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Hans Jürgen Sittig, 1957 in Mayen/Eifel geboren, begann als Biologiestudent mit dem Schreiben und Fotografieren. Seine Artikel und Reportagen über Skandinavien und Fallschirmspringen erschienen in neunundzwanzig verschiedenen Magazinen und Zeitschriften. Er veröffentlichte viele Fotokunstkalender und Bildbände und wurde wegen seiner Eifelbücher 2013 vom SWR als Repräsentant der Eifel für eine Fernsehreihe über Rheinland-Pfälzer ausgewählt. Der inzwischen in Bonn lebende Vater zweier Söhne spielt Klavier, Theater und in kleinen TV-Serien.

www.hans-juergen-sittig.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Hans Jürgen Sittig

Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-225-0

Eifel Krimi

Originalausgabe

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Meiner lieben Mutter


Die Lerchen lockten mich aufs Feld
an warmen Frühlingstagen.
Dort fand ich Glück ganz ohne Geld
und Frohsinn ohne Fragen.

Hans Jürgen Sittig,
aus dem Gedicht »Mein Eifelland«,
zu finden in: »Honigmuscheln: 90 Gedichte und Geschichten«

EINS

Der um siebzehn Uhr fünfundfünfzig in Paris-Nord gestartete Thalys fuhr mit neunzehn Minuten Verspätung um einundzwanzig Uhr siebenundzwanzig in den Kölner Hauptbahnhof ein. Wärmland trat nervös von einem Bein auf das andere. Als die Türen sich öffneten, hielt er Ausschau nach seiner Freundin und fragte sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn sie ihn sah.

Nicole erwartete seinen Besuch erst morgen. Doch die Anzeichen und Hinweise der vergangenen Wochen hatten Wärmland in letzter Zeit immer deutlicher erkennen lassen, dass es um ihre Beziehung nicht mehr gut stand, und er wollte Antworten.

Vor etwa zwei Monaten hatte es begonnen. Sie hatte das gemeinsame Wochenende abgesagt, mit dem Hinweis auf eine zu große Arbeitsbelastung. An sich nichts Ungewöhnliches, sie war auch früher schon einige Male in Paris geblieben, wenn die Arbeit es erforderte. Manchmal war stattdessen er zu ihr gefahren und hatte sie in der französischen Metropole besucht, aber in der Regel kam sie nach Deutschland, um mit ihm in ihrer Kölner Wohnung oder bei Wärmland in der Eifel das Wochenende zu verleben. Trotz ihrer Fernbeziehung sahen sie sich häufig, und Wärmland hatte geglaubt, dass ihr gemeinsames Leben auf diese Weise gut weiterfunktionieren würde. Alles schien perfekt. Bis zu jenem aus Wärmlands Sicht denkwürdigen Donnerstagabend, an dem er in Nicoles Stimme den Hauch einer Veränderung wahrgenommen hatte. An diesem Abend hatte sie irgendwie anders geklungen. Als sie ihr Bedauern darüber zum Ausdruck brachte, in Paris bleiben zu müssen, hatte er einen fremden Unterton wahrgenommen. Eine bis dahin noch nie aufgetretene Schwingung, eine mikroskopisch kleine, irritierende Frequenzänderung. Das hatte bei ihm intuitiv eine ganz bestimmte Art von Unwohlsein ausgelöst, jene, die von unterschwelligem Misstrauen befördert wird. Etwas war anders als zuvor. Den daraus erwachsenden Gedanken, Nicole könnte eine Affäre mit einem anderen Mann haben, hatte er als absurd und völlig abwegig beiseiteschieben wollen. Gelungen war es ihm jedoch nicht.

Seither wurde er das Gefühl nicht los, dass ihre bis dahin so glückliche Beziehung in jenem Moment einen ersten Haarriss erhalten hatte. Einen, der sich stetig vergrößerte, denn Nicoles Verhalten war auch weiterhin verändert. In den nachfolgenden Wochen war es zu weiteren Absagen gekommen, sie hatten einander überhaupt nicht mehr gesehen, und immer war es die Arbeit, die sie als Grund für ihren Verbleib in Paris nannte. Auf Wärmlands Fragen reagierte sie zunehmend gereizt und ließ sich von ihm auch keine weiteren Begründungen entlocken.

So war Wärmland ungewollt zu einigen freien Wochenenden gekommen, was ihn aber alles andere als beglückte. Nicole fehlte ihm, und nach längerer Zeit spürte er nun wieder diesen stillen Schmerz von Einsamkeit, den er leider viel zu gut kannte. Ein paarmal war sein sechzehnjähriger Sohn Stefan zu einem zusätzlichen Besuch nach Mayen gekommen. Doch obwohl sie immer eine schöne Zeit gehabt hatten und er sich über die Extrastunden freute, die sie miteinander verbrachten, schlug sich in Wärmlands emotionaler Gesamtbilanz ein deutliches Minus nieder, denn er glaubte zu fühlen, dass hinter dem sich inzwischen etwas unscharf abzeichnenden Horizont seiner Beziehung etwas aufzog, was ihm großen Kummer und finstere Täler der Einsamkeit bescheren würde.

Mit banger Erwartung hatte Wärmland auf Nicoles weiteres Vorgehen gewartet. Vor zwei Tagen hatte sie dann endlich für dieses Wochenende ihr Kommen zugesagt. Dass sie ihn beinahe im selben Atemzug um einen ruhigen Freitagabend für sich allein in ihrer Kölner Wohnung gebeten hatte, war dabei Wasser auf die Mühlen seiner Befürchtungen gewesen. Es hatte Wärmlands Unruhe um ein Vielfaches gesteigert und dazu geführt, dass er nur einen einzigen Ausweg für sich gesehen hatte: Klarheit zu schaffen, sobald es möglich war. Er musste endlich wissen, woran er war. Die Situation hatte sich für ihn in einem solchen Maße verschlechtert, dass in seinen Gedanken kaum noch Platz für andere Dinge war.

Während blechern die Ansage hinsichtlich der Möglichkeiten zur Weiterfahrt über den Bahnsteig hallte, quollen Menschen aus dem Zug hervor, Geschäfts- wie Privatreisende, und mühten sich ab, mit ihrem Gepäck durch die Phalanx der vielen Wartenden und Einsteigewilligen hindurchzukommen.

Wärmland hatte kein Glück, denn Nicole stieg nicht unmittelbar vor seiner Warteposition am vorderen Zugdrittel aus. Und auf dem Bahnsteig konnte er sie im quirligen Gewusel sich schnell bewegender Menschen nirgends ausmachen. Langsam ging er in Richtung des mittleren Zugabschnitts. Dann sah er sie – gerade in dem Moment, als sie durch den hilfreich ausgestreckten Arm eines gut gekleideten Herrn mit grau meliertem längeren Haar sicheren Schrittes den ersten Fuß auf den Bahnsteig setzte. Nach vollständig vollzogenem Ausstieg drückte sie ihm dankbar einen Kuss auf die Wange. Wärmlands Herz schnürte sich zusammen, und seine kleine heile Welt, die er schon so in Bedrängnis gesehen hatte, zerbrach endgültig. Das Schlimmste, was seiner Meinung nach hätte passieren können, war eingetreten.

Nicole Benoît hakte sich bei ihrem Begleiter unter, und beide gingen in Richtung des nächsten Treppenabgangs. Wärmland haderte noch mit sich, was er tun sollte. Den Kerl sofort niederschießen, die Spuren verwischen und Nicole einer Gehirnwäsche unterziehen? Nichts davon ließe sich in den nächsten Sekunden erfolgreich realisieren. Er musste es wohl zunächst einfach hinnehmen und abwarten, was der morgige Tag bringen würde.

Sogleich beschlich ihn die Furcht, dass sie ihm vielleicht noch absagen würde und er ohne eine persönliche Begegnung auskommen musste. Sich wieder nur mit einer ihrer unbefriedigenden Ausreden abspeisen zu lassen wäre jedoch völlig inakzeptabel – das wollte er in keinem Fall hinnehmen. Aber was konnte er stattdessen tun? Nicht mehr auf irgendetwas warten, beantwortete er sich die Frage selbst, sondern schnellstmöglich die Wahrheit ergründen. Das war der in diesem Moment einzige noch gangbare Weg, ungeachtet dessen, was das Ergebnis sein würde.

Wärmland setzte sich in Bewegung und folgte Nicole und ihrem Begleiter mit etwas Abstand in Richtung Ausgang. Die beiden verließen den Bahnhof auf der Domseite und wandten sich in Richtung der Taxis, die auf der rechten Seite des Vorplatzes auf Kundschaft warteten.

Sie wird wohl mit ihm nach Hause fahren, vermutete Wärmland. Ob er mit seiner Vermutung richtiglag, würde sich zeigen, wenn er es schaffte, an ihnen dranzubleiben.

Die beiden Verfolgten bestiegen, wie von Wärmland erwartet, ein Taxi. Er beeilte sich, selbst auch eines zu besetzen, um ihnen folgen zu können, denn schließlich konnte er, ohne es mit eigenen Augen gesehen zu haben, nicht völlig sicher sein, dass sie mit dem adretten, hilfsbereiten Herrn zu ihrer Wohnung fuhr. Es konnte auch andere Varianten und Möglichkeiten geben. Das Fluchttaxi war losgefahren und bog bereits um die Ecke, als Wärmland dem Fahrer im nächsten Fahrzeug seinen Dienstausweis zeigte.

»Können Sie an dem Kollegen vor Ihnen dranbleiben?«, fragte er den über diese Bitte in keiner Weise erstaunten Fahrer. Der Mann grunzte nur etwas Unverständliches, während er sein Fahrzeug in Bewegung setzte. Es klang ein bisschen wie: »Wurde ja auch mal Zeit, dass sich hier etwas Abwechslung einstellt.«

Wärmland fühlte sich wie ein unfreiwilliger Kamikazepilot, der mit einem Motorschaden in der Luft unterwegs war. Egal, wie es weiterging, es konnte nur schiefgehen – davon war er überzeugt. Schließlich kam nach ein paar Minuten sogar der Moment, da er seine Verfolgung in Frage stellte und mit seinem Plan haderte. Ihm wurde jedoch wieder bewusst, wie wichtig es für ihn war, bezüglich seiner Beziehung mit Nicole Gewissheit zu erlangen. Er war noch so verliebt in sie wie zu Beginn ihres wunderbaren Kennenlernens. Nein, halt, das stimmte nicht, sein Verliebtsein hatte in den vergangenen Monaten sogar zugenommen.

Wärmlands Taxifahrer blieb tatsächlich hartnäckig am Fahrzeug des Kollegen dran, der eindeutig den Weg zu Nicoles Wohnung eingeschlagen hatte. Wärmland fragte sich für einen kurzen Augenblick, ob es nicht vielleicht doch eine völlig harmlose Erklärung für das vertraute Miteinander der beiden gab? Nach dem Motto: »Darf ich dir meinen Cousin vierten Grades vorstellen, lieber Jan? Er ist ganz zufällig in meinem Zug gewesen, weil er einen Geschäftstermin in Köln hat. Er ist in der Modebranche tätig, deshalb ist er so unglaublich gut angezogen, und er hat früher als Model gearbeitet, deshalb sieht er trotz seiner vierundfünfzig Jahre immer noch so unverschämt gut aus. Albert wird heute Nacht übrigens bei mir in der Wohnung übernachten, weil sein Hotel, das er seit Jahren in Köln bucht, versehentlich eine Doppelbuchung vorgenommen hat. Ein völlig harmloser Freundschaftsdienst unter Verwandten, nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen müsstest, chéri. Auch nicht darüber, dass er bei mir im Bett schläft. Um einschlafen zu können, braucht er jemanden in seiner unmittelbaren Nähe, du verstehst schon, weil er als Baby vertauscht wurde und irgendwie einen lieben Menschen um sich braucht, vor allem im Dunkeln.«

Wärmland wurde durch lautes Hupen und einen Schwall von Flüchen aus seiner schmerzhaften Vision gerissen. Sein Fahrer ließ eine üppige kraftsprachliche Ausdrucksfähigkeit erkennen, ausgelöst durch das Fehlverhalten eines anderen Autofahrers. Wärmland vermutete, dass es sich bei dem Ausbruch von Worten im Ausmaß des Auswurfs eines Mount St. Helens entweder um eine ihm bisher unbekannte Form des Kölschen handelte oder um normales, aber temperamentvoll vorgetragenes Farsi, das man im Iran und in Afghanistan sprach.

Sein Fahrer beruhigte sich allmählich wieder, und Wärmland bemerkte, dass sie in der Nähe von Nicoles Wohnung angekommen waren. Er bedeutete dem Fahrer, an der Litfaßsäule zu halten, die kurz darauf am rechten Straßenrand in Sicht kam. Kaum einhundert Meter vor ihnen war auch der Wagen mit Nicole und ihrem Begleiter darin zum Stehen gekommen. Hastig bezahlte Wärmland seine Fahrt und verließ das Fahrzeug.

Nicole und der adrette Herr hatten inzwischen die Straße überquert und waren durch einen kleinen Vorgarten zur Haustür des weiß gestrichenen Gründerzeithauses gelangt.

Wärmland überlegte fieberhaft, wie er weiter vorgehen sollte. Mit einem Zuruf könnte er die beiden noch vor dem Betreten des Hauses stoppen und ein Gespräch erzwingen. Aber wäre das die beste Option? Er zögerte einen Moment zu lang, schon waren sie im Hauseingang verschwunden. Die innere Strategiedebatte über die Frage nach einer Klärung schon vor dem Haus hatte sich damit erledigt.

Langsam ging Wärmland auf das Gebäude zu, in dem er sich bisher immer so überaus wohlgefühlt hatte. Jetzt hatte es all seinen Zauber verloren. Dieses Haus war nun nicht mehr nur die Stätte ihrer ersten aufwallenden Gefühle und ihres gegenseitigen Entdeckens. Es war auch der Ort, an dem der seit Wochen auf ihm lastende Schatten schon bald zu einer finsteren Wahrheit werden würde. Das sonst so leuchtende Weiß des Hausanstrichs hatte in seinen Augen auf einmal einen sehr düsteren Grauanteil.

Vor der Haustür blieb Wärmland stehen. Er hatte einen Entschluss gefasst. Er würde sie jetzt anrufen und sehen, was sich aus diesem Kontakt ergab. Mit stark überhöhtem Puls wählte er ihre Nummer, obwohl er sich angesichts ihres Besuchers kaum eine Chance ausrechnete, dass sie überhaupt an ihr Handy ging. Sie tat es aber doch. »Allo, Jan«, sagte sie knapp. Auf mehr Text wartete er vergeblich.

»Hallo, Nicole. Ich wollte nur wissen, wie es dir heute Abend geht«, sagte er mit rauer, vor Aufregung belegter Stimme.

»Eutö war es sehr stressig bei mir. Isch attö sso viel ssu tun ier in Paris, isch konntö nicht einfach wegfahrön. Isch nemö dann morgän früü die Ssug«, antwortete sie ohne Zögern, und Wärmlands Herz erhielt einen Stich. »Wenn isch aangekommön bin, fahrö isch schnell ssu mir, und dann könntön wir uuns am Dom träffön für einö klainö Schpassiergang an die frischö Luft. Waas ällst du davon?«

»Okay«, antwortete Wärmland mühsam mit völlig ausgetrocknetem Mund. Sie kennt mich, dachte er niedergeschlagen. Sie denkt, dass ich heute noch zu ihr kommen will, und lügt, damit ich sie gar nicht erst frage.

»Okay. Bonne nuit, Jan.«

»Bonne nuit, Nicole.«

Eine Träne lief aus Wärmlands linkem Auge. Sein Alptraum war gerade wahr geworden. Sie hatte ihn angelogen, und sie schien ihre kleine Vorstellung ohne Reue gegeben zu haben. Damit war eigentlich alles klar.

Wärmland wehrte sich noch ein paar Minuten gegen das Akzeptieren des Offensichtlichen. Dann traf er eine Entscheidung. Er wollte nicht bis morgen warten, er wollte Gewissheit, die ganze Packung dieser furchtbar bitteren Pille, die man den Verlust einer Liebe nannte. Er wollte ein Ende mit Schrecken statt Schrecken ohne Ende, und zwar so schnell wie möglich, keine weitere unsichere, leidvolle Nacht mit Spekulationen darüber, ob es in ihrer Beziehung nicht doch noch etwas zu reparieren und zu retten gab.

Er drückte auf den Klingelknopf. Nichts geschah. Er drückte noch einmal. Dann ertönte das Summen des Türöffners.

Nachdem er das Haus betreten hatte, waren es nur noch drei Meter bis zum Treppenabsatz. Wie früher schon schaute er nach oben, ehe er die Stufen erklomm. Nicole hatte bei seinen vorherigen Besuchen stets am Geländer im ersten Stock gestanden, gewinkt und ihm ein Lächeln zugeworfen. Diesmal war dort niemand.

Schweren Herzens ging er nach oben und erschrak bei jedem Knarzen der Stufen. Dabei waren ihm diese Geräusche in all den Monaten, in denen ihn das Glück leichtfüßig die Treppe hinaufgetragen hatte, vertraut geworden. Dann stand er vor der angelehnten Wohnungstür. Er starrte sie an und fühlte sich wie gelähmt. Nicoles Wohnung war ihm so vertraut. Doch jetzt fühlte sich auf einmal alles ganz fremd an. Aus der Balance geraten. Es gab hier keinen Platz mehr, an dem er richtig war.

Wärmland widerstand dem Impuls, einfach hineinzugehen, wie er es zuvor schon so oft getan hatte. Stattdessen klopfte er an die Tür. Es kam keine Reaktion. Er klopfte fester.

»Kommön Ssie rein«, rief Nicole. »Links geht ös ssur Küchö. Stellön Sie das Essön bittö auf die Küchöntisch. Isch bin gleich da.«

Wärmland folgte dem beschriebenen Weg bis zum vertrauten alten Küchentisch, an dem er schon so oft gesessen und mit einem warmen, glücklichen Gefühl seine Mahlzeiten eingenommen hatte. Er ließ seinen Blick über all die bekannten Gegenstände schweifen, die er nun zum letzten Mal sah, denn er spürte, dass dies sein letzter Besuch in dieser Wohnung sein würde – da war er sich ganz sicher. Er hörte ein Geräusch im Flur und drehte sich um. Da stand Nicole, bleich und mit großen Augen.

»Du bist ier?«, fragte sie fast tonlos.

Er nickte und schluckte schwer, entgegnete jedoch nichts.

»Öss tut mir leid, Jan. Abbör öss ist etwaas göscheön.«

»Ist es nur wegen der Arbeit, oder ist es seinetwegen?«, fragte Wärmland, und ihm wurde bewusst, was für eine törichte Frage das war.

»Charles und isch arbeitön manschmal ssusammön. Er aat mir einö Professur angebotön an die Üniversität.«

»Und er hilft dir wohl auch beim Zugfahren, rein kollegial natürlich«, entgegnete Wärmland mit einer Portion Zynismus, die er sogleich bereute. »Tut mir leid. Ich denke, ich weiß, was los ist. Seit wann seid ihr zusammen?«

»Ach, Jan, lass uns doch bittö nischt in diesö Sachö errumwühlen.«

»Seit etwa zwei bis drei Monaten, schätze ich.«

Nicole nickte.

Charles hatte wohl den Dialog gehört und erschien in der Tür.

»You must be Jan«, sagte er in einem lupenreinen Englisch ohne den von Wärmland erwarteten französischen Akzent. »Sorry, but my German isn’t good.«

Nicole ließ eine weitere Konversation der Männer nicht zu, sie schickte den schönen Mann zu Wärmlands Verblüffung zurück ins Wohnzimmer. Dann schaute sie Wärmland traurig an. Zumindest interpretierte er ihren leicht gesenkten Blick so.

»Ess war ein Fehlör, ssu glauben, dass isch längör von meinö Eimat fortbleiben könnte. Es at misch immer ssurückgezogön. Und jetzt ist allös sso gekommen, wie ös meinö tiefö Ssehnsucht war. Es tut mir sso leid. Isch wolltö disch nicht verletzön. Aber isch binn fro, dass jetzt endlisch Klareit errscht.«

Sie drückte es genau so aus, wie es war – endlich Klarheit. Wärmlands Herz tat unendlich weh, aber die Last, die ihn in die Knie zu zwingen drohte, schien sich auf seltsame Art und Weise vermindert zu haben. Der verbleibende Schmerz reichte nach Wärmlands Empfinden nur noch dazu, ihn halb zu töten.

»Leb wohl, Nicole, und hab weiter ein gutes Leben«, hörte er sich sagen.

»Pass auf disch auf, cher Jan. Isch wolltö dir morgön allös erssählön. Abär sso abön wiar einö Nacht wenigör mit diesö Kummör.«

Wohl dem, der sich für solche Kummernächte vorausschauend jemanden zum Trösten mitbringt, dachte Wärmland bitter.

Als er sich zum Gehen wandte, drückte Nicole ihm noch schnell einen Kuss auf die linke Wange. Der letzte Kuss, den er jemals von ihr erhalten würde – das war ihm bewusst. Und doch war er irgendwie dankbar für dieses letzte kleine Bekenntnis ihrer Zuneigung.

Als er wieder draußen auf der Straße stand, fühlte er sich wie aus der Zeit gefallen – aus einer guten Ordnung in ein furchtbares Chaos. Eben noch war er ein glücklich verliebter Mann in einer festen Beziehung gewesen. Jetzt stand er als verstörter Single auf einer Kölner Straße. So etwas konnte nicht real sein.

Wärmland atmete tief durch. Er verwarf den spontanen Gedanken, sich zu besaufen. Dabei würde er es nicht einmal allein tun müssen. Sein unnützer älterer Bruder Jörg, ein Alkoholiker, zu dem er den Kontakt abgebrochen hatte, würde ihm bei einem Verzweiflungsgelage sicher bereitwillig assistieren. Er war vor ein paar Jahren nach Deutschland zurückgekehrt, nachdem er lange in Schweden gelebt hatte. Kein Ereignis, an das Wärmland sich gern erinnerte. Von einem Tag auf den anderen war das ihm beinahe verhasste schwarze Schaf der Familie wieder da gewesen und hatte sogar die Dreistigkeit besessen, Unterschlupf bei Wärmland zu suchen. Auf Bitten ihrer Schwester Ulli hatte er das zunächst sogar zugelassen. Doch dann hatte sich die charmante Seite seines ungepflegten, unkontrollierten Alkoholikerlebens offenbart, und Wärmland hatte ihn bereits nach kurzer Zeit wieder aus seiner Wohnung geworfen. So war es nicht zu der von ihrer Schwester erhofften Annäherung der Brüder gekommen. Dass er ihm damals die erste Freundin ausgespannt hatte, hatte Wärmland seinem Bruder nie verzeihen können.

Nach dem Rauswurf war Jörg nach Köln gegangen, um in Ullis Nähe zu sein, die ihrem missratenen Bruder trotz seiner Fehler sehr zugetan war, und lebte jetzt wohl irgendwo hier in der Stadt. Aber er war und blieb trotz Wärmlands akutem Gefühl von Schmerz und Einsamkeit der letzte Mensch, mit dem er jetzt zusammen sein wollte.

Sein erstes Besäufnis an einem nordgriechischen Strand kam ihm wieder in den Sinn. Er war sechzehn Jahre alt gewesen. Was den Ausklang betraf, war ihm der betreffende Abend als nicht sehr erfreulich in Erinnerung geblieben. Er spürte jetzt noch den Geschmack von geharztem Wein auf der Zunge, den er im Übermaß genossen und folglich nicht vertragen hatte. Erst eine elende Übelkeit, dann die griechischen Meisterschaften im Dauerkotzen. Die nette Gesellschaft einiger Gleichaltriger hatte den Alkoholisierungsprozess jedoch angenehm begleitet und die Gitarren- und Busukimusik weitere schöne Begleitumstände geschaffen.

Aber wo waren sie jetzt, die Jungs von damals? Sie hätten sich gern noch einmal nützlich machen dürfen. Der Gedanke an ein alkoholisches Alleinerlebnis ohne griechische Küsten- und Musikatmosphäre war überhaupt nicht verlockend. Da wäre die Alternative mit Jörg rein preislich beinahe bedenkenswert. Bei dem könnte er kotzen, ohne zuvor in Alkohol investiert zu haben.

Wärmland seufzte schwer und machte sich auf den Heimweg.

Mit der Aussicht auf ein Wochenende, das unendlich lang werden würde angesichts der Tatsache, dass er es allein, mit nichts als seinem Kummer, verbringen musste, fuhr Wärmland zurück nach Mayen. Stefan war bei seiner Mutter. Auf ihn als beste denkbare Ablenkung konnte er nicht setzen. Und eingeschworene Freunde, die nur auf seinen Anruf warteten, um mit ihm zusammen ein tröstendes Männerwochenende zu verbringen, gab es nicht. Er musste es irgendwie allein schaffen. Nur wie?

Sein bester Freund und Kollege, der Koblenzer Hauptkommissar Sven Trobisch, fiel ihm ein. Seit Monaten waren sie nicht mehr dienstlich zusammengekommen. Einige Male hatten sie sich in Koblenz getroffen, nachdem Wärmland seinen Sohn zu dessen Mutter in die Südstadt zurückgebracht hatte. Einmal, im Frühjahr, hatte ihn Trobisch auch in Mayen besucht. Da hatte Wärmlands Rücken so sehr geschmerzt, dass er nur noch unter Stöhnen und in Schieflage hatte herumlaufen können. Eine unerfreuliche Folge seines privaten Wohnzimmertrainings mit dem Versuch, es nach Jahren mal wieder mit einarmigen Liegestützen zu versuchen. Wärmlands Vorgesetzte, Oberrätin Melchior, hatte ihn aus dem Dienst nach Hause geschickt, weil sie den Anblick dieses krummen Herrn, dem auch ein Buckel und ein Holzbein sicher gut gestanden hätten, nicht mehr ertragen konnte, und Trobisch war vorbeigekommen, um ihm einen Krankenbesuch abzustatten. Als besonders lebendig und blühend konnte man diese Freundschaft derzeit also nicht bezeichnen, dessen war sich Wärmland bewusst. Aber es war das Beste, was er hatte, und zu Hause erwartete ihn nur ein Tal der Tränen. Vielleicht sollte er es also einfach mal bei Trobisch versuchen, auch wenn er davon ausgehen musste, dass dieser für das Wochenende bereits Pläne mit einer seiner Freundinnen gemacht hatte.

Zu Hause angekommen, wählte Wärmland denn auch sogleich Trobischs Nummer, erreichte seinen Freund jedoch weder auf dem Festnetz noch auf dem Handy. Damit wurde das anstehende Wochenende für Wärmland zu einem beängstigenden, in ungeahnte Höhen wachsenden Zeitgebirge, dessen Überwindung ihm kaum möglich schien. Mehr noch, er glaubte zu spüren, dass ihm seine bescheidene Lebensbühne als nächsten Akt eine kleine Depression anbieten würde.

ZWEI

Es wurde eine sehr schlimme Woche für Wärmland. Was immer er auch versuchte, nichts vermochte ihn aufzuheitern oder zu trösten. Trobisch, der Wärmland am Sonntagabend zurückgerufen und vom Ende der Beziehung zu Nicole erfahren hatte, scheiterte ebenfalls mit allen Fernversuchen, ihn etwas aufzumuntern. Und selbst die Arbeit konnte ihn nicht ablenken. Wärmland war übernervös und verzehrte während der Dienstzeit große Mengen von Colafläschchen, hin- und hergerissen zwischen Momenten, in denen er mit seiner ganzen leidenden Emotionalität sehnsüchtig auf Nicoles Bereuen und ihren erlösenden Anruf wartete, und Augenblicken der Vernunft, in denen er sich einredete, froh sein zu müssen, dass sich ihm diese nicht tragfähige Beziehung bereits jetzt offenbart hatte. Wäre es Jahre später geschehen, hätte er erst dann wieder Hoffnung schöpfen können, doch noch der einzig Wahren und Richtigen zu begegnen. Jetzt standen seine Chancen ungleich besser, da er mit seinen einundfünfzig Jahren noch nicht in der dunkelroten Zone der alten Knacker angekommen war.

Immerhin wurde durch die Arbeitsroutine wenigstens die Freizeit überschaubarer. Nach Feierabend mischte sich Wärmland ein großes Radler aus alkoholfreiem Bier und Zitronenlimo, setzte sich vor seinen PC und rief seinen Account bei einem der großen Internetanbieter für Filme und Serien auf, um einige Folgen seiner aktuellen Lieblingsserie »House of Cards« anzusehen, ehe er eine weitere schlaflose Nacht verbrachte. Das war derzeit die einzige Tätigkeit, die ihm ausreichend Ablenkung bieten konnte. Zumal er die Serie, in der sich Kevin Spacey als amerikanischer Präsident durch Intrigen und Mord an der Macht zu halten versuchte, nie zusammen mit Nicole angeschaut hatte. Sie hatte solchen Politkrimis nichts abgewinnen können.

Die Nacht auf Mittwoch brachte dann jedoch eine nachhaltige Veränderung in Wärmlands Leben. Sie begann genau wie die Nächte zuvor mit einem grübelnden Hauptkommissar, der Schwierigkeiten hatte, in den Schlaf zu finden. Um ein Uhr siebenunddreißig wachte er auf und schaute auf die Uhr neben seinem Bett. Dass er nicht durchschlafen konnte, überraschte ihn nicht, wohl aber der Zustand, in dem er sich befand. Er war von einem entsetzlichen Gefühl geweckt worden. In seiner Brust schüttelte sich sein Herz, als wäre es ein auf heftigen Vibrationsalarm gestelltes Handy. So konnte ein Herz doch unmöglich längere Zeit funktionieren.

Schon früher hatte er gelegentlich gespürt, wie sein Herz mal eng oder mal hektisch geworden war. Aber stets hatte es innerhalb von Sekunden wieder zu seinem üblichen Rhythmus zurückgefunden. Jetzt ratterte es auf furchterregende Weise im Stakkato vor sich hin. Wärmland dachte unwillkürlich an Herzstillstand und seinen nahenden Tod, daran, dass man ihn am nächsten Tag finden würde, tot und steif, weil sein Herz ausgerastet war und schließlich zu schlagen aufgehört hatte. Er wurde ganz traurig, weil er keine Chance mehr sah, etwas für seinen Sohn tun zu können. Und weil er ihn niemals wiedersehen würde. Schon spürte er, wie die Furcht seinen Hals zuschnürte und ihm die Luft zum Atmen nahm.

Er zwang sich zur Ruhe. Nach der ersten Panik gelang es Wärmland, sich gegen den Sterbegedanken aufzulehnen. Dieses entsetzliche Herzflackern würde sicher wieder aufhören. Er musste nur Geduld haben und sich nicht so schnell in Angst versetzen lassen.

Eine Stunde verging, in der er sich hin und her wälzte und eine Position suchte, in der das Herz vielleicht etwas Entlastung bekäme, um damit die Rückkehr zu einem normalen Schlagen zu begünstigen. Auf der linken Seite zu liegen fühlte sich am schlechtesten an. Da schien ihm der Druck unerträglich und das Herz noch belasteter zu sein. Auf dem Rücken war es am besten, auch wenn er es eigentlich vorzog, auf der rechten Seite zu liegen. Er blieb also auf dem Rücken liegen und versuchte, sich zu entspannen. Doch sein Atem ging ungewohnt schnell, und er fühlte sich elend und machtlos. Allmählich kam die Todesangst wieder zurück.

Wärmland wusste nicht, wie er reagieren sollte. Das städtische Krankenhaus kam ihm in den Sinn. Aber ihm grauste vor dem ganzen Prozedere und der möglicherweise stundenlangen Wartezeit bis zu einer Aufnahme und Bettzuweisung. Er im Krankenhaus? Nein, so weit war er noch nicht. Es gab noch eine Alternative. Einer der anderen Bässe aus dem Chor, dem er seit rund eineinhalb Jahren angehörte, war Kardiologe. Gleich morgen früh würde er ihn aufsuchen. Hans-Günter würde ihm sagen können, was das innere Vibrieren und Schütteln zu bedeuten hatte, wenn es nicht bald aufhörte.

Es hörte nicht auf. Wärmland lag wach und hatte Angst. Irgendwann gegen Morgen musste er vor Erschöpfung aber doch noch eingeschlafen sein, denn um sechs Uhr dreißig wurde er von seinem Wecker geweckt. Noch immer spürte er dieses eigenartige, ungute Gefühl in seiner Brust. Das Vibrieren war etwas schwächer geworden, aber es war noch da.

»Wie hat dein Doc das genannt?«, fragte Trobisch noch einmal nach, nachdem Wärmland ihm am nächsten Tag telefonisch von seinem Untersuchungsergebnis berichtet hatte.

»Tachyarrhythmia absoluta mit Vorhofflimmern«, antwortete Wärmland ohne Stolz.

»Klingt ja schlimmer als Syphilis«, gab Trobisch zurück. »Und was bedeutet das genau?«

»Vereinfacht ausgedrückt: Herzrhythmusstörungen.«

»Das ist doch ein ernstes Problem?«, erkundigte sich Trobisch besorgt.

»Soweit ich es verstanden habe, bedeutet Vorhofflimmern eine unregelmäßige Impulsgabe für die Herzkammern. Das führt dazu, dass das Herz unregelmäßig schlägt, und dadurch besteht die Gefahr, dass sich in den auftretenden Schlagpausen Blutverklumpungen bilden. Wenn diese kleinen Klümpchen eine ungünstige Größe haben und weiterbefördert werden, können sie zu Verschlüssen führen, also zu einer Embolie. Das kann in der Lunge sein oder im Kopf. Und dann kriegt man ein ernstes Problem, zum Beispiel einen Schlaganfall. Da muss ich jetzt mit einem Gerinnungshemmer und Betablockern gegenhalten.«

»Hört sich irgendwie nicht gut an«, murmelte Trobisch betroffen. »Und wie lange geht so etwas?«

»Das wird vielleicht gar nicht mehr aufhören. Es könnte so bleiben.«

»Dann ist das ja was richtig Ernstes«, sagte Trobisch bestürzt. Eine Schlussfolgerung, der Wärmland nicht widersprechen konnte.

Die beiden verabredeten sich für den Abend in Andernach, um sich mal nicht am Telefon auszutauschen, sondern richtig miteinander zu reden, und Wärmland wandte sich etwas widerwillig seiner Arbeit zu. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, doch es galt, einen Vermisstenfall abzuschließen. Eine vierundsechzigjährige Mayenerin, die vormals als Kassiererin in einem Supermarkt gearbeitet hatte, war vor drei Monaten verschwunden und als vermisst gemeldet worden. Zuvor hatte sie über die Dauer eines Jahres hinweg zunehmend Symptome einer Alzheimererkrankung entwickelt. Die beiden Kinder der Frau hatten den Ernst der Lage und die sich anbahnenden Gefahren jedoch verkannt. Statt die Mutter einem überwachten Leben zuzuführen, nachdem sie von der Polizei nach Hause gebracht werden musste, weil sie mit ihrem Wagen orientierungslos irgendwo stehen geblieben war und nicht mehr weiterwusste, hatten die beiden ihr zwar den Wagen weggenommen, ihr aber ansonsten weiter völlige Bewegungsfreiheit gelassen. Wenig später war sie verschwunden. Sie hatte die Wohnung verlassen und war einfach nicht mehr zurückgekehrt. Letzte Woche waren ihre sterblichen Überreste in einem Wäldchen bei Mayen gefunden worden. Sie war wohl spazieren gegangen und hatte erneut die Orientierung verloren. In der nachfolgenden kalten Märznacht, die sie im Freien zubringen musste, war sie erfroren.

Mit diesem Schicksal vor Augen konnte Wärmland endlich erkennen, dass es außer dem seinen auch noch andere – und schmerzhaftere – Verluste gab. Nicole und er waren noch am Leben. Sie konnten beide – also auch er – irgendwann ihr Glück finden. Diese Erkenntnis befriedete Wärmlands heftiges Hadern mit seiner Situation und milderte seine Trauer etwas ab. Der Abend mit Trobisch tat ihm ebenfalls gut. Als er sich aber in sein Bett legte, war da wieder ganz deutlich dieses Vibrieren. Und Wärmlands Angst kehrte zurück.

DREI

Der Freitag begann als ruhiger Bürotag mit viel Sitzen, Telefonieren und Dokumentieren. Wärmland war zwar grundsätzlich lieber draußen unterwegs, zumal bei Sonnenschein und der jetzt im Juni provenzalisch anmutenden Osteifel-Atmosphäre, aber an manchen Tagen passte es auch mit dem Innendienst. Heute hatte es gepasst.

Am Abend nahm Wärmland in seiner Wohnung eine Fertigpizza aus dem Gefrierfach, schob sie in den Backofen und schaltete schließlich um kurz vor zwanzig Uhr den Fernseher für die Abendnachrichten ein. Als der Nachrichtensprecher gerade seine Begrüßung in die Kamera gesprochen hatte, hörte Wärmland den Signalton, der den Eingang einer Nachricht auf seinem Smartphone verkündete. Er nahm das Gerät von der Couchtischplatte und sah, dass es eine SMS von einer ihm unbekannten Nummer war.

Er legte sein Handy wieder zurück. Erst mal die Nachrichten, dachte er. Wenn es etwas Wichtiges wäre, hätte der- oder diejenige ihn sicher unmittelbar angerufen.

Als die Hauptthemen der Sendung nach gut zehn Minuten abgehandelt waren, griff er erneut zum Smartphone und öffnete die eingegangene SMS.

»Sehr wichtige Post im Briefkasten. Besser sofort nachsehen!«, stand da.

Wärmland runzelte die Stirn. Spontan vermutete er, dass sich die Kollegen in seiner Mayener Dienststelle einen kleinen Scherz mit ihm erlaubten. Als Leiter des Kommissariats 1 war er für Todesermittlungen, Brände und Vermisste zuständig und trotz des ernsten beruflichen Themenspektrums bekannt für seinen immer wieder mal auflebenden trockenen Humor. Auch seiner Truppe fehlte es nicht an Witz. Aber ein auffälliger Scherzkeks, der zu schelmischen späten Postzustellungen neigte, hatte sich unter seinen Mitarbeitern bisher noch nicht gezeigt.

Die normale Tagespost hatte Wärmland schon bei seiner Heimkehr aus dem Briefkasten genommen. Die SMS-Nachricht wies auf eine kürzliche, eine individuelle Zustellung hin. Er schnappte sich also seinen Schlüssel und sprang rasch die Treppe hinunter.

Als er die Klappe öffnete, fiel sein Blick auf einen zerknitterten weißen DIN-A4-Umschlag. Er stutzte und dachte in einem Anflug von IS-Paranoia, dass ihm vielleicht jemand einen kleinen Sprengsatz in den Briefkasten gesteckt hatte. Dann schüttelte er den Kopf. Was für ein bescheuerter Gedanke. Durch diesen ganzen Mist mit den Terroranschlägen wird man ja zwangsweise vollkommen neurotisch, dachte er verärgert, sogar als Polizist. So weit, dass ein völlig unbedeutender Kleinstadtbulle für diese Leute eine Zielscheibe darstellt, sind wir aber wohl noch nicht.

Wärmland nahm den Umschlag aus dem Briefkasten. Sein Name prangte in großen, mit Computer geschriebenen Buchstaben auf einem ausgedruckten Stück Papier, das mit durchsichtigem Paketklebeband am Umschlag befestigt worden war. Ein Absender fehlte. Der Umschlag war nicht sonderlich schwer, und im Innern konnte er einen Gegenstand erfühlen. Zur weiteren Untersuchung der mysteriösen Sendung kehrte Wärmland in seine Wohnung zurück.

Am Küchentisch sitzend öffnete er eine Seite des Umschlages und schaute hinein. Innen befand sich ein weiterer, kleinerer Umschlag. Er zog ihn heraus und erschrak. Der Umschlag wies zahlreiche rote, teils verwischte Flecken auf, die Wärmland sogleich an Blut denken ließen.

Sein Puls beschleunigte sich deutlich, als er auch diesen Umschlag öffnete und im Inneren eine Art Papierknäuel sah, das länglich und gänzlich blutrot gefärbt war. Langsam kam in ihm die Ahnung auf, dass es sich hier nicht um einen sich gerade zu voller Blüte entwickelnden verspäteten Aprilscherz handelte. Er zögerte einen Augenblick und dachte an die Kollegen von der Spurensicherung, aber er konnte jetzt nicht abbrechen, er musste erst wissen, was es mit dieser mysteriösen Sendung auf sich hatte.

Außer dem blutroten Papierknäuel entdeckte er im Umschlag noch eine Karte, die ebenfalls rot verschmiert war. Er zog sie heraus. Auf der Vorderseite sah man einen Mann, der auf allen vieren an unzähligen Schnüren eine große Zahl von Kinderwagen hinter sich herzog. Die Überschrift lautete: »Vater werden ist nicht schwer – Vater sein dagegen sehr.«

Wärmland drehte die Karte um. Auch hier war mit Klebeband ein Stück Papier aufgeklebt worden. Darauf stand in Computerschrift: »Wollen sehen, was für ein guter Vater Wärmland sein kann!«

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Wärmlands Gehirn ergänzte die schriftliche Botschaft augenblicklich um das noch nicht inspizierte Papierknäuel und kam zu einem furchtbaren Schluss. Mit einem üblen Gefühl in der Magengegend faltete er das rote Etwas auseinander. Zum Vorschein kam ein abgetrennter Finger. Auf der Innenseite des Papiers stand: »Ein Gruß von Stefan«.

Wärmland war von einer Sekunde auf die andere schweißgebadet. Eine entsetzliche Schwere umklammerte sein Herz und schnürte ihm die Brust zusammen. Das konnte nicht wahr sein, das durfte nicht wahr sein. Verzweifelt suchte sein Verstand nach einem Ausweg, nach einer Erklärung, die seine schreckliche Vermutung widerlegen könnte.

Warum? Obwohl Wärmland noch gar keinen bestätigenden Beweis für den von ihm unterstellten Zusammenhang hatte, hämmerte sofort diese eine Frage in seinem Kopf: Warum? Das konnte doch unmöglich ein Teil seines Lebens sein. Aber seine innere Stimme übertönte alles und brüllte ihn an: Es ist passiert! Du bist zur Zielscheibe geworden für jemanden, der dich fertigmachen will. Und er hat zu diesem Zweck das Effektivste getan, was möglich war. Er hat sich deinen Sohn geholt.

Wärmland blendete die Stimme aus und versuchte, sich zur Besonnenheit zu zwingen. Er musste ruhiger werden und vernünftig reagieren. Professionell. Er hatte gelernt, professionell zu denken und zu handeln. Das war ihm viele Jahre lang gelungen. Und wenn das hier ein, nein, der Ernstfall war, schuldete er es sich selbst und vor allem seinem Sohn, kontrolliert und besonnen vorzugehen. Panik half niemandem.

Er nahm sein Handy und wählte Stefans Nummer. Nur die Mailbox. So gelassen, wie es ihm möglich war, sprach er seine Nachricht auf Band. »Hallo, Stefan, hier ist Papa. Kannst du mich bitte schnellstmöglich zurückrufen? Ich hab eine Frage wegen Mama … Es ist sehr wichtig. Melde dich bitte, sobald es geht.«

Als Nächstes rief er Ursula an. Auch bei ihr erreichte er nur die Mailbox. Er bemühte sich um einen halbwegs normalen Tonfall. »Hallo, Ursula, weißt du, wo Stefan steckt? Ich muss was Dringendes mit ihm besprechen. Ruf mich doch bitte zurück. Danke.«

Dann informierte er Trobisch.

»Na, mein Alter, hast du wieder den besonders wichtigen Schraubenschlüssel für deinen Rollator verlegt?«, war dessen erster Satz, als er das Gespräch annahm.

»Es ist sehr ernst«, erwiderte Wärmland heiser. »Ich brauche die Spusi-Kollegen bei mir im Haus.«

»Ach du Scheiße! Was ist los?«, fragte Trobisch bestürzt, und Wärmland berichtete ihm, was in den vergangenen neun Minuten geschehen war.

Die Spurensicherer des Koblenzer Präsidiums nahmen sich Wärmlands Briefkasten, den Umschlag, die Karte und das Verpackungsmaterial vor. Sie fanden Fingerabdrücke an der oberen Briefkastenklappe und an der Hauptklappe, aber ob diese vom Absender oder ausschließlich von Wärmland stammten, musste sich noch herausstellen.

Wärmland suchte unterdessen im Verzeichnis seines Handys nach einer Nummer. Dr. Bremicker war in der Bonner Rechtsmedizin, die auch für Wärmlands Bereich, die Osteifel, zuständig war, so spät sicher nicht mehr zu erreichen. Aber für dringende Fälle hatten sie ihre Mobilfunknummern ausgetauscht. Und dieser Fall war wahrlich dringend.

Als Bremicker hörte, was geschehen war, sagte er: »Packen Sie den Finger ein, wenn möglich in Eis, und schicken Sie einen Beamten damit zu mir. Ich schaue ihn mir sofort an.«

Wärmland bedankte sich. Dann nahm er zwei Gefrierbeutel aus einer Küchenschublade und packte das Eis aus einer Eiswürfelschale im Kühlschrank in die eine Tüte und den Finger in die andere. Er steckte den Beutel mit dem Finger in den mit dem Eis und schob das Ganze vorsichtig in einen gepolsterten DIN-A3-Umschlag, den er sicherheitshalber verschloss. Den Umschlag übergab er einem jungen Polizisten, der sogleich in einen Dienstwagen stieg, um den Finger nach Bonn zu Bremicker zu bringen. Wenn nichts Ungewöhnliches geschah, würde der erfahrene Rechtsmediziner in etwas mehr als fünfzig Minuten mit seiner Untersuchung beginnen können.

Wärmland konnte eine Träne nicht unterdrücken. Ihm war bei dieser Aktion so elend zumute. Ein weiterer Anrufversuch bei Stefan und Ursula hatte das gleiche Resultat erbracht wie zuvor. Keiner der beiden war telefonisch erreichbar. Er meinte, es bald nicht mehr ertragen zu können – die Ungewissheit über den Aufenthaltsort seines Sohnes und den Schmerz angesichts der Gefahr und der vielen offenen Fragen.

Trobisch, der zeitgleich mit den Kollegen von der Spurensicherung eingetroffen war, stand hilflos neben Wärmland und sah sich nicht in der Lage, in irgendeiner Weise beruhigend auf ihn einzuwirken. Zu lächerlich erschien ihm im Augenblick jedweder Versuch, tröstende und beruhigende Worte zu finden. Dass so etwas seinem Freund passierte, der Verbrechen dieser Art im Allgemeinen aufklärte, statt sie zu erleiden, machte ihn ratlos. Um überhaupt etwas zu tun, folgte er den nach der Spurensuche wieder abrückenden Kollegen hinunter zu deren Fahrzeug.

Ehe der leitende Spusi-Kollege in seinen Wagen stieg, sagte er mitfühlend zu Trobisch: »Ich hab ja selbst einen siebzehnjährigen Sohn, und zwar einen, der mir zurzeit mächtig auf den Sack geht. Aber wenn ich mir vorstelle, dass ich plötzlich einen Finger von ihm im Briefkasten finde … das ist so gruselig, da merk ich sofort, wie sehr ich mein Kind doch liebe. Ich hab also eine ungefähre Vorstellung davon, wie schlimm Wärmland sich jetzt fühlen muss.«

Als Trobisch wieder nach oben in die Wohnung kam, klingelte Wärmlands Handy. Es war Ursula.

»Was ist denn los?«, erkundigte sie sich beunruhigt. Die feine Nuance ungewohnter Besorgnis in der Stimme ihres Ex-Mannes war ihr beim Abhören seiner Mailboxnachricht offenbar nicht entgangen.

»Weißt du, wo Stefan ist?«, fragte Wärmland kurz.

»Natürlich weiß ich das.« Ursula war sowohl verunsichert als auch leicht aggressiv. »Er ist nach der Schule mit zu Julian gefahren. Die beiden wollen heute Abend zusammen ins Kino gehen, und Stefan wird auch bei ihm übernachten. Aber sagst du mir vielleicht endlich mal, was los ist?«

Vor dieser Frage hatte sich Wärmland gefürchtet. Er wusste nicht, was er Ursula zum jetzigen Zeitpunkt sagen sollte. Durfte er sie in den gleichen Abgrund stürzen, in den er nach dem Öffnen des Umschlags gefallen war? Oder sollte er warten, bis er Gewissheit hatte? Er hatte noch keinen wirklichen Beweis für das, was der späte Postbote ihn glauben machen wollte. Wann musste er ihr offenbaren, dass sie womöglich der größten Katastrophe ihres gemeinsamen Elternlebens gegenüberstanden? Er war gänzlich verunsichert; das Furchtbare anzudeuten, erschien ihm im Augenblick jedoch eindeutig zu grausam.

»Es hat einen Fall von Nötigung unter Jugendlichen an Stefans Schule gegeben«, fiel ihm ein. Das hatte Trobisch, der wusste, dass Wärmlands Sohn auf dem Görres-Gymnasium war, ein paar Tage zuvor erwähnt. »Drei Jungs haben einen Schulkameraden in die Enge gedrängt und ihm zwanzig Euro abgenommen. Das soll kein Einzelfall gewesen sein.«

»Aber was hast denn du als Mayener Polizist damit zu tun?«, wollte Ursula wissen. »Solche Fälle werden doch sicher von den Koblenzer Kollegen bearbeitet.«

Da hatte sie natürlich recht. Wärmland fand nur eine Begründung, die er anführen konnte.

»Offiziell habe ich gar nichts damit zu tun. Ich wollte Stefan aber schon fragen, ob er nicht irgendetwas mitgekriegt hat. Als sein Vater und als Polizist habe ich ja durchaus ein besonderes Augenmerk auf das, was unseren Jungen so umgibt. Vielleicht ist er selbst schon damit konfrontiert worden und hat es uns nur nicht gesagt.«

»Na prima«, hörte Wärmland Ursula schimpfen. »So weit sind wir auf dieser Schule jetzt also auch schon. War ja zu befürchten, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis auch der letzte Hort der Friedfertigkeit von halbstarken Möchtegerngangstern eingenommen wird. Toll, wirklich toll.«

Wärmland rann weiterer Schweiß den Nacken hinunter, obwohl ihm schien, dass er mit seinem kleinen Ablenkungsmanöver Erfolg hatte und Ursula bezüglich der tatsächlichen Hintergründe seiner Frage nach Stefans Aufenthaltsort im Unklaren lassen konnte.

»Du wirst dich aber wohl noch etwas gedulden müssen«, ergänzte sie nichts ahnend. »Wenn die beiden jetzt im Kino sind und die Handys aushaben, erreichst du ihn nicht vor elf. Aber das hat doch sicher auch noch Zeit bis morgen, oder? Wenn du ihm auf die Mailbox gesprochen hast, wird er sich ja von sich aus melden.«

Wärmland bestätigte das und dankte Ursula für ihre Rückmeldung. Als das Gespräch beendet war, seufzte er vor Erleichterung, dass ihm die Offenbarung seiner wirklichen Beweggründe erspart geblieben war.

»Was für eine beschissene Situation«, meinte Trobisch leise. »Du willst sie so lange wie möglich schonen. Aber genau das wird sie dir später übel nehmen. Das weißt du.«

Wärmland nickte mit finsterem Blick. »Wenn es allerdings ein Bluff ist und mein Junge gerade gesund und munter mit seinem Freund im Kino sitzt, war es genau das Richtige«, erwiderte er trotzig. »Ich muss Klarheit haben, bevor ich Ursula einweihe.«

»Okay, so gesehen hast du recht«, räumte Trobisch ein. »Bis wir es genau wissen, besteht Hoffnung. Und die ist auch durchaus berechtigt.«

Draußen auf der Straße gingen einige von Wärmlands Mitarbeitern von Haus zu Haus und von Tür zu Tür, um herauszufinden, ob vielleicht jemand aus der Umgebung rund um das Mietshaus, in dem Wärmland wohnte, etwas bemerkt hatte. Eine unbekannte Person, die zum Haus gekommen war und etwas in den Briefkasten geworfen hatte, konnte jemandem aufgefallen sein. Aufmerksame, oft ältere Menschen, die ihre unmittelbare Umgebung genau im Auge behielten, gab es überall. Sie waren nicht bei allen Nachbarn gleichermaßen beliebt, weil sie unaufgefordert über alles wachten und als neugierig galten. Aber manchmal konnte diese Neugier sehr nützlich sein.

Zu einem der drei Zweierteams gehörte auch Regine Nau, eine junge Kommissarin und Wärmlands rechte Hand. Sie hatte sich spontan angeboten, sich an der Befragung zu beteiligen, als sie von dem Einsatz erfahren hatte. Zwar war ihr erster Impuls gewesen, bei Wärmland zu bleiben, um ihm irgendwie beizustehen. Nach dem, was heute geschehen war, brauchte er einen Freund an seiner Seite. Aber dann war ihr bewusst geworden, dass er mit Trobisch genau so eine Person bei sich hatte und dass sie mit einer sorgfältigen Ermittlungsarbeit mehr tun konnte. So war sie nun mit einem anderen Kommissar unterwegs und klingelte die Bewohner der umliegenden Häuser aus ihrer abendlichen Ruhe. Gerade hatte ihnen jemand aus dem zweiten Stock des gegenüberliegenden Hauses kurz und bündig zu verstehen gegeben, dass er weder etwas gesehen noch gehört habe und sich ohnehin nicht für die Angelegenheiten anderer Menschen interessiere. Der Mann wollte auch keinerlei Aufmerksamkeit für sich, denn er komme sehr gut allein zurecht.

Nau nickte verständnisvoll, doch sie sah, dass der vielleicht Sechzigjährige entgegen seiner Aussage gar nicht allein war. Sein »Besuch« scharte sich in größerer Zahl gleich hinter dem Mann auf dem Fußboden im Flur seiner Wohnung. Neben zwei aufeinandergestapelten Kisten Bier – der obere Kasten enthielt überwiegend volle Flaschen – standen dort rund dreißig teils volle, teils leere Flaschen mit höherprozentigem Inhalt. Der nette Herr, dessen Tür sich nun wieder schloss, hatte ganz offensichtlich reichlich Gesellschaft. Zwar war die Zusammensetzung seiner »Gästeliste« alles andere als erfreulich. Aber für eine Alkoholikertherapiestunde fehlte ihr gerade die Zeit. Nau und ihr Kollege wandten sich der nächsten Wohnung zu.

Wärmland hatte unterdessen mit Julians Eltern gesprochen, die Ursulas Angaben bestätigt hatten. Die Jungen waren unterwegs, und man erwartete sie gegen dreiundzwanzig Uhr aus dem Kino zurück. Immerhin hatte Wärmland erfahren, in welches Kino die beiden gegangen waren und um welchen Film es ging.

»Ich werde jetzt nach Koblenz fahren«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich will sehen, ob ich die Jungs beim Verlassen des Kinos abpassen kann.«

Trobisch nickte mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln um den Mund. »Wir machen das zusammen«, sagte er und legte seine linke Hand auf Wärmlands Schulter. »Zweien von unserer Sorte werden sie ja wohl nicht durch die Lappen gehen.«

Als die beiden Männer im Dienstwagen in Richtung Koblenz fuhren, sie waren gerade auf Höhe der kleinen Vulkankuppe des Karmelenbergs, klingelte Wärmlands Handy. Auf dem Display erschien Bremickers Nummer. Wärmland hatte das Gefühl, dass sein viel zu schneller Puls noch einmal zulegte, und er empfand ein unangenehmes Druckgefühl in den Halsschlagadern. Das ist also der Moment, dachte er und fand die Welt mit einem Mal so düster und unerträglich, dass ihr Gewicht ihn zu zerquetschen drohte. Wie sollte er je damit fertigwerden, wenn … ja wenn Bremicker ihm in wenigen Sekunden die schlimme Variante der beiden möglichen Informationen offenbarte?

Wärmland nahm den Anruf aus Bonn an, während Trobisch verkrampft das Steuer hielt und geradeaus starrte. Ab und an warf er Wärmland einen hastigen Blick zu, um an dessen Mimik den Inhalt des Gesprächs abzulesen.