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Richard Auer, Jahrgang 1965, studierte Diplom-Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt und hielt der Stadt auch danach die Treue. Mit seiner Frau und drei Söhnen sowie Kater Lorenzo wohnt er mitten in der barocken Altstadt und arbeitet seit über fünfundzwanzig Jahren als Lokalredakteur im Altmühltal. »Altmühlhexen« ist der sechste Fall für Oberkommissar Morgenstern.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: frau.L./photocase.de

Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-218-2

Originalausgabe

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EINS

Mike Morgenstern stand von Anfang an auf verlorenem Posten – er wusste, dass dieser Kampf nicht zu gewinnen war. Sogar beim bundesweiten Schüler-Malwettbewerb der Volks- und Raiffeisenbanken zum Thema »Deutschland Märchenland« hatten seine Kinder es im Rahmen ihrer künstlerischen Freiheit fertiggebracht, liebevolle Katzenporträts aufs Papier zu bringen und nicht etwa Hänsel und Gretel.

Seit Wochen winkten der neunjährige Marius und der siebenjährige Bastian mit jedem verfügbaren Zaunpfahl, um ihren Eltern klarzumachen, dass sie sich nichts sehnlicher wünschten als eine Katze. Vergeblich hatte Mike Morgenstern argumentiert, ein solches Haustier sei eine große Verantwortung, schränke die Urlaubsmobilität der Familie in Form von Camping am Lago Maggiore ein und werde gewiss viel Kummer bereiten. Ebenso fruchtlos waren die Einwände seiner Gattin Fiona, die regelmäßige Reinigung des unvermeidbaren Katzenklos werde am Ende gewiss in ihre Zuständigkeit fallen, wozu sie überhaupt keine Lust habe. »Basta!«

Das letzte Wort hatten dann aber doch die Kinder – und das war der Grund, warum Mike Morgenstern, Oberkommissar der Kriminalpolizei Ingolstadt, an diesem Sonntag, dem Vorabend von Bastians Geburtstag, in seinem uralten Land Rover von Eichstätt über Ingolstadt Richtung Osten in die Gemeinde Pförring an der Donau fuhr.

Neben ihm saß sein Kollege und Partner, Oberkommissar Peter Hecht, den er auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums aufgelesen hatte, und rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her. »Das gibt doch bloß Probleme«, murmelte er zum wiederholten Mal.

»Nun freu dich doch, das wird bestimmt prima«, gab Morgenstern zurück und klang dabei alles andere als glaubwürdig. Unwirsch drückte er aufs Gaspedal, was freilich den betagten Geländewagen nicht ernsthaft beflügeln konnte.

Die beiden waren auf Empfehlung einer Sekretärin aus dem Polizeipräsidium Oberbayern Nord auf dem Weg zur »Katzenfrau von Ettling«, einer Dame, die auf den Bauernhöfen der Umgebung junge Katzen einsammelte und an vertrauenswürdige Tierfreunde in der Region weitervermittelte. Morgenstern hatte bereits zwei Tage zuvor bei ihr angerufen, sich über den aktuellen Katzenbestand informiert und dann den Kollegen Hecht mit ins Boot geholt. Hecht, unglücklich geschieden, saß nach Morgensterns Einschätzung abends einsam in seinem Haus in Schrobenhausen, blätterte sich zum hundertsten Mal durch den »Hausschatz der deutschen Balladen« – eines seiner Steckenpferde – und konnte deswegen ein bisschen tierische Gesellschaft dringend brauchen. Die »Katzenfrau« Katja Hartinger hatte sich am Telefon glücklich gezeigt, gleich zwei ihrer kleinen Schützlinge in gute, wenn auch derzeit noch unerfahrene Hände abgeben zu können.

Das Problem war allerdings: Sie war nicht da, als die beiden Kommissare an der Tür ihres unscheinbaren Hauses am Dorfrand läuteten. Sie schien den Termin vergessen zu haben.

»Außer Spesen nichts gewesen«, sagte Hecht – und wirkte erleichtert.

»Ohne Katze brauche ich gar nicht heimzukommen«, stellte Morgenstern verärgert klar. »Morgen ist der Geburtstag von Bastian. Fiona bringt mich um, wenn ich mit leeren Händen dastehe.«

Eine ältere Frau mit einer kleinen Emaille-Milchkanne in der Hand trödelte den Gehweg entlang und sah die beiden ratlosen Männer vor der Tür stehen. »Wenn Sie die Katja suchen: Die ist draußen an der Kelsbachquelle. Ich habe gesehen, wie sie mit dem Fahrrad hingefahren ist.« Sie deutete Richtung Westen. »Einfach die Straße entlang. Am Dorfrand, gegenüber vom Steinbruch, da steht ein Feldkreuz. Direkt unterhalb ist die Quelle. Da geht sie gern zum Baden.«

Die Frau tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. »Heiß genug ist es ja heute. Es kommt bestimmt noch ein Gewitter. Und das im September!«

Wie zur Bestätigung war von Westen leichtes Donnergrollen zu hören.

»Sie holen sich gewiss eine Katze?«, fragte die Frau neugierig und kam mit ihrer Milchkanne näher heran.

»Nein, zwei«, sagte Morgenstern. »Wir haben eigentlich einen Termin vereinbart.« Er schaute auf die Uhr. Es war schon sieben Uhr vorbei.

»Da nimmt es die Katja nicht so genau. Wissen Sie, die ist ein wenig eigen. Ich meine, wer badet denn sonst im eiskalten Kelsbach?« Sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Wenn Sie mich fragen, die hat nicht alle Tassen im Schrank.«

»Wir fragen Sie aber nicht«, sagte Hecht kurz angebunden. »Wir haben nämlich eine Empfehlung von einer Kollegin bekommen.«

»Wie Sie wollen.« Die alte Frau latschte beleidigt von dannen, und die Kommissare setzten sich wieder in den Land Rover, um die Quelle am Dorfrand zu suchen.

Morgenstern parkte den Wagen direkt neben dem Ortsschild in einer abgemähten Wiese. An deren Ende ging es bei einem hölzernen Wegkreuz mit vergoldeter Christusfigur steil eine mit Gebüsch und Bäumen bewachsene Böschung hinab. Unten lag, kreisrund, ein grünlich schimmernder Weiher. Morgenstern und Hecht, die neben dem Kreuz standen, hörten zuerst nur Geplätscher, dann summte eine Frauenstimme eine kleine Melodie. Sie stiegen mühsam die Böschung hinab, scheuchten dabei einen Fasan auf, der panisch die Flucht durch die Büsche ergriff, und sahen die »Katzenfrau« splitterfasernackt.

Die beiden Kommissare standen wie erstarrt da und beobachteten das Schauspiel: Etwa dreißig Jahre alt, heller Teint, mit langen roten Haaren, stand die Frau in der Mitte des nur knietiefen Weihers und schöpfte Wasser mit einem Becher, um es sich in großem Schwall über den Körper zu gießen – daher das Plätschern. Dann tauchte sie mit dem ganzen Körper unter, legte sich flach in den Weiher, um prustend wieder aufzutauchen und erneut Wasser zu schöpfen. Eine schöne Frau, stellte Morgenstern fest und konnte den Blick nicht abwenden.

Hecht, ähnlich fasziniert, fing sich als Erster wieder. »Da hätte der Wasserpfarrer Kneipp seine helle Freude dran«, sagte er. »Aber jetzt ist auch wieder genug.« Er rief etwas zu laut: »Hallo, hallohoh, Frau Hartinger!«

Die Frau stoppte das Geplätscher und schaute, gar nicht erschrocken und erst recht nicht verlegen, die beiden Männer an. »Kommen Sie wegen der Katzen?«, rief sie. »Das habe ich glatt vergessen. Kommen Sie ruhig her. Ich beiß schon nicht.«

»Also, so was habe ich auch noch nicht erlebt«, murmelte Morgenstern, aber er tat wie ihm geheißen.

Die Frau hatte ihre Kleidung und ein großes rotes Badehandtuch am Rand des Gewässers abgelegt und watete aus dem Wasser. »Könnten Sie mir mal das Handtuch geben?«, bat sie Morgenstern und schüttelte ihr Haar, dass die Tropfen bis zu den beiden Besuchern spritzten.

»Sicher doch«, sagte Morgenstern ungewohnt schüchtern. Hecht hielt sich vornehm im Hintergrund.

Während sich die Frau bedächtig abtrocknete und – endlich – in ihr ebenfalls bereitzuhaltendes geblümtes Sommerkleid schlüpfte, bemühte sich Morgenstern um leichte Konversation. »Schön hier«, sagte er und deutete auf den Weiher. »Allerdings ziemlich flach. Und die Maschinenhalle vom Bauern muss man sich auch wegdenken.« In der Tat hatte ein Landwirt unmittelbar neben dem Tümpel eine moderne, holzverkleidete Vielzweckhalle errichtet.

»Eine ganz besondere Quelle«, sagte die Frau. »Sehen Sie, wie das Wasser hier überall aus dem Boden sprudelt?« Sie schlüpfte mit nassen Füßen in Turnschuhe. »Ein Kraftort.«

»Wie bitte?«

»Ein Kraftort. Ein Platz, an dem der Mensch eine besondere Nähe zu höheren Mächten spürt. Feel the spirit!«

»Aha.« Morgenstern machte keinen Hehl daraus, dass er hier nichts spürte außer der atemberaubenden Präsenz der grünäugigen Katja Hartinger. Und dazu noch den aufkommenden böigen Wind, der das erwartete Unwetter immer näher herantrieb. Das Donnergrollen verstärkte sich im Westen, über Ingolstadt zuckten erste Blitze.

Morgenstern wollte gehen, aber Hecht nun doch Genaueres wissen. »Was hat es mit dieser Quelle hier auf sich, Frau Hartinger?«

»Das Nibelungenlied. Kennen Sie das Nibelungenlied?«

Hecht nickte eifrig.

Mit leiser Stimme begann sie, eine altmodische Melodie zu singen: »Uns ist in alten maeren wunders vil geseit: von heleden lobebaeren, von grozer arebeit. Von freude und hochgeziten, von weinen unde klagen, von küener recken striten muget ir nu wunder hoeren sagen.« Erwartungsvoll sah sie die beiden Besucher an, als hoffe sie auf Applaus.

»Und?«, fragte Morgenstern.

»Nun lass sie doch erklären«, schalt ihn Hecht. »Das war der Anfang vom Nibelungenlied, du Banause. Das ist deutsche Hochkultur.«

Hartinger schloss für einen Moment versonnen die Augen. »Diese Quelle hier kommt im Nibelungenlied vor. Mittalter pur. Eine andere, ferne Zeit, eine andere Welt.«

»Ohne Maschinenhallen«, meinte Morgenstern spöttisch.

»Aber dafür war gleich da drüben eine Wasserburg.« Hartinger wies auf einen hinter Bäumen halb verborgenen Bauernhof. »Das Wasser aus der Quelle fließt daran vorbei und von dort immer weiter nach Pförring in die Donau.«

»Das Nibelungenlied«, sagte Balladenfreund Hecht. »Das muss ich dringend mal lesen. Ich glaube, das ist ziemlich lang.«

»Ja, und genau in der Mitte gibt es eine Szene, in der die Kelsbachquelle eine Rolle spielt. Hagen von Tronje findet genau hier zwei ›Weiße Weiber‹, weise Nixen, die ihm die Zukunft voraussagen. Sie verkünden ihm, dass alle Nibelungen beim Hunnenkönig sterben werden. Aber zuvor hat er ihnen die Kleider gestohlen.«

»Der Hunnenkönig?«, fragte Morgenstern.

»Nein, Hagen von Tronje hat den beiden Wasserfrauen die Kleider gestohlen und sie damit erpresst.«

»Ach so. Dann haben Sie also Glück gehabt, dass ich so ein formvollendeter Gentleman bin. Wegen Ihrem Kleid und Ihrem Handtuch.«

»Alles andere hätte Ihnen leidgetan«, sagte die Katzenfrau ohne nähere Begründung. »So viel kann ich Ihnen jederzeit vorhersagen. Und jetzt sollten wir schauen, dass wir nach Hause kommen. Es fängt gleich zu regnen an.«

Zu dritt gingen sie den Hügel hinauf zum Feldkreuz, Katja Hartinger setzte sich aufs Rad, und die beiden Kommissare fuhren ihr mit dem Auto im gemächlichen Tempo hinterher.

Gerade als sie am Haus ankamen und durch die Tür gingen, setzte ein Wolkenbruch ein. »Das war knapp«, sagte Morgenstern. Er schmunzelte. »Oder kennen Sie einen Wetterzauber, Frau Hartinger?«

»Sehr witzig«, sagte die Frau, während sie ihr nasses Handtuch über einen Wäscheständer im Flur hängte. »Aber kommen Sie doch mit ins Wohnzimmer. Mögen Sie einen Tee?«

Schon im Flur war Hartinger umringt von maunzenden Katzen jeder Größe, die ihr mit freudig in die Höhe gestreckten Schwänzen um die Beine schmeichelten und Futter und Zärtlichkeiten einforderten. Ein kleines, pechschwarzes Fellknäuel allerdings hatte sich spontan an Hechts Hosenbein geklammert und reckte sich so weit wie möglich nach oben.

»Na, du kleiner Racker«, sagte Hecht und hob das Tier hoch. Ein Lächeln ging über sein Gesicht, das Morgenstern so noch nie bei seinem Kollegen gesehen hatte. Während draußen unter Donnerschlägen und Blitzen der Regen zu rauschen begann, ging für Kriminaloberkommissar Hecht die Sonne auf.

»Wenn Sie wollen, dürfen Sie den gleich behalten«, sagte Hartinger. »Es ist ein Katerchen, er hat noch keinen Namen.« Es stamme von einem Bauernhof ganz in der Nähe, erklärte sie. »Seit ich da regelmäßig vorbeischaue, werden die jungen Katzen nicht mehr in der Odelgrube ertränkt.«

Hecht drückte das schnurrende Tierchen besorgt an sich. Wie zum Dank zog der Kater mit spitzer Kralle einen Faden aus dem rautengemusterten Pullunder seines Beschützers. Für Morgenstern war klar: Da hatten sich zwei gesucht und gefunden, das war Liebe auf den ersten Blick.

»Ich werde ihn Hagen nennen, wie den Helden aus dem Nibelungenlied«, sagte Hecht mit feierlicher Stimme. »Hagen von Tronje.« Und so war das beschlossene Sache.

»Und Sie?« Hartinger wandte sich an Morgenstern. »Sind Sie auch schon fündig geworden? Ich habe jetzt noch sieben Kätzchen zur Wahl.«

Morgenstern folgte der Katzenfrau in ihr Wohnzimmer, einen gemütlichen Raum mit einem Schwedenofen, dessen Scheibe verrußt war, Flickenteppichen und Möbeln, die wahrscheinlich überwiegend vom Flohmarkt stammten, darunter eine riesige schwarze Ledercouch, auf der diverse Katzen lümmelten. Es roch orientalisch nach Räucherstäbchen, was gewiss auch eine Abwehrmaßnahme gegen übermäßigen Katzengeruch war.

Nach langem Erwägen entschied sich Morgenstern für eine aristokratisch graue Katze, ein Weibchen, wie er erfuhr – ein Geschwisterchen des frisch getauften »Hagen von Tronje«.

Als das Tier merkte, was die Stunde geschlagen hatte, ergriff es die Flucht vor seinen Häschern, und Morgenstern und Hartinger brauchten mehrere Minuten, bis sie das Kätzchen schließlich eingefangen hatten. Zuletzt hatte es Zuflucht unter einer großen antiken Vitrine gesucht, hinter deren Glasscheiben Morgenstern verschiedensten Trödel entdeckte, teils deponiert in Weckgläsern. Er hielt das widerstrebende Kätzchen schon auf dem Arm, gesichert mit einem relativ rabiaten Kneifgriff im Nacken, als er instinktiv einen zweiten Blick auf die Vitrine warf.

In einem der Gläser war ihm ein Sammelsurium bleicher Knöchelchen aufgefallen, in einem anderen grün und blau schimmernde Halbedelsteine, in einem dritten getrocknete Pilze. »Interessante Sammlung«, sagte er. »Ziemlich esoterisch.«

»So bin ich nun mal«, sagte Katja Hartinger fröhlich. »Ich mache mein eigenes Ding.«

Beruhigend streichelte Morgenstern die Katze auf seinem Arm, und schon nach Kurzem fing sie gleichmäßig wie ein Nähmaschinenmotor zu schnurren an. »Was machen Sie denn beruflich, Frau Hartinger?«

»Ich bin vor allem an den Wochenenden auf Märkten unterwegs, Mittelaltermärkte, Ritterspiele, solche Sachen. Ich verkaufe da Duftstäbchen und Öle und die Rose von Jericho. Kennen Sie die?«

»Das ist doch diese vertrocknete Pflanze, die das ewige Leben hat. Man denkt, sie ist garantiert tot. Und wenn man sie ins Wasser taucht, fängt sie zu blühen an.«

»So ungefähr«, sagte Hartinger lächelnd. »Und außerdem lese ich den Leuten aus der Hand.«

»Dann sind Sie eine Wahrsagerin?«, fragte Morgenstern skeptisch.

»Es klappt nicht bei jedem. Aber ich tue mein Bestes.«

»Und für so etwas gibt es Kundschaft?«, bohrte Morgenstern nach, während er weiter das schnurrende Wesen streichelte, das da auf seinem Arm lag.

»Mehr, als Sie glauben. Es ist immer noch das Gleiche: Es geht um die große Liebe, um Erfolg und Glück in der Zukunft. Viele wollen wissen, wie lange sie noch zu leben haben. Aber auch wenn ich eine Ahnung davon habe, sage ich es ihnen nicht. Es gibt nicht viele, die mit solchen brisanten Informationen angemessen umgehen können.«

»Na ja, ich muss das alles nicht wissen«, sagte Morgenstern abschließend, »und mein Kollege bestimmt auch nicht. Wir nehmen das Leben, wie es kommt, stimmt’s, Spargel?«

»Was?« Peter Hecht reagierte nur ganz kurz auf seinen verhassten Spitznamen. Er war viel zu beschäftigt damit, auf dem Katzensofa sitzend dem ebenfalls zufrieden schnurrenden Hagen von Tronje den Bauch zu streicheln, ein seliges Lächeln auf den Lippen.

Die beiden Besucher mussten noch irgendein Formular unterschreiben, in dem sie sich, soweit Morgenstern das auf die Schnelle erkennen konnte, zu lebenslanger Tierliebe verpflichteten, dann erhielt jeder einen Schuhkarton samt Weckgummi als Verschlussmittel für den improvisierten Tiertransport, und schon ging es im roten Land Rover zurück zum Präsidiumsparkplatz nach Ingolstadt und von dort aus nach Eichstätt beziehungsweise Schrobenhausen.

***

Was für ein Glück! Nicht nur die Morgernstern-Kinder Bastian und Marius waren am Abend überglücklich, als ihnen ihr tierischer Mitbewohner präsentiert wurde, auch die Eltern konnten sich kaum losreißen. Das Zubettgehen verzögerte sich bis kurz vor Mitternacht.

»Das ist der schönste Geburtstag meines Lebens«, sagte Bastian dutzende Male, obwohl der Geburtstag noch gar nicht angebrochen war. Er nahm das Kätzchen mit in sein Bett. Aber am Morgen, beim Aufstehen, stellte sich heraus, dass es im Laufe der Nacht unter die Bettdecke des Hausherrn übergewechselt war. Mike Morgenstern sah das als Ehre an.

Auch Peter Hecht war am nächsten Morgen noch ganz verzaubert von dem kleinen Katerchen. »Spargel« hatte beschlossen, den tiefschwarzen Mini-Panther bis auf Weiteres ins Büro mitzunehmen. »Ich kann den doch nicht den ganzen Tag allein in Schrobenhausen lassen.« Nun paradierte Hagen mit minütlich wachsendem Selbstbewusstsein durchs gemeinsame Büro im Polizeipräsidium Oberbayern Nord.

Wie auf ein geheimes Zeichen hin trudelten im Laufe der nächsten halben Stunde sämtliche weiblichen Mitarbeiter ihres Stockwerks und noch weitere im Büro ein, mal mit, mal ohne Ausrede – denn immer ging es nur darum, dieses kleine, hinreißende Katerchen sehen, halten und streicheln zu dürfen. Peter Hecht wurde an diesem Vormittag zum heimlichen Mittelpunkt des Präsidiums, was er sonst nur in der Spargelsaison war, wenn er die gesamte Kollegenschaft mit frisch gestochenem Edelgemüse versorgte.

Es hagelte gute Ratschläge, vom optimalen Futter bis zur Temperatur des Trinkwassers (»niemals Milch!«). Und die beiden Kommissare lernten ein ihnen bislang unbekanntes Wort kennen: Hecht sei nun ein »Dosi«, erfuhren sie von entzückten Präsidiumsmitarbeiterinnen, und auf vorsichtige Nachfrage hieß es, das liege an seiner künftigen Hauptaufgabe, dem geschmäcklerischen Katerchen die Katzenfutterdose zu öffnen, gern gefolgt vom Hinweis: »Hunde haben Besitzer, Katzen haben Personal.«

Morgenstern hatte nach kürzester Zeit die Nase voll von derlei Poesiealbumslyrik. »Ist doch einfach bloß eine Katze«, murrte er. Das Telefon läutete.

»Morgenstern, kommen Sie sofort mit Hecht in mein Büro«, blaffte Adam Schneidt aus dem Hörer.

Der Kriminaldirektor rief zum Appell, und die beiden Kommissare sahen sich besorgt an: Es war klar, dass die Nachricht vom neuen, unangemeldeten Büropartner bis zu Schneidt durchgedrungen war.

Morgenstern konnte sich lebhaft vorstellen, was Pechvogel Hecht gleich zu hören bekäme: Der Chef könne die dauerhafte Anwesenheit dieses Haustiers auf keinen Fall dulden. Das Polizeipräsidium sei schließlich eine ernsthafte Arbeitsstätte und kein Flohzirkus – und erst recht kein Konkurrenzbetrieb zum Ingolstädter Kleintierzoo »Wasserstern«. Was könne denn da als Nächstes kommen? Dass ein Kriminaler sich einen »Maxl« mit ins Büro bringe? Der Alligator war jahrzehntelang der Star im »Wasserstern« gewesen.

So malte sich Morgenstern den bevorstehenden Anpfiff aus, als er mit Hecht, der sein Kätzchen schützend auf dem Arm trug, zu Schneidts Büro ging. Doch weit gefehlt. Schneidts ernste Miene verwandelte sich augenblicklich in ein breites Lächeln, als er das Kätzchen auf Hechts Arm sah.

»Wen haben wir denn da?«, fragte er süßlich. »Einen neuen Mitarbeiter, dutzi-dutzi?« Mit spitzen Fingern streichelte er dem Katerchen über den Kopf, und Hagen fing augenblicklich zufrieden zu schnurren an.

»Den dürfen Sie mir gerne ein bisschen dalassen«, sagte Schneidt in die überraschten Gesichter von Hecht und Morgenstern. »Ich habe nämlich Arbeit für Sie.« Und damit wurde er wieder ernst – so ernst, wie Morgenstern ihn selten erlebt hatte.

»Wir haben schlechte Nachrichten von der Inspektion in Eichstätt.«

»Die schon wieder«, stöhnte Morgenstern.

Schneidt ging an seine generalstabswürdige Wandkarte und tippte mit dem Finger an eine Stelle nordwestlich von Ingolstadt. »Heute Morgen hat ein Autofahrer im Wald zwischen Hofstetten und Pfünz ein verunglücktes Auto entdeckt. Einen silbernen Audi Q7 V12 TDI. Der Wagen ist auf der Fahrt durch den Wald hinab ins Altmühltal von der Fahrbahn abgekommen und eine steile Böschung hinabgefahren. Unten ist er dann frontal gegen eine Fichte geprallt.«

»Und?«, fragte Hecht. »Was ist dem Fahrer passiert?« Es schwang unausgesprochen die wichtigere Frage mit: Seit wann ist die Kripo für so etwas zuständig?

»Wir sind eben erst eingeschaltet worden«, sagte Schneidt. »Der Fahrer hat sich verletzt, die Airbags sind selbstverständlich ausgelöst worden, einer ist ziemlich blutig. Die Fahrertür stand offen. Aber der Fahrer war nicht da.«

»So was gibt es auf dem Land öfter«, sagte Morgenstern. »Da fährt einer besoffen gegen den Baum, und dann lässt er alles liegen und stehen, schaut, dass er nach Hause kommt, und schläft erst einmal seinen Rausch aus. Und am nächsten Morgen lässt er dann von einem Kumpel mit dem Bulldog das Auto abschleppen. Und schon ist der Führerschein gerettet.«

Schneidt nickte: »Ein Klassiker, schon klar. Aber es wäre schön, wenn Sie beide mich einfach mal fertig berichten lassen.«

Schneidt setzte den Kater auf dem uralten, zerschlissenen Ikea-Sofa ab, auf dessen durchgesessenen Polstern üblicherweise die Gesprächspartner Platz zu nehmen hatten, und fuhr fort: »Die Kollegen aus Eichstätt haben erst einmal das Kennzeichen überprüft – und dann war schon mal Alarmstufe Rot: Das Auto gehört unserem Bundestagsabgeordneten.«

»Westerstetten? Nikolaus von Westerstetten, CSU?«, fragte Hecht und ließ sich zu einem unpassenden Zungenschnalzen hinreißen.

Schneidt nickte. »Sie haben’s erfasst. Westerstetten, unser Volksvertreter in Berlin. Kollege Manfred Huber hat sofort eine Streife zu Westerstetten nach Hause ins Urdonautal geschickt. Falls er daheim in Konstein im Bett liegt. Aber seine Frau hat erklärt, dass er in der Nacht nicht heimgekommen ist. Da ging es dann richtig los. Der Eichstätter Inspektionsleiter hat befürchtet, dass Westerstetten beim Unfall einen Schock erlitten hat und verletzt in den Wald gelaufen ist.«

Schneidt strich mit der flachen Hand wie der Wettermann im »heute-journal« auf seiner Karte über ein riesiges, lang gestrecktes Waldgebiet, das sich rund um den Unfallort entlang der gesamten Nordseite des Altmühltals hinzog.

»Huber hat einen Hundeführer angefordert. Und gleichzeitig hat er die Krankenhäuser und Ärzte in der Gegend abtelefonieren lassen. Aber keiner hat was gewusst. Der Mann ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Vielleicht ist er bei irgendeinem Bekannten untergeschlüpft«, schlug Morgenstern vor. »Was weiß ich, beim CSU-Ortsvorsitzenden in Walting oder Kipfenberg vielleicht … Kleine Gefälligkeit unter Parteifreunden?«

»Schön wär’s«, sagte Schneidt. »Aber es ist leider möglich, dass dieser Unfall ganz anders ausgegangen ist. Die Eichstätter waren vorhin noch vollauf mit den Ermittlungen zum Unfall befasst, Huber war persönlich draußen im Wald. Da haben sie die Meldung bekommen, dass man eine verkohlte Leiche gefunden hat.«

»Wo?«, fragten Hecht und Morgenstern wie aus einem Munde.

Schneidt kniff die Augen zusammen, bis er die Stelle auf seiner Landkarte gefunden hatte. Dann wandte er sich kurz seinem Schreibtisch zu, fummelte aus einer kleinen Plastikschachtel eine Stecknadel mit rotem Kopf, kehrte zur Karte zurück und steckte die Nadel tief ein. Am nördlichen Stadtrand von Eichstätt.

»Das ist ja bloß ein paar hundert Meter von meiner Wohnung weg«, entfuhr es Morgenstern. »Das ist irgendwo oben am Berg.« Er trat ganz dicht an die Karte heran. Ein kleines Kreuz-Symbol fiel ihm auf, dazu eine gestrichelte Linie für einen kaum befahrbaren Feldweg. Anscheinend war da eine kleine Kapelle. »Und jetzt glauben Sie, dass das der Abgeordnete von Westerstetten sein könnte?«, fragte er.

Schneidt kniff unwirsch die Augen zusammen. »Momentan weiß keiner was. Aber ich habe ein ganz ungutes Gefühl. Wir wissen bisher nur so viel: Es ist ein Mann. Anzug, Armbanduhr, die Schuhe, alles recht edel, soweit sich das noch erkennen lässt. Und Huber hat das ungute Gefühl, dass es der Westerstetten sein könnte. Wie gesagt, man hat ihn gerade eben erst entdeckt. Fahren Sie rüber, so schnell Sie können. Ich schicke Ihnen die Spurensicherung hinterher. Und halten Sie mich über alles auf dem Laufenden. Wenn das tatsächlich Westerstetten ist, dann ist hier bei uns in kürzester Zeit der Teufel los.«

Während die beiden Oberkommissare auf der Karte den günstigsten Weg zum Leichenfundort studierten – an einem einzelnen Gehöft mit dem ungewöhnlichen Namen »Lüften« hatte man einem schmalen Feldweg zu folgen –, pflückte sich Adam Schneidt Hechts Katerchen vom Sofa und nahm damit hinter seinem Schreibtisch Platz. Hagen von Tronje schnurrte selig, als Schneidt ihm wieder und wieder übers Fell streichelte. »Den dürfen Sie mir einfach dalassen, Hecht«, sagte der Polizeidirektor gönnerhaft.

Morgenstern überlegte, woher ihm diese Szene bekannt vorkam. Erst draußen auf dem Gang fiel der Groschen: Bond, James Bond. Oberschurke Blofeld hatte einst seine Perserkatze ähnlich gehätschelt, während er seine Pläne schmiedete.

ZWEI

Mike Morgenstern steuerte den Dienstwagen so schnell wie möglich nach Eichstätt, einschließlich mehrerer gewagter Überholmanöver auf der Bundesstraße 13, wo sich ihnen immer wieder Lastwagen mit nachfolgenden Autos im Schlepptau in den Weg stellten. Am Stadteingang in Höhe der Glühbirnenfabrik wechselte er die Talseite und fuhr steil auf die Jurahöhe hinauf, bis er schließlich zur »Lüften« kam. Hecht dirigierte ihn gleich hinter dem Bauernhof mit angeschlossener Pizzeria an riesigen Abraumhalden der Natursteinindustrie entlang zu einem Schotterweg.

Auf dem höchsten Berg aus unbrauchbarem Kalkplattenmaterial hatten Spaßvögel ein weithin sichtbares hölzernes Gipfelkreuz montiert, was der Halde im Volksmund den Namen »Matterhorn« eingebracht hatte. Geradeaus führte der Schotterweg ins mondlandschaftliche Kratergebiet der Kalksteinbrüche, Morgenstern aber bog vorher ab in Richtung Hangkante, wo tief im Tal die Eichstätter Altstadt lag. Die Piste wurde zunehmend holprig und führte an einer kleinen, gedrungenen Kapelle vorbei. Morgenstern sah dort hinter einem massiven Eisengitter eine überlebensgroße, in leuchtende Farben gefasste Figurengruppe: der gekreuzigte Jesus, flankiert von Maria und dem Jünger Johannes.

Nur einen Steinwurf von der Kapelle entfernt wandte sich der Weg nach Westen, an einer lichten Hecke aus mageren Bäumen, Hagebutten- und Schlehenbüschen entlang. Hier standen zwei Streifenwagen der Polizeiinspektion Eichstätt.

»Da wären wir«, sagte Hecht, und Morgenstern stellte den Wagen ab. Neben der Hecke erstreckte sich eine Schafweide, ein typischer Altmühltaler Magerrasen, der durch die regelmäßige Beweidung keinen Lebensraum bot für Bäume und Büsche. In der Ferne war auf der anderen Talseite die Willibaldsburg mit ihren zwei Türmen zu erkennen.

Manfred Huber, der Leiter der Polizeiinspektion Eichstätt, wartete schon auf die beiden Kriminalbeamten, direkt an der Hecke, fünfzig Meter von den Autos entfernt. »Da seid ihr ja endlich«, rief er. »Hier ist es, kommt! Aber macht euch auf was gefasst.«

Morgenstern roch das Unglück, noch bevor er es sehen konnte. Ein widerlicher Geruch hing in der Luft, nach verbranntem Fleisch, versengtem Haar, verkohltem Stroh. Mit einem flauen Gefühl im Magen kam er näher und versuchte, sich die Szenerie genau einzuprägen.

An einer Stelle, an der die Hecke besonders licht war und einen Durchlass freigab, war ein blassweißer, rundum behauener Stein aufgestellt, eine Stele, ein modernes Denkmal. Ein einsames Kunstwerk mitten in der Landschaft. Der weiße Stein war auf der Oberseite eingekerbt, und in genau diese Lücke war ein tiefschwarzer zweiter Stein eingelegt. Ein mächtiger steinerner Hammer. Aus der Kerbe ragten gebrochene, geknickte Stäbe aus schwarzem Eisen.

Direkt an dieses Kunstwerk gelehnt – oder sollte das einer der modernen Grabsteine sein, wie sie der Eichstätter Ostenfriedhof in Fülle bot? – lag auf dem Boden, umgeben von Stroh, ein Leichnam: ein versengtes, verkohltes längliches Bündel. Morgenstern kramte nach einem Papiertaschentuch und hielt es sich vor die Nase, um den kaum erträglichen Geruch abzuhalten, trat dann ganz nahe heran, um sich den Toten genauer anzusehen.

Er ertrug den Anblick nur einige Sekunden lang. Nicht sehr professionell, das wusste er selbst. Zum Glück, so dachte er, gab es die Pechvögel von der Rechtsmedizin in München, die sich bis ins letzte grausige Detail mit solchen Dingen zu befassen hatten. Mit ein wenig Glück freilich konnte so ein staatlich bestellter Leichenbeschauer beim Erreichen der Pensionsgrenze einen Bestseller über seine gruseligsten Zombie-Erlebnisse schreiben. Er, Morgenstern, war aus weicherem Holz geschnitzt. Und ein Blick hinüber zu Peter Hecht bewies ihm, dass der Kollege gleichfalls kein Mann fürs Splatter-Genre war.

»Ist er es?«, krächzte Morgenstern hinter seinem Taschentuch in Richtung Manfred Huber.

»Wer? Westerstetten?« Huber hob die Schultern. »Schau doch mal, ob du von seinem Gesicht, von seinen Händen noch was erkennen kannst. Wir haben alles so gelassen, wie es war. Vielleicht hat er noch einen Geldbeutel in der Tasche. Oder einen Ehering am Finger. Ich habe nicht nachgesehen.«

»Aber du hattest doch so ein ungutes Gefühl«, beharrte Morgenstern.

»Das hättest du auch, wenn du heute früh Westerstettens Unfallauto leer und dann einen Toten ausgerechnet hier gefunden hättest.«

»Von Westerstetten – so viel Zeit muss sein«, sagte Hecht und rückte nun doch näher an den Leichnam heran. »Freiherr von Westerstetten. Das ist bestimmt uralter Adel, dunkelblaues Blut.«

»Aber er hat meines Wissens nicht viel Tamtam darum gemacht«, sagte Huber. »Der war kein Adeliger in dem Sinne, dass er in einem Schloss wohnt oder auch bloß auf einem Gutshof. Blaublütige Gutsherren gibt es hier in der Gegend öfter mal. Das ist dann mehr so ein Bauernadel. Aber der Westerstetten wohnt drüben in Konstein ganz normal in einer Siedlung, soweit ich weiß.«

»Was meinst du mit ›ausgerechnet hier‹?«, fragte Morgenstern Huber. »Was ist das eigentlich für ein komisches Denkmal? Dieser Stein mit dem seltsamen Hammer?«

»Lies selbst«, empfahl Inspektionsleiter Huber.

Morgenstern trat ganz nahe heran, sodass er nun direkt neben dem Leichnam stand, und buchstabierte die in Großbuchstaben in den weißen Juramarmor gemeißelten Worte: »Im Gedenken an die unschuldigen Opfer der Hexenverfolgung«.

Morgenstern sah sich den schwarzen steinernen Hammerkopf, der offenbar die hohlen Eisenrohre mit roher Gewalt verbogen und zerschmettert hatte, lange an.

»Der Hexenhammer«, sagte Hecht.

»Was soll das sein?« Morgenstern war ratlos.

»Der Hexenhammer ist ein Fachbuch aus dem 17. Jahrhundert, das den Inquisitoren genau erklärte, wie man Hexen und Zauberer bekämpft.«

»Aha«, meinte Morgenstern nur, weil Hechts breite Bildung ihn immer wieder aufs Neue einschüchterte. »Aber was hat das mit unserem Bundestagsabgeordneten zu tun?«

Inspektionsleiter Huber seufzte tief. Er deutete übers weite Feld, das Richtung Stadt vor ihnen lag. »Hier auf dem Gelände war in alten Zeiten der Richtplatz von Eichstätt. Der Ort für die Hinrichtungen. Deswegen steht hier das Denkmal. Und da drüben, die Kapelle, an der ihr gerade vorbeigefahren seid, das ist die Henkerskapelle. Da durften die armen Sünder ihr letztes Gebet verrichten, bevor es ihnen in welcher Form auch immer an den Kragen ging.«

»Und Hexen haben sie hier also auch verbrannt«, sagte Morgenstern.

»Eichstätt war im Mittelalter oder was weiß ich wann ein Zentrum der Hexenverfolgung. Unsere Gegend war weitum dafür berüchtigt. Die haben Hunderten von armen Frauen hier oben das Leben genommen. Und verantwortlich dafür war ein einzelner Fürstbischof, der da drüben auf der Willibaldsburg gesessen ist. Wie sich der aufgeführt hat, das war schon rekordverdächtig.«

»Das ist doch schon ein paar hundert Jahre her«, sagte Morgenstern.

»Stimmt. Aber seit einiger Zeit wird das bei uns wieder hochgekocht.«

»Und was hat der Westerstetten damit zu tun, falls es denn seine Leiche ist?«

»Das ist genau die Sache, die mich nervös macht: Der Fürstbischof, der damals von der Willibaldsburg aus die Hexenjagden organisiert hat, hieß –«

»Willibald?« Morgenstern wusste immerhin, dass sich in Eichstätt alles um den Bischof und Bistumsgründer Willibald drehte.

»Quatsch. Westerstetten. Der Mann hieß Westerstetten.«

Selbst Peter Hecht zeigte sich beeindruckt vom anscheinend enzyklopädischen Heimat- und Sachkundewissen des Feld-Wald-und-Wiesen-Polizeiinspektionsleiters Huber im ländlichen Herzen Bayerns.

»Dieser Fürstbischof muss irgendwie ein ganz, ganz ferner Verwandter unseres Abgeordneten gewesen sein«, erklärte Huber. »Ein direkter Vorfahre wohl eher nicht, weil meines Wissens Bischöfe auch früher schon keine Kinder hatten, jedenfalls keine offiziellen. Und wo es jetzt seit einiger Zeit hier eine Kampagne dafür gibt, richtig hochoffiziell an die Hexenverfolgung zu erinnern … Nicht hier oben auf der grünen Wiese, sondern drunten in der Stadt, in Bestlage.«

»Und der Abgeordnete Westerstetten hat das nicht gewollt?«, fragte Hecht.

»So genau habe ich das jetzt nicht parat. Sein Name ist jedenfalls mal in diesem Zusammenhang gefallen. Man hat ihn aufgefordert, sich seiner historischen Verantwortung zu stellen. Ich muss sagen – ich hätte mich da auch weggeduckt. Wenn vor fünfhundert Jahren irgendein Huber Unfug angestellt hat, dann geht das doch mich nichts an. Ich habe mit der Gegenwart gerade genug zu tun.«

Hecht hielt dagegen: »Diese Blaublüter geben doch sonst immer so viel auf ihre ruhmreiche Vergangenheit und ihre tollen Stammbäume. Aber sobald einer Dreck am Stecken hatte, lässt man den einfach unter den Tisch fallen. Ich finde, dass Geschichte kein Wunschkonzert ist, wo sich jeder nur die Sachen herauspickt, die ihm gefallen. Und wenn nun mal ein Herr von Westerstetten Blut an den Händen hatte, dann kann sein nobler Nachfahre ruhig sagen, dass ihm das leidtut. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Und eigentlich gilt das auch für den Amtsnachfolger dieses Westerstetten.«

»Den Bischof?«, fragte Morgenstern

»Genau so sehe ich das.«

Inspektionsleiter Manfred Huber sah Hecht an und schüttelte missbilligend den Kopf. »So weit kommt’s noch.«

Um die Henkerskapelle kam ein weißer Kleinbus gefahren. Die Spurensicherung. Morgenstern wunderte sich, wie einsam das Areal trotz seiner Stadtnähe war. Bisher war noch kein Spaziergänger vorbeigekommen. Für den Fall der Fälle hatten sich in jeder Richtung zwei Streifenbeamte postiert, die Passanten rasch abweisen konnten. Auch die Presse hatte zum Glück noch keinen Wind von der Sache bekommen. Und auf die Absperrdienste der Freiwilligen Feuerwehr Eichstätt-Stadt, die üblicherweise unter lautem Tatütata angefahren kam und damit alle Aufmerksamkeit auf den Tatort gelenkt hätte, hatte man unter den gegebenen Umständen verzichten können.

Der Spurensicherer schlüpfte in seinen weißen Schutzanzug, hängte sich einen Fotoapparat um und begann, vor den Augen der Kollegen den Schauplatz zu inspizieren und von allen Seiten im Bild festzuhalten. Schweigend verfolgten die anderen, wie abgebrüht und gleichzeitig hoch konzentriert er seine Arbeit erledigte. Aus einiger Entfernung waren das Blöken von Schafen und das Meckern von Ziegen zu hören. Ein Schäfer beweidete wohl irgendwo in der Nähe die Hangflanken des Altmühltals und hielt damit den ökologisch wertvollen Trockenrasen von Büschen und Bäumen frei.

»Können Sie uns die Leiche umdrehen?«, bat Morgenstern, als der Spurensicherer seine Arbeit weitgehend erledigt hatte.

Der Mann nickte, ging zu seinem Wagen zurück, holte eine Metallstange heraus, schob sie unter den Toten und hebelte ihn, der bislang mit dem Gesicht nach oben dagelegen war, sanft in Seitenlage.

Morgensterns Hoffnung, auf diese Weise einen wohlbehaltenen Geldbeutel in einer Gesäßtasche zu finden, gefüllt mit Personalausweis, Führerschein, Bank- und Krankenversicherungskarte sowie eventuell dem Hausausweis des Deutschen Bundestages und einer Mitgliedskarte der CSU, erfüllte sich wie durch ein Wunder: Die Rückseite des Körpers war beinahe unversehrt, und wie bei neunzig Prozent aller Männer steckte tatsächlich in der Gesäßtasche das Portemonnaie mit allen erwarteten Unterlagen – mit Ausnahme der Krankenversichertenkarte, die allerdings in diesem Fall definitiv nicht mehr benötigt wurde.

Der Spurenexperte, der die Geldbörse mit spitzen Fingern aus der Hosentasche gezupft hatte, verfolgte argwöhnisch, wie leichtfertig Morgenstern den Inhalt überprüfte.

»Er ist es. Freiherr von Westerstetten«, sagte Morgenstern schließlich. »Nikolaus Johann Albert Christoph von Westerstetten.« Er stutzte: »Geboren in Temeswar, Rumänien. Wie denn das?«

Er holte das Handy hervor, um Adam Schneidt in Ingolstadt zu informieren. Über dem Hexengedenkstein wölbte sich ein strahlend blauer Himmel.

Inspektionsleiter Manfred Huber erklärte sich zu Morgensterns riesiger Erleichterung bereit, zusammen mit ihm und Hecht nach Konstein zu fahren, um Westerstettens Frau gemeinsam die Todesnachricht zu überbringen. Huber hatte seit dem Morgen schon mehrfach mit der Dame telefoniert und nur mit Mühe verhindern können, dass sie sich direkt auf den Weg zum Unfallort im Wald machte. Sie wäre bei der Suche nach ihrem Mann gewiss keine große Hilfe, hatte Huber ihr klargemacht. Die aktuellen Entwicklungen, den Fund einer Leiche an ganz anderer Stelle, neun Kilometer vom Unfallort entfernt, hatte er ihr bisher verschwiegen.

Mit zwei Autos fuhren sie los. An der Henkerskapelle hielt Morgenstern kurz an, ließ die Scheibe herunter und sah sich um. Direkt unter dem gekreuzigten Heiland war eine kitschige Tafel abgestellt, ein Text in einem Bilderrahmen: »Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her …«

»O mei!«, sagte Morgenstern und fuhr weiter den holprigen Feldweg entlang. Am Lüftenhof bremste er erneut, und auch Huber, der vor ihnen fuhr, stoppte. Morgenstern stieg aus.

Neben dem Feldweg war meterhoch eine ganze Wand von rechteckigen Strohballen aufgestapelt. Die Getreideernte lag erst ein paar Wochen zurück. Morgenstern hob einen der Ballen hoch und legte ihn dann wieder an seinen Platz zurück.

»Ich wette, mit einem dieser Strohballen ist Westerstetten in Brand gesteckt worden«, sagte er, als er sich wieder ans Steuer setzte. »Einfach Stroh vom Wegesrand. Für mich stellt sich da die Frage: War das Zufall?«

»Und der Autounfall? War der auch Zufall?«, fragte Hecht.

»Man wird sehen.«

***

Das Ehepaar von Westerstetten wohnte in Konstein im Urdonautal, konkret in Konstein-Süd, einer gesichtslosen, lang gestreckten Siedlung, entstanden in den 1970er Jahren, als es im Dorf noch eine florierende Fabrik für Bleikristallglas gegeben hatte. Die Phönix-Glashütte war allerdings längst Vergangenheit, war mehrfach in Konkurs gegangen und hatte den Konsteinern nicht viel mehr hinterlassen als eine gewaltige Bodenverseuchung durch Schwermetalle. Wirklicher Ersatz für die weggebrochenen Arbeitsplätze hatte sich vor Ort nie gefunden, und so pendelten viele Menschen aus dem Urdonautal ins Audi-Werk nach Ingolstadt, wenn sie sich nicht beruflich zum nahen Schwaben hin orientierten – nach Monheim oder Donauwörth.

Die beiden Wagen hielten vor einem Haus, das in Immobilienprospekten wohl als »Villa« angepriesen worden wäre, auch wenn es sich im Wesentlichen um ein ganz normales Einfamilienhaus mit der obligatorischen Doppelgarage und einem aufwendig präparierten Garten mit kunstvoll beschnittenen Buchsbaumkugeln handelte.

Huber hatte noch nicht einmal an der Gartentür geläutet, da öffnete sich bereits die Haustür, und eine schmale junge Frau um die fünfunddreißig Jahre mit langen braunen Haaren kam heraus.

»Wo ist er?«, rief sie schon von Weitem. Als sie aber die betroffenen Gesichter der drei Besucher sah, ahnte sie, dass hier eine Nachricht zu verkünden war, die sich fürs Telefon nicht geeignet hatte. »Mein Gott, ist ihm etwas passiert?«, fragte sie und wandte sich dabei direkt an Huber – der zum einen der Älteste war und zum anderen in seiner Uniform am eindeutigsten als Amtsträger firmierte.

Alle drei nickten synchron über die schmiedeeiserne Gartentür hinweg, und als die Frau sie endlich öffnete, drückte Huber ihr die Hand. »Wir sollten ins Haus gehen, Frau von Westerstetten«, sagte er sanft. »Wir haben leider schlechte Nachrichten für Sie.«

Sie gingen hintereinander ins Haus, setzten sich im Wohnzimmer in eine Couchlandschaft aus weißem Leder, und dann schilderte Huber, was sie bisher wussten. Cornelia von Westerstetten saß wie versteinert in einem Sessel und hörte zu. Tränen rannen über ihre Wangen.

Schluchzend berichtete sie, ihr Mann sei am Vorabend gegen achtzehn Uhr frohgemut aus dem Haus gegangen, um zu einer CSU-Kreisversammlung nach Hofstetten zu fahren. Eine ganz normale Versammlung der Delegierten aus dem Landkreis mit Jahresbericht, Kassenbericht, Kassenrevisorenbericht, Entlastung der Kreisvorstandschaft und allem, was es da sonst noch an langweiligen, aber unvermeidlichen Regularien gebe. Nikolaus von Westerstetten habe bei dieser Gelegenheit seinen üblichen »Bericht aus Berlin« erstattet, er habe den ganzen Nachmittag daran gefeilt und wollte seine Rede wie üblich völlig frei halten.

»Eine ganz normale Versammlung«, wiederholte Cornelia von Westerstetten. »Er hat mich sogar gefragt, ob ich mit ihm nach Hofstetten fahren will. Aber ich wollte nicht. Am Anfang habe ich ihn ein paarmal begleitet, weil ich dachte, dass ihm das hilft. Aber es war so langweilig, dass ich mir das bald erspart habe.«

»Wie lange war Ihr Mann denn schon im Bundestag?«, fragte Morgenstern.

»Es ist seine erste Amtsperiode. Er ist vor drei Jahren gewählt worden. Sein Vorgänger ist nach zwei Wahlperioden nicht mehr angetreten, und da schlug dann die Stunde von Nikolaus. Er hat das Direktmandat souverän erobert. Aber das ist hier in der Gegend nicht außergewöhnlich.«

»Haben Sie Kinder?«, fragte Hecht.

»Nein, leider nicht.«

»Erzählen Sie uns mehr über Ihren Mann«, bat Morgenstern. »Wie war er so?«

»Wie er war? Er war ein Macher, ein Manager, er hatte Manieren. Er war gepflegt, ein begnadeter Redner. Er war witzig. Er konnte die Menschen überzeugen, von was auch immer. Er war der geborene Politiker.«

»Er stand wohl erst am Beginn seiner Karriere?«, vermutete Morgenstern. »So, wie Sie ihn schildern, war er zu Höherem berufen. Solche Leute schüttelt man nicht von den Bäumen.«

Die Frau schluchzte, dann erzählte sie weiter. »Er hat das alles von der Pike auf gelernt, hat in Heidelberg Jura und Politik studiert – und dann ist er in die Wirtschaft gegangen. Erst war er in Manching, dann in Donauwörth.«

»Manching«, fragte Morgenstern. »Was ist da?«

»Die Namen ändern sich alle paar Jahre. Aber der Kern ist immer der gleiche: Rüstungsindustrie. In Manching bauen sie Flugzeuge, in Donauwörth Hubschrauber.«

Manfred Huber pflichtete bei: »EADS, MBB und wie sie nicht alle geheißen haben. Aktuell gehört das meines Wissens alles zu Airbus.«

»Genau, Airbus Defence and Space«, sagte die Frau. »Mein Mann hat immer noch einen Beratervertrag. Ganz offiziell. Sie können das alles im Bundestagshandbuch nachlesen. Er hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sich der deutschen Industrie verpflichtet fühlt.«

»Der Rüstungsindustrie«, sagte Morgenstern.

»Der Verteidigungsindustrie«, sagte die Frau, und Morgenstern hatte das Gefühl, als sei genau das die gängige Wortwahl des jungen, talentierten, ehrgeizigen Abgeordneten gewesen, der eines Tages in TV-Talkshows eloquent die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland gegen vermeintlich kleingeistige, tendenziell linksgerichtete Querulanten verteidigt hätte, wenn nicht die vergangene Nacht seiner hoffnungsfrohen Karriere ein jähes Ende bereitet hätte.

Morgenstern entdeckte an einer Wohnzimmerwand einen in Goldrahmen gefassten Stammbaum: Ein aufgemalter Laubbaum, von Ast zu Ast versehen mit Namen und Jahreszahlen. Er stand auf, um sich das Werk näher anzusehen. Eiche, deutsche Eiche natürlich. »Stammbaum der Familie von Westerstetten«, stand dort.

»Das ist seine Linie, unsere Linie«, sagte Cornelia von Westerstetten. »Die Familie stammt aus dem kleinen Dorf Westerstetten im Schwäbischen, bei Ulm.«

»Da gab es doch diesen Hexenjäger«, verkündete Morgenstern pietätlos. »Der Hexenjäger von Westerstetten, Ihr Mann Nikolaus von Westerstetten, das Hexenmahnmal … Was ist da los?«

Die Frau stand auf und stellte sich ebenfalls neben die Ahnentafel. »Sehen Sie, das ist dieser Johann Christoph von Westerstetten. 1587 bis 1657. Stiftspropst in Ellwangen und Fürstbischof von Eichstätt. Der berühmteste Träger des Namens von Westerstetten.«

»Oder der berüchtigtste«, sagte Morgenstern.

»Aus unserer Sicht eher berühmt«, sagte die Frau. »Aber wie Sie sehen, ist die Hauptlinie schon vor Jahrhunderten erloschen. Eine winzige Nebenlinie hat sich gehalten. In Siebenbürgen, in Rumänien. Im frühen 18. Jahrhundert ist ein von Westerstetten dorthin ausgewandert.«

»Nach Transsilvanien«, sagte Morgenstern und stellte sich einen Verwandten des Fürstbischofs vor, der im Reich von Nosferatu und Dracula neue Wurzeln geschlagen hatte, in einer düsteren Burg hoch in nebelverhangenen Bergen.

»Gleich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist mein Mann mit seinen Eltern nach Deutschland übergesiedelt, hierher ins Altmühltal. Er hat sich nie etwas aus seinem Adelstitel gemacht, aber es hat ihn ehrlich gesagt auch nicht gestört. Der Titel hat ihm den Zugang zu gewissen Kreisen erleichtert. Zuerst an der Universität, später auch in der Industrie. Er hätte bestimmt auch in den diplomatischen Dienst gehen können.«

»Stattdessen wohnt er hier in Konstein«, sagte Morgenstern.

»Das müssen Sie gar nicht so abschätzig sagen«, wies die Frau ihn zurecht. »Wir leben gerne hier. Die Landschaft ist herrlich, die Wälder und die Felsen und die Burgruinen erinnern meinen Mann an Siebenbürgen.«

Morgenstern fixierte die Ahnentafel genauer. Er hatte nicht viel Erfahrung mit solchen Dingen. Seine eigene Familie, die Familie Morgenstern, hatte nie großen Wert auf Herkunft gelegt, die Erinnerung verebbte bereits bei der Großelterngeneration, alles, was davor lag, war Schall und Rauch.