendet sich um. Er hat ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen, die schwarzen Haare fallen ihm quer über die Stirn. Er streicht sie zurück und blickt mich an. »Doch. Hier gibt’s zwei Blühpflanzen. Aber die sind winzig.«

Ich bin nicht sicher, ob ich das glauben soll. Hier auf der Südhalbkugel der Erde ist im Dezember Hochsommer … und trotzdem sieht es aus, als hätte man das Land in Styropor eingepackt.

»Ach, schalt doch deine Datenbrille ab, Dattelpflücker«, stichelt das Mädchen, das sich auf dem Flughafen als »Fee« vorgestellt hat. Bis eben hat sie noch Musik gehört und mit irgendjemandem gechattet.

Der Typ – der im Gegensatz zu meinem Sitznachbarn keine Datenbrille aufhat – verdreht die Augen, kommt aber nicht dazu, zu antworten, denn in diesem Moment gibt der ziemlich kurz geratene Lockenkopf neben mir ein eigenartiges Geräusch von sich. Eine Art Japsen. Fassungslos klopft er auf der 2Eye vor seinen Augen und auf seiner BrainConnect herum, einer Hirnschnittstelle, die aussieht wie ein großer, silberner Wassertropfen an seiner Schläfe. »Ich komm nicht mehr in die Cloud! Angeblich kein Empfang.«

In diesem Moment schreit auch eins der anderen Mädchen auf, ich habe ihren Namen vergessen. »Oh Mann, was ist denn jetzt los? Das gibt’s doch nich.«

Schnell checke ich meinen eigenen Communicator. Auch ich bekomme keine Verbindung, und als ich den Kopf hebe, sehe ich, dass Martin grinst. »Gewöhnt euch dran. Hier in der Antarktis gibt’s kein Netz.«

Wir starren ihn an, alle sechs. Kein Netz? Das heißt, auf einen Schlag komme ich nicht mehr an meine Musik, meine Filme, meine Bücher, meine Nachrichten!

Der Lockenkopf neben mir sieht aus, als würde er gleich weinen. Vielleicht ist er zum ersten Mal in seinem Leben offline und weiß gar nicht, wie das ist. »Aber in der Station? In der Station haben wir doch bestimmt Empfang, oder?«, fragt er hoffnungsvoll.

»Übers Satellitentelefon, ja. Aber nur eine Stunde pro Tag und Person«, verkündet Martin vergnügt und krault sich den Ziegenbart. »Und wenn sich jemand mies benimmt, wird ihm die Online-Zeit gestrichen.«

Allgemeines Aufstöhnen.

»Reine beschissene Schikane!« Der schwarzhaarige Junge pfeffert eine Wasserflasche gegen die Cockpittür.

»Zwanzig Minuten Internet weniger für Sinan«, verkündet Martin.

Er hat kurze, dunkle Haare und sieht nicht aus wie der typische Betreuer, sondern eher wie jemand aus dem Bahnhofsviertel: Muskeln wie eine Actionfigur, enges T-Shirt unter einer extradicken, grün schimmernden Fotosynthesejacke, Tätowierungen in allen Farben – und zwar echte und keine von denen, die nach einem Monat von selbst verschwinden. In seinem linken Ohr glänzt ein Ring aus einem dunkel schimmernden Metall, vielleicht Titan.

Soweit ich es mitbekommen habe, soll er unser leitender Betreuer sein, eine zweite Betreuerin hat Social Adventures Network schon vorausgeschickt, um die Station für uns vorzubereiten.

»Na toll«, murrt Seven, einer der anderen Jungen. »Meine Fan-Community wird denken, ich sei tot.«

»Fan-Community?« Fee dreht sich zu ihm um und blickt ihn mit gerunzelter Stirn an. Dann öffnen sich ihre grünen Augen weit, und ihr Lächeln würde einen Schneemann in zehn Sekunden abtauen. »Hey, jetzt weiß ich, wer du bist! Du bist doch der, der fast in dieser Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Show gewonnen hat … Top Dog, oder?«

»Stimmt.« Bescheidenes Lächeln. »Es war ziemlich knapp, ich hab’s bis zur siebten Runde geschafft. Eigentlich war das Publikum auf meiner Seite, aber ihr wisst ja, wie so was läuft …«

Aha. Siebte Runde. Deswegen Seven. Ich höre weg, während die anderen ihn neugierig über die Show ausfragen.

Fee ist schon voll dabei, mit Seven zu flirten, wahrscheinlich weil er passabel aussieht. Er hat ein gut geschnittenes Gesicht, Augen so blau wie ein Aquamarin und blonde, vorne hochgegelte Haare, die hinten in einen Pferdeschwanz auslaufen. Jetzt erinnere ich mich auch daran, ihn mal in einer 3D-Sendung bemerkt zu haben. Warum ist er hier, wenn er doch so furchtbar berühmt ist? Irgendwann muss er Mist gebaut haben.

»Wie heißt du eigentlich? Wie alt bist du?«, fragt der Junge neben mir und lächelt mich schüchtern an.

»Crash«, sage ich. »Siebzehn.«

»Nee, ich meine, wie heißt du richtig.«

»Interessiert doch eh keinen«, wiegele ich ab; sogar Martin habe ich überredet, nur diesen Namen zu benutzen. »Und du?«

»Benny. Ich bin vierzehn.«

Ganze drei Jahre jünger als ich! »Dann bist du der Jüngste hier, glaube ich. Was hast du gemacht?« Eigentlich fragt man so was ja nicht – wenn er darüber reden will, sagt er’s dir sowieso, wenn nicht, bekommst du einen Haufen Lügen serviert. Aber diesmal bin ich neugierig. Dieser Kleine sieht aus, als könne er nicht mal jemandem in den Kakao spucken, ohne sich dafür zu schämen.

»Ich, äh …« Er zögert. »Es war so eine Art blöder Witz. Eigentlich habe ich es nicht böse gemeint, es ist nur schlecht angekommen. Sehr schlecht.«

Mehr sagt er nicht und wir lassen es dabei. Hoffentlich ist der Kleine härter, als er aussieht, sonst wird er hier das Opfer vom Dienst.

»Ich glaube, ich hab schon mal was über dich in einer Reportage gesehen«, sagt Benny zu mir. »Echt heftig. Warum machst du das?«

»Warum wohl? Weil es Spaß macht.« Allmählich fängt der Typ an zu nerven.

»Aber wie, äh … ich meine, wieso lebst du überhaupt noch?«

»Erstklassiger Glücksbringer«, murmele ich und starre aus dem Fenster.

Gespräch beendet.

Weil ich die wunderbar schmalzig-romantische Komödie, die ich angefangen hatte, nicht weiterschauen kann – sie war auch in der Cloud –, beobachte ich die anderen. Drei Jungs und inklusive mir drei Mädchen, alle dick gepolstert wegen der vielen Klamottenschichten. Das hochgewachsene Mädchen mit den schulterlangen, dunkelblonden Haaren, das vorhin aufgeschrien hat, hängt blass und mit geschlossenen Augen in ihrem Sitz. Na, gut geht es der nicht, hoffentlich steckt die uns nicht alle mit irgendeinem fiesen Virus an. Dann sehe ich ihre grünlichen Fingernägel und weiß Bescheid – sie hat Green Giant genommen. Selbst wenn sie den Entzug längst hinter sich hat, das Zeug bleibt ewig im Körper.

Auch Martin beobachte ich natürlich. Er hat das Foto einer Frau auf dem Communicator aufgerufen, starrt es an und macht sich daran, es zu löschen. Noch mehr Fotos, ich erhasche einen Blick auf Strand, Meer, die gleiche Frau im Bikini. Klick, weg. War wohl kein so toller Urlaub.

»Gibst du mir mal ’n MoonWater, Dattel?« Fee hat ihre Blicke einen Moment lang von Seven losgerissen und wendet sich wieder dem vermutlich türkischen Jungen zu. Wenn ich mich richtig erinnere, heißt er Sinan, aber wenn er Pech hat, bleibt das mit dem Dattelpflücker kleben.

Einen Moment lang wirkt der Junge irritiert, dann gibt er zurück: »Aber gerne, Hexe«, und gräbt ein Getränk aus unserer Proviantkiste hervor. Wahrscheinlich ist ihm klar, dass man sowieso einen Nickname bekommt, ob man will oder nicht.

Wir sind bald da. Die Twin Snowbird ist schon lange im Sinkflug, Böen schütteln sie durch, ich halte mich am Sitz fest. Mit gedrosselten Motoren, fast lautlos, gleiten wir an der Grenze zwischen Eis und teilweise zugefrorenem Meer entlang. Neugierig blicke ich durchs kleine Kabinenfenster nach unten.

»Das ist die Schelfeiskante«, meint Martin. »Hier legt im Sommer das Versorgungsschiff an.«

»Mir ist schlecht«, stöhnt Fee, das lange, honigfarbene Haar hängt ihr wirr ins Gesicht. »Dieses verdammte Geruckel …«

Dattel grinst nur, doch Seven sagt galant: »Nimm die«, und reicht ihr seine umgedrehte Mütze.

Fee wirft sie zurück. »Du spinnst wohl, durch die Maschen kommt doch alles durch.« Hektisch durchwühlt sie alles nach einer richtigen Spucktüte.

»Reiß dich noch ’ne Minute zusammen, wir sind gleich da«, empfiehlt ihr Martin mitleidlos.

Von oben sieht unser neues Heim aus, als hätte jemand eine Schuhschachtel mit rotem Deckel halb im Schnee vergraben.

Es gibt einen kurzen Ruck, als die Twin Snowbird neben der Station aufsetzt, dann rutscht sie holpernd über den Schnee und kommt zum Stehen. Der Pilot entriegelt die Tür und ein eisiger Hauch fegt zu uns ins Innere. Es fühlt sich an, als würde man das Gesicht in die Tiefkühltruhe stecken. Alle anderen springen auf und kramen nach ihren Sachen, nur ich bleibe sitzen und frage mich entmutigt, wie man ein besserer Mensch werden soll, wenn man steinhart gefroren ist.

Aber irgendwie muss es gehen. Letzte Chance. Dies hier ist meine letzte Chance, der Jugendrichter hat es sehr deutlich gemacht.

»Okay, Leute, los geht’s«, sagt Martin und blickt mich an. »Das gilt auch für dich, Crash. Keine Sorge, du stirbst nicht, das sind höchstens minus 10 Grad.«

»Wenn ich sterbe, hast du jedenfalls ein Problem«, sage ich.

Dann suche ich meine Sachen zusammen und steige aus. Meine Stiefel knirschen auf dem Schnee und meine Atemwolke vernebelt mir einen Moment lang die Sicht. Wie unglaublich sauber die Luft riecht, so klar und kalt. Als ich ein Kind war, ist auch zu Hause mal so viel Schnee gefallen und es roch genauso wie hier.

Ganz langsam drehe ich mich um die eigene Achse, blicke mich um. Ich stehe auf einer völlig flachen, weißen Ebene, die sich in allen Richtungen bis zum Horizont erstreckt, ein gewaltiges Nichts, über dem sich der blassblaue Himmel wölbt. Meine Augen versuchen, sich an irgendetwas festzuhalten, finden schließlich einen dunklen Punkt, der rasch näher kommt – sieht nach einem Schneemobil mit Anhänger aus. Das Motorengeräusch lässt meinen Puls schneller schlagen.

»Hey, wo sind eigentlich die Pinguine?«, fragt Fee niemand Bestimmten. Sie, Seven, Dattel und Benny versuchen gerade, eine Schneeballschlacht in Gang zu bringen, doch das Zeug pappt nicht, die Bälle zerfallen sofort wieder.

»Mann, selbst in der Türkei haben wir besseren Schnee«, lästert Dattel. »Na, Kaya, auch schon wach?«, quatscht er das Mädchen mit den grünlichen Fingernägeln an, das reglos dasteht, und klopft ihm an die Schläfe. »Hallo? Hallo? Jemand zu Hause?«

Dann geht alles so schnell, dass ich es beinahe verpasse. Mit einem Tritt gegen die Brust schickt das Mädchen Dattel zu Boden, anschließend macht sie sich daran, ihm eine Ladung Schnee ins Gesicht zu drücken. Und zwar fest.

»Ich … mach dich … kalt!«, versucht Dattel zu brüllen, aber es ist offensichtlich, dass es gerade umgekehrt läuft. Die anderen grinsen, und Benny kriegt sich gar nicht mehr ein vor Lachen, denn Dattel zappelt in Kayas Griff wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen ist.

Martin findet das alles weniger komisch – er packt Kaya an der Jacke und zerrt sie weg. »Stopp! Kaya, wir hatten besprochen, dass man auch ohne Gewalt reagieren kann, wenn man provoziert wird!«

Das Mädchen lässt Dattel los und zuckt die Schultern. Ich wette, sie ist zufrieden. Schon fünf Minuten nach unserer Ankunft hat sie deutlich gemacht, dass es keine gute Idee ist, sich mit ihr anzulegen. Ziel erreicht.

»Und du, Sinan – was hättest du besser machen können in dieser Situation?«

»Sie zuerst umbringen, bevor sie mich umbringt!«

Martin seufzt. »Zweiter Versuch.«

»Ach, halt doch die Fresse, Martin.« Dattel wirft unserem Betreuer und Kaya finstere Blicke zu, während er sich Schnee aus den Augen wischt.

»Das war’s mit deiner Netzzeit heute«, verkündet Martin. Dann mustert er eine der Proviantkisten, packt eine davon … und setzt sie nach ein paar Schritten wieder ab. Anscheinend sauschwer.

Dattel feixt. »Brauchst du Hilfe, Alter?«

Inzwischen hat das Schneemobil – ein Skidoo – uns erreicht und eine vermummte Gestalt steigt ab. Das muss unsere zweite Betreuerin sein, aber ich erkenne von ihr nur zwei schwarze Augen. Sie trägt nicht nur einen unförmigen roten Polaroverall und eine schwarze Sturmmaske, sondern auch noch ein Exoskelett. Es sieht nicht aus wie eins dieser unauffälligen japanischen Modelle, durch die Behinderte wieder gehen können, sondern eher wie ein Teil aus Militärbeständen. Schwer und klobig.

Martin beginnt: »Hallo, Sara! Alles …?«

Das »klar« gefriert ihm im Hals, als die Gestalt mit einem kurzen Nicken an ihm vorbeistapft, haarscharf mit den Metallfüßen an seinen Zehen vorbei. Zur Frachtluke der Twin Snowbird hinüber. Dort hebt sie mit ihren verstärkten Armen eine Vorratskiste auf, die deutlich größer ist als sie selbst, und trägt sie zum Anhänger des Schneemobils.

Seven deutet beeindruckt auf das Exoskelett. »Dürfen wir das mal ausprobieren?«

Martin atmet einmal tief durch. »Das hängt ganz von euch ab und davon, ob ihr eure Chancen hier nutzt«, gibt er zurück. Uäh. Er sieht zwar taffer aus als die anderen Betreuer, aber seine Sprüche sind genau die gleichen.

»Ich jedenfalls habe vor, meine Chance zu nutzen«, sagt Seven und packt beim Ausladen mit an. »Schließlich hat es nicht wenig Geld gekostet, mich hierherzuschicken, wäre doch schade, das zu verschwenden.«

Martin sagt nichts, nickt nur. Ich hoffe, dass er Seven das nicht abgekauft hat.

Wir anderen helfen nun auch beim Ausladen, dann dürfen wir zu Fuß zu unserer Unterkunft, einer ehemaligen Antarktis-Forschungsstation1, gehen. Sie hat schon bessere Zeiten gesehen, das ist klar. Auf der Schmalseite der Schuhschachtel sind noch verblasste blaue Buchstaben zu erkennen, sie ragen kaum über den Schnee hinaus. Neumayer-Station. Im Internet stand, dass es vor ein paar Jahren hier gebrannt hat, danach war die Station fast ein Totalschaden, aber eben nur fast. Nicht mehr brauchbar für die Forschung, aber noch zu gut zum Abreißen. Irgendjemand kam auf die Idee, sie zu verpachten, bis sie völlig kaputt ist, schließlich sind Privatgeschäfte erlaubt in der Antarktis, seit sie kein Schutzgebiet mehr ist.

Ich klopfe auf die rot-weiße Außenhülle, es gibt einen hohlen Ton. »Klingt wie ein gestrandetes Schiff.«

»Rein rechtlich gesehen gilt sie auch als Schiff, weil 200 Meter unter uns das Meer ist«, erzählt Martin. »Neumayer III bewegt sich mit dem Schelfeis. Jeden Tag einen halben Meter nach Norden.«

»Warum steckt sie halb im Schnee?«, fragt Benny, seine nutzlose Datenbrille hat er eingesteckt. »Müssen wir die ausgraben?«

Martin schüttelt den Kopf und mustert die Station mit zusammengekniffenen Augen, er sieht nicht wirklich begeistert aus von ihrem Zustand. »Hier fällt mehr Schnee, als wegtaut. Außerdem häufen die Stürme Schnee an jedem Hindernis an. Jedes normale Gebäude, das man hier hinstellt, wird schneller bedeckt, als man’s wieder ausgraben kann.«

»Dann müsste dieser Scheißkasten doch längst weg sein«, wendet Dattel ein und spuckt lässig auf den Boden, knapp an Martins Füßen vorbei. Ganz zufällig, versteht sich.

Martin deutet auf die Spucke. »Dafür gibt’s morgen eine halbe Stunde Netzzeit weniger, Sinan. Zu deiner Bemerkung: Eigentlich schon, aber Neumayer III hatte früher Stelzenbeine, sodass Schneestürme darunter durchgefegt sind. Das waren Teleskopbeine, dadurch konnte man sie auch jedes Jahr ein Stück hochbocken. Tja, durch den Brand ist das alles kaputtgegangen – es war billiger, eine neue Station zu bauen, als diese hier zu reparieren.«

Also leben irgendwo, ein paar Kilometer weiter, eine Menge deutscher Forscher in Neumayer IV. Aber die werden wir garantiert nicht zu sehen bekommen, wahrscheinlich hätten sie Angst vor uns. Schließlich sind wir ein Risiko für die Gesellschaft. Außer Kontrolle. Unbelehrbar. Steht alles irgendwo in meiner Akte und garantiert auch in denen der anderen.

»Total praktisch, das mit dem Schnee«, meint Fee, mampft einen Riegel und lässt die Verpackung fallen. »Müll verschwindet wie von selbst und kommt nie wieder zum Vorschein.«

»Heb das auf«, sagt Martin ruhig. »Jetzt.«

Fee strahlt ihn an. »Ganz cool bleiben«, sagt sie und bückt sich nach der Verpackung. »Hab ich nicht so gemeint, okay? Also läuft das anders mit dem Müll?«

»Wir werden sämtlichen Abfall, den wir hier verursachen, wieder mit nach Hause nehmen«, sagt Martin, und als er sich umblickt, schimmert seine Fotosynthesejacke im Sonnenlicht.

Ich werfe Fee einen kurzen Blick zu. Sie macht einen auf Papas Darling – na, mal schauen, wie weit sie damit kommt.

Sie hat meinen Blick bemerkt und sieht mich an, nachdenklich und ein wenig neugierig. Dann lächelt sie mir zu, ein kleines, herzliches Lächeln, das echter wirkt als die Art, wie sie Martin angestrahlt hat.

Vielleicht werde ich sie mögen.

Keiner der anderen scheint Lust auf Ärger zu haben, denn ohne weitere Diskussionen folgen wir Martin, der eine roh zusammengebaute Metalltreppe an der Seite von Neumayer III hochklettert. Wir müssen durchs Dach einsteigen, weil der ursprüngliche Eingang tief unter dem Schnee verschwunden ist. Eine aus Metall geschweißte Treppe führt hoch aufs Dach, wo sich ein schlichtes, rotes Häuschen erhebt. »Die ehemalige Ballonfüllhalle«, erklärt Martin. »Durch die können wir rein.«

Er fährt ein metallenes Rolltor hoch und wir können inklusive Gepäck in die Halle. Dort schaue ich mich ratlos um, hier scheint es nicht weiterzugehen. »Und was jetzt, sind wir drinnen?«

Martin drückt auf einen Knopf und aus dem Boden fährt langsam eine Falltür hoch. »Fast.«

Eine Falltür. Ist das hier ein Kerker oder was? Wir klettern hinunter und schleifen unsere Sachen durch den nicht weiter bemerkenswerten, schlecht beleuchteten Mittelgang des oberen, zweiten Stockwerks, das hier nicht Stockwerk heißt, sondern Deck. Ich erinnere mich: gestrandetes Schiff und so.

»Station?«, ruft Benny hoffnungsvoll, aber dieser alte Kasten hat natürlich keine Spracherkennung. Es ist ungewohnt, dass die Station nicht merkt, dass wir da sind, und sich nach uns richtet. Sogar das Licht müssen wir selbst anschalten.

Martin sagt: »Ich würde vorschlagen, wir schauen uns erst mal um«, und ich werfe meine schwarze Tasche auf die der anderen, das Zeug stapelt sich halb bis zur Decke.

Erst will ich den anderen ins Treppenhaus folgen, doch als ich höre, dass die Twin Snowbird Vollgas gibt, gehe ich schnell zu einem der Fenster.

Schon hebt sie ab. Wie befreit schwingt sie sich in den gläsernen Himmel, ihre beiden Propeller glitzern in der Sonne.

Mir wird mulmig zumute bei diesem Anblick.

Jetzt gibt es keinen Weg zurück mehr für uns. Drei Monate lang.

Gestrandet

Die ranzige alte Station besteht, soweit ich das richtig durchschaue, aus ehemaligen Schiffscontainern, die man zu vier Stockwerken – zwei waren früher über dem Boden, zwei darunter – übereinandergestapelt und zusammengeschweißt hat. In diesen Containern, denen man einen Fußboden, etwas hübschere Wände, Stromanschluss, Innenfenster und so weiter spendiert hat, haben die Forscher früher gewohnt und gearbeitet. Weil simple Blechwände anscheinend nicht reichen, um in einem der Extremwinter hier warm zu bleiben, ist um diese ganze Stapelkonstruktion noch mal eine feste Außenhülle mit Fenstern nach draußen. Im Zwischenraum zwischen Containern und Hülle, der Galerie genannt wird, kann man herumlaufen, und früher konnte man sicher auch aus den großen Außenfenstern glotzen. Nur leider liegen viele von denen mittlerweile unter dem Schnee.

Wir laden kurz unser Gepäck auf Deck 2 ab, dann geht die Besichtigungstour los – wir marschieren runter zum Deck 1, das auf der einen Seite vom Feuer beschädigt worden ist, und schauen in zahllose Räume. Die meisten davon sind leer, doch in manchen stehen noch irgendwelche alten Möbel, Regale, Maschinen oder Kisten. In einem Raum grollen riesige Stromaggregate vor sich hin. Ansonsten ist es dunkel und still auf diesem Deck und ein muffiger Geruch steigt mir in die Nase. Vielleicht, weil hier früher die Küche, ein Speisesaal und die Lounge waren, aber die sind nicht mehr benutzbar. Nur das Lazarett ist vom Brand verschont geblieben.

Benny, der kleine Blondschopf, blickt sich ohne Begeisterung um, die silberne Schnittstelle glänzt an seiner Schläfe. »Kühl hier. Sind die Heizungen kaputt?«

»Nein, aber es lohnt sich nicht mehr, hier zu heizen – wir wohnen nur oben im Deck 2, wo die Zimmer sind und früher die Labore waren«, erklärt Martin. Er schaut sich ebenso neugierig um wie wir.

»Kann es sein, dass du noch nie hier in der Station warst?«, meint Fee zu ihm und hakt sich bei ihm unter.

»Stimmt«, sagt Martin und löst seinen Arm ganz selbstverständlich wieder aus ihrem. »Aber dafür war ich schon zweimal in der Antarktis, davon einmal am Südpol. Blöderweise war das Hotel dort ausgebucht, aber ich durfte zelten.«

Neugierig blicke ich ihn an. Oh hey, der Südpol. Den würde ich mir gerne anschauen, aber daraus wird wohl nichts, er ist ein paar Tausend Kilometer weiter weg in der Mitte dieses komischen Kontinents. Wir sitzen an dessen oberem Rand.

Wir gehen durchs Treppenhaus hinab. Weiter unten, im Deck U1, ist es noch ein paar Grad kälter; dort sind nur jede Menge Technikräume, Werkstätten und Lager mit niedriger Metalldecke. Verschiedenfarbige Container warten wie bunte, zugeklappte Mäuler auf unseren Müll.

Unglaublich, wie riesig Neumayer III ist. Wir haben Platz ohne Ende. Aber auch dieses Deck wirkt unwirtlich, Teile der Südseite sind voller Ruß, der Bodenbelag ist geschmolzen und in bizarren Formen wieder erstarrt.

»Diese Station ist total schrecklich«, beschwert sich Fee. »Hätten die uns nicht eine eigene kleine Hütte spendieren können? Etwas kleiner und dafür weniger schrottig?«

»Hätte vermutlich zu viel gekostet«, sagt Martin und sieht grimmig aus dabei. Vielleicht ist er auch nicht ganz einverstanden damit, wie der Projektträger uns untergebracht hat.

Furchtbar gerne würde ich ein paar Gruselbilder dieses Schrotthaufens posten, aber das geht nicht. Offline! Ausgesperrt aus dem Internet. Ich kann es immer noch kaum fassen. Noch unruhiger als sonst hibbele ich herum.

Hier endet die Führung. »Es gibt zwar noch ein Deck U2, die ursprüngliche Fahrzeughalle, aber die ist eingesackt«, erklärt Martin. »Die Forscher haben eine neue in den Schnee gegraben, die können wir uns anschauen, soweit ich informiert bin.«

Der Weg dorthin führt durch einen zum Teil mit Wellblech verkleideten Seitengang. Skeptisch werfe ich einen Blick nach oben. Die Gangwände sehen von außen eingedellt aus, als habe irgendein Alien versucht, hineinzugelangen. Flackernd geht das Neonlicht an, erleuchtet bunt lackiertes Metall, Fahrzeuge mit Schneeketten. Eine Rampe führt zur Oberfläche, doch kein Tageslicht fällt herein, das Außentor ist zu.

Gespannt will ich den anderen in die Halle folgen, doch Martins Arm hält mich auf. »Ich bin nicht sicher, ob das in dieser Phase gut für dich ist, Crash.«

»Ach, und was ist gut für mich? Vitamine und Mineralstoffe?«, gebe ich enttäuscht zurück.

»Woher hast du das gewusst?« Er grinst mich an.

Schlecht gelaunt warte ich, bis die anderen sich umgeschaut haben. Kaya bekommt Ärger, weil sie hinter eins der Fahrzeuge gepinkelt hat. Wortlos lässt sie die Standpauke an sich abperlen. Dann geht’s wieder ab nach oben.

Wir gehen wieder hoch. Auf Deck 2 – unserem zukünftigen Zuhause – sieht es zum Glück freundlicher aus. Ein langer Mittelgang, viele hellblaue Türen und dahinter unbeschädigte, geheizte Räume. Auf manchen Türen sind noch Klebereste, wahrscheinlich haben die Bewohner sie früher mit ausgedruckten Fotos dekoriert. Wie offline ist das denn. Ich lasse die Finger darüber gleiten und versuche, mir vorzustellen, was für Bilder das waren. Fotos ihrer Familien wahrscheinlich. Ihrer Kinder. Selfies von ihnen bei der Arbeit im ewigen Eis. Lustige Schnappschüsse mit gut gelaunten Forscherkollegen.

Wir ziehen unsere Reisetaschen vom Stapel und Martin zeigt uns die Zimmer. Oder eher, er reißt jede blaue Tür auf, schaut hinein und beschließt dann, wer wo wohnt. »So, Benny, hier kannst du rein, und dieses hier ist deins, Kaya …«

»Jeder hat ein eigenes Zimmer? Ist das hier das Hyatt oder was?« Dattel klingt überrascht. Der kommt garantiert auch aus dem Heim. Aus dem Reich der Doppelstockbetten, in denen es ungefähr so viel Privatsphäre gibt wie in einem Gibbonkäfig im Zoo.

»Genug Platz ist da«, meint Martin und zuckt die Schultern. »Schließlich haben hier früher Dutzende von Leuten gewohnt. Diese etwas größeren Zimmer müssen die sein, in denen früher die Überwinterer gelebt haben; die meisten Leute waren nur im Sommer hier.« Er blickt sich noch einmal um. »Wenn ihr euch eingerichtet habt, treffen wir uns in den Räumen am Ende des Ganges. Die könnten als Aufenthaltsraum taugen.«

»Wieso kann ich jetzt nicht ins Netz?«, jammert Fee. »Ich halt das nicht aus! Online zu sein, ist ein Menschenrecht!«

»Nicht, dass ich wüsste«, kontert Martin.

Ich verziehe mich in mein Zimmer, setze mich auf das Bett, streiche mit der Hand über das Bettzeug, das sich noch ein wenig steif anfühlt, und schaue mich um. Ein kleiner Schreibtisch mit Stuhl, ein größerer Tisch, ein Schrank. Plötzlich muss ich an mein Zimmer in unserer Wohnung denken, so, wie es früher war. Eine Bettcouch mit bunten Kissen, die Mom mit mir zusammen genäht hat, in der Ecke mein Plüsch-Elch Olaf, ein Wandbildschirm, auf dem ich meistens Katzenbilder eingeblendet hatte, irgendwo im Regal das mit Glitzeraufklebern verzierte Tablet, das damals in meiner Schultüte war, zusammen mit Gutscheinen für ein halbes Dutzend Apps. Was sie wohl mit dem Zimmer gemacht haben? Vielleicht steht jetzt ein Bügelbrett darin und das Wäschegestell, Mom hat sich oft darüber beschwert, dass sie für diese Sachen keinen Platz hat. Oder hat Nico das Zimmer beschlagnahmt? Nee, der ist wahrscheinlich längst ausgezogen.

Mir ist danach zumute, irgendetwas an die Wand zu werfen, den Tisch umzutreten, einen Skidoo zu Schrott zu fahren. Doch dann stehe ich einfach nur auf und gehe zur Tür. Krass, man kann von innen abschließen. Ich drehe die Verriegelung, nur um auszuprobieren, wie sich das anfühlt. Gut fühlt es sich an.

Vorsichtig nehme ich meine Medaille ab, die ich unter den Wintersachen um den Hals getragen habe; das dreifarbige Band ist schon ziemlich zerfranst und die Vergoldung sieht schäbig aus, an den Rändern schaut das Aluminium darunter hervor. Jeder andere würde sie hässlich finden, aber sie ist mein Glücksbringer, seit ich sie damals vor sieben Jahren beim Geburtstag meiner Schulfreundin Melli gewonnen habe – ich hatte beim Bowlen die meisten Punkte, und ich weiß noch Wort für Wort, was mein Vater zu mir gesagt hat: Toll gemacht. Ich hab als Kind nie bei so was gewonnen!

Einen Moment lang schließe ich die Hand um die Medaille. Ja, sie hat mir schon viel Glück gebracht. Schade, dass ich Melli so lange nicht mehr gesehen habe. Wahrscheinlich bereitet sie sich gerade auf ihr Abi vor … Und ich?

Der Gedanke schmeckt wie Asche in meinem Mund.

Ich bringe die Medaille vorsichtig in meiner Nachttischschublade unter.

Draußen höre ich Stimmen, die anderen sind schon auf dem Weg zum Aufenthaltsraum. Ich schließe wieder auf und gehe mit, an den Waschräumen vorbei und einer Küche, die nicht wirklich wie eine Küche aussieht, sondern eher wie ein Labor, in dem jemand ein paar elektrische Kochplatten, einen Kühlschrank und ein Waschbecken angeschlossen hat. Hier und da stehen noch ein paar alte Messgeräte, in der Ecke gammelt ein Computerbildschirm vor sich hin.

»Wann gibt’s eigentlich was zu essen?«, meldet sich Kaya zu Wort. »Ich hab Hunger!«

Alle drehen sich zu ihr um, weil sie bisher fast nichts gesagt hat. Herausfordernd starrt sie zurück mit ihren silbriggrünen Augen. Ich habe gehört, dass Green Giant die Augen verfärben kann, wenn man Pech hat, aber gesehen habe ich es noch nie.

Fee schnipst. »Ach so, du meinst, es gibt hier einen Koch?« Sie hebt übertrieben arrogant das Kinn und schnipst mit dem Finger. »Hallo? Koch! Wo bleibt das Menü?«

»Kommt gleich«, knurrt eine Stimme hinter mir.

Ich fahre zusammen.

Hinter uns steht eine Frau, die wohl Sara sein muss, unsere zweite Betreuerin. Hundert Kilo Lebendgewicht, grellpinke, raspelkurze Haare und schmale, schwarze Augen. Ihr Exoskelett hat sie wohl an der Garderobe ausgezogen, wo auch immer die ist. Sie stapft an uns vorbei, dann knallt die Tür der Küche ins Schloss.

Fee atmet aus und blickt in die Runde. »Ups. Sorry, Leute. Wenn sie uns ins Essen spuckt, ist das meine Schuld.«

»Macht nichts«, tröstet sie Seven und legt den Arm um sie. »In diesem Fall darfst du alles alleine essen und wir anderen machen uns ein paar Dosen auf.«

»Wofür ist diese Sara eigentlich zuständig?«, erkundigt sich Benny, als Martin mal wieder in Sicht ist. »Ist die speziell dafür da, uns in den Hintern zu treten?«

Das gefällt Martin. »Gute Idee. Wird sie bestimmt machen, während sie euch bei handwerklichen Aktivitäten und Ausflügen beaufsichtigt. Nur beim Kochen hat sie vermutlich keine Zeit dafür.«

Fee und Seven sehen sich an und ziehen Troll-Grimassen.

Unser neuer Aufenthaltsraum, ebenfalls ein ehemaliges Labor, sieht nicht gerade gemütlich aus. Ein paar Stühle und ein Tisch aus hellem Holz, an der Wand hängt das Bild eines Eisbrechers. Das war’s. Wenn man hinausschauen will, muss man ein paar Meter weiter gehen in den Gang. Ein weiteres Labor schräg gegenüber ist anscheinend unsere neue Kantine, hier stehen ein paar zusätzliche Tische und Stühle. Ein Putzroboter klettert darauf herum und wischt leise surrend die Tischfläche.

Martin seufzt. »Vielleicht ist in der ehemaligen Lounge direkt unter uns auf Deck 1 irgendetwas, was wir gebrauchen können, um das hier wohnlicher zu machen. Wer geht?«

Ich und Dattel heben sofort die Hand, Seven dagegen winkt mit gerümpfter Nase ab. »Bloß nicht, vielen Dank. Grüßt mir die Ratten.«

»In der Antarktis gibt es keine Ratten«, wendet Martin ein. »Nur diese verdammten blauen Eisfüchse, die sie hier seit Neustem züchten, weil die Pelze jede Menge Geld bringen.«

Instinktiv will ich online gehen, mir ein Foto dieser blauen Füchse anschauen. Ätsch, kein Netz. Es fühlt sich immer noch ganz seltsam an. Als würde mir ein Sinnesorgan fehlen. Dabei habe ich nicht mal eine Hirnschnittstelle.

Noch wirkt Seven nicht überzeugt. »Aber kann doch sein, wisst ihr denn, was für Experimente die Forscher hier gemacht haben?«

Kaya tippt sich an die Stirn und Seven wirft ihr einen gekränkten Blick zu. Eins ist klar, diese beiden werden wahrscheinlich keine Freunde.

Weil es im Deck 1 so düster ist, organisiert Martin Taschenlampen, dann gehen Dattel und ich zum Treppenhaus zurück. Dattels athletischer Körper bewegt sich geschmeidig und mühelos, er geht schnell, aber ich halte leicht mit. In einer spiegelnden Scheibe erhasche ich mein Bild: Etwas zu dünn, dieses Mädchen, aber ihr Hals wirkt lang und elegant. Sie hat zerwühltes, kinnlanges, dunkelbraunes Haar und dunkle, mit viel Kajal umrandete Augen. Mist, der Kajal ist verlaufen, den muss ich neu machen.

»Und, wie oft warst du schon im Knast?«, fragt Dattel, ohne mich anzusehen.

Er testet mich. Will vielleicht wissen, wie hart ich drauf bin, damit ihm so was wie mit Kaya nicht noch mal passiert. Ist es schlau, allein mit ihm zum Deck 1 zu gehen?

»Dreimal«, lüge ich, obwohl es in Wirklichkeit nur zweimal war. »Aber einmal nicht besonders lange, hab ’nen netten Richter erwischt. Und du?«

»Einmal. Halbes Jahr, weil ich schon zwei Vorstrafen hatte.«

Ich frage nicht, wofür, weil er garantiert gleich selbst damit herausrückt. So ist es, schon ein paar Sekunden später sagt er: »Eine Zeit lang war ich richtig, richtig fett reich. Hab mir von irgendeinem Konto zehn Millionen überwiesen.«

»Wie lange warst du denn reich?«

»Fünf Tage, drei Stunden und acht Minuten.« Er seufzt. »Hätte eigentlich gereicht, sich einen dieser Lamborghini Aventador H-5 zulegen. 400 PS, 350 Stundenkilometer Spitze. Leider hab ich noch keinen Führerschein.«

Das bringt mich zum Grinsen. »Na und? Ich auch nicht. Aber mit ’nem H-5 wärst du nicht glücklich geworden. Soweit ich gehört habe, ist die Brennstoffzelle total störanfällig.«

Eigentlich lustig. Die meisten Leute mit Führerschein können gar nicht mehr richtig fahren, weil sie die automatische Steuerung alles machen lassen. Aber ich kann fahren, einfach deshalb, weil ich der automatischen Steuerung das Licht ausblasen muss, um eine Karre klauen zu können.

Während Dattel stolz erzählt, wie er es geschafft hat, sich die Kohle auf sein Konto zu buchen, huscht der Strahl unserer Lampen in der stickigen Dunkelheit umher. Alles wirkt so fremd, so ungewohnt, wir sind auf alles gefasst. Ich bin müde, aber hellwach, mein Herz schlägt rasch und kräftig. Manchmal gibt es nichts, was sich so gut anfühlt wie ein bisschen Angst.

Deck 1 ist ähnlich aufgebaut wie unseres, ein Mittelgang, von dem aus man verschiedene Räume betreten kann. Aber in diesem Deck kann man zusätzlich auf der Galerie außen um die Schiffscontainer herumgehen. Wir schaffen es tatsächlich, uns einen Moment lang im angekohlten Deck zu verirren, bis wir an einem Ende der Station die Lounge mit ihrem dunkelroten und blauen, fleckigen Teppichboden wiedergefunden haben. Ein Hauch kalter Asche hängt in der Luft, aber es riecht auch irgendwie anders … nach ungewaschenen Klamotten und nach Fisch. Kann das sein?

Dattel packt einen elektrischen Heizlüfter, der neben dem halb verbrannten Ledersofa steht, und will ihn sich unter den Arm klemmen, aber ich schüttle den Kopf. »So welche haben wir oben auch. Wollen wir den Sessel hier mitnehmen? Und ein paar der Kissen sehen okay aus.«

Zweifelnd blickt Dattel mich an, vielleicht fragt er sich, ob ich den massiven, eckigen Sessel überhaupt schaffe. Aber ich bin stärker, als ich aussehe, zusammen wuchten wir das Ding nach oben und kommen dann noch mal wegen der verchromten Barhocker zurück. Die anderen waren auch fleißig, haben aus einem der unbenutzten Zimmer eine Matratze herausgezerrt und sitzen darauf. Zusammen mit ein paar roten Feuerschutzdecken und den Kissen sieht es jetzt halbwegs gemütlich aus hier drin. Gleich nebenan ist eine Art Innenbalkon; von dort aus kann man aus drei Außenfenstern nach draußen schauen, sie liegen zum Glück nicht unter der Oberfläche.

»Keine Ratten gesehen«, meldet Dattel und klingt dabei wie ein Söldner, der gerade aus dem Kriegsgebiet zurückgekehrt ist. Total albern.

Kurz darauf ist das Essen fertig. Wie sich herausstellt, hat Sara auch nur ein paar Dosen aufgemacht.

»Ah, explodierter Mexikaner«, sagt Benny nach einem Blick auf seinen Teller.

»Nee, das ist bestimmt was anderes«, meint Seven. »Fleisch von glücklichen Pinguinen oder so.«

Kaya probiert. »Schmeckt eher nach unglücklichen Pinguinen«, sagt sie und verzieht das Gesicht. Skeptisch beobachtet Fee sie, dann nähert sie ihre Nase dem Essen und mustert es. »Sieht irgendjemand Spucke?«

»Die würde man nicht sehen, weil sie durchsichtig ist«, gibt Dattel zu bedenken.

»Klugscheißer. Was ist, wirst du das essen?«

»Leute, das ist ganz normales Chili con Carne«, sagt Martin und seufzt.

»Genau«, sagt Fee. »Es ist con carne und ich bin Veganerin! Der Hobbit kann meine Portion haben.« Sie schiebt Benny ihren Teller zu, nimmt sich stattdessen eine Scheibe Brot und scannt sie mit ihrer XWatch, die ihr die Kalorienzahl anzeigt.

»Hobbit? Wer ist …« Gerade noch rechtzeitig checkt er es. Begeistert sieht er nicht aus, aber er ist klug genug, nicht zu protestieren. Nur allzu leicht fängt man sich auch Nicknames wie Fuckface oder Toilettentaucher ein.

»Verdammt, jetzt hab ich mit dem Mist meine Sachen versaut!« Ärgerlich reibt Seven an einem Soßenfleck herum. Es ist nur ein kleiner Spritzer, aber Seven stellt sich an, als wäre seine ganze Ausrüstung ruiniert. Wir anderen sehen uns an, ziehen die Augenbrauen hoch und beachten ihn nicht weiter.

»Die automatische Waschmaschine funktioniert noch – wirf es einfach in den Schacht, dann hast du es morgen trocken und gebügelt zurück«, empfiehlt ihm Martin.

»Ja, natürlich. Sorry, Leute, dass ich so einen Aufstand gemacht habe.« Seven lächelt und Martin nickt ihm zufrieden zu. Dattel verdreht die Augen.

Jetzt erst taucht Sara auf, isst ihre Portion und versucht in Zwei-Wort-Sätzen – sie spricht nicht besonders gut Deutsch oder Englisch – eine erzieherische Maßnahme bei Kaya. Aber die hat offenbar keine Lust, eine Serviette zu benutzen, und lässt sie immer wieder auf den Boden fallen.

»Ist okay, wir üben das morgen weiter«, meint Martin, der mit skeptischem Blick alles beobachtet hat. Dann versucht er, Sara freundlich zu vermitteln, dass sie das Chili vielleicht nächstes Mal ein bisschen würzen sollte und es auch ratsam wäre, es weniger lange zu kochen, damit die Bohnen nicht zu Bohnenmus werden. Von Sara kommt keine Antwort. Aber ein Blick, der jeden Elitesoldaten dazu gebracht hätte, nach seiner Mama zu rufen. Wortlos zieht sie ab.

»Ich glaube, sie verträgt keine Kritik«, sage ich.

»Unser Schicksal ist besiegelt – drei Monate Knastessen.« Mit dramatischer Geste legt Benny die Hand auf die Gegend, in der er seinen Magen vermutet, und kratzt sich dann an der BrainConnect.

Wir blödeln noch ein bisschen herum, dann geht Fee eine Dusche suchen, Dattel und Benny werden zusammen zum Abspülen eingeteilt – unfassbar, aber es gibt hier keine Spülmaschine – und ich darf meine erste Stunde Satellitenzeit nehmen. Während Dattel lautstark herummeckert, dass er keinen Bock auf Abspülen hat, maile ich ein paar Leuten, die ich im letzten Heim kennengelernt habe. Und natürlich Marisa. Ich schreibe ihr alles, was ich bisher erlebt habe, aber ich weiß, dass sie die Mail niemals öffnen wird, und einen Moment lang scheint die Schrift vor meinen Augen zu verschwimmen. Sorry, sorry, sorry.

»Alles in Ordnung?«, fragt Martin, der in der Nähe Bürokram erledigt, in einem widerlich besorgten Ton.

»Ja, ja, alles klar«, murmele ich und schicke die Nachricht ab. »Wann darf ich mal so einen Skidoo fahren?«

Die Ablenkung funktioniert. Er erklärt mir lang und breit, dass ich erst an mir arbeiten und mich dann schrittweise der Versuchung stellen müsse, blablabla. Anscheinend ist es nicht in meiner Akte gelandet, was mit Marisa passiert ist.

Nach mir ist Seven – im frischen Outfit – mit seiner Netzzeit dran, er fängt sofort hektisch an, auf seinem Communicator herumzutippen. Martin beobachtet ihn dabei, und dadurch verpasst er, dass Kaya sich umblickt und dann zum anderen Ende der Station schleicht. Bin gespannt, was das soll. Aber das kann ich morgen herausfinden.

Etwas anderes ist viel wichtiger. Verstohlen mache auch ich mich auf den Weg, aber nach oben, zum Ballonhallen-Eingang. Ich muss es wissen! Jetzt, gleich jetzt, vorher kann ich sowieso nicht einschlafen. Mein ganzer Körper kribbelt, meine Fingerspitzen zucken in einem unhörbaren Takt.

Schon liegt meine Hand auf dem Knopf, der die Falltür steuert, meine Muskeln sind angespannt wie für einen Sprint. Ich kann kaum glauben, dass die Tür wirklich nach oben schwingt, als ich den Knopf drücke, und auch das Rolltor sich für mich öffnet. Etwas Schnee fällt mir entgegen, hingestreute Diamanten im Licht der Mitternachtssonne.

Nicht abgeschlossen. Ich könnte einfach so gehen, wenn ich wollte.

Die nervöse Energie fließt aus mir heraus.

Ein paar Minuten stehe ich so da. Halb erwarte ich, dass irgendjemand mich zurückreißt, mich anschreit, Ermahnungen auf mich niederprasseln lässt. Nichts. Martin hat recht, von hier kann man nicht fliehen. Nicht, wenn einem sein Leben lieb ist.

Weil es mir kalt den Hals hinunterzieht und die Haut im Inneren meiner Nase allmählich gefriert, lasse ich das Rolltor wieder herunterrasseln, steige durch die Falltür und kehre zurück ins Deck 2.

In meiner ersten Nacht in der Antarktis schlafe ich traumlos und tief.

Blaue Eier

Verschlafen schlurfe ich am nächsten Morgen zu den Waschräumen. Als ich die Dusche aufdrehe, erleidet sie erst mal einen Hustenanfall und spuckt dann warmes Wasser über meine Haare. Weil ich mein Duschgel vergessen habe, schaue ich mir an, welche Sorten die anderen mitgebracht haben, und suche mir eins mit Vanilleduft aus.

Dann auf zum Frühstück. Sara sitzt nicht bei uns, mag sie nicht mehr mit uns Chaoten essen? Kaya wischt den Mund immer noch am Ärmel ab und nicht an einer Serviette.

»Sara ist übrigens Mongolin«, erzählt Martin. »Sie war außer mir die Einzige, die sich für den Job hier auf der Station beworben hat. Zumindest wird ihr das Klima bekannt vorkommen, auch in der Mongolei ist es im Winter eisig.«

Dattel grinst breit. »Mongolin? Cheez! Dann hat sie für uns wahrscheinlich frischen Yak-Joghurt zubereitet, oder?«

Der Joghurt schmeckt wirklich ein bisschen komisch. Und die Frühstückseier … irgendwie verdächtig. Ich schlage meins auf und schaue mir das Innere an.

»Blau«, stelle ich fest.

»Wie, blau?«, fragt Fee und beugt sich in meine Richtung.