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Sophie im Narrenreich

Verena Petrasch wurde 1981 in der Schweiz geboren und wuchs in Österreich auf. Sie verbrachte ihre Freizeit als Leistungssportlerin in Fechthallen, mit Jazzmusikern am Klavier, spielte Bratsche in einem Orchester und ging nirgendwohin ohne Bücher, Notizblöcke und Stift. An der Universität für Angewandte Kunst in Wien und in Göteborg studierte sie Grafikdesign, in Innsbruck Management. Nach längeren Auslandsaufenthalten arbeitet sie nun als freie Schriftstellerin und Grafikdesignerin in Österreich. Für ihre grafischen Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2014 nahm sie ein Sabbatical, um sich in New York, Peru, Island, Italien und Südfrankreich ganz ihrem ersten Roman »Sophie im Narrenreich« zu widmen. 2015 erhielt sie das Mira-Lobe-Stipendium für Kinder- und Jugendliteratur.

Für Marie-Sophie

»Die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit.«

Erasmus von Rotterdam

Inhalt

Kapitel 1
Zwei Narren

Kapitel 2
Das Narrenreich

Kapitel 3
Die Regenbogenzähmung

Kapitel 4
Der höchstnärrische alleroberste Narrenrat

Kapitel 5
Das alte Narrenlied

Kapitel 6
Eine besondere Verbindung

Kapitel 7
Der Aufbruch

Kapitel 8
Der Morgentauwald

Kapitel 9
Das Moor der unendlichen Leichtigkeit

Kapitel 10
Die Wüste des verborgenen Lebens

Kapitel 11
Die Oase

Kapitel 12
Die Schlucht der möglichen Unmöglichkeit

Kapitel 13
Der Untergrund

Kapitel 14
Die Hochebene der Fragen

Kapitel 15
Der närrische Denkstein

Kapitel 16
Der Fluss der verlorenen Ängste

Kapitel 17
Das Gebirge der Zeitlosigkeit

Kapitel 18
Die Magnolienhöhle

Kapitel 19
Das Meer der tausend Glücksmomente

Kapitel 20
Abschied am Adlerfelsen

Kapitel 21
Der Angriff

Kapitel 22
Die Falkenburg

Kapitel 23
Kiéron

Kapitel 24
Die Rückkehr

Kapitel 25
Eine neue Närrin

Närrischer Dank …

Kapitel 1

Zwei Narren

Sophie, räum endlich dein Zimmer auf! Hier sieht es ja aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen!«

»Ja, später!«, rief Sophie. Sie saß zwischen Buntstiften und Papieren auf dem Wohnzimmerboden und schaute nicht von dem Bild auf, das sie malte. Ein unheimlicher Kerl war darauf zu sehen, abgemagert, mit großen, hervortretenden Augen und dünnen, verfilzten Haaren.

»Nein, nicht später. Jetzt!«, drang die lästige Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr. »Du hast morgen Geburtstag und erwartest Gäste. Da muss dein Zimmer aufgeräumt sein.«

Sophie verdrehte ihre Augen. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als ihren Geburtstag vorzubereiten. Dafür blieb später noch mehr als genug Zeit.

»Na geh schon«, sagte Georg, Sophies drei Jahre älterer Bruder, der auf dem Sofa neben ihr saß und las. »Du kennst sie doch. Sie wird keine Ruhe geben, bis du aufgeräumt hast.« Er legte sein Buch zur Seite und richtete sich auf: »Was machst du da überhaupt?«

»Ich male ein Traumbild«, sagte Sophie. »Der Kerl da«, sie tippte auf das Bild, »ist mir heute Nacht im Traum begegnet. Er stand auf einer finsteren Lichtung. Das Gras war verwelkt, die Bäume um die Lichtung alt, knorrig und halb vertrocknet. Überall klebte zäher, schwarzer Schleim.«

Georg schüttelte den Kopf: »Schwarzer Schleim. Also, was du immer so zusammenträumst …« Und er vertiefte sich wieder in sein Buch.

Sophie seufzte. Georg war immer so vernünftig. Er las Bücher über Chemie und Biologie und Technik, für Träume und Dinge, die man nicht erklären konnte, interessierte er sich nicht.

»Sophie, wo bleibst du denn?« Ihre Mutter stand im Türrahmen, die Hände verärgert in die Hüften gestemmt.

»Ach Mama, bitte!«, sagte Sophie. »Ich brauche nicht mehr lange. Ich will nur noch diese Zeichnung fertig machen.«

»Zeichnen tut man nicht im Wohnzimmer auf dem Boden, sondern im eigenen Zimmer am Schreibtisch. Wie oft habe ich dir das schon gesagt?«

»Da habe ich aber zu wenig Platz.«

»Genau! Weil dein Schreibtisch ein Müllberg ist. Wenn du also nicht augenblicklich dein Zimmer aufräumst, gibt es morgen kein Geburtstagsfest.«

Entgeistert starrte Sophie ihre Mutter an: »Kein Geburtstagsfest, nur weil ich noch eine halbe Stunde zeichnen möchte?«

»So ist es!«, sagte ihre Mutter streng. »Ich kenne das nämlich schon: Aus einer halben Stunde wird eine Stunde und aus einer Stunde werden zwei, und plötzlich ist der Tag vorbei und das Chaos in deinem Zimmer ist noch immer da. Nichts da. Du räumst auf. Jetzt sofort!«

Sophie spürte die Wut, die in ihre Zehen kroch. »Das ist unfair!«, rief sie und schleuderte einen Buntstift auf den Teppich.

»Sophie, du wirst morgen zwölf Jahre alt und benimmst dich wie ein kleines Kind!«

Sophie verschränkte trotzig ihre Arme vor der Brust: »Wenn du willst, dass ich mich wie eine Erwachsene benehme, dann überlass gefälligst mir, wann ich aufräume.«

»Ich lasse mich auf keine Diskussion ein«, sagte ihre Mutter. »Ohne Ordnung kein Fest. Geh und räum dein Zimmer auf!«

»Du bist unfair!«, schrie Sophie. Schnaubend schlug sie mit der Hand auf die Buntstifte am Boden und rannte aus dem Zimmer. Sie kochte vor Wut.

»Reiß dich gefälligst zusammen!«, rief ihr ihre Mutter nach.

»Blöde Kuh«, murmelte Sophie zornig, als sie außer Hörweite war. »Soll doch ihr Lieblingsbild von der Wand fallen!«

Sie war noch nicht in ihrem Zimmer angekommen, da schlug etwas hölzern gegen den Boden. Glas brach, Scherben klirrten. Sophie erstarrte. Der leise Aufschrei ihrer Mutter kroch wie Gift in ihre Knochen. Auf Zehenspitzen schlich sie auf die Galerie und spähte ins Wohnzimmer hinunter. Ihr Herz blieb stehen, als sie ihre Mutter sah: Sie kniete zwischen den Scherben eines Bildes und hielt sich die blutende Hand. War das …? Hatte etwa sie …? Nein, bestimmt nicht. Das war ein Zufall, nichts als ein Zufall! Geknickt schlich Sophie in ihr Zimmer und machte sich daran, Ordnung zu schaffen.

In dieser Nacht konnte Sophie nicht einschlafen. Der Ärger über ihre Mutter, aber auch das schlechte Gewissen hielten sie wach.

Kurz vor Mitternacht wurde sie des ständigen Hin-und- her-Wälzens leid. Sie stieg aus dem Bett, setzte sich an den Schreibtisch und starrte stumpf aus dem Fenster. Es hatte eben aufgehört zu regnen, die Scheibe war noch nass. Was für ein ungewöhnlich milder Winter. Kein einziges Mal hatte es bisher geschneit. Nur Regen. Immerzu Regen.

Die Wolken rissen auf und der Mond kam zum Vorschein. Sein Licht fiel auf eine Wasserlache im Garten. Sie war groß und oval, und eine schwere Wolke spiegelte sich dunkel darin. Sophie dachte an den Streit mit ihrer Mutter. Das Leben konnte manchmal schrecklich ungerecht sein! Früher, ja früher wäre alles viel leichter gewesen. Da wäre sie einfach in diese Pfütze gesprungen, und der wild spritzende Schlamm hätte ihren Ärger weggeschwemmt und mit ihm das schlechte Gewissen. Ja, Regenpfützenschlammspringspritzereien hatten Sophie immer sehr gutgetan.

Ein dunkler Vogel setzte sich an den Rand der Pfütze. Ach, wie gern wollte Sophie dieser Vogel sein, der, wann immer er Lust hatte, in Wasserlachen baden durfte. Sophie wollte auch hineinspringen in das schlammige Nass! Doch sie sah ihn vor sich, diesen schrecklich erwachsenen Blick ihrer Mutter, und sie hörte sie sagen, Sophie sei »zu alt« für solch einen »Unfug«. Vielleicht hatte sie ja recht. Der Vogel flog davon.

Wer bestimmte eigentlich, ab wann man »zu alt« für etwas war? Wenn Sophie ihrer Mutter und ihrem Bruder Glauben schenkte, war sie für viele Dinge zu alt, die sie gern tat: Georg lachte sie immer aus, wenn er sie mit einem Kinderbuch in der Hand ertappte. Er plusterte seine Brust dann wie ein Pfau auf und sagte: »Ach Sophie, für diesen Kinderkram bist du mittlerweile aber wirklich zu alt!«

In der Stadtbücherei schämte sie sich, wenn sie ein Kinderhörspiel ausleihen wollte. Manchmal siegte die Scham und Sophie ging mit leeren Händen nach Hause. An anderen Tagen aber waren ihr die spöttischen Blicke der Bibliothekarin egal und sie nahm gerade extra noch ein zweites Hörspiel mit.

Die Turmuhr schlug Mitternacht. Sophie seufzte. Nun war sie also zwölf Jahre alt. Ließ sich das Erwachsenwerden denn nicht aufhalten? Würde sie in drei Jahren auch so vernünftig sein wie Georg? Sophie schüttelte sich und schaltete das Licht ein. Lieber über etwas anderes nachdenken! Sie nahm ein leeres Blatt Papier und begann darauf zu zeichnen. Sie zeichnete den Garten, den Regen, die Wasserlache im Gras. Sie starrte ein bisschen aus dem Fenster und zeichnete dann sich selbst, wie sie mit großen, gelben Gummistiefeln in die Pfütze sprang. Sie betrachtete das Blatt, sie zeichnete noch mehr spritzenden Schlamm. Doch noch immer fehlte etwas. Vielleicht ein paar Sonnenstrahlen? Sonnenstrahlen machten gute Laune. Wenn aber Sonne und Regen aufeinandertrafen, musste auch noch ein Regenbogen mit aufs Bild. Sophie mochte Regenbogen. Früher hatte sie sich oft vorgestellt, sie seien lebendig und man könne auf ihnen reiten. Ganz oben hatte sie auf ihnen gesessen und sich über Städte, Felder und Wälder tragen lassen. Am Ende dieser Gedankenausritte war sie immer jauchzend über die bunten Streifen hinuntergerutscht. Ja, mit einem lebendigen Regenbogen befreundet zu sein, das war damals ihr großer Traum gewesen! Heute wusste Sophie natürlich, dass so etwas nicht möglich war.

Da plötzlich, ein Kichern! Sophie horchte auf: »Hallo? Ist da jemand?« Nichts. Sophie schüttelte den Kopf und blickte sich suchend im Zimmer um. Alles lag perfekt aufgeräumt an seinem Platz: die Decke und das Kissen auf dem Bett, die Schultasche neben dem Schreibtisch, die Stifte und das Papier in der Schublade, die Bücher im Regal.

Doch da, schon wieder! Sophie sprang auf. Das Geräusch kam aus dem Kleiderschrank! Sie riss die Tür auf und erschrak: Da war ein Haarbüschel, irgendwie blau, und zu diesen Haaren gehörte ein Kopf mit großen Augen und breitem Mund, und Arme und Beine, die zu lang waren für den Rest.

»Hä? Was soll das?«, fragte der Kerl und blickte verärgert auf. »Wer hat das Licht angemacht? So kann man doch nicht arbeiten! Tür zu!«

Sophie, ganz verdattert, murmelte eine Entschuldigung und schloss wie automatisch die Tür. Und dann stand sie eine Weile da, starrte auf die Tür und war sich nicht sicher, ob sie sich diesen blauhaarigen Kerl in ihrem Schrank nur eingebildet hatte. Unschlüssig tappte sie von einem Bein auf das andere und wusste nicht so recht, was tun, da kam von innen ein: »Häää?«, und die Tür öffnete sich wie von selbst einen Spaltbreit. Zwei große Augen spähten vorsichtig heraus, Sophie zuckte zusammen, die Tür fiel wieder zu. »Nein, nein, nein!«, hörte sie die Stimme im Schrank. »Das kann nicht sein.« Noch einmal ging die Tür auf, und der Kopf lugte heraus und machte: »Buh!« Sophie sprang zurück. »Oh nein!«, rief der unbekannte Schrankbewohner. »Sie kann mich sehen! Wie ist das möglich?« Er versteckte sich hastig hinter einem langen Kleid und rief: »Geh weg!«

Ungläubig starrte Sophie auf den grellen Haarschopf hinter dem Kleid. Nur langsam erwachte sie aus ihrer Erstarrung. »Wie bitte?«, fragte sie.

»Geh weg!«, rief der Blauhaarige und vergrub sich noch tiefer hinter dem Kleid. »Du kannst mich nicht sehen! Du darfst mich nicht sehen! Verschwinde!« Ein Arm kam zum Vorschein und dürre Finger griffen nach der Schranktür. Die Tür fiel ins Schloss.

Sophie wusste nicht, wie ihr geschah. Dieser Kerl, der in ihrem Schrank nichts zu suchen hatte, konnte sie doch nicht einfach aus ihrem eigenen Zimmer schicken! Entschlossen ging sie zum Schrank. Sie rüttelte an der Tür. Die Tür ging nicht auf. »Aufmachen!«, befahl sie. »Mach sofort auf!«

Im Schrank raschelte es. »Mist!« Gedämpftes Hämmern. »Was soll das?« Stampfen. »Lasst mich gefälligst zurück!«

Sophie schlug mehrmals gegen die Tür.

»Es ist niemand zu Haus! Kein Einziger!«, sagte die Stimme im Schrank.

Mit aller Kraft riss Sophie an der Tür. Nun endlich sprang sie auf. Doch der Haarschopf war weg. Eilig durchwühlte Sophie ihre Kleider. Nichts. Doch da! Ein Knarren, ein Fuß, er baumelte vom Schrank. Wie, das war Sophie ein Rätsel, aber der blauhaarige Kerl hatte sich auf den Schrank hinaufgeflüchtet. Dort saß er nun und trommelte trotzig mit der Faust gegen das Holz, während Sophie seinen Knöchel fest umklammerte: »Hab ich dich!«

»Du kannst mich ja noch immer sehen!«, schimpfte er.

»Wie soll ich dich auch übersehen mit diesen blauen Haaren?«, fragte Sophie.

»Petrol«, grummelte es vom Schrank herab.

»Wie bitte?«

»Petrol«, wiederholte der Kerl und warf Sophie einen giftigen Blick zu, »Meine Haare sind petrolfarben, nicht blau. Ich verbitte mir blau! Ich hasse blau! Pfui! Igitt!«

»Von mir aus«, sagte Sophie gleichgültig, »Wer bist du? Und was machst du in meinem Schrank?«

»Ich sage nichts«, sagte der Unbekannte und hielt sich die Hand vor den Mund.

»Oh doch!«, zischte Sophie.

Trotzig wand sich der Kerl aus ihrem Griff, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. Eine zerschlissene Latzhose bedeckte seinen hageren Körper. Darunter trug er ein Hemd mit unterschiedlich langen Ärmeln. Die Füße steckten in löchrigen Socken und die Socken in abgewetzten Sandalen. Nervös wippte die rechte Sandale auf und ab.

Sophie holte tief Luft und versuchte freundlich zu sein: »Bitte.«

»Nein«, sagte der Kerl.

»Doch«, sagte Sophie und merkte, dass Freundlichsein manchmal ganz schön schwierig sein konnte.

»Nein!« – »Doch!« – »Nein!!« – »DOCH!« – »NEIIIN!!!«

»Gut, dann verschwinde!«, befahl Sophie. Sie wollte nun nicht mehr freundlich sein. »Du hast hier nichts zu suchen.« Sie setzte sich auf ihre Bettkante und blitzte den Unbekannten mit bösen Blicken an. Er drehte sich von ihr weg. Sophie aber schoss weiter ihre Blitze. Rücken oder Gesicht, das war egal, ihre Blicke verfehlten nie das Ziel.

Es dauerte nicht lange, da drehte der Kerl sich zur Seite. »Grumpf!«

Blitzblicke. Einer, zwei, drei.

Er drehte sich auf die andere Seite. »Grummelgrumpf!«

Sophie ließ nicht locker. Sie konnte sehr ausdauernd sein, wenn es darauf ankam. Jetzt gerade kam es darauf an.

»Hör auf, mich anzustarren«, zischte der Petrolhaarige schließlich. »Ich würde ja gehen, wenn ich könnte.« Er hob hilflos die Schultern, drehte sich zu Sophie um und ließ die Beine vom Schrank baumeln: »Sag mal, wie alt bist du?«

Sophie schüttelte den Kopf: »Geht dich nichts an.« Dieser Kerl sollte gar nicht erst versuchen, von ihren Fragen abzulenken.

Unruhig rutschte er hin und her: »Bitte sag es mir. Bitte, bitte, bitte! Ich muss es wissen.«

»Nur wenn …«, begann Sophie.

»Ja, sobald du …«, drängte der Kerl.

Sophie rollte mit den Augen: »Zwölf.« Sie schaute auf die Uhr. »Seit einer halben Stunde.«

»Seit einer halben Stunde?« Der Petrolhaarige richtete sich kerzengerade auf. »Wirklich? Ich meine, ganz echt und genau und exakt seit einer halben Stunde?«

»Hängt davon ab, wie genau meine Uhr ist«, sagte Sophie genervt. Sie wollte nicht über ihren Geburtstag reden, sie wollte wissen, was dieser Kerl hier zu suchen hatte.

»Ach herrje, sie hat heute Geburtstag!« Sein Blick verfinsterte sich. »Das erklärt einiges.« Und während der Kerl vom Schrank kletterte, murmelte er verärgert: »Warum nur immer mir solche Dinge passieren müssen! So ein Mist! Mist! Mist!« Beim ersten »Mist« kam er am Boden an, beim zweiten gab er dem Schrank einen Tritt und beim dritten fiel er rücklings neben Sophie aufs Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Also gut«, sagte er. »Mein Name ist Theobald. Ich bin ein Narr.«

Sophie zog verwundert die rechte Augenbraue hoch: »Ein was bist du?«

»Ein Narr«, sagte Theobald. »Genau genommen ein Gedankennarr.«

Sophie überlegte: »Ein Narr … Ist das so etwas wie ein Faschingsnarr

»FASCHINGSNARR?«, rief Theobald mit weit aufgerissenen Augen, schüttelte sich angewidert und sprang auf, »Uah! Mit diesen billigen Kopien will ich nichts zu tun haben. Nein, nein, nein, auf keinen Fall!« Er baute sich groß vor Sophie auf und stemmte die Hände in die Hüften: »Das sieht man doch auf den ersten Blick, dass ich ein Original bin.«

Sophie schüttelte ratlos den Kopf: »Ich kenne nur Faschingsnarren, ein anderer ist mir noch nie begegnet.«

»Natürlich nicht!«, kicherte Theobald. »Weil ihr Menschen uns nicht sehen könnt. – Nicht mehr

»Aber ich sehe dich doch«, sagte Sophie verdattert.

Theobald blickte an sich herab und dann zu Sophie auf, zuckte mit den Achseln und sagte: »Offensichtlich.«

Offensichtlich? War das alles, was er dazu zu sagen hatte? Einfach nur Offensichtlich? Sophie wollte nachhaken, doch sie kam nicht dazu, denn plötzlich richtete sich Theobald kerzengerade auf und fing an, irgendetwas mit ruckartigen Augen- und Kopfbewegungen in der Luft zu verfolgen. Schließlich zischte er: »Psssst!«, erstarrte für einen Augenblick und griff dann blitzschnell wie nach einer Fliege in die Luft: »Ha!« Er öffnete die Hand und machte ein enttäuschtes Gesicht: »Mist! Verfehlt.«

»Was hast du verfehlt?«, fragte Sophie, sie hatte nichts in der Luft gesehen.

»Ach nichts«, sagte Theobald und winkte ab. Er ließ sich zurück aufs Bett fallen und rekelte sich wohlig. »Gemütlich hast du’s hier.«

Sophie starrte den wunderlichen Kerl aus engen Augenschlitzen an: »Also sag schon, was machst du in meinem Zimmer?«

Theobald aber hörte ihre Frage nicht. Er hatte schon wieder etwas entdeckt, das Sophie nicht sah, und sprang vom Bett. Sophie schüttelte genervt den Kopf. Theobald ging in die Hocke und starrte wie gebannt in die Luft. Seine Pupillen zuckten nach oben, nach unten und mehrmals im Kreis, von rechts kerzengerade nach links und von links spiralförmig zurück nach rechts, Sophie wurde allein vom Zusehen schwindlig. Theobald sprang in die Höhe, keuchte: »Mist!«, und sprang wieder und wieder. Schließlich aber hielt er inne, stellte sich auf die Zehenspitzen und griff mit konzentriertem Blick in die Leere, als wollte er einen reifen Apfel vom Baum pflücken. »Ha! Erwischt!«, rief er glücklich.

»Da war doch nichts«, sagte Sophie.

»Oh, wenn du wüsstest!«, sagte Theobald. Er zog einen kleinen Beutel aus seiner Latzhose und verstaute das ergatterte Nichts (das möglicherweise doch etwas war) darin. »Da drin«, sagte er und schwenkte den Beutel vor Sophies Nase hin und her, »befindet sich eine wunderbare Sammlung von Gedankenfragmenten. – Schau!« Er zeigte auf den Beutel. »Da steht dein Name drauf.«

Tatsächlich war da Sophies Name mit braunroten Buchstaben in den Stoff gestickt. »Du jagst also nach Gedanken … äh … fragmenten?«, fragte sie ohne zu verstehen.

»Richtig!«, sagte Theobald. »Ich greife Gedankenstücke aus der Luft. Die gibt es dort, wo Menschen sind, wie Sand am Meer. Größere und kleinere, viertel, halbe und ganze, genaue und ungenaue, geniale und weniger geniale, brauchbare und weniger brauchbare. Unter uns: Viele sind komplett unbrauchbar. Du weißt ja gar nicht, wie viel Blödsinn auf dieser Welt gedacht wird! – Deine Gedankenfragmente aber mag ich. Sie sind erfrischend anders. Sie springen in Pfützen und reiten auf Regenbogen, sie sprechen mit Bäumen und tanzen auf Wolken, sie klettern auf Dächer und malen langweilige Gesichter bunt.« Sophie errötete. Dieser Theobald konnte ihre Gedanken sehen! Das war ihr gar nicht recht.

»Ich verrate sie schon keinem«, sagte der Narr mit einem Augenzwinkern, »allerhöchstens einem Narrdertat. Das lässt sich bei guten Gedanken nicht verhindern. Aber die können ja bekanntlich schweigen wie Stummnarrenfidelchen.«

Sophie starrte Theobald verwirrt an. Sie verstand kein Wort von dem, was er sagte. Doch der Narr kümmerte sich nicht darum, kniete vor ihr auf den Boden, machte: »Hmmm …«, und berührte ihre Wange. »Zwölf Jahre, sagtest du?« Und noch bevor Sophie antworten konnte, sprang er auf und lief zum Schrank. »Ich muss mich jetzt dringend verabschieden. Es gilt wichtige Nachforschungen anzustellen!«

»Theobald?« – Stille.

Selten waren Sophie Tage so lange vorgekommen wie die, die nun kamen. Sogar ihr Geburtstag, der sonst immer viel zu schnell verging, wollte und wollte kein Ende nehmen. Alles erschien ihr trist: die Gespräche, das Essen, die Geschenke, die Musik. Nicht einmal für die Schnitzeljagd, die ihre Mutter und Georg für sie vorbereitet hatte, konnte sie sich begeistern. Sophie ahnte nichts von den verhängnisvollen Auswirkungen ihrer Begegnung mit Theobald, sonst hätte sie bestimmt nicht so sehnsüchtig auf seine Rückkehr gehofft. Wieder und wieder durchwühlte sie ihren Kleiderschrank und suchte nach seinem petrolblauen Haarschopf. Wieder und wieder stritt sie mit ihrer Mutter, weil das Durcheinander in ihrem Zimmer so rasch wieder wuchs. Sophie aber interessierte sich in diesen Tagen weder für Ordnung noch für Unordnung und schon gar nicht für den Ärger ihrer Mutter. Was sie einzig und allein interessierte, war die Frage: Wo ist Theobald? Doch die Tage vergingen, und der Narr ließ sich nicht mehr blicken, und Sophie war sich bald ganz sicher: Sie hatte ihn sich nur eingebildet.

Dann kam ein ungewöhnlich warmer Februartag, an dem Sophie auf dem Balkon vor ihrem Zimmer saß und las. Irgendetwas musste sie ja tun, um sich abzulenken. Lesen lenkte immer ab. Wenn Sophie in ein Buch vertieft war, vergaß sie alles um sich herum. So sah sie weder die Finger, die das Balkongeländer umklammerten, noch den nackten Fuß auf der Brüstung. Erst, als das Holz knarrte und ein buntes Knäuel ächzend auf den Balkon polterte, wurde Sophie auf den Eindringling aufmerksam. Stöhnend richtete er sich auf und rieb sich den Rücken: »Das hat man davon, wenn man einen möglichst unauffälligen Auftritt an den Tag legen will.« Er klopfte sich mit spitzen Lippen den Schmutz von den Armen. Sie waren über und über mit bunten Federn bedeckt. Auch der Rest des etwas untersetzten Körpers war in Federn gehüllt, nur nicht die kräftigen Hände, die Füße und das Gesicht. Sophie starrte ihn verblüfft an: ein Vogel in Menschengestalt, hier auf ihrem Balkon? Oder war es ein Mensch in Vogelgestalt? Der Vogelmann schüttelte sich, tat einen tapsigen Schritt und stieß dabei gegen Sophies Knie. Erschrocken warf er die Hände in die Luft: »Huch! Du hier?«

»Ähm … ja«, stammelte Sophie. Sie konnte ihre Augen nicht von ihm lassen.

»Ich dachte, du seist mit deinem Kleiderschrank beschäftigt … Hmmm … Dann bin ich ja ganz umsonst geklettert. Na ja, sei’s drum.« Der Federmann trippelte ein paar Schritte zurück, lehnte sich elegant gegen das Balkongeländer und musterte Sophie: »Hmmm …« Er legte den Kopf zur Seite und zupfte an seiner Unterlippe. »Tja …« Er neigte den Kopf zur anderen Seite und kraulte sich das Bauchgefieder. »Vielleicht …« Mit einem Satz sprang er auf Sophie zu. »Man würde es nicht für möglich halten!« Ihre Nasenspitzen berührten sich fast. »Aber doch!« Er jubelte verzückt und tänzelte mit wackelnden Hinterfedern um Sophie herum. Dann griff er mit der einen Hand nach ihrem Kinn und mit der anderen nach ihrer Nase, wobei er den kleinen Finger der oberen Hand weit von sich streckte, und öffnete ihr den Mund. »Ha, du hattest kürzlich Geburtstag!«, rief er und klimperte mit den Wimpern. »Den wievielten denn?« Er hielt Sophie noch immer fest.

»En ölften«, versuchte sie zu antworten.

»Den elften?« Der Federmann klang enttäuscht.

»Gnein.« Sophie schüttelte den Kopf. »En quchölften.«

»Den zwölften?«, fragte er und klang schon etwas fröhlicher.

»Chja«, bestätigte Sophie und untermauerte es mit einem Nicken.

Der Federmann ließ überglücklich von ihr ab, und ein Schwall Wörter quoll aus ihm heraus: »Kann es tatsächlich sein …? Ist es wahrhaftig …? Hat Theobald etwa recht mit …?«

Theobald? Sophie richtete sich auf.

»Ist es denn wirklich schon …? Das wäre ja …! Nein! Keine voreiligen Schlüsse ziehen, sonst könnte noch …« Er brach ab. Er schüttelte sich. Er trat einen Schritt zurück: »Ach, wie ausgesprochen unhöflich von mir! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Mein Name ist Kasimir. Kasimir, Narrdertat. Hochentzückt!« Er verbeugte sich so anmutig, dass Sophie kichern musste, und ihr Herz schlug schnell vor Freude und Aufregung: Ein Narr!

»Theobald lässt ausrichten, dass er im Augenblick sehr beschäftigt sei«, sagte Kasimir. »Genau genommen ist er nicht nur sehr, sondern äußerst und unglaublich und waaahnsinnig beschäftigt.« Mit jeder Bewegung wippten Kasimirs Federn geschmeidig auf und ab wie frisch gewaschenes, seidiges Haar. Und sie wippten ständig, denn er konnte nicht still stehen. »Und außerdem ist das, was wir vorhaben, nicht sein Aufgabengebiet.«

Sophie schaute den Narren verwundert an: »Was haben wir denn vor?«

Kasimir setzte sich zu ihr, legte seinen Federarm um ihre Schultern und schaute sie herausfordernd an: »Mir kam zu Ohren, du willst mit einem Regenbogen befreundet sein. Ist das wahr, Schätzchen?«

»Ähm, ja«, stammelte Sophie. »Darüber habe ich kürzlich nachgedacht. Aber woher …?«

»Ha!«, rief Kasimir und lachte laut. »Dieser Theobald ist schon ein Fuchs! Immer die richtigen Gedanken zur richtigen Zeit. Er ist und bleibt ein Meister seines Fachs!«

Sophie starrte den Narren verdattert an. Sie verstand kein Wort. Der aber erklärte nichts und funkelte sie nur mit unternehmungslustigen Augen an: »Na dann sollten wir schleunigst damit anfangen. Die Zeit eilt, an den Regenbogen sind bestimmt nicht nur wir interessiert.« Sein Blick verdunkelte sich für einen Augenblick, doch dann sprang er auf. »Süße, ich hole dich heute um Mitternacht ab. Zieh warme Kleider an, es könnte kalt werden.« Beim Weggehen wippten wieder seine Hinterfedern.

Der Rest des Tages verstrich sehr langsam. Sophie war froh, als sie endlich allein, in ihre wärmsten Kleider gehüllt, die Decke bis über die Nasenspitze gezogen, in ihrem Bett lag und auf Kasimir wartete. Ihr Blick wanderte aus dem Fenster: Der Vollmond warf ein silbernes Licht in ihr Zimmer und ließ sie schläfrig werden. Sophie glitt in eine Wolkenwelt zwischen Traum und Wirklichkeit …

Wer war das, der die Wolken öffnete und Licht in die Nachtwelt dringen ließ? Welche warme Hand griff durch die Wolken und störte ihren Schlaf?

»Sophie, du musst aufwachen!« Es war Kasimir, der auf ihrer Bettkante saß. »Es ist höchste Zeit aufzubrechen.«

Die Wolken setzten Sophie am Boden ab. Sie rieb sich schlaftrunken die Augen und setzte sich auf.

»Gute Mitternacht, mein Herz! Ich sehe, du bist vorbereitet«, sagte Kasimir mit einem zufriedenen Blick auf Sophies Kleider. »Komm, wir fliegen ein Stück!« Er nahm Sophie an der Hand und tänzelte mit wippenden Federn zum Balkon.

Fliegen? Die Müdigkeit verschwand. »Ich? Fliegen?« Sophie schüttelte den Kopf. »Menschen können nicht fliegen, weißt du das denn nicht?«

»Na dann lernst du es eben«, sagte Kasimir und machte auf Zehenspitzen eine Arabesque. Sophie musste schmunzeln. Er sah aus wie eine zu groß geratene Balletttänzerin, nur viel unbeholfener und plumper. »Es ist nur eine Frage des Willens, der Vorstellungskraft und des närrischen Talents«, sagte er. »Ich bin mir sicher, dir fehlt es an nichts davon. Komm, Herzchen, ich bringe es dir bei.«

Zuerst kamen die Aufwärmübungen: Arm- und Schulterkreisen, Kopfneigen, Kniebeugen, Liegestütze. Sophie fühlte sich wie im Turnunterricht. Was hatte das mit Fliegen zu tun? Hoffentlich wusste Kasimir, was er tat. Wussten Narren überhaupt, was sie taten? Dann kam das Drehen. So schnell wie möglich, erst links herum, dann rechts herum, Sophie wurde schwindlig. Nun wusste sie selbst nicht mehr, was sie tat. So musste es wohl sein.

»Dauert das immer so lange, bis man losfliegen kann?«, fragte sie während einer kurzen Pause.

Kasimir winkte mit einer weichen Handbewegung ab: »Aber nein, Schätzchen, wenn du erst einmal genug Routine hast, brauchst du dich nicht mehr aufzuwärmen. In der Anfangsphase ist es aber wichtig. – Für den Fall eines Absturzes.«

Sophie stutzte: »Besteht denn die Möglichkeit, dass ich abstürze?«

Kasimir holte tief Luft und verlagerte verlegen sein Gewicht von einem Bein auf das andere: »Nun ja … hin und wieder kommt das bei Anfängern schon vor. – Wenn ich’s mir recht überlege, sogar ziemlich oft.« Er schaute auf und ergänzte rasch: »Ach, Süße, hör nicht auf das dumme Gerede eines alten Narren! Du hast Talent. Du wirst nicht abstürzen.« Übertrieben sorgfältig strich er sich das Bauchgefieder glatt und tat so, als bemerke er Sophies besorgten Blick nicht. Dann riss er sich eine hellblau schimmernde Feder aus und zeigte sie Sophie: »Stell dir vor, das bist du.« Mit einer weichen Bewegung ließ er die Feder in Sophies Hand gleiten. Im nächsten Augenblick fuhr eine Windbrise über ihre Hand und hob die Feder in die Luft. Mit unendlicher Leichtigkeit stieg sie empor, hoch und höher, sanft wie ein Gedicht, drehte sich einmal um sich selbst und entschwand dann in der Dunkelheit der Nacht. Sophie schaute ihr wie verzaubert nach und verstand, was Kasimir ihr damit sagen wollte.

»Schließ die Augen«, sagte Kasimir und fuchtelte wie ein Hypnotiseur vor ihrem Gesicht herum.

Sophie schloss die Augen und stellte sich vor, sie sei eine Feder.

»Spürst du die Leichtigkeit?«, flüsterte Kasimir mit einem geheimnisvollen Raunen in der Stimme. »Spürst du, wie dein Körper an Gewicht verliert? Spürst du ihn noch, den Boden unter deinen Füßen?«

Nein, Sophie spürte ihn nicht mehr. Sie spürte den Auftrieb des Windes. Sie schwebte hoch und höher. Sie war ein Vogel, eine hellblau schimmernde Feder.

»Öffne die Augen, mein Vögelchen.«

Nur widerwillig tat Sophie, was Kasimir von ihr verlangte. Das Gefühl war zu schön! Doch als das Nachtlicht auf ihre Augen traf, verstand Sophie: Es war mehr als ein Gefühl. Der Balkon war weit weg, Gras und Bäume lagen tief unter ihr. Sie flog wirklich! Sophie erschrak. Und mit dem Schreck kam die Schwere in ihren Körper zurück. Der Boden zog sie wie ein Magnet nach unten. Sophie wurde heiß und kalt. Sie fiel wie ein Stein. »Kasimir!«, schrie sie. »Hilf mir!« Der Boden kam näher. »Neiiin!« Sie presste die Augen zusammen und verzog schmerzverzerrt das Gesicht. Sie wollte noch nicht sterben!

Doch der Aufprall tat nicht weh, er war fast so weich, als fiele Sophie in ein Federbett. Ihr Herz raste vor Angst, vor Verwirrung, vor verwunderter Erleichterung. Sie öffnete vorsichtig erst ein Auge und dann das zweite, und dann sah sie Kasimirs kreidebleiches, mit Schweißperlen überzogenes Gesicht. Wie ein Baby lag sie in seinen weichen Federarmen. Sophie schielte an ihnen vorbei; Der Erdboden war wenige Meter unter ihnen, sie schwebten in der Luft!

Behutsam setzte Kasimir Sophie auf der Wiese ab. Sophies Knie waren weich wie Pudding, sie musste sich setzen. Und so saßen sie eine ganze Weile im nassen Gras, und keiner sagte ein Wort. Schließlich aber wischte sich Kasimir den Schweiß von der Stirn und räusperte sich: »Puh, das war knapp.«

Sophie sagte nichts und senkte den Blick.

»Mach dir nichts draus«, sagte Kasimir und tätschelte müde ihren Rücken.

Sophie atmete ein paarmal tief durch, dann erst brachte sie ein: »Ich habe wohl doch kein Talent« über ihre Lippen.

»Nein, nein«, sagte Kasimir. »Du hast ganz außerordentliches Talent! Noch nie ist jemand beim ersten Versuch so hoch geflogen. Bewundernswert! Genau genommen praktisch unmöglich. Vielleicht hat Theobald ja wirklich recht, dass du …« Er brach ab und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.

»Dass ich was?« Sophie richtete sich mühevoll auf.

Kasimir winkte mit einer weichen Bewegung ab: »Ach, nichts.«

Sophie spürte, dass »nichts« nicht »nichts« war, doch noch bevor sie nachhaken konnte, sprang Kasimir auf und sagte: »Wir müssen uns beeilen, Schätzchen, die Nacht wartet nicht. Komm, steh auf! Wir versuchen es noch einmal!«

Sophie seufzte, der Schreck saß ihr noch in den Gliedern. Aber wie sagte Oma Lotte immer? »Wenn dein Herz etwas wirklich will, musst du dafür kämpfen, koste es, was es wolle.« Sophie horchte tief in sich hinein: Ihr Herz wollte fliegen! Also musste sie mutig sein und sich noch einmal in die hellblau schimmernde Feder verwandeln. Und nach einem ersten Zögern trug der Lufthauch sie wieder hoch in den Himmel. Sie spürte, wie ihrem Herz Flügel wuchsen, es war plötzlich leicht wie noch nie. Der Sturz war vergessen. Vorsichtig öffnete Sophie die Augen und schielte nach unten. Sie sah mondbeleuchtete Baumwipfel, nachtleere Straßen und schlafschützende Hausdächer. Sophie konnte es kaum glauben: Sie flog! Selig sog sie die frische Nachtluft ein und die letzten Reste ihrer Körperschwere aus, als Kasimir nach ihrer Hand griff und sie durch die nächtliche Stille davonzog.

Kapitel 2

Das Narrenreich

Bald lag die Stadt hinter ihnen und sie überflogen Felder, Wälder und Seen. Sophie konnte ihr Glück kaum fassen. Von Zeit zu Zeit kreuzte ein zwitschernder Nachtvogel ihren Weg. Dann sagte Kasimir: »Zirp zidi zwitsch!« (»Guten Abend, werte Dame!«) oder »Zirp zidi zwatsch!« (»Guten Abend, werter Herr!«), und der Vogel erwiderte: »Zirp zirimi zidi zwitsch, zwatsch!« (»Einen wunderschönen Abend, werte Dame, werter Herr!«), »Zwo zwirimi, trillili trallala, zwetsch zwak tra?« (»Welch herrlich laue Frühfrühlingsnacht, finden Sie nicht?«). Worauf Kasimir erwiderte: »Zirpti tri, zirpti tri.« (»In der Tat, in der Tat.«)

»Du kannst mit Vögeln sprechen?«, fragte Sophie verwundert.

»Ja natürlich«, sagte Kasimir, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Er überlegte kurz und meinte: »Vielleicht solltest du auch Vogelisch lernen, meine Liebe. Oder zumindest Papagens. Sprachen kann man nie genug sprechen. Wer weiß? Vielleicht verirrst du dich eines Tages auf einer Insel, und der Einzige, der dir helfen kann, ist ein einsamer, alter Kakadu. Was machst du dann, wenn du seine Sprache nicht beherrschst?«

Sophie schüttelte den Kopf und lachte. Sie hielt es für recht unwahrscheinlich, sich eines Tages irgendwohin zu verirren, wo es weit und breit nur einen einzigen Kakadu gab.

Ein Wald tat sich unter ihnen auf. Die Baumwipfel schimmerten geheimnisvoll im Licht des Mondes.

»Der Morgentauwald«, wisperte Kasimir.

»Morgentauwald«, wiederholte Sophie. Der Name sagte ihr nichts. »Wo sind wir?«

»Im Narrenreich«, antwortete der Narr.

Sophie schaute ihn fragend an.

»Die Heimat der Narren«, erklärte er. »Hier wohnen wir.«

Sophie staunte: »Wann haben wir denn die Grenze überflogen?«

»Irgendwann zwischen dort und jetzt. Das kann man nie so genau sagen. Manchmal sind die Grenzen fließend, manchmal nicht. Heute wohl schon.« Kasimir setzte zur Landung an. Eine Primaballerina hätte nicht eleganter landen können. Sophies Landung war weit weniger elegant. Das machte aber nichts, sie war stolz wie ein Pfau: Sie hatte eben ihren ersten Flug absolviert!

Sanfte Nebelschwaden umspielten Moos und Wurzelwerk, dazwischen wuchsen Pilze, Kräuter und Beeren. Auf ihnen glitzerte der Tau. Die knorrigen Bäume streckten ihre Äste in die Höhe. Die Blätter raschelten im Wind. Ein verheißungsvoller Duft von Abenteuer lag in der Luft.

»Oh wie schön!«, wisperte Sophie und stellte verwundert fest: »Hier blüht und wächst ja alles, als wäre gerade Sommer.«

»Schätzchen«, sagte Kasimir, »Hier blüht und wächst immer alles, als wäre gerade Sommer!« Und er vertiefte sich in sein Federkleid. »Sogar im tiefsten Winter blüht und wächst hier alles, als wäre gerade Sommer.« Er schob hier ein paar Federn zur Seite und dort welche.

»Aber woran erkennt man denn dann, dass Winter ist?«, fragte Sophie.

»Na, gar nicht«, sagte Kasimir und wühlte tiefer in seinem Gefieder. »Wo ist sie denn nur …?«

»Also gibt es hier keinen Winter?«

»Oh doch, selbstverständlich gibt es hier Winter, was für eine Frage! – Ah, hier ist sie!« Freudestrahlend zog Kasimir ein zerknittertes Blatt Papier hervor. »ZUTATEN FÜR DAS REGENBOGENZÄHMUNGSRITUAL«, stand da geschrieben.

Sophie schluckte und fühlte sich plötzlich ein bisschen unwohl: »Regenbogen muss man zähmen

»Na, was dachtest du denn?« Kasimir schaute sie mit großen Augen an. »Glaubtest du etwa, Regenbogen seien kleine, zutrauliche Haustiere? Nein, Schätzchen, Regenbogen sind wilde und trickreiche Biester. Die Regenbogenzähmung ist eine Wissenschaft für sich. Lies vor, was brauchen wir?«

Sophie hatte Mühe, die krakelige Handschrift auf dem Zettel zu entziffern: »Ein Beutelchen ungetrübter Mondenschimmer«, stand da, »drei Löffel Kicherpflanzenstaub, eine Handvoll mit närrischem Nachttau bedecktes Moos, sieben Tropfen Narrenelfenlachen, zwei große Blätter Silberfarn, fünf Tropfen Harz von der wunderlichen allwissenden Eiche, drei närrische Nebelschwaden, eine Prise Wichtelessenz.« Sophie hatte von all diesen Dingen noch nie gehört. Kasimir aber rieb sich zufrieden die Hände: »Das trifft sich gut! Das Moos hier ist mit feinstem närrischem Nachttau bedeckt.« Er zog einen kleinen Beutel aus seinem Federkleid. »Sammle du das Moos, ich kümmere mich in der Zwischenzeit um den ungetrübten Mondenschimmer. Der Baum dort dürfte hoch genug sein.« Er zeigte auf eine mächtige Buche und erklärte: »Ungetrübt ist der Mondenschimmer nämlich nur über der Baumwipfelgrenze des Waldes.«

»Ist das denn der höchste Baum im Wald?«, fragte Sophie.

»Aber nein«, sagte Kasimir, »es gibt noch viel höhere.«

»Dann kannst du von seinem Wipfel aber nicht über die Baumwipfelgrenze greifen«, versuchte Sophie ihn auf seinen Denkfehler aufmerksam zu machen.

»Eben.« Kasimir nickte zufrieden und verschwand flink wie ein Eichhörnchen im Geäst.

Kopfschüttelnd sammelte Sophie ein bisschen Moos und fragte sich, was närrischen von normalem Nachttau unterscheide. Die Perlen des Taus auf dem Moos sahen nicht anders aus als herkömmliche Tautropfen. Doch dann schaute Sophie genauer hin und plötzlich spiegelten sich winzig kleine Gesichter in ihrem Glanz. War das denn möglich? Nein, vermutlich war es nur eine Lichtbrechung. Seltsam war es aber schon, dass jeder Tropfen so aussah, als habe er ein Gesicht. Sophies Nasenspitze berührte schon fast das Moos. Zu dumm, dass sie keine Lupe bei sich hatte!

Ein Tautropfen platzte, sein Wasser spritzte in Sophies Augen und augenblicklich machte sich ein kribbelndes Gefühl der Fröhlichkeit in ihren Zehen bemerkbar. Sophie schmunzelte. Das Gefühl wanderte in ihre Brust. Sophie kicherte. Es kitzelte ihre Mundwinkel. Sie lachte. Lauter, immer lauter. Bald schüttelte die Fröhlichkeit ihren ganzen Körper und Sophie krümmte sich am Boden.

»Süße, du hast doch nicht etwa zu tief in den Tau geschaut?« Es war Kasimir, der sie auf den Boden drückte. »Halt still!«

Lachen. Immerzu dieses Lachen. Sophie konnte nicht still halten, wenn sie lachte. Ihr Körper bebte. Warum hörte es nicht mehr auf? Sophie bekam Angst.

»Ach Kindchen, kann man dich denn keine fünf Minuten allein lassen?« Etwas Weiches berührte ihre Augen.

»Ich muss den Tau aus deinen Augen wischen, sonst lachst du morgen noch.« Ein sanfter Druck auf ihren Augen. Sophie gluckste noch dreimal. Dann war das Lachen verschwunden.

Sophie atmete erleichtert auf. »Was war denn das?«, fragte sie. Ihr Bauch tat weh.

»Närrischer Nachttau«, sagte Kasimir und hob mahnend den Zeigefinger: »Man sollte ihm nie zu nah kommen. Sein Spucken kann fatale Auswirkungen haben. Es gibt Geschichten von Narren, die vor Lachen beinahe verhungert wären, nachdem sie zu tief in den Tau geschaut hatten. Wenn da keiner kommt, der sich auskennt, bist du verloren! Mädchen, Mädchen, mach so etwas nie wieder! – Oje, uns läuft die Zeit davon! Wir brauchen närrische Nebelschwaden.« Kasimir setzte sich neben eine Nebelschwade und führte sie mit einer geschickten Handbewegung in ein kleines Gläschen, das er zwischen seinen Federn hervorgeholt hatte. »Jetzt du!«, forderte er Sophie auf und gab ihr ebenfalls ein Glas.

Sophie griff nach einer besonders schönen Nebelschwade, doch sie glitt ihr durch die Finger. Auch beim zweiten Versuch hatte sie keinen Erfolg.

»Es ist eine Frage der Vorstellungskraft«, sagte Kasimir. »Deine Hand ist keine Hand, die greift, sie ist ein Lufthauch, der sanft leitet. Zwinge die Schwade nicht in eine Richtung. Mit Zwang erreicht man bei närrischen Nebelschwaden nichts. Sie sind sehr freiheitsliebend. Tu so, als wolltest du nichts, als ihre Bewegung auf deiner Hand spüren.« Er leitete eine zweite Schwade scheinbar ohne große Mühe in ein Glas.

Sophie verstand. Behutsam näherte sich ihre Hand dem Nebel. Die Schwade zögerte. Sophie schloss die Augen. »Bitte berühre mich«, dachte sie. »Ich möchte wissen, wie du dich anfühlst.«

Sie fühlte sich luftig, warm und feucht an, die Schwade in ihrer gewölbten Hand, wie ein Sprühregen in einer Tropennacht. Und als es vorbei war, als die Schwade im Glas ihre Kreise zog, bedauerte Sophie die Kürze dieses Moments.

Kasimir führte Sophie tiefer in den Wald.

»Warum machen wir das eigentlich?«, fragte Sophie.

Kasimir blieb stehen: »Was?«

»Na, Regenbogen zähmen.«

Kasimir stellte sich auf die Zehenspitzen und drehte sich um seine eigene Achse. »Na, das war doch deine eigene Idee«, sagte er und stolperte fast. »Theobald hat sie in deinem Zimmer gefunden. Sie war ziemlich groß, fast schon ausgewachsen. – Außerdem kann man nie wissen … So ein Regenbogen kann von großem Nutzen sein in Zeiten wie diesen. Von seeehr großem Nutzen. Man muss sie für sich gewinnen, bevor es ein anderer tut.«

»Was für ein anderer?«, fragte Sophie mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. »Was für Zeiten?«

Kasimir legte seinen Arm um Sophies Schultern und sagte ausweichend: »Seltsame Zeiten, meine Liebe, seltsame Zeiten. – Oh, schau dort!« Er zeigte auf einen silbernen Farnstrauch am Wegrand: »Silberfarn. Wärest du so lieb und würdest bitte zwei Blätter davon pflücken? Aber sei vorsichtig, Silberfarn ist kitzlig.«

Kitzlige Pflanzen, spuckender Tau, freiheitsliebender Nebel, Sophie schüttelte den Kopf und griff behutsam nach dem Farn. Die Blätter zuckten, die Pflanze wand sich unter ihrem Griff. Erschrocken zog Sophie die Hand zurück. Der Strauch schüttelte sich angewidert und rollte ein Blatt nach dem anderen ein, bis er nur noch ein Haufen kleiner Blattrollen war.

Kasimir schüttelte verärgert den Kopf: »Süße, du solltest ihn doch nicht kitzeln!«

»Aber ich …«, begann Sophie, doch Kasimir ließ keine Entschuldigung zu: »Nichts ›aber‹, dieser beleidigte Rollenhaufen lässt sich nicht bestreiten. Sieh zu, dass du einen neuen Strauch findest! Und dann pack fest und entschlossen zu!«

Zum Glück ist Silberfarn keine Seltenheit im Narrenreich, und bald bot sich für Sophie die Gelegenheit, es noch einmal zu versuchen. Diesmal griff sie fast grob zu, und so gelang es ihr, die Blätter auszureißen. Sie wollte schon triumphieren, da bemerkte sie eine Gruppe kleiner, halbdurchsichtiger Wesen hinter dem Farnstrauch. Sie schwebten knapp über dem Boden, ihre perlmuttfarbenen Kleider klingelten bei jeder Bewegung, als wären unzählige Glöckchen in den Stoff gewebt, und sie tuschelten aufgeregt. Sophie hatte sie wohl bei irgendetwas gestört. »Oh, Entschuldigung«, murmelte sie. Kasimirs Gesicht aber hellte begeistert auf, als er die Wesen sah, und er verneigte sich vor ihnen: »Guten Abend, werte Damen. Es ist mir eine große Ehre, Sie hier anzutreffen.«

Die Angesprochenen warfen einander verstohlene Blicke zu. Verlegen kicherten sie hinter ihren kleinen Händen und lösten sich eine nach der anderen mit zartem Klingelton in Luft auf.