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Karte Avantia
Titelseite

 

 

 

 

 

Mein besonderer Dank gilt Stephen Chambers
 
Für Mamasan

Prolog

Die Welt liegt im Schatten, doch ich bin wach. Wachsam. Denn in der Nacht, im Mondlicht, fühle ich mich lebendig. Ich lausche dem Wald, den raschelnden Blättern und knarrenden Ästen. Ein beißender Geruch dringt in meine Nase, ich spüre den warmen Atem eines Tiers. Es ist ganz in der Nähe. Gut.

Meine Muskeln sehnen sich danach, endlich zuzuschlagen, doch ich rühre mich nicht. Noch nicht. Ich warte auf den günstigsten Zeitpunkt. Das fahle Mondlicht zeichnet eine Landschaft aus grünen Pflanzen und violetten Schatten. Direkt vor mir zittert ein Stechpalmenbusch. Der Wind trägt wieder einen tierischen Duft zu mir – ein Wildschwein, das im Dreck wühlt. Ich bin Nera, eine elegante, tödliche Jägerin. Langsam nähere ich mich, die Muskeln gespannt wie die Feder einer Mausefalle. Ein lautloser Schritt nach dem anderen. Mein Geist ist ruhig; nur mein wedelnder Schwanz verrät die Aufregung der Jagd. In der Nacht bin ich unsichtbar und der Wind steht günstig. Die Beute kann mich nicht wittern. Ich kenne keine Angst, während ich mich näher heranpirsche. Meine Augen sind auf den raschelnden Busch gerichtet, in dem sich das Wildschwein verbirgt. Endlich bin ich nah genug. Die Beute kann nicht mehr entkommen – ich bin schneller, viel schneller, denn ich bin keine Dschungelkatze wie jede andere. Ich bin Nera, die Jägerin.

Hinter mir höre ich ein leises Krächzen.

Ich halte inne und auch im Busch wird es still – meine Beute hat das Krächzen ebenfalls gehört. Instinktiv spanne ich die Muskeln an, während ich einen Blick nach hinten werfe: Im Mondlicht entdecke ich Firepos, meine Lehrerin. Der riesenhafte Flammenvogel, ein Biest von großer Weisheit und schrecklichem Feuer, beobachtet mich. Von oben herab starrt sie mich an, mit steinernem Blick.

Da höre ich ein leises Scharren – das Wildschwein buddelt wieder in der Erde. Es kann mir nicht entkommen, natürlich nicht … aber warum sieht Firepos mich so an? Was weiß sie?

Hinter mir knackt ein Ast. Sofort bricht das Wildschwein durch die Blätter und ergreift die Flucht. Ich kralle mich in den Dreck und schleiche näher heran – als auf einmal ein Junge aus dem nächsten Strauch springt. Mit hoch erhobenem Schwert und wildem Blick verfolgt er die Beute. Doch als sich unsere Augen treffen, erstarrt er, schnappt nach Luft und runzelt die Stirn. Das Schwert ist viel zu lang für ihn, in seinen kleinen Händen wirkt es fast lächerlich groß.

„Es flieht“, sagt der Junge. „Wegen dir ist mir meine Beute entkommen.“

Wegen mir? Ich laufe zu ihm. Er ist anders. Er sucht nicht das Weite, er wimmert nicht um Gnade – nicht mal, als ich ihn beschnuppere und die Zähne blecke. Ich bin Nera, denke ich und knurre. Fürchte mich.

Doch er lächelt mich an und sagt: „Ich weiß zwar nicht, was du für ein Wesen bist … Aber ich habe keine Angst vor dir.“

So jung und schon so frech? Nicht zu fassen! Zugleich kommt mir der Junge seltsam bekannt vor. Liegt es an seinem sorglosen Blick, an seiner unerschrockenen Haltung, an dem Schwert, das er noch immer hoch erhoben in der Hand hält? Wie auch immer. Ich sollte ihm eine Lehre erteilen.

Als ich die Muskeln anspanne, richtet der Junge das übergroße Schwert auf meinen Hals.

„Versuch’s nur.“

Ich stürze mich auf ihn und schlage nach seinem Kopf, doch er duckt sich unter meiner Tatze hindurch, greift mir ins Fell und schwingt sich auf meinen Rücken. Als ich aus voller Kehle brülle, antwortet der Junge mit einem Kriegsschrei und reckt das Schwert in die Höhe. Unsere Stimmen vermischen sich und sein Gewicht auf meinem Rücken fühlt sich … richtig an.

Und plötzlich ist mir alles klar. Plötzlich weiß ich, warum mir seine Bewegungen bekannt vorkommen: Weil ich sie seit jeher kenne. Weil er sich bewegt wie ich. Weil wir, der Junge und ich, eins sind.

Ich blicke mich gründlich um. Firepos ist verschwunden. Der Junge und ich sind allein im mondbeschienenen Wald. Als ich ein paar Schritte gehe, wittere ich das Wildschwein wieder.

„Nera“, sagt der Junge. „Dein Name ist Nera. Ich heiße Cass.“

Ich antworte ihm mit einer stillen Botschaft: Wir sind eins. Alle seine Muskeln entspannen sich – er hat verstanden. Als ich einen großen Satz ins Unterholz mache, muss er lachen. Ich bin schneller, als er erwartet hat.

„Los, schnappen wir uns das Wildschwein!“, ruft er.

Immer schneller sprinte ich durch den Wald, getrieben vom beißenden Geruch der Beute. Zunächst reißen wir das Wildschwein, dann ein Reh. Erst als das erste Morgengrauen die Dunkelheit vertreibt, kehren wir in Cass’ Dorf zurück. Als er meinen Nacken streichelt, lässt eine Botschaft meinen Körper erzittern: Bis heute Abend.

Ich schnurre. Auf die erste Nacht folgt eine zweite und aus Nächten werden Jahre. Immer läuft Cass neben mir her oder reitet auf meinem Rücken. So wächst er heran, bis der Schwertgriff endlich in seine Hand passt. Die Jagd bereitet uns große Freude. Vor uns ergreifen ganze Ziegenherden die Flucht. Ob wilde Pferde, Bären oder Giftschlangen, selbst die ungeschickten Hornrinder aus dem hohen Norden – alle erliegen sie unserem Geschick. Jedes Mal kehren wir gemeinsam zurück, stärker als je zuvor.

„Wir bleiben zusammen“, sagt Cass einmal, als er erschöpft in einem schlammigen Flussbett liegt. Gerade haben wir einen Klipperaal stromabwärts gejagt, meilenweit, bis wir ihn endlich unter Steinen festnageln konnten. „Für immer.“

Auf dem Heimweg, mit dem müden Cass auf dem Rücken, denke ich: Ich werde jeden töten, der dir ein Haar krümmt. Mein Auserwählter Reiter. Mein Cass.

Erstes Kapitel

Langsam drehte sich die goldene Kette im Morgenlicht. An den Seiten war das Medaillon zerkratzt und abgenutzt, doch jetzt glitzerte es wunderschön. Mira ließ es vom Finger baumeln und betrachtete es mit wachen blauen Augen. Ihr Haar war ziemlich verstrubbelt, denn sie hatte auf dem Boden geschlafen, die Zöpfe hatte sie sich hinter die Ohren gestrichen. Sam kauerte hinter ihr, Cass wachte gerade erst auf.

Am Rand der Lichtung hielten ihre drei Biester Wache: Firepos, der riesige Flammenvogel mit seinen golden schimmernden Federn und flammenden Flügelspitzen. Gulko, der geflügelte Wolf, der nun die Lederschwingen dehnte, die Lippen schürzte und sich über die langen Reißzähne leckte. Und Nera, die gigantische Raubkatze.

Sam spürte die Botschaft, die Firepos ihm durch die Luft sandte: Ein neuer Tag bringt neue Herausforderungen. Seit er ein kleiner Junge war, war der Flammenvogel immer bei ihm gewesen. Gemeinsam hatten sie den Tod seines Vaters und die Entführung seiner Mutter überstanden. Für beides war Derthsin verantwortlich, ein abgrundtief böser Kriegsherr. Ohne Firepos hätte Sam niemals überlebt.

Und wir werden auch weiter überleben. Oder, Firepos?, schickte er eine lautlose Botschaft zurück an sein Biest. Sam und Firepos konnten von Anfang an in ihren Gedanken miteinander sprechen.

Eine Krähe krächzte. Sam wusste, was das zu bedeuten hatte: Die Aasfresser kamen. Sie hatten die Toten gewittert. Doch er sah geduldig zu, wie Mira über den Rand des Medaillons strich, bis sie den verborgenen Dorn fand. Sie drückte ihn hinein und mit einem leisen Klicken öffnete sich der Deckel.

Jetzt rappelte sich auch Cass auf. Seine Locken klebten an seinen Schläfen. „Warum müssen wir nur immer so früh aufstehen?“, murrte er und wischte sich über die Augen.

Vorsichtig legte Mira das Medaillon auf die Erde und zog ein winziges, schimmerndes Quadrat aus der Öffnung – ein Seidentuch, das im fahlen Licht glitzerte wie ein plätschernder Fluss. „Weil wir in Bewegung bleiben müssen“, antwortete sie, ohne Cass anzusehen. „Rollst du mal die Karte aus, Sam?“

Sam zog eine Pergamentrolle aus dem Hemd. Seit ein paar Tagen folgten sie dem Weg, den die Karte vorgab. Als er sie auf dem Boden glatt strich, achtete er darauf, den rissigen Rand nicht noch weiter zu beschädigen. Mira schüttelte das winzige Quadrat – es entfaltete sich wie ein kleines Segel. Mit spitzen Fingern legte sie es auf die Landkarte. Hinter ihnen raschelte Firepos mit den Federn, während Gulko schnüffelnd auf und ab lief und Nera mit ihren Katzenaugen das Baumdickicht nach Gefahren absuchte.

Cass seufzte. „Nichts zu sehen.“

„Wart’s ab“, erwiderte Mira.

Sam beugte sich vor. Die hauchdünne Seide schimmerte wie feines Wachs. Unter dem Tuch verschwammen die Farben der Berge und Wälder, die Straßen verwischten, die Namen der Städte und Dörfer waren kaum noch zu entziffern.

„Na toll“, meinte Cass, der auch dazugekommen war. „Jetzt erkennt man gar nichts mehr.“

Sam betrachtete die Karte. „Du weißt doch, wie es funktioniert. Wir müssen ein bisschen warten. Dann sehen wir, wo das dritte Stück der Maske verborgen ist.“

„Ja“, erwiderte Cass grimmig. „Damit wir es verlieren können wie die anderen beiden.“

Sam beschloss, gar nicht erst zu antworten.

„Bitte, Cass“, sagte Mira. „Hab ein bisschen Geduld.“

Der Wind frischte auf, die Kronen der Bäume bewegten sich und durch sie hindurch fiel ein Lichtstrahl direkt auf die Karte. Auf der Seide erschien ein kleines Bild, wie ein Tintenfleck auf Löschpapier. Das Bild leuchtete, als wäre es schon immer da gewesen, als wäre es bisher nur zu dunkel gewesen, um es zu sehen. Ein winziger, funkelnder Umriss. Als Sam die Augen zusammenkniff, erkannte er eine lederne Wange und den Rand einer Augenbraue – ein Viertel eines leeren, geisterhaften Gesichts. Er zitterte. Ganz in der Nähe der Südlichen Höhlen wartete es auf sie: das dritte Stück der Maske des Todes. Der Legende nach war die Maske vor langer Zeit aus dem Gesicht des ersten Biests von Avantia, Anoret, genäht worden. Und seit General Gor, ein Untergebener Derthsins, seine Großmutter Esme umgebracht hatte, jagte Sam den Einzelteilen der Maske hinterher.

Mit ihren letzten Worten hatte Esme ihn zu dem Kartografen Jonas geschickt und nach harten Kämpfen war es ihnen gelungen, dem General das erste Maskenstück abzunehmen. Auch dem zweiten waren sie sehr nahe gekommen, doch Cass hatte recht: Letztendlich hatten sie versagt. Nun besaß Gor die beiden Maskenstücke, er hatte sie sich an den Gürtel geheftet, als wollte er sich über sie lustig machen.

Wir müssen uns die beiden Stücke zurückholen, dachte Sam. Sonst ist Avantia dem Untergang geweiht. Sollte Derthsin alle Teile in die Finger kriegen, werden ihm alle Biester gehorchen, und niemand wird ihn mehr aufhalten können. Avantia bestand aus verstreuten Städten und Dörfern, deren Bewohner sehr hart arbeiteten, um überleben zu können. Esme hatte ihre Heimat geliebt und ihr Leben dafür gegeben. Sam konnte nicht tatenlos zusehen, wie Avantia auf den Abgrund zusteuerte. Er musste kämpfen, das war er seiner Großmutter schuldig.

Mit dem Finger fuhr Mira über die Karte. „Dieser Weg führt von der Schmiede, wo Derthsins Männer Waffen und Rüstungen hergestellt haben, zu den Südlichen Höhlen.“

„Vielleicht …“, dachte Sam laut, „haben sie die Schmiede dort oben in den Bergen gebaut, um eine Armee im Süden auszurüsten.“

Cass runzelte die Stirn. „Das gefällt mir überhaupt nicht.“

Bevor Sam die Karte einrollte, warf er noch einen Blick auf das weite Grün der Weideländer Avantias und auf die dunklen Flecken in der Mitte und am Rand der Karte, wo dichte Wälder wucherten. In vielen Gegenden war er noch nie gewesen, doch er war bereit, für das ganze Land zu kämpfen. Er würde nicht zulassen, dass Derthsin triumphierte.

Derthsin. Der Unmensch, der seinen Vater ermordet und seine Mutter entführt hatte, als Sam noch ein kleines Kind war. Danach war Sam bei seiner Großmutter aufgewachsen, die ihn streng, aber liebevoll großgezogen hatte.

Auch Firepos hatte sich um ihn gekümmert. Sie hatte ihren treuen Auserwählten Reiter alles gelehrt, was er wissen musste – bis der Albtraum zurückgekehrt war: Auf Derthsins Befehl hatte General Gors Armee Forton, Sams Heimatdorf, angegriffen. Sam hatte fest angenommen, dass der grässliche, gesichtslose Krieger ums Leben gekommen war, als Firepos ihn nach dem Mord an Sams Vater in einen brodelnden Vulkan geschleudert hatte.

Er hatte sich geirrt. Derthsin war wieder da. Um jeden Preis wollte dieser alle Teile der Maske des Todes besitzen, die ihm – wieder zusammengesetzt – Macht über alle Biester verleihen würde. Lange Zeit waren die einzelnen Stücke der Maske über das ganze Land verstreut und in sicheren Verstecken verwahrt. Kurz vor ihrem Tod hatte Esme ihren Enkel zu Jonas, dem Kartografen, geschickt. Jonas war aber verschwunden gewesen. Stattdessen war Sam den Zwillingen Mira und Maron begegnet, die bei Jonas aufgewachsen waren. Mira kannte die Geheimnisse der Karte, auf der die Verstecke der vier Maskenteile verzeichnet waren.

Seitdem waren sie mit ihren Biestern durchs Land gereist, Sam auf seinem Flammenvogel Firepos, Mira auf ihrem geflügelten Wolf Gulko. In einem verwüsteten Dorf hatten sie Cass kennengelernt, den einzigen Jungen, der nicht von Gors Männern entführt worden war. Cass war hochmütig und er gab gern mit seinen Schwertkünsten und seinem schnellen Dolch an. Sam konnte immer noch kaum glauben, dass auch er ein Auserwählter Reiter war. Doch das Schicksal wollte es, dass sie Seite an Seite kämpften und so gewöhnte er sich allmählich an seine neuen Verbündeten. An Cass und sein Biest, den Puma Nera. Die blutige Schlacht in Derthsins Schmiede hatte sie dann endgültig zusammengeschweißt – vor allem durch den großen Verlust, den sie am Ende erlitten hatten: Miras Bruder Maron war dem bösen Zauber ihrer Feinde verfallen und dafür hatte er mit dem Leben bezahlt.

Sam warf Mira einen Blick zu. Sie hatte ihren Bruder sterben sehen. Vielleicht würde sie nie wieder dieselbe sein. Als er ihr die Karte reichte, sah er, dass ihre Augen verquollen waren. Anscheinend hatte sie kaum geschlafen.

„Keine Sorge, mir geht’s gut“, meinte sie, faltete das Seidentuch wieder in das Medaillon und hängte sich die Kette um den Hals.

„Los“, sagte Sam. „Wir sollten aufbrechen.“

„Moment“, meldete sich Cass zu Wort. „Hab ich denn gar nichts zu sagen? Ich glaube, wir sollten noch etwas warten – zumindest bis die Sonne den Tau getrocknet hat. Ich spüre es und meine Instinkte sind besser als deine.“

„Ach ja?“, erwiderte Sam. „Da wär ich mir nicht so sicher. Außerdem haben wir keine Zeit, hier rumzutrödeln. General Gor hat schon zwei Stücke der Maske.“

„Stimmt. Und wer ist schuld daran?“, murmelte Cass.

Wut brodelte in Sams Brust. Er erinnerte sich, wie Gor sie in den Minen verspottet hatte. „Auf euch wartet nur noch der Tod“, hatte er gesagt und um ein Haar hätte er recht behalten. Gegen die Übermacht seiner Soldaten waren Sam und seine Freunde machtlos gewesen. Sie hatten dem General die Maskenstücke nicht abjagen können. Doch damals hatte Cass sich von seiner mutigen, selbstlosen Seite gezeigt. Er hatte Sam geholfen, die entführten Jungen zu befreien. Nur Miras Bruder konnten sie nicht retten … Diesen Cass brauchen wir jetzt, dachte Sam. Nicht diesen eingebildeten Miesepeter.

Mira legte Cass eine Hand auf die Schulter. „Beruhig dich. Es hat keinen Sinn, jetzt darüber zu streiten.“

Sam ging zu Firepos, hielt sich an ihren hellen Federn fest und hievte sich auf ihren Rücken. „Wir können nicht länger warten. Wir müssen zu den Südlichen Höhlen, und zwar so schnell wie möglich.“

Cass warf Mira ein Lächeln zu, während sie auf Gulkos Rücken kletterte. Lederne Schwingen wuchsen aus dem Nacken des Wolfs, spitze Zähne blitzten im Licht, lang wie die Klingen eines Dolchs. Mit starren gelben Augen sah Gulko zu, wie Cass auf Neras Schultern sprang. Die Raubkatze fauchte, dann bleckte sie ihre rasiermesserscharfen Zähne. Hoch oben auf Neras Rücken rollte Cass die Augen und rief in Sams Richtung: „Nun denn, oh Herr und Gebieter, zeige Er uns den Weg!“

Mit flammenden Flügelspitzen schwinge ich mich in die Luft. Endlich kann ich den Körper strecken und den Schnabel nach Süden richten, wo unser nächstes Abenteuer wartet. Während ich über die Baumwipfel steige, hoch in den Himmel, zieht mich eine unsichtbare Kraft vorwärts. Ich weiß, auch Sam spürt diese Kraft. Mit aller Macht lockt uns die nächste Herausforderung, wir können ihr nicht widerstehen. Im Süden werden wir unserem Schicksal begegnen …

Firepos trug Sam hoch in den Himmel. Äste und Blätter peitschten über sein Gesicht, als sie durch das Blätterdach brachen. Berauscht von der rasanten Geschwindigkeit, kreischte der Flammenvogel laut auf. Sam krallte sich ins Gefieder, doch als Firepos plötzlich nach rechts abdrehte, rutschte er zur Seite. Verzweifelt versuchte er, sich festzuhalten. Endlich bekam er eine Feder zu fassen. Er zog sich hastig zurück auf ihren Rücken.

Du bist schneller als der Wind!, dachte er. Er strich ihr über die Federn, die gelb, orange und rot schimmerten. Als er genauer hinschaute, sah er das Feuer in ihrem Inneren. Es wartete nur darauf, freigelassen zu werden. Mein Phönix, dachte er. Mein Flammenvogel.

„Hey!“, kam ein Schrei von unten. Cass saß auf Neras Rücken. In rasend schnellen Sätzen sprang die Raubkatze über die Hügel. Sie hielt sich an kein Muster und keinen Rhythmus, sondern sauste von einer Stelle zur anderen, als würde sie stets nach dem besten Angriffswinkel suchen. Unter ihrem goldenen Fell spannten sich gewaltige Muskeln.

Firepos wechselte in den Sinkflug. Neben ihr flog Gulko mit Mira auf dem Rücken. Inzwischen hatten sie den Wald hinter sich gelassen, doch bis zu den Südlichen Höhlen war es noch ein weiter Weg. Unter ihnen schrumpften die Nördlichen Berge zu niedrigen Hügeln zusammen. Kahle Felsen wichen grünem Weideland und verstreuten Nadelwäldern, die früher vielleicht die Grenzen von Gutshöfen und Fürstentümern markiert hatten.

„Hey!“, rief Cass noch einmal.

„Was ist?“, erwiderte Sam.

„Warum machen wir kein Wettrennen? Nera ist schneller als Firepos und Gulko zusammen!“

Sam hörte, wie Gulko schnaubte. Der Wolf fuhr mit den Tatzen durch die Luft, doch seine Lederschwingen hoben und senkten sich gleichmäßig wie zuvor. „Ach, Cass …“, murmelte Mira.

„Was ist?!“ Cass’ Gesicht war rot angelaufen. „Traut ihr euch nicht, oder was?“

„Lass das, Cass!“, rief Sam. „Wir müssen vorsichtig sein. Da unten könnte eine ganze Armee lauern!“

Cass schüttelte den Kopf. „Das sind doch Ausreden! Du hast bloß Angst zu verlieren!“

Als Nera beschleunigte, knurrte Gulko und selbst Firepos ließ sich zu einem grollenden Kreischen hinreißen.

Was für ein Idiot, dachte Sam. Wegen ihm laufen wir noch Gors Armee in die Arme.

Doch Nera hatte schon einen deutlichen Vorsprung herausgeholt. Sam, Mira und ihre Biester konnten ihr nur noch hinterherschauen.