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Über dieses Buch:

Hey Leute, ich bin's, Jule. Es sind Sommerferien! Die beste Zeit des Jahres! Was man da alles machen könnte: Mit meinem Freund Twister am Strand liegen und einen Eisbecher löffeln zum Beispiel. Tja, Pustekuchen! Twister will sich unbedingt ein neues Mountainbike kaufen und arbeitet deswegen. Den! Ganzen! Sommer! Unfassbar. Da kommt mir das Angebot, bei einer Reportage mitzumachen, gerade recht. Und das Beste daran: Es ist eine Reportage über Schokolade! Soll Twister doch sehen, dass ich mich auch prima ohne ihn amüsieren kann …

Über die Autorin:

Beatrix Mannel studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Erlangen, Perugia und München und arbeitete dann zehn Jahre als Redakteurin beim Fernsehen. Danach begann sie – auch unter ihrem Pseudonym Beatrix Gurian – Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu schreiben, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Für ihre aufwändigen Recherchen reist sie um die ganze Welt. Außerdem gründete sie gemeinsam mit einer Kollegin 2015 die Münchner Schreibakademie.

Zur frechen Jugendbuchserie rund um Jule gehören die folgenden Bände: Jule – filmreif, Jule – kussecht, Jule – schwindelfrei, Jule – zartbitter

Bei jumpbooks erschien von ihr bereits die Serie S.O.S. – Schwestern für alle Fälle mit den Einzelbänden:

Willkommen in der Chaos-Klinik
Ein Oberarzt macht Zicken
Flunkern, Flirts und Liebesfieber
Rettender Engel hilflos verliebt
Prinzen, Popstars, Wohnheimpartys

und der historische Jugendroman Die Tochter des Henkers.

Mehr Informationen auch auf der Website der Autorin:

www.beatrix-mannel.de

www.münchner-schreibakademie.de/

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eBook-Neuausgabe November 2016

Copyright © der Originalausgabe 2002 Loewe Verlag GmbH, Bindlach

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

Titelbildabbildung: Ruth Black (fotolia.com)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-177-7

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Beatrix Mannel

Jule – zartbitter

Roman

jumpbooks

GEPLATZTE TRÄUME

Seine Küsse schweben lachend durch die Luft zu mir. Kitzeln die glitzrigen Salzkristalle auf meiner braunen Haut und bringen mein Herz zum Kochen.

Dabei ist mir doch sowieso schon unglaublich heiß von all der Sonne.

Ich schaue Twister an, und bevor ich endgültig verglühen kann, zieht er mich mit seinen großen Händen hoch, und wir stürzen uns nackt und glücklich in die schaumigen Wellen. Tauchen unter und blubbern aus der dunkelgrünen Stille silbrige Luftblasen an die Oberfläche, bis wir nicht mehr können ...

Ja, genau so habe ich, Jule Neumann und liebeskranker Schwachkopf, mir die Sommerferien vorgestellt. Falls es euch erstaunen sollte, dass ich trotz meiner beachtlichen 1,68 Meter im Quadrat davon fantasiert habe, mit meinem Freund Twister nackt allein am Strand zu liegen, das hat einen ganz einfachen Grund: Ich sehe komischerweise nackig besser aus als im Badeanzug. Es gibt einfach keinen, der mir passt.

Andererseits ist das eigentlich auch piepegal, denn mein Freund Twister hatte nur ein müdes Lächeln für diese, wie er es nennt, »romantische Sülze« übrig. Nicht mal drei Tage wollte er mit mir wegfahren! Und warum nicht? Weil er arbeiten muss.

Jetzt habt bloß kein Mitleid mit ihm. Denn er muss nicht arbeiten, weil seine Familie am Hungertuch nagt. Nein, er will sich ein neues Foltergerät zulegen. Sprich ein Mountainbike mit »full suspension«. Fully genannt.

Wer braucht so etwas, frage ich euch. Twister hat schließlich schon ein Mountainbike. Und es kommt noch besser. Was arbeitet Twister? Geht er etwa einer harten und wie ich finde für Jungs absolut angebrachten Tätigkeit nach? Spült er in einer Großküche die fettigen Töpfe? Kehrt er die Reste in einer Fischfabrik zusammen? Sortiert er eklige Krankenhauswäsche nach Farben? Pah, weit gefehlt. Soll ich euch mal eine Handbewegung vormachen, damit ihr es besser erraten könnt? Tja, leider gibt es keine. Die einzige Bewegung, die er dort machen wird, ist Augengymnastik, sprich Glotzen. Er arbeitet nämlich als Bademeistergehilfe in einem Freibad.

»Arbeit« hat er so Mitleid heischend gestöhnt, dass ich beinahe weich geworden wäre. Aber dann ist mir eingefallen, warum das Freibad, in dem er arbeitet, so beliebt bei den vielen Fotomodellen der Stadt ist. Dort gibt es eine Frauennacktbadezone, zu der Männer keinen Zutritt haben, mit einer Ausnahme. Ja richtig! Die gilt für Bademeister und selbstverständlich auch für ihre Assistenten.

Twister versteht mich natürlich nicht. Von wegen Fotomodelle! Das sei alles nur meinem eifersüchtigen Mädchengehirn entsprungen. In Wirklichkeit müsste er sich mit den kleinen Kotzbrocken herumärgern, die immer von der Seite ins Becken springen. Er müsste Papierchen vom Rasen aufheben und würde abkommandiert zum Kloabchecken. Das sei kein Zuckerlecken. Sagt er und schlägt mir vor, ihn jeden Tag besuchen zu kommen, um mich selbst davon zu überzeugen.

So, und da war ich dann völlig platt. Ich, Jule Neumann, lege mich ins Schwimmbad und überwache meinen Freund? Was hat er sich denn dabei gedacht? Dass ich wie eine Walrossmutti in meinem schrecklichen Badeanzug Größe 48 in der Sonne liege, schnaufe und ab und zu ein Küsschen in seine Richtung werfe, während er die Mülleimer ausleert? Ich gebe gern mal eine lächerliche Figur ab, aber auch für mich existieren Grenzen.

Zuerst war ich nur wütend. Habe mir überlegt, wie ich Twister ärgern könnte. Habe mir ausgemalt, wie ich mit einem Supermann an meiner Seite ins Schwimmbad gewackelt komme und überall Kaugummipapiere hinwerfe. Aber irgendwie blieb danach ein schlechter Geschmack im Mund zurück. Es hat keinen Spaß gemacht, sich so etwas vorzustellen. Twister soll mein strahlender Held sein. Niemand sonst.

Tja, und deshalb räkele ich mich im Moment nicht auf einem quittengelben Handtuch und lasse mir den Rücken einölen, sondern bin hier. An einem Ort, von dem ihr vielleicht noch nie gehört habt und den ihr bestimmt für todlangweilig haltet. Luzie jedenfalls hat mich gefragt, warum ich nicht gleich einen Platz im Sarg miete, als ich erwähnte, wo ich hingehe.

Luzie ist meine beste Freundin und ganz anders als ich. Sie hat Haare schwarz wie Rabenfedern und Augen blau wie Mentholkaugummis. Und genauso wie beim ersten Bissen in eines dieser Dinger muss man auch bei Luzie nach Luft schnappen, wenn man sie das erste Mal richtig anschaut. Vielleicht haben ihre Eltern sie deshalb für die Öffentlichkeit aus dem Verkehr gezogen. Luzie wurde nämlich für die Dauer der Sommerferien in ein Schweizer Mädchen-Ferieninternat namens »Sommertraum« verfrachtet.

Am letzten Schultag haben Luzie und ich deshalb eine kleine Trauerfeier veranstaltet. Eigentlich war es mehr eine Trostfeier. Luzie hat sich in der Eisdiele bei mir um die Ecke an einem Jogurteis ohne Sahne festgehalten und ich an einem Nussbecher, meinem Lieblingseis.

Aber das hat auch nichts genutzt. Am liebsten hätten wir beide geheult. Luzie hasst es, eingesperrt zu sein. Außerdem ärgert sie sich, weil dieses Ferienlager als eine Art Strafe für sie gedacht ist. In den Osterferien haben Luzie und ich ihre Eltern recht ausgiebig angelogen, nur um zusammen in die Ferien fahren zu können. Leider ist Luzies Mutter uns auf die Schliche gekommen und geht jetzt auf Nummer sicher, dass ihr Augapfel nicht irgendwo in der Weltgeschichte herumgondelt. Persönlich hat sie die Verbannung ihres Lieblings nach »Sommertraum« überwacht.

Aber auch vor mir liegen sechs endlose, superöde Ferienwochen. Mein bester Freund Matthias hat einen Job als Fahrradkurier. Meine Schwester Cindy ist für ein Jahr als Au-pair nach Kalifornien abgedampft. Nur weil ich bis zum letzten Moment gedacht habe, dass Twister vielleicht doch noch sein Herz für die Urlaubsfreuden entdeckt, bin ich als Einzige ohne Beschäftigung.

Luzie fand allerdings, dass ich nicht jammern dürfte. Ich müsste wenigstens nicht mit vier anderen Mädchen in einem Zimmer schlafen. Ich dürfte weiterhin jeder Art menschlicher Kommunikation nachgehen, sprich Handy, SMS und Internet. Für sie wären diese unbestreitbaren Segnungen der Zivilisation in ihrem Ferienlager verboten. Was für uns beide bedeutet, dass wir uns nur per Schneckenpost unterhalten können. Eine schreckliche Vorstellung!

Luzie hat mich aus ihren blauen Augen so traurig angeschaut, dass ich wirklich dachte, es wären nicht bloß die Sommerferien, die vor uns lägen, sondern ewige dunkelste Nacht.

Nach unserer dann doch nicht ganz tränenfreien Verabschiedung ging für mich, wie aus dem Nichts und völlig unerwartet, die Sonne auf.

Ein einziger Telefonanruf befreite mich mit einem Schlag von den trüben Aussichten. Am Apparat war Franziska. Sie ist eine Regisseurin, die ich bei meinem kurzen, aber sehr ereignisreichen Gastspiel als lustige Dicke in einer Seifenoper mit dem sprechenden Titel »Nachts ist die Liebe dunkler als draußen« kennen gelernt habe. Franziska hat mir eine Menge beigebracht. Immerhin musste ich in der Serie zum allerersten Mal einen Jungen küssen. Vor laufender Kamera! Dabei habe ich mich ziemlich blöde angestellt. Jetzt, ein Jahr später, wäre das für mich kein Problem mehr. Jedenfalls war Franziska sehr geduldig mit mir.

Als ich dann wieder aus der Serie rausgeworfen wurde, übrigens, weil ich verbotenerweise ein paar Kilo abgenommen hatte, da bot sie mir an, ich könnte irgendwann einmal bei einer ihrer Reportagen mitarbeiten. Wie schön, dass ausgerechnet jetzt irgendwann ist.

Übrigens kriege ich nicht einen Euro für meine Arbeit. Wie mir Franziska erklärt hat, ist ein Praktikum beim Film fast immer unbezahlt. Aber das ist mir egal. Alles kommt mir besser vor, als den ganzen Tag darüber nachzugrübeln, wie es gewesen wäre, wenn Twister und ich zusammen hätten wegfahren können.

Franziska hat sich über meine Zusage ziemlich gefreut, Kein Wunder, denn sie muss in drei Monaten gleich drei Reportagen abgeben und kann jede Hilfe nur zu gut gebrauchen.

Ich verstehe, wenn ihr langsam ungeduldig werdet und endlich wissen wollt, wo ich denn eigentlich bin. Okay, ich befinde mich in der Bayerischen Staatsbibliothek. Nicht zum Bücherabstauben. Nein, ich recherchiere hier gerade. Falls ihr nicht wisst, ob Recherchieren eine todsichere Methode ist, garstige Bücherwürmer zu vernichten, oder eher eine ausgeklügelte Anmachtechnik für Leseratten, verrate ich es euch.

Es ist ziemlich simpel: Ich sammle Informationen zu einem Thema. Das klingt lange nicht so besonders wie: recherchieren. Und ich tue es, weil eine Reportage natürlich nicht einfach so entsteht. Diese spezielle Reportage hat übrigens ein Superthema, etwas, worum mein Leben kreist, wenn ich nicht gerade an Twister denke: um Schokolade! Allein bei dem Gedanken an Schokolade bekomme ich gute Laune.

Es erscheint mir fast, als wäre ich schon eine Ewigkeit in diesem fast kirchenartigen Raum. Niemand schnäuzt sich, keiner erlaubt sich ein Husten in dieser feierlichen Stille. Jedes Mal, wenn die Bibliothekarin einen neuen Bücherrollwagen hereinschiebt, bin ich erstaunt, dass es nicht der Papst mit einem Rudel von Ministranten ist.

Manchmal frage ich mich, ob ich vielleicht die einzig Lebendige hier bin. Die über die Bücher gebeugten Rücken sehen aus wie erstarrt. Noch nie habe ich einen von ihnen bei einer Bewegung ertappt.

Was die anderen wohl so Spannendes recherchieren? Der Greis neben mir liest ein fünfbändiges Werk über die Bedeutung der Diphthongverschiebung im späten Mittelhochdeutschen. Keine Ahnung, was das wohl zu bedeuten hat.

Wenn ich jetzt ein Zaubermittel hätte, mit dem ich die Gedanken, die hier im Raum schweben, sichtbar machen könnte, wüsste ich vielleicht, was es damit auf sich hat. Dann wäre über meinem Nachbarn eine Art Comicblase, und ich könnte den Film sehen, der sich in seinem Kopf gerade abspielt.

In meinem Kopf dreht sich momentan natürlich alles um Schokolade, genau genommen um die Geschichte der Schokolade. Wusstet ihr, dass die Kakaobohne aus Lateinamerika stammt? Mir ist das auch erst seit heute klar. Ich lese zum ersten Mal etwas über olmekische, toltekische und andere uralte Zivilisationen. Es geht um Mayas und Azteken und jede Menge Worte mit quatl und chi und itzn.

Kaum sickern diese exotischen Silben in mein Gehirn, bauscht sich auch schon ein Kleid aus fantastischen Quetzalvogelfedern um meinen Luxuskörper, und ich bereite als Maya-Priesterin ein paar Opfer zum Wohle von Ek-Chuah, dem Gott der Händler und Kakaobauern, vor. Aber mitten in der Opferung erscheint dann aus dem Nichts Twister. So wie er immer ungebeten in meinem Gehirn auftaucht. Und sofort ist mein Kleid aus Federn wieder verschwunden, ich liege in Twisters Armen, und wir überlegen genüsslich, was wir Köstliches mit Schokolade tun könnten ...

Leider muss ich jetzt mit der – äh – Arbeit aufhören, weil mich Franziska abholen wird und Ergebnisse sehen will. Ich packe also meine Kopien und Notizen zusammen und bemühe mich, so wenig wie möglich mit dem Papier zu rascheln. Trotzdem drehen sich zwei Bleichgesichter zu mir um und zischen »Ruhe!« in meine Richtung. Ich frage mich, was passieren würde, wenn in diese heilige Stille plötzlich jemand richtig laut pupsen würde!

Als ich aus der Tür ins helle Sonnenlicht trete, fällt mein Blick auf Franziska, die in ihrem roten Mini-Cooper schon ungeduldig auf mich wartet. Sie streckt die Hand aus. »Hallo, Jule«, begrüßt sie mich, und ihre Stimme klingt dabei gehetzt. »Schön, dass du kommst. Kannst du in Zukunft pünktlich sein? Mein Zeitplan ist sehr eng.« Sie lässt mir kaum Zeit, in den Wagen zu steigen, denn noch bevor ich die Tür geschlossen habe, setzt sie den Blinker und fährt los. Eigentlich ist es mehr Rasen als Fahren. Immer wieder streicht sie ihre langen Haare hinter die Ohren und beißt sich wütend auf die johannisbeerroten Lippen. Besonders dann, wenn ihr Vordermann sich völlig unmotiviert an die Geschwindigkeitsbegrenzungen hält.

Franziska ist kleiner als ich und sehr dünn. Obwohl sie älter sein dürfte als meine Mutter, wirkt sie viel cooler. Na ja, wahrscheinlich könnte ich Madonna als Mutter haben und würde sie nicht cool finden, einfach aus dem Grund, weil sie dann meine Mutter wäre.

Also, Franziska jedenfalls ist cool. Obwohl mindestens 26 Grad herrschen, ist sie von Kopf bis Fuß schwarz angezogen. Das Schwarz erinnert mich aber nicht an dunkle Schatten, sondern es vibriert an ihr, es ist die ganze Zeit in Bewegung.

Kein Wunder, bei den Dingen, die sie auf einmal erledigt: Autofahren, etwas in ihr Diktafon sprechen, Radiosender wechseln, auf die Uhr schauen, anderen Autofahrern den Mittelfinger zeigen und dabei ununterbrochen mit mir reden.

»Gleich sind wir in meinem Büro, dann besprechen wir deine Aufgaben für morgen«, schießt es gerade aus ihr heraus. Ich nicke nur und hoffe, dass wir ihr Büro lebend erreichen.

Gerade als sie den Schlüssel in das Schloss stecken will, wird die Tür von einer langen, hübschen Frau mit einer Unmenge von Sommersprossen aufgerissen. Sie gibt Franziska einen Kuss auf den Mund und murmelt: »Schön, dass du endlich da bist.« Dann mustert sie mich kritisch. »Du bist also die Jule.« Ihre Stimme ist merklich dunkler geworden. »Hi. Ich bin Dorothea.« Sie streckt mir eine ungewöhnlich große Hand hin, in der die meine zusammengequetscht wird wie in einer feuchten Saftpresse. Ich lasse sofort wieder los, ohne daran zu denken, wie unhöflich das wirkt. Dorothea ignoriert es und folgt achselzuckend Franziska, die ihre Tasche inzwischen auf einem der beiden Schreibtische abgeladen hat, um sie auszuräumen.

Franziskas Büro habe ich mir ganz anders vorgestellt. So in etwa wie die Büros bei der Fernsehserie damals: schicke Zimmer mit Fensterfronten, Computern, Vorzimmern, Teeküchen und endlos langen Gängen dazwischen.

Hier geht man von der Straße drei Stufen hoch und befindet sich in einer Art schwarz-weißem Laden. Vorsprünge in der Wand unterteilen den Raum. An der Seite stehen Videogeräte mit mehreren Bildschirmen und Rekordern neben endlosen Reihen mit verschieden großen Videokassetten. Gegenüber sehe ich Musikanlagen, drei Computermonitore, CD-ROMs und CDs. Der Fußboden ist weiß lackiert, die Drehstühle sind schwarz. Weiter hinten, dort wo der Laden etwas breiter wird, stehen Freischwingerstühle an einem großen runden Tisch. Aber außer Dorothea, Franziska und mir ist keiner im Raum.

»Suchst du jemanden?«, fragt Franziska.

»Ich dachte, das hier wäre eine Firma. Aber wo sind die Angestellten?«

Franziska lächelt. »Hier arbeite nur ich und manchmal auch Dorothea oder, wenn sehr viel zu tun ist, mein Regie-Assistent.«

»Aber du machst doch eine Reportage fürs Fernsehen?« Ich kapiere das nicht so ganz. »Braucht man da keine Tonleute, Kameramänner, Techniker, Cutter und so weiter?«

»Doch, klar. Aber die meisten Fernsehsender geben Reportagen außer Haus. Das bedeutet, dass für die Reportage nur ein freier Mitarbeiter verantwortlich ist, in diesem Fall also ich. Manchmal wird auch eine Produktionsfirma beauftragt.«

»Aber wo ist denn der Unterschied?«

»Kommt darauf an. Es gibt Produktionsfirmen, die haben eigene Kamerateams und Schnittplätze. Sie liefern den komplett fertigen Film ab. Oder es läuft wie bei mir, ich bekomme den Auftrag, muss aber selbst sehen, wo ich die Kameraleute herkriege und den Schnittplatz. Und dann gibt es noch den Fall, dass ein Sender einem freien Redakteur oder Producer, wie das manche auch nennen, den Schnittplatz stellt oder das Kamerateam.«

»Ah ja.« Ich bin noch ganz betäubt, denn auch wenn ihr die Sätze eben ganz gemütlich lesen konntet, auf mich sind sie niedergeprasselt wie Hagelkörner bei einem Sommergewitter.

Franziska sieht meine Unsicherheit und grinst. »Schau dich ruhig erst mal um. Dodo, könntest du uns vielleicht etwas zu trinken holen?«

Dodo? Ach, sie meint Dorothea! Was für ein beknackter Name! So würde ich nicht mal einen Goldfisch nennen, wenn ich einen hätte. Dodo nickt und verschwindet.

»Und was macht Dodo hier?«, frage ich lieber, bevor ich einen Fehler mache.

»Dodo ist meine Lebensgefährtin. Dass ich lesbisch bin, ist ja nichts Neues für dich, oder?«

Ich nicke. Damals bei der Serie war ich wirklich überrascht, dass Franziska sich nicht für Männer interessiert. Aber ich finde es nicht wirklich wichtig. »Und arbeitet Dodo auch bei der Reportage mit?«, will ich wissen.

»Jein. Dodo arbeitet mit Suchtkranken in einer Klinik. Sie ist Sozialpädagogin und hilft bei der Wiedereingliederung. Immer, wenn sie etwas Zeit übrig hat und sie ein Projekt interessant findet, springt sie ein.«

»Und wie findet sie Schokolade?«

»Da fragst du sie am besten selbst. In jedem Fall isst sie gern welche.« Franziska lächelt versonnen. »Früher hatte ich übrigens auf dem Bavariafilm-Gelände ein Büro. Aus Prestigegründen. Damals hatte ich auch eine Sekretärin und habe mich ganz schick Efka-Film genannt. Aber die Miete und das Personal waren mir auf Dauer zu teuer. Da musste ich andauernd schrecklich langweilige Aufträge annehmen, nur um das Geld reinzubekommen. Mir geht es hier viel besser. Ich bin relativ unabhängig, und das gefällt mir.«

»Und wann legen wir mit unserer Schokoladenstory richtig los?«, frage ich Franziska.

»Was meinst du mit richtig?«

»Filmaufnahmen und so ...«

Franziska stöhnt. »Also, zuerst müssen wir ein Exposé machen, das vom Sender abgenommen wird. Dann erst können wir loslegen.«

»Ein Exposé, was ist denn das?«

Dodo, die für alle Wasser mitgebracht hat, verdreht die Augen. »Ich habe dir doch gesagt, dass dich eine Praktikantin viel mehr Arbeit kosten wird, als sie dir bringt!«

Franziska zuckt mit der Schulter. »Da täuschst du dich, Dodo, Jule ist von der schnellen Truppe. Wenn sie einmal kapiert hat, wie es funktioniert, ist sie kaum zu bremsen.«

»Danke.« Am liebsten würde ich Dodo die Zunge rausstrecken und »Ätsch« sagen, aber dafür bin ich leider schon zu alt.

»Also, in ein Exposé schreibt man rein, wie der Film ungefähr aussehen soll und welchen Ablauf er haben wird.«

»Das verstehe ich nicht. Musstest du nicht schon ein Exposé machen, bevor der Sender sich entschlossen hat, diese drei Reportagen drehen zu lassen?«

»Siehst du, Dodo, das meine ich. Jule ist wirklich nicht auf den Kopf gefallen ...«

»Ich kann auch jede Menge andere Kunststücke: bis drei zählen, Idiot buchstabieren«, lalle ich und bemühe mich, dabei etwas zu sabbern. Franziska lacht. Dodo findet das nicht komisch und zieht endlich ab. Ich frage mich, was Franziska wohl an Dodo liebt.

»Du hast Recht, Jule, natürlich musste ich schon ungefähr skizzieren, wie die Reportagen aufgebaut sind. Aber das war nur für eine allererste Kalkulation, jetzt braucht der Sender es ein wenig detaillierter.«

Trotz der Gefahr, dass ich mich wieder als Unwissende oute, frage ich nach: »Kalkulation?«

»Das ist eine Aufstellung darüber, was der Film kosten wird.« Franziska trinkt ihr Glas mit einem langen Schluck aus und erklärt dann weiter. »Wenn ich zum Beispiel an die Elfenbeinküste fliege, um dort vor Ort zu drehen, wie Kakao geerntet wird, dann entstehen dabei Kosten. Der Flug, das Hotel, das Essen etc., das alles muss bezahlt werden. Außerdem möchte ich auch noch etwas daran verdienen.«

»Heißt das, wir fliegen nach Afrika?«

Afrika, allein dieses Wort knipst etwas in meinem Kopf an und entführt mich in eine andere Welt, eine Welt, die ich plötzlich von oben betrachte.

Heißer Wind weht mir ins Gesicht, weil ich in einem kleinen Flugzeug sitze und fliege. Unter mir auf der hellbraunen Steppe weiden Gazellen. Etwas weiter vorn schlängelt sich träge ein Fluss, in dem eine Flusspferdmutter mit ihrem Jungen badet. Daneben schläft eine Schar rosafarbiger Flamingos, die auseinander rauschen, als sie den Propeller unseres Flugzeugs bemerken. Und wisst ihr, wer noch im Flugzeug ist? Twister, der mit einem Dreitagebart neben mir sitzt und mich gerade vor einer wilden Löwin gerettet hat. Natürlich hat er sie nicht getötet, nur verjagt. Allerdings hat er dabei ein paar gefährliche Kratzer im Gesicht abbekommen, die ich gleich nach der Landung in unserem Dschungellager verarzten und natürlich küssen werde ...

Leider unterbricht Franziska meine afrikanischen Visionen. »Wir nicht, Jule, wir können dich schlecht mit nach Afrika nehmen. Du darfst eventuell bei einigen Drehs dabei sein, aber sicher nicht in Afrika. Vielleicht die Schweiz, vielleicht Holland. Mal sehen, auf was wir uns beim Sender morgen definitiv einigen.«

Mein Propellerflugzeug stürzt schnurstracks in einen Riesenberg aus Käse. »Schade.«

»Jule, wahrscheinlich machst du dir völlig falsche Vorstellungen von so einer Reise.« Franziskas Worte sollen wohl tröstend klingen, auf mich wirken sie allerdings schulmeisterlich. Mein Eindruck verstärkt sich, als Franziska aufsteht und in dem schlauchförmigen Büro auf und ab wandert. »Erstens einmal ist es immer ein Unterschied, ob man in einem tropischen Land Urlaub macht oder ob man arbeiten muss. Da kann einem das Klima ziemlich auf die Nerven gehen. Es ist heiß und feucht. Den ganzen Tag fühlt man sich klebrig. Und zweitens: kaum ist die Sonne weg, dann kommen die Mücken.«

»Ach, das würde ich schon schaffen.« Schließlich bin ich ja noch keine Greisin und völlig gesund!

»Trotzdem, Jule, es geht nicht. Ich glaube übrigens kaum, dass dir gefallen würde, was wir an der Elfenbeinküste drehen.«

»Wieso denn nicht?« Franziska scheint mich ja für eine ziemliche Mimose zu halten.

»Weil Kakaoanbau in der Regel Kinderarbeit bedeutet und einige der Kinder dort wie Sklaven gehalten werden. Das gehört leider auch in eine Reportage über Schokolade.«

Haltet mich bitte nicht für weltfremd. Kinderarbeit, Sklaven, all das habe ich schon mal gehört oder besser gesagt im Fernsehen gesehen. Aber hier, in Franziskas Büro, wird es für mich viel realer, als es auf dem Bildschirm jemals sein könnte. Kommt das vielleicht daher, dass ich jetzt an eben genau so einer Dokumentation mitarbeite und sie nicht gemütlich auf dem Sofa dahingefläzt anschaue? »Gibt es denn keine Gesetze in Afrika?«, frage ich laut.

»Doch, natürlich schon, aber niemand überprüft das so genau.«

Ich weiß nicht, wie es euch an meiner Stelle gehen würde, aber ich fühle mich auf jeden Fall komisch. Das mit Twister und mir und dem Flugzeug kommt mir plötzlich kindisch vor.

»Warum guckst du denn so seltsam, Jule? Sei nicht sauer, du kommst sicher früher oder später auch mal nach Afrika.« Franziska lächelt mich ausführlich an, und plötzlich schäme ich mich, dass ich sie vorher für oberlehrerhaft gehalten habe. Schließlich bringt sie mir eine Menge bei.

»Wieso eigentlich Afrika?«, erkundige ich mich. »Der Kakao kommt doch aus Lateinamerika.« Immerhin habe ich den ganzen Tag heute über quatls und itzn in Lateinamerika gelesen und bin ja jetzt Expertin!

»Du hast Recht. Kakao wächst rund um den Äquator, das Hauptanbaugebiet ist heute aber in Afrika, die Elfenbeinküste um genau zu sein.«

Franziska hört auf, hin und her zu tigern, kommt näher und legt freundlich ihre Hand auf meinen Arm. »Neben dem Recherchieren habe ich noch ein paar andere Aufgaben für dich. Unser erster Dreh findet in einer Schokoladenfabrik statt. Dort werden wir einige Leute interviewen, und wir brauchen von jedem eine so genannte Freigabe oder Freistellungserklärung, mit der er das Recht an seinem Bild und Wort an uns abtritt.«

Ich verstehe Bahnhof und schaue Franziska fragend an.

»Das bedeutet, wir brauchen eine Erlaubnis, damit wir die Gespräche mit ihnen auch senden dürfen.«

Franziska dreht sich zu einem Stahlregal auf der anderen Zimmerseite um. »In dem Ordner dort drüben sind Vordrucke. Am besten rufst du in der Firma an, die Nummer findest du auch in den Unterlagen.« Sie zeigt mir die Sachen, bevor sie fortfährt. »Außerdem wirst du dich beim Drehen um die Kassetten kümmern, das ist eine wichtige Aufgabe. Beschriften und aufpassen, dass nichts verschwindet. Und natürlich Time-Codes notieren.«

»Time-Codes?« Alles schwirrt in meinem Kopf und wird zu einem unübersichtlichen Chaos. Ich glaube, Aliens, die auf die Erde kommen, haben es leichter. Time-Codes kann ich natürlich übersetzen: Zeit-Kodes. Aber was zur Hölle soll das sein?

»Um etwas auf einer Kassette zu finden, eine besonders lustige oder interessante Stelle, braucht man den Time-Code. Das ist in etwa das Gleiche wie die Seitenzahlen in Büchern.«

Ein Glück, ja, von Büchern hab ich schon mal was gehört, da kann ich mitreden. Ich nicke also verständnisvoll. Franziska ist in ihrem Element und fuchtelt mit den Händen, während sie weiter erklärt.

»Jeder kann nachschauen, was in einem bestimmten Buch auf Seite 77 steht. Und so funktioniert das auch beim Film. Die Kassetten bekommen einen Time-Code, mit dem wir dann später arbeiten. Du wirst während den verschiedenen Drehs notieren, bei welchem Time-Code wir zum Beispiel die Schoko-Nikoläuse auf dem Band abgefilmt haben und wann wir damit aufhören. Das hat den Vorteil, dass wir nicht alle Kassetten von vorne nach hinten anschauen müssen, um endlich zur Szene mit den Nikoläusen zu kommen.«

»Gut.« Ich nicke, aber eher zu meiner eigenen Beruhigung, denn je länger dieses Gespräch dauert, desto unsicherer werde ich. Das alles klingt ganz anders, als ich mir es vorgestellt habe. Ich dachte, ich, Jule Neumann, halte eine Kamera auf den Präsidenten einer großen Schoko-Welt-Firma und interviewe ihn so gekonnt, dass er mir nachher das Du anbietet und ich lebenslang Schokolade umsonst kriege. Aber Time-Codes notieren, das hört sich nach mühevoller Kleinarbeit an.