Für Günter Strohbach,

dem ich diese Geschichte verdanke

Vorspiel

Es war in einem Zug von Magdeburg nach Leipzig, in einem langsamen, schmutzigen, überfüllten Zug, wie sie zu jener Zeit, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, dreckigen schwarzen Rauch ausstoßend, überall durch Deutschland klapperten. Ich wohnte damals in der Nähe Hamburgs und fuhr zu einer Druckerei nach Leipzig.

Der Zug war so überfüllt, dass selbst draußen auf den Plattformen zwischen den Waggons die Leute sich drängten. Ich aber war ohne mein Zutun in ein Abteil hineingeraten, in dem außer mir nur ein einzelner Herr saß, der, was in jenen Tagen ungewöhnlich war, eine Sonnenbrille trug. Ich hatte beim Eintritt gedacht, es sei ein Diplomatenabteil, und mich zurückziehen wollen; aber der Herr hatte mich ausdrücklich hereingewinkt, und so saß ich nun ihm gegenüber am Fenster.

Er war ein etwas rundlicher Mann unbestimmten Alters, der einen dunklen Anzug anhatte. In seiner Brusttasche trug er ein blütenweißes Ziertaschentuch, dem, wie ich beim Näherkommen bemerkte, ein schwacher Nelkengeruch entströmte. Im Gepäcknetz über ihm ruhte ein schwarzer Koffer.

»Diese übervollen Züge sind etwas Schreckliches«, sagte er, als ich mich gesetzt hatte. »Sind Sie privat unterwegs?« Er sprach einen Akzent, den ich damals noch nicht kannte. Erst später kam ich darauf, dass es der Akzent der Italiener war.

Ich antwortete ihm, dass ich eigentlich mehr dienstlich unterwegs wäre. »Ich muss in Leipzig ein Buch korrigieren«, sagte ich.

»Ah«, sagte er, »Sie schreiben Bücher. Interessant. Ich hörte gerade, dass es Leute gibt, die davon leben, dass sie bestimmte Bücher nicht schreiben, die sie ursprünglich hatten schreiben wollen.«

»Und was für Leute sind das?«, fragte ich.

»Die Weisen, Wissenden, die Welt und Menschen durchschauen«, sagte er. »Sie lassen sich ihr Schweigen von den Mächtigen bezahlen, die keinen Wert darauf legen, dass Weisheit allgemein verbreitet wird.«

»Aber ist der, der käuflich ist, denn weise?«, fragte ich.

»Das kann man von verschiedenen Seiten sehen«, sagte der Herr. »Haben Sie schon zu Mittag gegessen?«

»Nein«, sagte ich, »aber ich habe Brote dabei.«

Der Herr winkte ab. »Die lassen Sie ruhig in Ihrer Aktentasche«, sagte er. »Ich darf Sie doch zum Essen einladen, nicht wahr?«

Das alles war zu jener Zeit in Deutschland ungewöhnlich, dieses fast leere Abteil, die Sonnenbrille, der feine Anzug und nun in einem dreckigen, überfüllten Zug diese förmliche Einladung zu einem Mittagessen, die ich natürlich annahm, schon deshalb, weil ich neugierig war, wie uns durch das Menschengedränge ein Mittagessen gebracht werden sollte.

Es wurde uns aber tatsächlich ein Mittagessen gebracht, wenn auch auf etwas ungewöhnliche Weise. Plötzlich nämlich überholte uns ein rot-gelber, anscheinend dieselbetriebener Schienenwagen, ein elegantes Fahrzeug zu jener Zeit. Dieser Schienenwagen fuhr nun in gleicher Geschwindigkeit neben uns her. Ein breites Fenster, durch das ich in einen Speisewagen hineinsehen konnte, blieb auf der Höhe unseres Fensters, das der Herr, der mich zum Mittagessen eingeladen hatte, nun öffnete. Da öffnete man in dem Schienenwagen ebenfalls das Fenster und reichte uns ein großes Tablett herüber, das wegen des Fahrtwindes mit einem ovalen hohen Deckel aus schwerem Hotelsilber zugedeckt war. Zusammen mit dem Herrn nahm ich es in Empfang. Dann setzten wir es vorsichtig auf den beiden Fenstertischen vor uns ab.

Danach wurden in beiden Wagen die Fenster wieder geschlossen. Und nun hatte ich, als der Herr den Deckel auf eine ausgebreitete Zeitung neben sich gelegt hatte, tatsächlich das versprochene Mittagessen vor mir, ein Mittagessen, wie ich es jahrelang nicht gesehen, geschweige denn gegessen hatte.

Als Vorspeise gab es gebutterten Toast, mit Räucherlachsscheiben belegt, danach für jeden einen halben Hummer mit Mayonnaise, hierauf Orangenente mit Petersilienkartoffeln und schließlich Halbgefrorenes mit Nüssen und geraspelter Schokolade. Dazu tranken wir einen trockenen weißen Wein aus Dalmatien, und für den Abschluss des Mahls stand Mokka in einem Silberkännchen bereit, den der Herr mir und sich in winzige Porzellantassen einschenkte.

Beim Essen sprachen wir fast nichts. Ich aß mit Andacht und mit Schweigen und war froh, dass vor die Scheiben zum Gang hin, wo sich die Leute drängten, Gardinen gezogen waren, sodass uns niemand beim Essen zugucken konnte. Wer in Deutschland konnte in jenen Tagen denn so üppig speisen?

Nach dem Essen überfiel mich eine bleierne Müdigkeit. Mein Gastgeber, der das bemerkte, sagte: »Ruhen Sie ein wenig. Nach dem Essen sollst du ruhn oder tausend Schritte tun. Und da sich tausend Schritte hier schwerlich tun lassen, empfehle ich die Ruhe.«

Ich konnte mich gerade noch für das so ungewöhnliche und reiche Mahl bedanken, als mir die Lider schwer wurden und ich in Schlaf fiel.

Mir träumte nun, ich säße vor einer weißen Villa am Meer auf einer Terrasse. Vor mir auf dem blauen Wasser schaukelte eine Jacht, von der ich wusste, dass sie mir gehörte, und eine entfernte Stimme sagte: »Ein Haus am Meer und eine Jacht davor, dazu ein Bankkonto, das niemals leer wird, das alles gibt es, wenn man schweigen kann.«

Ich konnte mir im Traume keinen Reim auf die Bemerkung machen, und ich tat’s auch nicht, weil ich plötzlich durch ein Geräusch aufgeschreckt wurde und wieder erwachte. Es war das Brausen eines Zuges, das mich geweckt hatte. Der rot-gelbe Schienenwagen nämlich überholte uns wieder.

Als ich schlaftrunken die Augen öffnete und hinüberschaute zu dem Wagen, sah ich den Speisewagen wieder, in dessen Fenster gerade unser leer gegessenes Tablett verschwand, und in dem Speisewagen saß – ich sah’s verblüfft – der Herr aus meinem Abteil. Doch dann schob der rot-gelbe Wagen sich weiter vor, und ich erkannte, dass sich der Herr im Fenster nur gespiegelt hatte. Ich sah’s gerade noch, bevor der Wagen uns davonfuhr. Nun wandte ich den Kopf, und …

… und ich erschrak. Der Herr mir gegenüber war verschwunden. Auch der schwarze Koffer war nicht mehr da. Ich murmelte: »Eben hat er sich doch noch im Fenster des rot-gelben Wagens gespiegelt. Und spiegeln kann sich doch nur jemand, der vorhanden ist. Höchst seltsam.«

Dann schlief ich wieder ein und erwachte erst wieder, als plötzlich Leute in das Abteil hereindrängten.

Da kam’s mir vor, als wäre mein Erlebnis mit dem fremden Herrn ein Traum gewesen. Erst in Leipzig, als mir eine seltsame Geschichte erzählt wurde, ahnte ich, wer mein Gastgeber im Zug gewesen war.

Diese seltsame Geschichte aber will ich nun erzählen. Ich habe sie von einem Mann, den ich ganz unerwartet in der Druckerei in Leipzig traf. Ich kannte diesen Mann von früher. Als er ein junger Herr gewesen war und ich ein sechzehnjähriger Schüler, waren wir uns auf Helgoland begegnet, auf meiner kleinen Heimatinsel in der Nordsee. Es war im Hause unserer Nachbarin gewesen, im Haus der Tante Julie. Wir hatten dort das Abc, wie wir es damals nannten, »abgeklopft« und uns zwei Wochen lang sehr sinnreich unterhalten.

In der Druckerei in Leipzig hatten wir beide uns, trotz der Jahre, die seit der Abc-Abklopferei verflossen waren, gleich wiedererkannt.

»Du, Timm?«, hatte ich erstaunt gefragt.

Und der Mann, nicht minder erstaunt, hatte gefragt: »Du, Boy?« (Er nannte mich noch so, wie man mich auf der Insel Helgoland genannt hatte.) Dann hatten wir uns gegenseitig mit Fragen überschüttet, und einer war dem anderen ins Wort gefallen, um zu berichten, wie es ihm ergangen war. Ich hatte meinem Freunde Timm erzählt, dass wir von unserer kleinen Insel auf das große Festland hätten ziehen müssen; denn Bomben, wie er sicher wüsste, hätten die Inselhäuser allesamt zertrümmert. Timm hatte mir erzählt, er sei mit seinen Marionetten, mit denen er Theater spielte, bis Japan und Australien gereist. Er habe, erzählte er mir, auch ein Buch über Marionettenpuppen geschrieben. Um dieses Buch beim Druck zu überwachen, sei er hier.

»Und du«, fragte er mich, »was treibst denn du hier?«

»Ich muss ein Bilderbuch zum Notenlernen überwachen«, gab ich ihm zur Antwort. »Die Bilder, Noten, Verse und Geschichten in dem Buch müssen genau zusammenstimmen. Deshalb bin ich hier.«

»Dann sollten wir uns öfter sehen«, sagte Timm, und als er mir das sagte, rutschte ein Buch aus seiner Aktentasche. Ich sah es, bückte mich und hob es auf. Dabei stellte ich fest, dass es sich um den »Peter Schlemihl« handelte, eine Geschichte des Adelbert von Chamisso, die vom verkauften Schatten handelt. So sagte ich, als ich das Buch zurückgab: »Ich bin nach einer ähnlichen Geschichte auf der Suche. Du selbst hast sie mit deinen Puppen schon gespielt, wenn ich nicht irre. Ich suche aber den wirklichen Jungen, dem sie wirklich passiert ist. In Övelgönne hat man mir erzählt, er lebe noch.«

»Wie kamst du denn nach Hamburg-Övelgönne?«, fragte Timm erstaunt. »Ich kenne Övelgönne nämlich gut.«

»Ich kenne es nur flüchtig«, sagte ich. »Wir wohnten nach dem Kriege eine Zeit lang Övelgönne gegenüber, in Finkenwerder auf der anderen Seite der Elbe, bei einer Schwester meiner Großmutter. Von dort aus fuhren wir manchmal hinüber über die Elbe.«

»Aha«, sagte Timm. »Und in Övelgönne hat man dir sicherlich erzählt, die Geschichte vom verkauften Lachen sei einem wirklichen Jungen wirklich passiert. Diese Geschichte meinst du doch, stimmt’s?«

»Stimmt«, sagte ich. »Kennst du sie?«

»Ich kenne sie«, antwortete Timm. »Es ist aber eine lange Geschichte. Wie lange wirst du noch in Leipzig bleiben?«

»Zumindest eine Woche«, sagte ich. »Reicht das, um mir die Geschichte zu erzählen?«

»Ja«, sagte Timm, »das reicht.«

»Dann erzähl mir deine Geschichte.«

Timm lachte und erwiderte: »Ich weiß nicht, Boy, ob es meine Geschichte ist, wenn ich sie auch sehr oft gespielt habe; aber es könnte meine Geschichte sein, wie es die Geschichte so manches Jungen sein könnte. Ich werde dem Jungen daher meinen Namen geben, wenn es dir recht ist.«

»Nenn ihn, wie du willst«, sagte ich. »Sag ›ich‹ oder ›er‹, ganz wie es dir beliebt. Hauptsache, du erzählst mir seine Geschichte.«

»Gut«, sagte seufzend mein Freund Timm. »Einmal werde ich die Geschichte ja doch in aller Ausführlichkeit erzählen müssen. Warum also nicht hier und heute? Lass uns nach der Arbeit in das unbenutzte Korrektorenzimmer im Hinterhaus gehen. Du kennst es, hoffe ich.«

»Ja«, sagte ich, »ich kenne es. Treffen wir uns dort, wenn Feierabend in der Druckerei ist.«

Und in dem alten Korrektorenzimmer erzählte Timm mir sieben Tage lang die Geschichte vom verkauften Lachen. Nach jeder Sitzung ging ich rasch in mein Hotel und schrieb, was ich gehört hatte, auf leere Rückseiten von aussortierten Druckbogen, weshalb ich die Geschichte auch in Bogen gliedern werde, die aber schlicht Kapitel sind.

Und hier folgt nun, gegliedert und geglättet, die Geschichte.

Der erste Tag, an dem erzählt wird,

wie der kleine Timm Thaler aufwächst, wie ihn ein großes Unglück trifft, wie sich sein Leben dadurch völlig ändert und wie er mit einem karierten Herrn einen merkwürdigen Vertrag abschließt.

 

Als Timm und ich uns am ersten Tag unserer Arbeit nach Feierabend trafen, in einem staubigen Korrektorenzimmer im Hinterhaus der Druckerei, das nicht mehr benutzt wurde, machten wir es uns hier in zwei alten, aber leidlich wohlerhaltenen Sesseln bequem, und Timm begann, mir die Geschichte vom verkauften Lachen zu erzählen:

Erster Bogen Ein armer kleiner Junge

In den großen Städten mit den breiten Straßen gibt es hintenhinaus heute noch Gassen, die so eng sind, dass man sich durch die Fenster von einer Seite zur anderen die Hand reichen kann. Wenn fremde Besucher, die viel Geld und viel Gefühl haben, zufällig in so eine Gasse geraten, dann rufen sie: Wie malerisch! Und die Damen seufzen: Wie idyllisch und romantisch!

Aber das Idyllische und Romantische sind großer Humbug; denn hintenhinaus wohnen Leute, die wenig Geld haben. Und wer in einer großen reichen Stadt wenig Geld hat, wird grämlich, neidisch und nicht selten zänkisch. Das liegt nicht nur an den Leuten, sondern auch an den Gassen.

Der kleine Timm kam mit drei Jahren in so eine enge Gasse. Seine lustige, rundliche Mutter war gestorben, und der Vater musste, da es zu jener Zeit wenig Arbeit gab, auf den Bau gehen. So zogen Vater und Sohn von der hellen Erkerwohnung am Rande des Stadtparks in die Gasse mit dem Kopfsteinpflaster, in der es beständig nach Pfeffer, Kümmel und Anis roch; denn in dieser Gasse befand sich die einzige Gewürzmühle der Stadt. Bald darauf bekam Timm eine dürre, mausgesichtige Stiefmutter und dazu einen Pflegebruder, der frech, verwöhnt und käsebleich war.

Timm war trotz seiner drei Jahre schon ein kräftiger kleiner Bursche, der besonders hübsch lachte und der einen Ozeandampfer aus Küchenstühlen oder ein Auto aus Sofakissen ganz selbstständig regieren konnte. Seine verstorbene Mutter hatte Tränen gelacht, wenn Timm mit Kissen und Stühlen seine großen Reisen zu Wasser und zu Lande unternahm und immerzu »tuff, tuff, tuff, Ameerika« rief. Aber seine Stiefmutter prügelte ihn dafür. Und das konnte er nicht begreifen.

Auch den Stiefbruder Erwin begriff er schwer; denn der bewies seine brüderliche Liebe dadurch, dass er den kleinen Timm mit Brennholz bewarf oder dass er ihn mit Ruß oder Tinte oder Pflaumenmus beschmierte. Das Allerunbegreiflichste aber war, dass hinterher nicht Erwin, sondern Timm dafür bestraft wurde. Über all diesen Unbegreiflichkeiten in der Gassenwohnung verlernte Timm beinahe das Lachen. Nur wenn der Vater zu Hause war, ertönte noch sein kleines drolliges Gelächter mit dem Schlucker am Schluss.

Leider war der Vater jetzt meistens unterwegs, weil er auf einem weit entfernten Bau Arbeit gefunden hatte. (Vor allem deshalb, damit Timm nicht allein war, hatte er ja ein zweites Mal geheiratet.) Nur sonntags war er noch mit seinem Söhnchen zusammen. Dann nahm er den kleinen Timm bei der Hand und sagte zu der Stiefmutter: »Wir gehen spazieren.«

In Wirklichkeit ging er aber zur Pferderennbahn, wo er mit dem bisschen Geld, das er sich heimlich erspart hatte, auf Pferde wettete. Er hoffte, dabei eines Tages so viel Geld zu gewinnen, dass er mit seiner Familie die enge Gasse verlassen und wieder in eine hellere Wohnung ziehen könne. Natürlich war seine Hoffnung auf Wettglück vergeblich – wie bei den meisten Menschen. Er verlor beinahe regelmäßig, und wenn er doch einmal gewann, dann reichte der Gewinn knapp für ein paar Leckereien und ein Sonntagsbier und eine Straßenbahnfahrt.

Der kleine Timm hatte am Wettkampf der Pferde und Reiter wenig Vergnügen. Das alles war so weit von ihm entfernt und brauste viel zu schnell an ihm vorbei. Obendrein standen immer viel zu viele Menschen vor ihnen, sodass der Junge selbst von der Schulter des Vaters aus Mühe hatte, die Rennbahn zu überblicken.

Aber wenn Timm sich um die Pferde und die Reiter auch nicht kümmerte, so begriff er doch sehr bald, was es mit den Wetten auf sich hatte: Fuhren sie mit der Straßenbahn in die Stadt zurück und er bekam eine Rolle Drops, dann hatte der Vater gewonnen. Setzte der Vater ihn hingegen auf die Schulter und sie gingen ohne Drops und zu Fuß nach Haus, dann hatten sie verloren.

Aber ob sie verloren oder gewannen, war dem Jungen ganz egal. Er fand es auf den Schultern des Vaters genauso lustig wie in der Straßenbahn, eigentlich sogar noch lustiger.

Und die Hauptsache war, dass sie allein waren und dass Sonntag war und dass Erwin und die Stiefmutter weit, weit fort waren, als ob es sie überhaupt nicht gäbe.

Aber an sechs Wochentagen gab es die beiden leider doch. Dann ging es Timm genauso wie den Kindern in den Märchen, die schlimme Stiefmütter haben. Nur war es für Timm noch ein bisschen schlimmer; denn ein Märchen ist ein Märchen, das auf Seite eins beginnt und spätestens auf Seite zwölf zu Ende ist. Aber so eine tägliche Plackerei, und obendrein jahrelang, die will durchgestanden sein. Wenn es die Sonntage nicht gegeben hätte, dann wäre Timm aus lauter Trotz wahrscheinlich ein richtiger frecher Rotzjunge geworden. Doch weil es zum Glück die Sonntage gab, blieb er ein Junge, der sich freuen konnte und der sein Lachen nicht verlor, ein Lachen, das tief aus dem Bauch heraufzukommen schien und mit einem Schlucker endete.

Leider war dieses Lachen selten geworden. Timm wurde verschlossen und stolz, ganz unglaublich stolz.

So setzte er sich gegen die Stiefmutter zur Wehr, die sich bei ihm über die geringste Kleinigkeit giftete, wenn sie es manchmal auch nicht so böse meinte.

Als Timm zur Schule kam, freute er sich. Hier war er von früh bis Mittag weit von seiner Gasse entfernt, viel weiter als die paar Hundert Meter, die die Entfernung in Wirklichkeit betrug. Hier fing er im ersten Schuljahr auch wieder vergnügt zu lachen an; und das versöhnte die Lehrer mit manchen kleinen Sünden des Jungen. Timm bemühte sich jetzt sogar, seiner Stiefmutter zu gefallen. Wenn sie ihn ausnahmsweise einmal lobte, weil er zehn Pfund Kartoffeln allein nach Haus geschleppt hatte, dann war er selig, hilfsbereit und butterweich.

Doch kaum kam der nächste ungerechte Verweis, da wurde er wieder verschlossen und spielte den Stolzen. Dann war er nicht mit Zangen anzufassen.

Dieses launenvolle Wechselspiel zwischen ihm und der Stiefmutter hatte für die Schule üble Folgen. Timm, der viel flinkere Gedanken hatte als manches andere Kind, bekam dennoch schlechtere Noten als diese Kinder. Und das lag an seiner Zerstreutheit beim Unterricht. Und es lag an seinen Schularbeiten.

Es war nämlich schwierig für ihn, Schularbeiten zu machen. Kaum saß er mit seiner Tafel am Küchentisch, kam die Stiefmutter und schickte ihn in das Kinderschlafzimmer. Hier aber war das Reich seines Stiefbruders Erwin, der dem Kleinen keine Minute Ruhe ließ. Entweder wollte er mit Timm spielen und wurde böse, wenn der Kleine nicht mitmachte, oder er benötigte den Tisch für seinen Stabilbaukasten, sodass für Timm kein Platz zum Schreiben blieb. Einmal hatte Timm den Stiefbruder aus gerechtem Zorn in die Hand gebissen. Aber das war nicht gut für ihn abgelaufen. Die Stiefmutter hatte über der blutenden Hand Zeter und Mordio geschrien und Timm einen Heimtücker genannt. Selbst der Vater hatte beim Abendbrot kein Wort mit ihm gesprochen. Seitdem hatte Timm den Kampf gegen den verhätschelten Stiefbruder aufgegeben und heimlich im Elternschlafzimmer seine Schularbeiten gemacht. Aber Erwin kam dahinter und verriet ihn; denn eines der Gebote in der Gassenwohnung hieß: Im Schlafzimmer der Eltern haben Kinder nichts zu suchen!

Nun musste Timm zusehen, wie er in der wenig erfreulichen Gesellschaft Erwins seine Schularbeiten erledigte. Machte der Stiefbruder ihm wieder einmal den einzigen kleinen Tisch des Zimmers streitig, setzte Timm sich auf das Bett und schrieb auf dem Nachtschrank. Aber sehr aufmerksam konnte er weder am Tisch noch auf dem Nachtschränkchen arbeiten. Nur mittwochs, wenn Erwin am Nachmittag Unterricht hatte, konnte der Junge seine Hausaufgaben so sorgfältig machen, wie er sie zu machen wünschte, um dem Lehrer zu gefallen; denn der kleine Kerl, der so hübsch lachen konnte, wollte mit seiner Umwelt in freundlichem Einklang leben.

Bedauerlicherweise gefielen seine Schularbeiten dem Lehrer von Jahr zu Jahr weniger. »Ein heller Kopf, aber faul und unkonzentriert«, sagte der Lehrer. Er konnte nicht ahnen, dass der Junge sich seinen Platz für die Schularbeiten tagtäglich neu erkämpfen musste. Und Timm erzählte es ihm nicht, weil er überzeugt war, es sei dem Lehrer bekannt. So kam Timm auch in der Schule wieder einmal zu dem traurigen Schluss, dass das Leben unbegreiflich sei und dass alle Erwachsenen – mit Ausnahme seines Vaters – ungerecht wären.

Aber auch dieser einzige Gerechte verließ ihn. Vier Jahre nach dem Schulbeginn, vier Jahre nachdem der Junge sich mühsam von Klasse zu Klasse weitergeschleppt hatte, wurde der Vater auf dem Bau von einem herabstürzenden Brett erschlagen.

Das war das Allerunbegreiflichste in Timms Leben. Er begriff nicht, dass es einem fallenden Brett erlaubt war, so Schreckliches anzurichten. Zuerst weigerte er sich einfach, daran zu glauben. Erst am Tage der Beerdigung, als die erregte, verheulte Stiefmutter ihn ohrfeigte, weil er vergessen hatte, ihre Schuhe zu putzen, erst an diesem Tage begriff er, wie allein er jetzt war.

Denn der Tag der Beerdigung war ein Sonntag.

Erst an diesem Tage begann Timm zu weinen. Er weinte über sich und über den Vater und über die Welt, und unter dem Weinen hörte er die Stiefmutter zum ersten Mal sagen: »Entschuldige, Timm, ich meinte es nicht so.«

Die Stunde auf dem Friedhof war wie ein schlechter Traum, den man schnell vergessen möchte und von dem nur eine wirre, unbehagliche Erinnerung zurückbleibt. Timm hasste all die Menschen, die herumstanden und redeten und sangen und das Vaterunser beteten. Auch ärgerte und erregte ihn das schluchzende Geplapper seiner Stiefmutter, wenn jemand ihr sein »tief empfundenes Beileid« aussprach. Er wollte die Trauer um seinen Vater für sich allein haben. Und als die Versammlung sich auflöste, benutzte er die Gelegenheit, um ganz einfach davonzulaufen.

Er irrte ziellos durch die Straßen, und als er am Rande des Stadtparks an jener Erkerwohnung vorbeikam, in der er als ganz kleiner Junge gelacht und »tuff, tuff, tuff, Ameerika« gerufen hatte, kam ihn ein solches Jammergefühl an, dass ihm beinahe übel davon wurde. Aus dem Fenster seines ehemaligen Kinderzimmers sah ein fremdes Mädchen heraus, das eine teure, kostbar angezogene Puppe im Arm hielt. Als sie Timms Blicke bemerkte, streckte sie ihre Zunge heraus, und Timm ging rasch weiter.

»Wenn ich sehr viel Geld hätte«, dachte er unter dem Herumirren, »dann würde ich eine große Wohnung mit einem eigenen Zimmer für mich mieten, und Erwin bekäme jeden Tag Taschengeld von mir, und die Mutter könnte einkaufen, was sie wollte.« Aber das war ein Traum, und Timm wusste es.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, war er jetzt unterwegs zur Pferderennbahn, die er an den glücklichen Sonntagen mit seinem Vater zusammen besucht hatte, als der Vater noch lebte.

Zweiter Bogen Der karierte Herr

Das erste Rennen näherte sich gerade seinem Höhepunkt, als Timm zur Pferderennbahn kam. Die Zuschauer brüllten und pfiffen, und immer öfter und immer lauter ertönte der Name »Ostwind«.

Timm stand da und atmete schwer, und das hatte zwei Gründe. Erstens war er gelaufen, und zweitens schien ihm plötzlich, irgendwo zwischen diesen schreienden, lärmenden Leuten müsse sein Vater stehen. Er hatte mit einem Male das Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Dies war der Ort, an dem er mit dem Vater allein gewesen war. Ohne Stiefmutter. Und ohne Erwin. Alle Sonntage mit dem Vater waren in dieser Menschenmenge, in diesem Lärmen und Schreien versammelt. Es gab keinen Friedhof mehr und keine Tränen. Timm fühlte sich merkwürdig ruhig, beinahe heiter. Als die Menge der Zuschauer plötzlich aufjubelte und wie aus einem Munde der Name »Ostwind« aufklang, lachte Timm sogar sein drolliges Lachen mit dem Schlucker am Schluss. Er erinnerte sich nämlich an eine Bemerkung seines Vaters, der gesagt hatte: »Ostwind ist noch jung, Timm, zu jung vielleicht; aber eines Tages wird man von ihm sprechen.«

Und jetzt sprach man von »Ostwind«; aber der Vater hatte es nicht mehr erlebt. Timm wusste selbst nicht, warum er darüber hatte lachen müssen. Aber er dachte auch nicht darüber nach. Er war noch nicht in dem Alter, in dem man sich über sich selbst viel Gedanken macht.

Ein Herr in Timms Nähe, der das drollige Lachen gehört hatte, drehte mit einem Ruck den Kopf und betrachtete den Jungen aufmerksam. Er strich sich nachdenklich das lange Kinn und ging dann kurz entschlossen auf den Jungen zu, aber so, dass er haarscharf an Timm vorübereilte und ihm dabei auf den Fuß trat.

»Verzeihung, Kleiner«, sagte er dabei. »Es war nicht meine Absicht.«

»Das macht nichts«, lachte Timm. »Ich habe sowieso staubige Schuhe.« Dabei warf er einen Blick auf seine Füße und sah plötzlich vor sich auf dem Rasen ein blankes Fünfmarkstück liegen. Der Herr war weitergeeilt, und niemand stand in Timms Nähe. Da setzte der Junge rasch einen Fuß auf die Münze, sah sich misstrauisch um, tat, als wolle er seine Schnürsenkel binden, hob schnell und verstohlen das Geldstück auf und ließ es in die Tasche gleiten.

Betont langsam schlenderte Timm weiter, als ein langer dürrer Herr in einem karierten Anzug auf ihn zutrat und fragte: »Na, Timm, willst du wetten?«

Der Junge sah verstört zu dem Unbekannten auf. Er bemerkte nicht, dass es derselbe Herr war, der ihn kurz zuvor auf den Fuß getreten hatte.

Der Fremde hatte einen Mund wie ein Strich und eine schmale Hakennase, unter der ein ganz dünner schwarzer Schnurrbart saß. Über stechenden, wasserblauen Augen hatte er eine Ballonmütze tief in die Stirn gezogen. Und die Mütze war so kariert wie der Anzug des Unbekannten.

Timm fühlte, als der Herr ihn so unvermittelt ansprach, einen Kloß in der Kehle. »Ich … ich habe kein Geld zum Wetten«, brachte er schließlich stockend hervor.

»Doch, du hast fünf Mark«, sagte der Fremde. Dann fügte er in leichtem Ton hinzu: »Ich sah zufällig, wie du das Geld fandest. Falls du damit wetten willst, nimm diesen Schein. Ich habe ihn schon ausgefüllt. Ein todsicherer Tipp.«

Timm, der abwechselnd blass und rot geworden war, bekam jetzt im Gesicht langsam seine natürliche Farbe zurück, eine Art Haselnussbraun (ein Erbteil seiner Mutter). Er sagte: »Kinder dürfen nicht wetten, glaube ich.« Und wieder sprach er mit Stocken.

Aber der Fremde ließ nicht locker. »Dieser Rennplatz«, sagte er, »ist einer der wenigen, auf denen Kindern das Wetten nicht ausdrücklich verboten ist. Ich gebe zu, dass es auch nicht ausdrücklich erlaubt ist; aber immerhin gestattet man es. Also, Timm, wie denkst du über meinen Vorschlag?«

»Ich kenne Sie ja gar nicht«, sagte Timm leise. (Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Herr ihn mit seinem Vornamen angeredet hatte.)

»Aber ich weiß sehr viel von dir«, erklärte der Fremde. »Ich kannte deinen Vater.«

Das gab den Ausschlag. Zwar konnte der Junge sich schwer vorstellen, dass sein Vater mit einem so merkwürdig feinen Herrn Umgang gehabt hatte; aber da der Fremde Timms Namen wusste, musste er wohl in irgendeiner Form mit dem Vater bekannt gewesen sein.

Nach kurzem Zögern nahm Timm den ausgefüllten Wettschein an, holte das Fünfmarkstück aus seiner Tasche und ging zum Schalter. Das zweite Rennen wurde gerade durch Lautsprecher angekündigt. Deshalb rief der Fremde: »Mach schnell, ehe der Schalter geschlossen wird. Du wirst sehen, ich bringe dir Glück!«

Der Junge gab dem Fräulein am Schalter Geld und Schein und bekam einen Wettabschnitt zurück. Als er sich wieder dem unbekannten Herrn zuwenden wollte, war der verschwunden.

Das zweite Rennen begann, und das Pferd, auf das Timm gesetzt hatte, gewann mit fünf Längen Vorsprung. Der Junge erhielt am Schalter so viele Geldscheine, wie er sie noch nie auf einem Haufen gesehen hatte. Wieder wurde er abwechselnd blass und rot. Aber diesmal vor Freude und Stolz. Strahlend zeigte er jedermann seinen Gewinn.

Aber es ist merkwürdig, wie nah Freude und Traurigkeit beieinander wohnen. Plötzlich musste Timm wieder an seinen Vater denken, den sie heute begraben hatten und der niemals so viel Geld gewonnen hatte. Die Augen des Jungen wurden feucht, und gegen seinen Willen begann er vor allen Leuten zu weinen.

»He, Kleiner, wenn man so viel Glück hat wie du, dann weint man doch nicht«, sagte plötzlich eine Stimme neben ihm. Es war eine kehlige knarrende Männerstimme.

Durch einen Schleier von Tränen sah Timm einen Mann mit einem zerknitterten Gesicht und einem ebenso zerknitterten Anzug. Links neben dem Mann sah ein langaufgeschossener rothaariger Bursche auf Timm herunter. Rechts stand ein kleiner fein gekleideter Herr mit einer Glatze, der den Jungen teilnahmsvoll musterte.

Die Männer schienen zusammenzugehören; denn alle drei fragten fast gleichzeitig, ob er nicht mit ihnen zusammen eine Limonade trinken wolle, um sein Wettglück zu feiern.

Timm, dem die Freundlichkeiten und die glücklichen Umstände gerade an diesem Sonntag ganz unerwartet kamen, nickte, schluckte noch einmal und sagte dann: »Ich möchte dahinten im Garten sitzen!« Dort hatte er nämlich oft mit seinem Vater zusammen Limonade getrunken.

Die drei Männer sagten: »Gut, Junge, gehen wir in den Garten«, und setzten sich mit Timm in den Schatten einer dicken alten Kastanie.

Der Fremde, dem der Junge sein Wettglück verdankte, zeigte sich nicht mehr. Und Timm vergaß ihn bald; denn die drei Männer am Tisch, die für sich selbst Bier und für den Jungen Waldmeister-Limonade bestellt hatten, munterten den glücklichen Gewinner mit den erstaunlichsten Späßen auf. Der lange Rothaarige balancierte ein Glas Bier auf der Nase, ohne dass ein Tropfen verschüttet wurde; der Mann mit dem zerknitterten Gesicht und dem zerknitterten Anzug zog aus einem Kartenspiel immer genau die Karte heraus, die Timm aufs Geratewohl nannte; und der kleine Herr mit der Glatze machte Zauberkunststücke mit Timms Geldscheinen. Er wickelte sie in ein Taschentuch, knüllte das Tuch fest zusammen, faltete es wieder auseinander und da – war das Geld verschwunden.

Der Glatzkopf kicherte und sagte: »Greif mal in deine linke Rocktasche, Junge!« Timm tat es und fand dort zu seinem Erstaunen das ganze Geld wieder.

Dies war wirklich ein merkwürdiger Sonntag. Noch um zwei Uhr war Timm grenzenlos unglücklich durch die Stadt geirrt, und jetzt, um fünf Uhr nachmittags, lachte er so oft und so herzlich wie selten in der letzten Zeit. Mehrere Male verschluckte er sich sogar vor Lachen. Seine drei neuen Freunde gefielen ihm. Er war sehr stolz, drei erwachsene Bekannte gefunden zu haben, die überdies lauter seltene Berufe ausübten. Der zerknitterte Mann war ein Gelddrucker, der Rothaarige war Fachmann für Handtaschen und der Glatzkopf nannte sich Buchmacher oder Büchermacher; Timm hatte das nicht so genau verstanden.

Als er beim Kellner großspurig die Zeche bezahlen wollte, winkten die drei lächelnd, aber entschieden ab. Der kleine Herr mit der Glatze beglich die Rechnung. Er bezahlte auch Timms Limonade, sodass der Junge, als er sich von seinen neuen Freunden verabschiedete, noch den ganzen Gewinn in der Tasche hatte.

Kurz bevor Timm in die Straßenbahn einsteigen wollte, tauchte plötzlich der karierte Herr wieder vor ihm auf. Er sagte ohne jede Einleitung: »Timm, Timm, was bist du für ein dummer Junge! Jetzt hast du keinen Pfennig mehr.«

»Irrtum, mein Herr«, lachte Timm. »Hier ist mein Gewinn.« Er zog das Notenbündel aus der Tasche, zeigte es dem Fremden, zögerte kurz und sagte dann: »Es gehört Ihnen.«

»Das Geld in deiner Hand ist keinen Pfifferling wert«, sagte der Fremde verächtlich.

»Aber ich habe es am Schalter bekommen«, rief Timm. »Ganz bestimmt.«

»Am Schalter, mein Junge, hast du gutes Geld bekommen. Aber die drei Männer im Garten haben es dir todsicher gegen falsches Geld umgetauscht. Ich kenne sie. Leider sah ich dich zu spät in ihrer Gesellschaft, Timm. Ehe ich dazukommen konnte, hatten sie sich aus dem Staube gemacht. Es sind Gauner.«

»Ausgeschlossen, mein Herr! Der eine ist Fachmann für Handtaschen …«

»Jawohl, Timm, ein Taschendieb!«

»Ein Taschendieb?«, fragte der Junge verwirrt. »Und was macht der Drucker, der Geld druckt?«

»Er druckt falsches Geld.«

»Und der Dritte, der Büchermacher?«

»Ist ein sogenannter Buchmacher, aber einer, der unerlaubte Wetten veranstaltet.«

Timm wollte es nicht glauben, bis der karierte Herr seiner Brieftasche einen Geldschein entnahm und ihn mit einem von Timms Scheinen verglich. Tatsächlich fehlten bei den Banknoten des Jungen, wenn man sie gegen das Licht hielt, die Wasserzeichen.

»Siehst du nun, dass ich recht habe, Timm?«

Der Junge nickte benommen. Dann warf er plötzlich alle Geldscheine zu Boden und trampelte wütend darauf herum. Ein alter Herr, der gerade vorbeiging, machte große Augen, blickte abwechselnd den Jungen, das Geld und den karierten Herrn an und rannte dann plötzlich davon, als sei der Teufel hinter ihm her.

Der Fremde sagte eine Weile gar nichts. Dann zog er fünf Mark aus der Tasche, gab sie dem verdutzten Timm und forderte ihn auf, am nächsten Sonntag damit wiederzukommen. Dann entfernte er sich rasch.

Warum wettet er eigentlich nicht selber?, dachte Timm. Aber dann vergaß er die Frage wieder, steckte das Geld ein und ging zu Fuß heim in die Gassenwohnung. Die falschen Scheine ließ er auf der Straße liegen.

Merkwürdigerweise prügelte ihn die Stiefmutter nicht, obwohl er sehr spät heimkam und obwohl es der Begräbnistag des Vaters war, an dem er sich davongestohlen hatte. Nur erhielt er kein Abendessen mehr und wurde fast wortlos ins Bett geschickt. Erwin durfte noch aufbleiben und bei den Begräbnisgästen sitzen, die Timm stumm und seltsam anstarrten.

Auf diesen absonderlichen Sonntag folgte eine lange, traurige Woche, in der Timm wieder wie sonst Prügel bekam und in der ihn der Lehrer noch öfter als üblich ermahnen musste. Der Junge überlegte ständig, ob er am folgenden Sonntag wieder zur Rennbahn gehen solle oder nicht. Die fünf Mark hatte er Erwins wegen in einer Mauerritze des Nachbarhauses versteckt. Immer wenn er daran vorbeiging, musste er lachen, ob er wollte oder nicht. Der Gedanke, vielleicht noch einmal beim Wetten zu gewinnen, machte ihm Spaß.

Dritter Bogen Gewinn und Verlust

Als der langersehnte Sonntag da war, wusste Timm schon in der Frühe, dass er am Nachmittag wieder zur Pferderennbahn gehen würde. Kaum schlug die Wanduhr im Wohnzimmer dreimal, als er sich aus der Wohnung stahl, die fünf Mark aus der Mauerritze fingerte und wie ein Besessener zur Pferderennbahn lief.

Am Eingang rannte er gegen einen Herrn an, der niemand anders als der karierte Fremde war.

»Hoppla«, sagte der Herr. »Du kannst es wohl nicht erwarten?«

»Ich bitte um Entschuldigung!«, pustete Timm.

»Macht nichts, Junge. Ich habe dich erwartet. Hier ist der Wettschein. Hast du die fünf Mark?«

Timm nickte und holte das Geldstück aus der Tasche.

»Schön, mein Junge. Dann geh zum Schalter und wette. Wenn du gewinnen solltest, erwarte mich nachher hier am Eingang. Ich möchte etwas mit dir besprechen.«

»In Ordnung, mein Herr.«

Timm wettete also wieder, und als das Rennen zu Ende war, hatte er genau wie am Sonntag zuvor eine Menge Geld gewonnen.

Aber diesmal verließ er den Schalter schnell wieder, ohne irgendjemandem seinen Gewinn zu zeigen. Er stopfte die Geldscheine in die Innentasche seiner Jacke, versuchte ein möglichst gleichgültiges Gesicht zu machen und verließ die Rennbahn durch ein Loch im Zaun. Mit dem karierten Herrn wollte er nicht wieder zusammentreffen. Der Mensch war ihm ein bisschen unheimlich geworden. Überdies hatte der Fremde ihm das Geld und den Wettschein ja geschenkt. Er war ihm also nichts schuldig.

Hinter der Rennbahn lag eine Wiese, auf der verstreut einige Eichen standen. Timm legte sich hinter dem Stamm der dicksten Eiche ins Gras und dachte darüber nach, was er mit seinem Reichtum beginnen könnte. Er wollte sich damit alle Leute zu Freunden machen, die Stiefmutter, den Stiefbruder, den Lehrer und die Schulfreunde. Und dem Vater wollte er einen Stein aus Marmor auf das Grab setzen lassen. Darauf sollte in Goldbuchstaben geschrieben stehen: »Von deinem Sohn Timm, der dich nie vergisst.«

Sollte dann immer noch Geld übrig sein, wollte Timm sich einen Tretroller kaufen, wie ihn der Sohn vom Bäcker hatte, mit einer Hupe und Luftreifen.

Der Junge fing mit offenen Augen zu träumen an, bis er darüber müde wurde und einschlief.

An den karierten Herrn hatte er nicht mehr gedacht. Wenn er ihn jetzt gesehen hätte, wäre er sicher verwundert gewesen; denn der merkwürdige Fremde unterhielt sich gerade mit den drei Männern, die den Jungen am Sonntag zuvor eingeladen und beschwindelt hatten.

Zu seinem Glück – oder besser: zu seinem Unglück – sah Timm ihn nicht. Er schlief.

Eine scharfe Stimme weckte ihn wieder auf. Es war die Stimme eben jenes karierten Herrn. Er stand zu Timms Füßen auf der Wiese, sah den Jungen an und fragte nicht gerade freundlich: »Ausgeschlafen?«

Timm nickte, noch benommen vom Schlaf, richtete sich auf und tastete vorsichtshalber die Tasche seines Jacketts von außen ab. Sie fühlte sich merkwürdig leer an. Schnell fuhr der Junge mit der Hand in die Tasche hinein und war plötzlich hellwach: Die Jackentasche war wirklich leer. Das Geld war verschwunden.

Der karierte Herr grinste.

»Ha-ha-haben Sie das Geld?«, stotterte Timm.

»Nein, du Schlafmütze! Das Geld hat einer der drei Gauner, mit denen du vorigen Sonntag gezecht hast. Er ist dir nachgeschlichen. Es scheint mein Schicksal zu sein, dass ich immer zu spät komme. Als er mich kommen sah, rannte er weg. Dadurch habe ich dich entdeckt.«

»Wohin ist er gelaufen? Wir müssen die Polizei holen.«

»Ich mag keine Blauröcke«, sagte der Fremde. »Sie sind mir nicht fein genug. Und der Gauner ist sowieso schon über alle Berge. Aber jetzt steh endlich auf, Junge! Und dann, marsch, nach Haus. Und komm nächsten Sonntag wieder.«

»Ich glaube, ich werde nicht wieder hierherkommen«, meinte Timm. »So oft hat man kein Glück. Ich weiß das von meinem Vater.«

»Man sagt, Glück und Pech kommen immer dreimal hintereinander, Timm. Und du wolltest dir doch sicherlich einige Sachen kaufen, stimmt’s?«

Timm nickte.

»Nun, das alles kannst du haben, wenn du nächste Woche wiederkommst und ein Geschäft mit mir machst.«

Der Unbekannte sah auf seine Uhr und schien es plötzlich sehr eilig zu haben. »Auf Wiedersehen am nächsten Sonntag«, sagte er. Dann ging er schnell davon.

Mit krausen Gedanken im Kopf wanderte Timm nach Haus, wo ihn eine Tracht Prügel und die Schadenfreude seines Stiefbruders erwarteten.

Und wieder schlich eine lange Woche durch die Gasse. Aber in dieser Woche war Timm erstaunlich munter. Obwohl der karierte Herr ihm nicht geheuer schien, war er fest entschlossen, ein Geschäft mit ihm zu machen. Denn ein Geschäft, dachte der Junge, ist etwas Ordentliches und Gesetzliches. Da bekommt man keine Reichtümer für ein gefundenes Fünfmarkstück, sondern jeder gibt und nimmt etwas und jedem steht sein Teil zu. Es ist vielleicht merkwürdig, dass ein Junge im fünften Schuljahr so etwas denkt; aber in den engen armen Gassen, wo man sparen muss, um leben zu können, lernen schon die Kinder, Geld und Geschäfte wichtig zu nehmen.

Der Gedanke an den folgenden Sonntag half Timm über alle Verdrießlichkeiten der Woche hinweg. Manchmal überlegte er sich, ob der Vater den karierten Herrn vielleicht gebeten habe, auf Timm achtzugeben, falls ihm etwas zustoßen sollte. Aber dann schien ihm, dass der Vater sich dafür wohl einen netteren, freundlicheren Herrn ausgesucht hätte.

Trotz allem: Timm war zu dem Geschäft mit dem Fremden bereit, und der Gedanke daran machte ihm Spaß. Er lachte plötzlich wieder sein altes Kinderlachen. Und allen Leuten gefiel das Lachen. Er hatte mit einem Male mehr Freunde als je zuvor.

Es war kurios: Dieser Junge, der sich durch angestrengte Hilfsbereitschaft keine Freunde hatte schaffen können, dieser selbe Junge gewann durch nichts als sein Lachen beinahe jedermann zum Freund; zumindest mochte man ihn gern. Man verzieh ihm jetzt sogar Unarten, die man vorher getadelt hatte. So musste Timm mitten in einer Rechenstunde plötzlich daran denken, wie er vor lauter Eifer gegen den karierten Herrn angerannt war. Bei dieser Erinnerung lachte er unvermittelt sein kullerndes Lachen mit dem Schlucker am Schluss. Gleich darauf, als ihm das Ungehörige seines plötzlichen Lachens bewusst wurde, nahm er vor Schreck eine Hand vor den Mund. Aber der Lehrer war weit davon entfernt, mit ihm zu schimpfen. Das Gelächter kam so unerwartet und wirkte so drollig, dass die ganze Klasse lachen musste, einschließlich des Lehrers. Der hob nur den Finger und sagte: »Lachkanönchen sind die einzigen Kanonen, die ich schätze, Timm. Aber lass deine Salven nicht gerade in der Stunde los.«

Nun wurde Timm das »Lachkanönchen« genannt, und es gab Mitschüler, die in den Pausen nur noch mit ihm spielen wollten. Selbst die Stiefmutter und Erwin wurden jetzt manchmal von Timms Lachen angesteckt.

Es war unbegreiflich, was der karierte Herr mit Timm angestellt hatte, aber diese neue Unbegreiflichkeit wurde dem Jungen nicht bewusst.

Trotz mancher bitteren Erfahrung in der Gassenwohnung war er noch ein Kind, das arglos und ohne Misstrauen war. Er merkte nicht, dass sein Lachen den Leuten gefiel und dass er dieses Lachen seit dem Tode des Vaters verborgen hatte wie ein Geizhals seinen Reichtum. Er meinte in seinen kindlichen Gedanken, die Erfahrungen und Erlebnisse auf der Rennbahn hätten ihn klüger gemacht und deshalb käme er jetzt mit aller Welt so gut aus. Hätte er damals schon gewusst, wie kostbar sein Lachen war, ihm wäre vieles in seinem Leben erspart geblieben. Aber er war eben noch ein Kind.