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MARKUS WURZER

„NACHTS HÖRTEN WIR HYÄNEN UND SCHAKALE HEULEN.“

DAS TAGEBUCH EINES SÜDTIROLERS
AUS DEM ITALIENISCH-ABESSINISCHEN KRIEG
1935–1936

 

Erfahren – Erinnern – Bewahren
EEB

Schriftenreihe des Zentrums für
Erinnerungskultur und Geschichtsforschung,

herausgegeben von
Gunda Barth-Scalmani / Hermann J. W. Kuprian / Brigitte Mazohl

Band 6

Markus Wurzer

„Nachts hörten wir Hyänen und Schakale heulen.“

Das Tagebuch eines Südtirolers aus dem Italienisch-Abessinischen Krieg 1935–1936

Universitätsverlag Wagner

Inhalt

Vorwort

1. Einleitung

2. Theoretische Verortung

2.1   Tagebücher als historische Quellen

2.2   Methodische Überlegungen

2.3   Quellenkritische Reflexionen

3. Das bewegte Leben des Tagebuchschreibers

3.1   Herkunft, Kindheit und Jugend in Südtirol 1911 bis 1932

3.2   Die militärische Ausbildung in Palermo 1932/33 und die Zeit bis zum Krieg 1935

3.3   Im Kriegsdienst von 1935 bis 1937

3.4   Von 1937 bis 1983

4. Das Kriegstagebuch

4.1   Überlieferung

4.2   Formale und sprachliche Aspekte

4.3   Inhaltliche Aspekte

4.4   Schreibmotivation und Funktionen

5. Analyse

5.1   Kriegserfahrung und Kriegswahrnehmung

5.1.1   Die veränderte Alltagswelt im Krieg

5.1.2   Missstände und Konfliktpotenziale

5.1.3   Gewalterfahrung

5.1.4   Stimmungsbilder, Sinndeutungen und Überlebensstrategien

5.2   Wahrnehmung des Fremden am afrikanischen Kontinent

5.3   Eigenwahrnehmung: Ein Südtiroler in der italienischen Armee

6. Zusammenfassung

7. Edition des Tagebuchs

7.1   Editionsrichtlinien

7.2   Das Kriegstagebuch

8. Anhang

8.1   Quellen- und Literaturverzeichnis

8.1.1   Gedruckte und ungedruckte Quellen

8.1.2   Sekundärliteratur

8.2   Abbildungsverzeichnis

8.3   Militärische Fachbegriffe

8.3.1   Das italienische Heer / L’Esercito italiano

8.3.2   Glossar

8.4   Kartenmaterial

Vorwort

2011 hatte ich das Glück, wohlgemerkt durch Zufall, zur richtigen Zeit am richtigen Ort, nämlich in Innsbruck auf einer Tagung der International Society for First World War Studies, zu sein. Dort erzählte mir Brigitte Strauß, Mitarbeiterin des Volkskundemuseums Südtirol, vom Tagebuch eines Südtirolers aus dem Abessinienkrieg, das erst kürzlich im Depot entdeckt worden sei, nachdem es dort etliche Jahre gelegen hatte. Den historischen Wert dieses einmaligen Zeugnisses erkennend, war sie auf der Suche nach einem Studierenden, der das Dokument im Rahmen einer universitären Qualifikationsschrift einer wissenschaftlichen Bearbeitung zuführen könnte. Ich war interessiert und besichtigte deshalb wenig später das rare Dokument, das mich sofort in seinen Bann zog. Fasziniert vom Schicksal des Diaristen, das das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) hervorgebracht hatte, entschied ich mich, die Aufgabe zu übernehmen. 2014 konnte ich meine Diplomarbeit an der Universität Graz abschließen. Die vorliegende Publikation stellt die überarbeitete Version dieser Arbeit dar.

Ohne die im Folgenden genannten Menschen hätte ich das Buch kaum schreiben können. Deshalb soll an dieser Stelle Platz sein, Dank und Anerkennung zu bezeugen: Zunächst gilt mein Dank Brigitte Strauß, die den Anstoß zur Diplomarbeit gab und mich von Beginn an in diesem Projekt unterstützte, sowie der Leihgeberfamilie, die mir die Erlaubnis erteilte, die Arbeit über die Erlebnisse ihres Vaters zu verfassen, und mir dazu das nötige Vertrauen schenkte. Ausdrücklich möchte ich mich bei Wolfram Dornik, Lisbeth Matzer und Susanne Korbel bedanken, die mir in intensiven Gesprächen durch ihre kritischen Anmerkungen wertvolle Anregungen zur Realisierung dieser Arbeit gaben. Dank gilt darüber hinaus Stefan Benedik für seine Denkanstöße und Christian Neuhuber, der mich bei der Edition des Tagebuchs fachmännisch beriet. Mein besonderer Dank gilt außerdem Helmut Konrad, der mich als kompetenter Betreuer auf meiner Reise begleitete, mich stets in meinem Schaffensprozess förderte und mir dabei mit den nötigen Hilfestellungen zur Seite stand, um die Diplomarbeit zu einem gelungenen Abschluss zu führen. Im Kontext der Drucklegung möchte ich den Herausgebern der Reihe „Erfahren – Erinnern – Bewahren“, Hermann Kuprian, Brigitte Mazohl, Gunda Barth-Scalmani, deren Mitarbeiter Michael Span sowie Mercedes Blaas vom Universitätsverlag Wagner für die freundliche und konstruktive Zusammenarbeit meinen Dank abstatten.

1. Einleitung

Als italienische Kampfverbände am 3. Oktober 1935 ohne vorherige Kriegserklärung in Abessinien einfielen, zwangen sie dem Kaiserreich am Horn von Afrika einen militärischen Konflikt auf. Zum Anlass der Aggression diente Benito Mussolini (1883–1945) ein mehrere Monate zurückliegender Zwischenfall an der Grenze zwischen Italienisch-Somaliland und Abessinien. Die tatsächlichen Kriegsgründe waren jedoch anderweitig gelagert: Seit der Eröffnung des Suezkanals waren die umliegenden Landstriche Anfang der 1870er Jahre zu Brennpunkten des Imperialismus geworden. Während Großbritannien und Frankreich bereits umfangreiche Gebiete in dieser Region besaßen, forderte Italien ebenfalls seinen „Platz an der Sonne“ ein. Das Kaiserreich Abessinien – eines der wenigen afrikanischen Gebiete, das sich der europäischen Kolonialherrschaft bis Anfang des 20. Jahrhunderts entziehen konnte1 – erschien als ideales Ziel.

Die Bedeutung des Konflikts reicht allerdings über die daran unmittelbar beteiligten Parteien hinaus. Der Schweizer Historiker Aram Mattioli will in ihm ein „Schlüsselereignis“ der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts erkennen. Handle es sich dabei doch einerseits um den ersten von einer europäischen – und faschistischen – Macht entfesselten Krieg seit der Gründung des Völkerbundes, der schließlich jene Konstellationen hervorbrachte, die unmittelbar in den Zweiten Weltkrieg weisen sollten.2 Andererseits sei in ihm kein verspätetes Kolonialunternehmen Italiens zu sehen, sondern ein mit modernsten Mitteln geführter Eroberungskrieg, der in seiner totalitären Gewaltdimension dem Nachfolgenden einiges vorweg genommen habe.3

Trotzdem ist der Krieg am Horn von Afrika weder im europäischen noch im italienischen Gedächtnis präsent.4 In Italien wurden er und insbesondere die Verbrechen des faschistischen Regimes nach 1945 für lange Zeit tabuisiert.5 Das Feld wurde so der Erinnerungsliteratur überlassen: Veteranen veröffentlichten schon während des Krieges oder kurz danach und noch bis in die 1990er Jahre hinein eine unüberschaubare Anzahl von Kriegsmemoiren und konstruierten damit die Basis für eine „Meistererzählung“, die das Regime und seinen Traum vom Imperium hochstilisierte.6 Beispielgebend dafür sei auf die Werke von Indro Montanelli verwiesen, der zwischen 1936 und 1938 drei Bücher über seine Kriegserlebnisse veröffentlichte.7 Darstellungen über den Abessinienkrieg blieben so bis in die 1960er Jahre hinein einseitig.8 Die Gründe dafür sind vielfältig: Nachfolgende Ereignisse überlagerten den Abessinienkrieg nicht nur in der öffentlichen Erinnerung, sondern zogen auch stärker das Interesse der Historikerinnen und Historiker auf sich. Der Nachholbedarf war außerdem der eurozentrischen Perspektive der Historiografie geschuldet, der schwierigen Quellenlage und dem mangelnden Willen der Alliierten nach dem gewonnenen Weltkrieg, Italien, das nun auch den Siegermächten angehörte, in einem Prozess, ähnlich jenem in Nürnberg, abzuurteilen. Während also in anderen Ländern die Studien zur Kolonialgeschichte schon um einiges weiter vorangeschritten waren, hatte man die Debatte über die italienische nach 1945 versäumt.9

Erst in den 1960er und 1970er Jahren ist eine beginnende Beschäftigung mit der italienischen Kolonialgeschichte zu konstatieren. Der Abessinienkrieg wurde dabei besonders aus militär-, wirtschafts-, sozial- und politikgeschichtlicher Perspektive beleuchtet. Im Vordergrund standen die Fragen nach Kriegsanlass und -gründen sowie nach dem Verlauf und den unmittelbaren Kriegsfolgen, bezogen auf den europäischen Weg hin zum Zweiten Weltkrieg.10 Erst Ende der 1990er Jahre erfolgte eine Öffnung durch kulturwissenschaftliche Zugänge. Italienische Historiker wie Angelo Del Boca, Giorgio Rochat und Nicola Labanca nahmen die öffentliche Erinnerung an den Krieg und dessen „entgrenzte Gewaltdimensionen“ in den Blick,11 während Marco Lenci die Memoiren Indro Montanellis einer kritischen Betrachtung unterzog.12 Die Italian Studies begannen sich im anglophonen Raum etwa gleichzeitig, von postmodernen und postkolonialen Zugängen beeinflusst, mit der italienischen Kolonialgeschichte zu befassen. Trotz des raschen Anwachsens kritischer Literatur scheint der italienische Kolonialismus in der öffentlichen Erinnerung Italiens weiterhin ein vernachlässigtes Dasein zu fristen; die Legende, der Kolonialismus italienischer Prägung sei anders, toleranter und menschlicher gewesen als jener anderer europäischer Staaten, behauptet sich nach wie vor hartnäckig.13 Dass Aurelio Lepre und Claudia Petraccone noch 2008 in ihrer Storia d’Italia den Abessinienkrieg als „rapida conquista“14 bezeichneten und damit den Mythos vom Krieg der sieben Monate nährten, dessen Gewalteruptionen eigentlich, wie Mattioli richtig anmerkte,15 bis 1941 andauerten, verwundert angesichts dieser Tendenzen nicht. Zudem ließen die beiden Autoren den massiven Einsatz von chemischen Kampfstoffen unerwähnt und gaben lediglich an, dass der Krieg mit „modi brutali“16 geführt worden sei. Anzeichen eines Totalen Krieges attestierten sie dem Abessinienkrieg dagegen nicht; sie bezeichneten ihn als Kolonialkrieg.17

Die deutschsprachige Historiografie, die sich mit dem Italienisch-Abessinischen Krieg beschäftigt, folgte lange Zeit ähnlichen Tendenzen wie die italienische.18 Die wichtigen italienischsprachigen Arbeiten von Del Boca, Rochat und Labanca wurden bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt. Trotzdem fanden ihre fruchtbaren Impulse in den letzten Jahren durch übersetzte Aufsätze in deutschsprachigen Sammelbänden19 und durch deutschsprachige Historikerinnen und Historiker, die sprachlich in der Lage waren, den italienischen Forschungsstand zu rezipieren, Eingang in die deutschsprachige Historiografie. So fragte Giulia Brogini Künzi in ihrer ausführlichen Studie aus dem Jahre 2006 etwa nach der „totalen“ Dimension des Krieges,20 während Mattioli den Konflikt als „Experimentierfeld der Gewalt“21 ausdeutete.

Die Beschäftigung mit Südtirolern22 im Spannungsfeld des Abessinienkriegs geht zurück auf eine Initiative des Südtiroler Landesarchivs im Jahre 2003. Drei Jahre später gab der Projektleiter Gerald Steinacher schließlich einen Sammelband heraus, der erste Erkenntnisse darlegen konnte.23 Im Blickpunkt standen die regionale Erinnerungskultur, die Beantwortung der Frage, wie viele Südtiroler überhaupt am Krieg teilgenommen hatten sowie die Erfahrungsgeschichte der Südtiroler Kriegsteilnehmer.24 Für die vorliegende Studie interessieren im Besonderen die Vorarbeiten hinsichtlich des letzten Punktes. Des Weiteren wurde im Sammelband versucht, die erfahrungsgeschichtliche Dimension über die Oral History und über das Medium der Fotografie zu öffnen. Während Martin Hanni Anfang der 2000er Jahre für das Projekt die letzten überlebenden Südtiroler Kriegsveteranen interviewen konnte,25 versuchten Gerald Steinacher und Ulrich Beuttler die Kriegserlebnisse der Südtiroler durch die Analyse von mehreren überlieferten Fotoalben (und einigen Briefen) zu skizzieren.26 In den folgenden Jahren entstanden weitere kulturgeschichtliche Studien, die sich mit der individuellen Erinnerung an die Teilnahme im Abessinien-, Spanischen Bürger- oder dem Zweiten Weltkrieg beschäftigten.27

Diese Arbeiten sind im Kontext einer aktuellen Tendenz in den Geschichts- und Kulturwissenschaften zu betrachten: Diese haben sich nämlich vor rund drei Jahrzehnten von der Ereignisgeschichte und einer „Geschichte der Großen Männer“ abgewandt und widmen sich seitdem verstärkt einer Alltags-, Erfahrungs- und Mentalitätsgeschichte.28 Das Interesse am historischen Menschen und seiner Perspektive „von unten“29, das heißt an seinem Denken, Verhalten, Erleben und Erfahren, boomt.30 Besonders ausgeprägt ist dieses Interesse gegenüber Individuen in biografischen Ausnahmesituationen. In erster Linie sind damit Kriege gemeint, stellen diese doch „für die kollektive und individuelle Erinnerung einen markanten Kontinuitätsbruch dar, indem sie maßgeblich in das Leben gesellschaftlicher Gruppen einerseits und jenes von Individuen andererseits eingreifen“.31 Möglich wurde dieser Perspektivenwechsel schließlich erst durch die „Entdeckung“ und methodische Verortung neuer Quellengattungen: den sogenannten Selbstzeugnissen wie Memoiren, Briefen und Tagebüchern, der Oral History sowie der Visual History32, die Filme und Fotografien als Quellen nutzt.33

Während die ersten, vorhin genannten italienisch- und deutschsprachigen Impulsstudien zu den Erfahrungsdimensionen des Abessinienkrieges entweder auf die mündliche Überlieferung der Oral History, die schriftliche (Memoiren, Briefkorrespondenzen) oder visuelle (Lichtbilder) zurückgriffen, ist hierbei ein wichtiger Quellentyp bislang zu vermissen: das Tagebuch, das während des Kriegseinsatzes fortlaufend geführt wurde und im Nachhinein keine inhaltliche Bearbeitung mehr erfahren hat. Diese Quellengattung ist deshalb interessant, weil sie den unmittelbarsten Zugang zur Erfahrungsgeschichte bietet, da die zeitliche Distanz zwischen dem Erlebnis und dem darauf folgenden Verschriftlichungsprozess minimal bleibt. Die übrigen schriftlichen Selbstzeugnisse und auch Tagebücher, die in der Retrospektive formuliert oder umgearbeitet wurden, wurden stets adressatenbezogen produziert und unterlagen damit einer äußeren sowie inneren Zensur (Letzterer unterliegen natürlich auch die „originalen“ Tagebücher).34

Bedenkt man, dass Mussolini insgesamt rund 500.000 Männer ans Horn von Afrika befahl,35 könnte man annehmen, dass doch eine erkleckliche Anzahl von solchen „originalen“ Tagebüchern während des Krieges entstand. Wie viele das waren und wie viele davon überhaupt überliefert sind, lässt sich nicht eruieren. Allein das Auffinden der Selbstzeugnisse bereitet nämlich Schwierigkeiten, da sie sich als Erinnerungsstücke zumeist nach wie vor in Familienbesitz befinden.36 Eine Suche in einschlägigen Archiven zeigt, dass bislang nur wenige Exemplare den Weg in diese öffentlichen Institutionen fanden. Während im Archivio Ligure della Scrittura Popolare in Genua nur einige Briefwechsel aus dem Abessinienkrieg archiviert sind,37 weist die Suche in der Datenbank des Selbstzeugnis-Archivs in Trient38 immerhin einen Treffer auf: das Tagebuch eines unbekannten italienischen Marinesoldaten. Dieser wurde allerdings erst im Juni 1936, also rund einen Monat nach offiziellem Kriegsende, nach Abessinien verschifft.39 Im Archivio Diaristico Nazionale in Pieve Santo Stefano werden ebenfalls einige wenige Tagebücher aufbewahrt, die bereits zum Teil Gegenstand von Mikrostudien geworden sind.40 Im Laufe der vergangenen zehn Jahre erschienen in Italien schließlich einige Untersuchungen, die Tagebücher (oder andere schriftliche Selbstzeugnisse) und damit die Kriegserfahrungen ihrer Schreiber zum Thema haben.41

Möchte man darüber hinaus ein Tagebuch finden, das nicht nur während des Krieges verfasst, sondern auch noch in deutscher Sprache formuliert wurde, ist zu bedenken, dass laut den von Thomas Ohnewein erarbeiteten Statistiken zwar 1376 Männer aus Südtirol für den Angriffskrieg gegen Abessinien mobilisiert wurden, davon allerdings nur 525 über eine höhere Schulbildung (171 Personen) oder einen Volksschulabschluss (354 Personen) verfügten. Die verbleibenden eingezogenen Südtiroler hatten den Schulbesuch vorzeitig ohne Abschluss abgebrochen. Zudem desertierten 49 Südtiroler, die diese Bildungsgrade erreicht hatten, nach ihrer Einberufung.42 Die deutschsprachige Gruppe, die aufgrund ihrer Literalität in der Lage gewesen wäre, ein Tagebuch zu verfassen, war also äußerst klein.

2011 wurde schließlich im Buchbestand des Südtiroler Landesmuseums für Volkskunde in Dietenheim ein bemerkenswerter historischer Quellenbestand entdeckt. Es handelte sich dabei um das Tagebuch von Andrä Ralser43, der 1935/1936 den Feldzug Italiens gegen Abessinien miterlebte und seine Erlebnisse darin notierte. Dieses einzigartige Dokument44 steht im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Folgende von den aktuellen Diskursen der Kulturwissenschaften geleitete Fragestellungen sollen an das Tagebuch herangetragen werden:

1. Welche Kriegserfahrungen machte der Diarist? Wie nahm er den veränderten Kriegsalltag wahr? Welche Formen von Gewalt nahm er wahr? Wie deutete er den Krieg und stiftete sich und seinem Handeln Sinn? Welche Überlebensstrategien legte er sich zurecht?

2. Wie nahm er das Fremde am afrikanischen Kontinent wahr? Wie stellte er die Landschaft, die Tier- und Pflanzenwelt sowie die Bevölkerung und ihre Kultur dar?

3. Wie nahm er seine Position als Angehöriger einer deutschsprachigen Minorität in einer italienischen und faschistischen Armee wahr? Wie gestaltete er seine eigene Identität? Welche Selbst- und Fremdbilder konstruierte er?

Ziel ist es schließlich, durch die Beantwortung der angeführten Fragen jene Südtiroler „Kriegermentalität“45 zu rekonstruieren, die der Diarist Andrä Ralser in sein Tagebuch – bewusst oder unbewusst – hineinprojizierte und damit gleichzeitig einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Mentalitätsgeschichte des Abessinienkrieges zu leisten.

Um das Tagebuch überhaupt einer wissenschaftlichen Bearbeitung zuführen zu können, war es anfangs nötig, den Text, der vom Schreiber in der deutschen Kurrentschrift abgefasst wurde, zu transkribieren. Er wurde im Folgenden ebenfalls ediert, um ihn auch für weitere Forschungsvorhaben durch Dritte, die über diese Arbeit hinausgehen, nutzbar zu machen (Kapitel 7). Erst durch diese Aufbereitung war es möglich, das Tagebuch zu analysieren. Ein umfangreiches Methodik-Kapitel (Kapitel 2) sorgt für das nötige theoretische Fundament der Analyse. Darin wird deutlich, wie das edierte Selbstzeugnis für eine qualitative (und quantitative) Untersuchung fruchtbar gemacht werden kann und welche Bedingungen dabei zu beachten sind. Methodisch orientiert sich die Analyse dabei am Zeitschichten-Modell von Thiemo Breyer und Daniel Creutz,46 die dieses in Anlehnung an die Überlegungen von Reinhart Koselleck47 entwickelten. Zentral ist dort die Annahme, dass einer Analyse (Kapitel 5) ein Abschnitt vorgeschaltet werden muss, der die Biografie des Tagebuchschreibers umreißt, da die sozialisierenden Bedingungen der Vorkriegszeit bewusstseinsprägend wirkten und so quasi als Filter für später gemachte Erfahrungen fungierten.48 Die Rekonstruktion der Biografie (Kapitel 3) eines „kleinen Mannes“49 ist darüber hinaus nur über einen quellenpluralistischen Zugang zu leisten. Hier wurde auf Archivmaterialien aus den Landesarchiven in Bozen und Innsbruck, dem Staatsarchiv in Bozen, des Weiteren auf Briefkorrespondenzen und eine Chronik aus dem Privatarchiv der Familie sowie auf Dorf- und Vereinschroniken zurückgegriffen. Um noch mehr Details zu erfahren, wurde außerdem eine der Töchter Andrä Ralsers, die sich dankenswerterweise zur Verfügung stellte, interviewt.50 Die Rekonstruktion der Biografie darf sich dabei nicht mit der Perspektive „von unten“ zufrieden geben.51 Es ist notwenig, die historische Person ebenso auf makrogeschichtlicher Ebene zu verorten. Dazu stehen zahllose Monografien, von Überblickswerken bis hin zu Detailstudien, zur Verfügung, die sich mit der Südtiroler Historie des 20. Jahrhunderts beschäftigen.52 Der vorliegenden Arbeit reicht der Überblick von Rolf Steininger.53 Nur an Stellen, an denen es dienlich erscheint, wird auf weitere Sekundärliteratur zurückgegriffen. Beispielsweise war die ausführliche Studie von Oswald Überegger über „Freienfeld unterm Liktorenbündel“54, die die Italianisierung von Andrä Ralsers Heimatregion thematisiert, von großem Nutzen.

Die Analyse des Tagebuchs (Kapitel 5) bildet den Schwerpunkt der Arbeit und gliedert sich nach der Diskussion von formalen, sprachlichen, inhaltlichen und funktionellen Aspekten (Kapitel 4) nach den hier einleitend formulierten, forschungsleitenden Fragestellungen. Der Konklusion am Ende (Kapitel 6) kommt die Aufgabe zu, die zentralen Erkenntnisse in aller gebotenen Kürze zusammenzufassen und damit die Arbeit abzuschließen. In Kapitel 7 stehen das edierte Tagebuch und die Editionsrichtlinien zur Lektüre zur Verfügung. Bei der Edition wurde der Grundsatz verfolgt, dass der Text möglichst buchstabengetreu belassen werden sollte. Nur wenn die Verständlichkeit des Geschriebenen zu stark beeintächtigt schien, wurde eingegriffen. Im Anhang findet sich das Quellen- und Literaturverzeichnis. Des Weiteren sind dort ein Glossar mit den wichtigsten militärischen Fachtermini, eine Übersicht über die Zusammenstellung der italienischen Armee, Kartenmaterial sowie ein Personen- und Ortsregister beigefügt.

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1 Vgl. Aram MATTIOLI, Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941. Mit einem Vorwort von Angelo Del Boca (Kultur – Philosophie – Geschichte. Reihe des Kulturwissenschaftlichen Instituts Luzern 3), Zürich 2005, 14.

2 Vgl. Nicola LABANCA, Erinnerungskultur, Forschung und Historiografie zum Abessinienkrieg, in: Zwischen Duce und Negus. Südtirol und der Abessinienkrieg 1935–1941 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 22), hg. von Gerald Steinacher, Bozen 2006, 33–58, hier 33.

3 Vgl. MATTIOLI, Experimentierfeld (wie Anm. 1) 14–15.

4 Vgl. ebda., 16.

5 Vgl. Giulia BROGINI KÜNZI, Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg? (Krieg in der Geschichte 23), Paderborn 2006, 22.

6 Vgl. LABANCA, Erinnerungskultur (wie Anm. 2) 36–37.

7 Vgl. Indro MONTANELLI, Ambesä. Racconto, Milano 1938; ders., Guerra e pace in AO. Firenze 1937; ders., XX battaglione eritreo, Milano 1936.

8 Vgl. BROGINI KÜNZI, Kolonialkrieg oder Totaler Krieg (wie Anm. 5) 22.

9 Vgl. MATTIOLI, Experimentierfeld (wie Anm. 1) 16–18; LABANCA, Erinnerungskultur (wie Anm. 2) 36, 53.

10 Vgl. BROGINI KÜNZI, Kolonialkrieg oder Totaler Krieg (wie Anm. 5) 31–33; MATTIOLI, Experimentierfeld (wie Anm. 1) 20; Nicola LABANCA, Oltremare. Storia dell’espansione coloniale italiana (Storica paperbacks 31), Bologna 2002, 504. Für die italienische Historiografie vgl. etwa: Giampiero CAROCCI, Storia d’Italia dall’unità ad oggi (Biblioteca di storia contemporanea, testi e saggi 7), Milano 1975; Giorgio CANDELORO, Il fascismo e le sue guerre (Storia dell’Italia moderna 9), Milano 1981; Angelo DEL BOCA, Gli Italiani in Africa Orientale, Band 1–4, Bari-Roma 1976–1984; für die jüngere Zeit: Alberto DE BERNARDI, Una dittatura moderna. Il fascismo come problema storico (Testi e pretesti), Milano 2001.

11 Vgl. BROGINI KÜNZI, Kolonialkrieg oder Totaler Krieg (wie Anm. 5) 43; Gerald STEINACHER, Vorwort, in: Zwischen Duce und Negus. Südtirol und der Abessinienkrieg 1935–1941 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 22), hg. von Gerald Steinacher, Bozen 2006, 9–12; I gas di Mussolini. Il fascismo e la guerra d’Etiopia, hg. von Angelo Del Boca, Roma 1996; ders., Italiani, brava gente? Un mito duro a morire, Vicenza 2005; ders., La guerra d’Etiopia. L’ultima impresa del colonialismo, Milano 2010; Giorgio ROCHAT, Le guerre italiane 1935–1943. Dall’Impero d’Etiopia alla disfatta (Einaudi storia 5), Torino 2005; Nicola LABANCA, Una guerra per l’impero. Memorie della campagna d’Etiopia 1935–1936, Bologna 2005.

12 Marco LENCI, L’Eritrea e l’Etiopia nell’esperienza di Indro Montanelli, in: Studi piancentini 33 (2003) 205–231.

13 Alessandro TRIULZI, Displacing the Colonial Event: Hybrid Memories of Postcolonial Italy, in: National Belongings. Hybridity in Italian Colonial and Postcolonial Cultures (Italian Modernities 7), hg. von Jacqueline Andall / Derek Duncan, Oxford u. a. 2010, 23–40, hier: 23–24; eine Auswahl für die neuere Forschungsliteratur im anglophonen Raum: Revisioning Italy. National Identity and Global Culture, hg. von Beverly Allen / Mary Russo, Minneapolis-London 1997; A Place in the Sun. Africa in Italian Colonial Culture from Post-Unification to the Present, hg. von Patrizia Palumbo, Berkeley 2003; Italian Colonialism. Legacy and Memory, hg. von Jacqueline Andall / Derek Duncan, Oxford 2005; Italian Colonialism, hg. von Ruth Ben-Ghiat / Mia Fuller, New York-Basingstoke 2005; vgl. außerdem die Sonderausgabe des Journals Italian Studies 61 (2006) 2, 173–300.

14 Aurelio LEPRE / Claudia PETRACCONE, Storia d’Italia. Dall’unità a oggi (Storica paperbacks 88), Bologna 2008, 219; Übersetzung: „schnelle Eroberung“.

15 Vgl. MATTIOLI, Experimentierfeld (wie Anm. 1) 21.

16 LEPRE / PETRACCONE, Storia d’Italia (wie Anm. 14) 219; Übersetzung: „brutale Methoden“.

17 Vgl. ebda., 221.

18 Vgl. hier etwa: Manfred FUNKE, Sanktionen und Kanonen. Hitler, Mussolini und der internationale Abessinienkonflikt 1934–36 (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 2), 2. Auflage Düsseldorf 1971; Thomas KACZA, Äthiopiens Kampf gegen die italienischen Kolonisten 1935–1941 (Geschichtswissenschaften 31), Pfaffenweiler 1993; Gerhard FELDBAUER, Mussolinis Überfall auf Äthiopien. Eine Aggression am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, Bonn 2006.

19 Vgl. etwa: Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941 (Italien in der Moderne 13), hg. von Asfa-Wossen Asserate / Aram Mattioli, Köln 2006.

20 Vgl. BROGINI KÜNZI, Kolonialkrieg oder Totaler Krieg (wie Anm. 5).

21 Vgl. MATTIOLI, Experimentierfeld (wie Anm. 1).

22 Im Folgenden ist mit dem Begriff ‚Südtiroler‘ ausschließlich die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols benannt. ‚Südtirol‘ bezeichnet das südlich des Alpenhauptkammes gelegene deutschsprachige Gebiet des ehemaligen Kronlandes Tirol, das nach dem Ersten Weltkrieg von Italien annektiert und in Alto Adige umbenannt wurde.

23 Vgl. Zwischen Duce und Negus. Südtirol und der Abessinienkrieg 1935–1941 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 22), hg. von Gerald Steinacher, Bozen 2006.

24 Vgl. STEINACHER, Vorwort (wie Anm. 11) 9–10.

25 Vgl. Martin HANNI, Der Abessinienkrieg in der Erinnerung Südtiroler Soldaten – Bericht zu einem Forschungsprojekt, in: Zwischen Duce und Negus. Südtirol und der Abessinienkrieg 1935–1941 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 22), hg. von Gerald Steinacher, Bozen 2006, 241–256.

26 Vgl. Gerald STEINACHER / Ulrich BEUTTLER, Aus der Sicht des Soldaten: Fotoalben von Südtiroler Kriegsteilnehmern, in: Zwischen Duce und Negus. Südtirol und der Abessinienkrieg 1935–1941 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 22), hg. von Gerald Steinacher, Bozen 2006, 87–194.

27 Vgl. Legionari. Un sudtirolese alla guerra di Spagna = Ein Südtiroler im Spanischen Bürgerkrieg 1936– 1939, hg. von Andrea Di Michele / Marina Miquel / Margarida Sala, Rovereto 2007; Heinz DEGLE, Erlebte Geschichte. Südtiroler Zeitzeugen erzählen ... 1918–1945, Bozen 2009; Andrea DI MICHELE, Sudtirolesi in guerra. La memoria delle campagne d’Etiopia e di Spagna, in: Geschichte und Region / Storia e Regione 25 (2016) Heft 2, in Vorbereitung zum Druck.

28 Vgl. Sigrid WISTHALER, Karl Außerhofer – Das Kriegstagebuch eines Soldaten im Ersten Weltkrieg (alpine space – man & environment 8), 2. Auflage Innsbruck 2011, 1, 7.

29 Wolfram WETTE, Militärgeschichte von unten, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten (Serie Piper 1420), hg. von Wolfram Wette, 2. Auflage München-Zürich 1995, 9–50.

30 Vgl. Eckart HENNING, Selbstzeugnisse. Quellenwert und Quellenkritik, Dillenburg 2012, 8–9.

31 Michael EPKENHANS / Stig FÖRSTER / Karen HAGEMANN, Einführung: Biographien und Selbstzeugnisse in der Militärgeschichte – Möglichkeiten und Grenzen, in: Militärische Erinnerungskulturen. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen (Krieg in der Geschichte 29), hg. von Michael Epkenhans / Stig Förster / Karen Hagemann, Paderborn-München-Wien u. a. 2006, IX–XVI, hier XII.

32 Für den Begriff vgl. etwa: Visual History. Ein Studienbuch, hg. von Gerhard Paul, Göttingen 2006.

33 Vgl. EPKENHANS / FÖRSTER / HAGEMANN, Einführung (wie Anm. 31) XII.

34 Vgl. WISTHALER, Außerhofer (wie Anm. 28) 7–8.

35 Vgl. LABANCA, Erinnerungskultur (wie Anm. 2) 34.

36 Vgl. WISTHALER, Außerhofer (wie Anm. 28) 8.

37 Vgl. ARCHIVIO LIGURE DELLA SCRITTURA POPOLARE in Genua; http://www.dafist.unige.it/?page_id=1528 [Abruf: 22.12.2015].

38 Vgl. ARCHIVIO DELLA SCRITTURA POPOLARE in Trient; http://fondazione.museostorico.it/index.php/ Archivi-e-collezioni/Fondi-e-collezioni/Archivio-della-scrittura-popolare [Abruf: 22.12.2015]; Quinto ANTONELLI, Das Archiv für populare Selbstzeugnisse (Archivio della scrittura popolare) und die neue sozial- und mentalitätsgeschichtliche Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg, in: Zwischen Nation und Region. Weltkriegsforschung im interregionalen Vergleich. Ergebnisse und Perspektiven (Tirol im Ersten Weltkrieg 4), hg. von Oswald Überegger, Innsbruck 2004, 153–162.

39 Vgl. Diario d’Anonimo „H“, http://www.trentinocultura.net/asphttp://www.trentinocultura.net/asphttp://www.trentinocultura.net/asphttp://www.trentinocultura.net/asp_cat/main.asp?IDProspettiva=8&TipoVis ta=Scheda&IdObj=33092&Pag=1&IdSel=2 [Abruf: 22.12.2015]. Dieses Tagebuch wurde zum Gegenstand einer kleinen Analyse: vgl. Irene GUERRINI, Esotismo, conquista coloniale ed introspezione personale nel diario di un marinaio di leva, in: I luoghi della scrittura autobiografica popolare. Atti del 3. seminario nazionale: Rovereto 1–3 dicembre 1989 (Materiali di lavoro 1–2), hg. von Gian Luigi Fait / Camillo Zadra, Rovereto 1990, 117–123.

40 Vgl. Nicola LABANCA, Coscritti in colonia. Appunti in tema di percezione dell’Africa e scrittura popolare, in: Materiali di lavoro – Atti del 3. Seminario Federazione Asp 1/2 (1990) 93–115; Giulietta STEFANI, Maschi in Colonia. Gli italiani in Etiopia, in: Genesis II/2 (2003) 33–52; Carla GHEZZI, Famiglia, patria e impero: essere donna in colonia, in: I sentieri della ricerca. Rivista di storia contemporanea 3 (2006) 91–129.

41 Vgl. Un ragazzo calabrese alla conquista dell’Impero. Lettere e appunti per un diario mai scritto, 1934– 1936, hg. von Antonio Milano, Cosenza 2005; Faccetta nera e la regina di Saba: Africa Orientale. Il diario di un antropologo alle soglie della seconda guerra mondiale, hg. von Marcos Cei, Firenze 2007; Luca Stefano CRISTINI, Cieli d’Abessinia. Ricordi e „scatti“ di un volontario nella guerra d’Etiopia (War in colour 1), Bergamo 2010; Passato d’Africa. La Guerra d’Etiopia nel diario di Goffredo Orlandi Contucci (Collona di studi diplomatici. Storia, memorie, saggi 31), hg. von Antonio Orlandi Contucci, Catanzaro 2011.

42 Vgl. Thomas OHNEWEIN, Südtiroler in Abessinien – Statistisches Datenmaterial, in: Zwischen Duce und Negus. Südtirol und der Abessinienkrieg 1935–1941 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 22), hg. von Gerald Steinacher, Bozen 2006, 269–272, hier 271.

43 Der Name des Tagebuchschreibers ist dem Autor bekannt. Auf Wunsch der Leihgeberfamilie wurde er allerdings anonymisiert und für die Lesbarkeit durch das Pseudonym „Andrä Ralser“ ersetzt.

44 Bislang (Stand: Dezember 2015) konnte erst ein weiteres vergleichbares Selbstzeugnis in Südtirol lokalisiert werden. Eine Bearbeitung desselbigen durch den Autor ist in Vorbereitung.

45 Manfried RAUCHENSTEINER, Kriegermentalitäten. Miszellen aus Österreich-Ungarns letztem Krieg, in: Frontwechsel. Österreich-Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich, hg. von Wolfram Dornik / Julia Walleczek-Fritz / Stefan Wedrac, unter Mitarbeit von Markus Wurzer, Wien-Köln-Weimar 2014, 49–68, hier 50; zum Begriff „Kriegermentalität“: RAUCHENSTEINER versteht unter dem Begriff „Krieger“ Soldaten, die an der Front eingesetzt wurden und Kampfaufträge ausführten, im Unterschied zu Soldaten, die an der Heimatfront oder im Etappenraum tätig waren. Unter „Mentalität“ versteht er die Denk- und Verhaltensmuster einer Person oder einer Gruppe.

46 Thiemo BREYER / Daniel CREUTZ, Historische Erfahrung. Ein phänomenologisches Schichtenmodell, in: Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung in Pränarrativen (Narratologia 23), hg. von Thiemo Breyer, Berlin 2010, 332–365.

47 Vgl. Reinhart KOSELLECK, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000.

48 Vgl. ebda., 267.

49 Vgl. WETTE, Militärgeschichte von unten (wie Anm. 29).

50 Vgl. Michael BOMMES, Gelebte Geschichte. Probleme der Oral History, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 12 (1982) Heft 47, 75–103; vgl. Josette COENEN-HUTHER, Das Familiengedächtnis. Wie Vergangenheit rekonstruiert wird (Edition discours 24), Konstanz 2002.

51 Anne Lipp, Diskurs und Praxis. Militärgeschichte als Kulturgeschichte, in: Was ist Militärgeschichte? (Krieg in der Geschichte 6), hg. von Thomas Kühne / Benjamin Ziemann, Paderborn-München-Wien u. a. 2000, 211–229, hier 218.

52 Vgl. etwa: Maria ViLLGRATER, Katakombenschule. Faschismus und Schule in Südtirol (Schriftenreihe des Südtiroler Kulturinstituts 11), Bozen 1984; Tirol und der Erste Weltkrieg (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 12), hg. von Klaus Eisterer / Rolf Steininger, Innsbruck-Wien-München u. a. 1995; Stefan LECHNER, „Die Eroberung der Fremdstämmigen“. Provinzfaschismus in Südtirol 1921– 1926 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 20), Innsbruck 2005; Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 23), hg. von Hermann Kuprian / Oswald Überegger, Innsbruck 2006; Andrea Di MICHELE, Die unvollkommene Italianisierung. Politik und Verwaltung in Südtirol 1918–1943 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 28), Innsbruck 2008; Die Operationszone Alpenvorland im Zweiten Weltkrieg (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 29), hg. von Andrea Di Michele / Rodolfo Taiani, Bozen 2009; Michael FORCHER, Tirol und der Erste Weltkrieg. Ereignisse, Hintergründe, Schicksale (Haymon Taschenbuch 164), Innsbruck-Wien 2014.

53 Zur Geschichte Südtirols im 20. Jahrhundert stehen mehrere Standardwerke zur Verfügung. Hier wurde im Speziellen auf Rolf STEININGER, Südtirol. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart (Haymon-Taschenbuch 125), 2. Auflage Innsbruck-Wien 2012, zurückgegriffen. Diese Taschenbuch-Ausgabe stellt die verkürzte Version der Monografie Rolf STEININGER, Südtirol im 20. Jahrhundert. Vom Leben und Überleben einer Minderheit, Innsbruck-Wien 1997, dar und ist für die vorliegende Arbeit völlig ausreichend. Für eine weitere Vertiefung vgl. etwa: Das 20. Jahrhundert in Südtirol, Band 1–3, hg. von Gottfried Solderer, Bozen 1999–2001.

54 Oswald ÜBEREGGER, Freienfeld unterm Liktorenbündel. Eine Fallstudie zur Geschichte der Südtiroler Gemeinden unter dem Faschismus, Innsbruck 1996.

2. Theoretische Verortung

2.1 Tagebücher als historische Quellen

Das Phänomen „Krieg“ verursacht grundsätzlich in den Biografien der Betroffenen durch sein Ausgreifen auf sämtliche Lebensbereiche einen markanten Bruch.55 Diese Tatsache ignorierend blieben Kriege lange Zeit Gegenstand der Politik- und Militärgeschichte, die sich diesen aus der Perspektive einer Ereignis- und Operationsgeschichte oder „Geschichte von oben“ annäherten.56 Das Kriegserleben des einfachen Mannschaftssoldaten, der in der militärischen Hierarchie auf der niedrigsten Stufe rangiert, fand dagegen keinerlei Beachtung. Er existierte zumeist lediglich im Plural und als anonyme Masse.57 Erst im Laufe der 1980er Jahre entdeckte die Geschichtswissenschaft ihr Interesse am „einfachen Menschen“ sowie an seinen Denk- und Verhaltensmustern.58 Ausschlaggebend dafür war der wachsende Einfluss der Kulturgeschichte, die erkannte, dass sich die Ausnahmesituation des Kriegszustandes als Untersuchungsfeld par excellence für kulturhistorische Fragestellungen eignete.59 Infolgedessen etablierte sich im deutschsprachigen Raum eine Alltags-, Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte nach angloamerikanischem Vorbild.60 Hinsichtlich der Methode, der Theorie und der Breite der Anwendbarkeit des Ansatzes ist in aller Kürze auf die Cultural Studies hinzuweisen. Sie trugen wesentlich zu diesem Paradigmenwechsel bei, hatten die Kulturwissenschaften bis zu diesem Punkt doch eher mit philosophisch-theoretischen und hochkulturellen Zugängen hantiert. Jedenfalls verstand sich dieser Ansatz als Pendant zur Ideologie-, Institutionen- und Sozialgeschichte, in denen der Mensch stets nur entweder als Entscheidungsträger oder in Form von Massen von Relevanz war.61 Zentral ist ihm die Forderung, Personen exemplarisch zu individualisieren62 und nach ihren Deutungen, Wertungen und sozialem Wissen zu fragen.63 Der Ausdruck der „Erfahrung“ wurde hierbei zum zentralen Schlüsselbegriff.64

Hand in Hand mit dieser neuen Blickrichtung ging die „Entdeckung“ neuer Quellen, die eine „Geschichte von unten“65 überhaupt erst ermöglichten. Dies sind inoffizielle und private Selbstzeugnisse wie Briefe, Memoiren, Autobiografien, Feldpostkarten und Tagebücher.66 Sie liefern Informationen über die Lebensumstände und Erfahrungen von „einfachen“ Menschen, die die Geschichte nicht prägten, sondern durchlebten.67 Im Spannungsfeld von Militär und Krieg können sie den Geschichtswissenschaften als Quelle für alltägliche Routinen dienen, die in offiziellen Dokumenten keinen Platz fanden, sowie als Informationsträger, die einen Eindruck davon geben, wie sich Kriege physisch und psychisch auf Individuen und ihr soziales Umfeld auswirkten. Schließlich geben sie Auskunft über kulturelle Deutungsmuster und Sinnzuweisungen und stellen Dokumente des kommunikativen (Tagebuch/Brief) und kulturellen (Autobiografie/Memoiren) Gedächtnisses dar.68 Dabei ist den aufgezählten Selbstzeugnissen einerseits allen gemein, dass sie in schriftlicher Form vorliegen. Andererseits weisen sie trotzdem höchst unterschiedliche Qualitäten auf.69 Wichtige Arbeiten aus den Literaturwissenschaften machten darauf aufmerksam, indem sie den Blick über das historische Subjekt ausweiteten und sowohl die Sprache als auch die Art und Weise der Erzählung in den Fokus nahmen.70

Dieser fundamentale Perspektivenwechsel manifestierte sich in den Geschichtswissenschaften in einer Reihe von Wenden wie dem linguistic, cultural, topographic, spatial, iconic etc. turn. So ist mittlerweile ein breiter methodischer und theoretischer Diskurs vorhanden, in dem sich die Selbstzeugnisse verorten lassen.71 Dies soll im Folgenden speziell für die Textsorte des (Kriegs-)Tagebuchs erfolgen, was besonders wichtig erscheint, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dieses erst bei einer gezielten methodischen Analyse zu einer aussagekräftigen Quelle zur Rekonstruktion von Kriegserfahrung und -wahrnehmung werden kann.72 Dabei erscheint es zunächst sinnvoll danach zu fragen, wie aus Erlebtem Erfahrenes werden kann und welche Selektionsmechanismen in diesem Prozess zu berücksichtigen sind. Erst im Anschluss daran soll die Textsorte als solche beschrieben und dabei von anderen Selbstzeugnissen unterschieden werden. Dies soll schließlich zu einer Einschätzung der Quellengattung hinsichtlich ihrer Authentizität und ihres Aussagewertes führen.

2.2 Methodische Überlegungen

Mittlerweile hat sich die Forschung vom Glauben distanziert, dass Tagebücher den Zugriff auf „authentische“ Kriegserlebnisse gewähren würden.73 Das Erlebte passiert nämlich zahlreiche Filter, sodass es im Text nur noch reduziert widergespiegelt wird.74 Folglich bedarf es der Bestimmung dieser Auswahlmechanismen, die auf ihre Wirkweisen hin abzuklopfen sind, um in der praktischen Analyse (Kapitel 5) darauf Rücksicht nehmen und so die sich im Tagebuch abbildende Mentalität freilegen zu können. Der Begriff „Mentalität“ ist dabei als Bündel von Verhaltens- und Denkmustern zu verstehen, die für ein Kollektiv zu einem bestimmten Zeitabschnitt prägend sind. Dabei geht es um Ängste, Hoffnungen, Glück, Tod, Gewalt, Krieg an sich, Religiosität, das Fremde und das Eigene, Raum, Natur und Umwelt etc.75

Für dieses Vorhaben erscheint das Zeitschichten-Modell von Thiemo Breyer und Daniel Creutz76, das sie in Anlehnung an die Überlegungen von Reinhart Koselleck77 entwickelten, nützlich zu sein. Ausgangspunkt Kosellecks sind zweierlei Prämissen: Einerseits stelle Krieg eine Zäsur da, auf die Erfahrungsschübe folgen, die sich abseits von Gewohntem manifestierten. Diese neuen Erfahrungen würden das Bewusstsein dazu nötigen, sie in den bereits vorhandenen Erfahrungshaushalt zu integrieren. Zweitens werde ein gemeinsam erlebter Krieg, auch wenn er in sämtliche Lebensbereiche ausgreife und so kaum jemanden nicht betreffe, von jedem Individuum der Gesellschaft auf eine andere Art und Weise erlebt. Koselleck führt fort, dass deshalb analytische Schnitte notwendig seien, um mögliche Gemeinsamkeiten und Differenzen des Erlebens zu lokalisieren. Zunächst sei es wichtig, das Kriegsgeschehen selbst von seinen Folgen zu separieren. In der Erinnerung würden diese Dimensionen zusammenfallen, weshalb analytisch zwischen synchronen Faktoren, die während des Krieges bereits ihre bewusstseinsprägende Wirksamkeit entfalteten, und diachronen Momenten, die erst durch die Kriegsfolgen entstanden und die Erfahrung retrospektiv verformten, unterschieden werden müsse.78 Für die vorliegende Arbeit sind letztere Gesichtspunkte zu vernachlässigen, da es sich beim Tagebuch Andrä Ralsers um eines handelt, in dem der Diarist zeitnah zum Erlebnis die gemachten Erfahrungen verschriftlichte (vgl. Kapitel 4.2).

Breyer und Creutz übernahmen diese Unterscheidung und konstruierten darauf aufbauend ein dreiteiliges Schichten-Modell, das davon ausgeht, dass historische Erfahrung dann entsteht und kulturgeschichtlich analysierbar wird, wenn zwei in der Erfahrung wirksame „Zeitschichten“ in Beziehung zueinander gestellt werden. Ebene 1 (Kurzfristigkeit) bündelt die Eigenheiten des Erfahrung-Machens. Ihr liegen Phänomene der Einzigartigund Unwiederholbarkeit des (Überraschungs-)Moments zugrunde. Mittelfristig knüpft die Person, die Erfahrung generiert, dabei an bereits vorhandene Erfahrungsgehalte an, die sich im Sozialisationsprozess, in der Adaption kultureller Vorgaben und generationeller Erfahrungsmuster sowie in der Habitualisierung von Verhaltens- und Deutungsweisen konstruieren. Diese zweite Stufe des Erfahrung-Habens bildet den Deutungshintergrund für die Ebene des Erfahrung-Machens. Die dritte Schicht bezieht sich dagegen auf eine langfristige Zeitspanne. Sie speist Elemente in den Erfahrungshaushalt, die die generationellen Trennlinien überschreiten. Sie entspringen erstens der biologisch-anthropologischen Grundausstattung des Menschen und zweitens der natürlich gegebenen Umwelt. Eine kulturelle Überformung selbiger geht nur äußerst langsam vonstatten.79

Für die vorliegende Arbeit sind speziell die ersten beiden Zeitschichten von Bedeutung, die in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander analysiert werden müssen. Die dritte spielt aufgrund des kurzen Untersuchungszeitraums keine tragende Rolle. Das Individuum macht auf kurzfristiger Ebene eine Erfahrung, die es mittelfristig an Haltungen anknüpft und vor dem Deutungshintergrund seiner kulturellen Sozialisation interpretiert. So entsteht laut Breyer/Creutz eine mögliche Mentalität für eine bestimmte Zeit. In diesen beiden Ebenen spiegeln sich schließlich die synchronen Faktoren der Bewusstseinsprägung Kosellecks wider. Sie helfen nun dabei, die Zeitschichten näher zu untersuchen.

Erstes synchron wirksames Element für die Bewusstseinsprägung ist das Kriegserlebnis selbst. Erlebnisse resultieren aus speziellen Ereignissen, in die der Betroffene involviert wurde, und können so zahlreich sein, wie es Menschen gibt, die sie erlebt haben (vgl. Ebene 1 bei Breyer/Creutz). Diese Erlebnisgehalte sind aufzustufen, das heißt nach übergeordneten Ähnlichkeiten zu ordnen, um Gemeinsamkeiten und Differenzen im Kriegserlebnis zu lokalisieren. Diese strukturierenden Erlebnisse können gemeinsame Bewusstseinslagen stiften. Beispiele solcher Ereignisstrukturen seien die Erfahrungen des Graben- und Bombenkrieges, der Trennung von der Familie und des Verlusts von materiellem Besitz und nahestehenden Personen etc.80