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© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2010

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Cover und Illustrationen von Silke Brix

E-Book-Umsetzung: Hamburg 2014

ISBN 978-3-86274-045-1

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Manches ist bei Paule anders

Bei anderen Kindern ist alles ganz einfach. Sie wachsen bei einer Frau im Bauch und dann werden sie geboren und die Frau nimmt sie mit nach Hause und die ist dann auch ihre Mutter. Und wenn sie Glück haben, sind da meistens noch ein Vater und vielleicht auch Geschwister oder ganz vielleicht sogar ein Hund.

Bei Paule ist das alles anders.

Einen Hund hat er sowieso nicht, klar, obwohl er sich den nun wirklich schon lange genug gewünscht hat und ihn ganz bestimmt auch immer spazieren führen würde und füttern und einmal im Monat sogar abseifen, damit er nicht stinkt.

Und Geschwister hat er auch nicht, was nicht so schlimm ist, wie keinen Hund zu haben. Geschwister haben ist nämlich manchmal auch nicht so schön. Besonders ältere Schwestern oder Babys, das weiß Paule von Andreas, der hat beides.

Natürlich hat Paule Mama und Papa. Aber das ist es eben. Die sind auch nicht so wie bei anderen Kindern. Sie haben Paule aus einem Heim geholt, als er ganz winzig war, nicht aus Mamas Bauch.

»Du warst ein Glücksgriff«, sagt Papa, wenn er mit Paule Fußball spielt und eine Pause machen muss, weil er nicht mehr kann. »Stell dir vor, sie hätten uns einen Jungen gegeben, der nicht Fußball spielen mag!«

»Oder ein Mädchen«, sagt Paule.

Aber Papa mag Mädchen und sagt, es gibt auch welche, die Fußball spielen.

»Ein Mädchen holen wir uns auch noch mal irgendwann«, sagt Papa. »Aber erst mal einen Fußballer, darauf musste ich bestehen.«

Mit Papa ist also meistens alles in Ordnung.

Mit Mama eigentlich auch. Außer dass sie immer so aufpasst, dass Paule seine Hausaufgaben macht, und dass sie nicht will, dass er Schokolade isst, weil davon die Zähne schlecht werden, und dass sie nicht mag, wenn er zu viel Fernsehen guckt.

Aber das mag Andreas’ Mutter auch nicht, obwohl Andreas ja nun wirklich bei ihr im Bauch gewachsen ist. Daran kann es also nicht liegen.

»Mütter sind eben so«, sagt Andreas. »Da kannst du nichts machen. Alle Sorten von Müttern.«

Also meistens ist es Paule ziemlich egal, aus welchem Bauch er gekommen ist, aber manchmal eben auch nicht.

Manchmal würde er schon gern wissen, wie die Frau aussieht, in der er gewachsen ist.

»Wenn du noch ein bisschen älter bist, suchen wir sie mal«, sagt Mama. »Wir wissen ja gar nicht, wo sie wohnt.«

Paule würde gern wissen, warum sie mit dem Suchen nicht jetzt schon anfangen, aber so wichtig ist das nun auch wieder nicht.

Natürlich war da auch noch ein erster Vater. Das war der Mann, den die Frau lieb gehabt hat, in der Paule dann später gewachsen ist. Das war ein Student aus Somalia, hat Papa erzählt und ihm Somalia auf dem großen Globus gezeigt, in dem leider schon seit längerer Zeit die Glühbirne kaputt ist. Somalia liegt in Afrika und deshalb ist Paule so braun.

»Es ist ungerecht«, sagt Mama im Sommer immer, wenn sie wieder zwei Stunden dick eingeölt in der Sonne gelegen hat und überall krebsrot aussieht. »Du tust gar nichts und hast eine Haut wie Apollo, und ich opfere Stunden meines Urlaubs, und alles, was herauskommt, ist eine abgepellte Nase.«

Paule weiß nicht, wer dieser Apollo ist, aber das mit Mamas Nase stimmt genau. Drei Tage lang kann sie sich kleine weiße Fetzen abzupfen, und das sieht wirklich nicht schön aus.

Leider ist Paules Familie ziemlich klein.

»Erzähl noch mal, wie ihr mich geholt habt«, sagt Paule manchmal, weil er die Geschichte ganz gut öfter hören kann.

»Wir waren schrecklich aufgeregt«, sagt Mama. »Wir sind ins Heim gefahren, und das hat furchtbar lange gedauert, weil alle Ampeln rot waren.«

»Und da war ich dann«, sagt Paule zufrieden.

»Genau«, sagt Mama. »Und du warst ganz winzig, gerade zwei Wochen alt.«

»Ungefähr so groß«, sagt Papa und zeigt mit Daumen und Zeigefinger einen Abstand, klein wie ein Radiergummi.

»Quatsch«, sagt Paule entschieden, »so klein war ich nie.«

»Dann vielleicht so«, sagt Papa und macht den Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger etwas größer. »Oder so.«

»Und was hab ich gemacht?«, fragt Paule, nachdem die Frage der Größe geklärt ist.

»Nichts«, sagt Papa. »Geschlafen. Geschrien. Die Windeln vollgemacht. Aber das ordentlich.«

Paule kann sich schwer vorstellen, dass er so klein gewesen ist. Da kann man ja noch gar nichts anfangen mit einem Baby! Er jedenfalls würde sich seine Kinder immer erst holen, wenn sie schon größer sind. »Und dann habt ihr mich nach Hause gebracht«, sagt Paule.

»Genau«, sagt Mama. »Wir hatten noch gar nichts vorbereitet für dich, so plötzlich bist du gekommen.«

»Nur zehn Zentner Windeln«, sagt Papa. »Die brauchte man nämlich bei dir.«

Aber das will Paule gar nicht hören.

»Und dann sind Oma und Opa gekommen«, sagt Paule.

»Um dich anzugucken, klar«, sagt Mama.

»Und Opa hat gefragt, ist der in Schokolade gefallen?«, sagt Paule und muss lachen. Er kann sich genau vorstellen, wie Opa das gesagt hat, Opa macht immer so viel Quatsch.

»Und dann habt ihr alle Sekt getrunken«, sagt Paule zufrieden. »Um zu feiern, dass ich da war.«

»Stimmt«, sagt Papa. »Warum erzählst du dir die Geschichte nicht selbst, Paule, wo du sie sowieso auswendig weißt?«

»So ist schöner«, sagt Paule. »Und wann krieg ich nun einen Bruder?«

Zum Glück gibt es genug andere Kinder, da wo Paule wohnt. Am besten ist, dass gleich im Nebenhaus Andreas wohnt. Es macht viel mehr Spaß, Sachen mit einem Freund zu machen.

Andreas hat natürlich noch seine Geschwister, aber meistens spielt er lieber mit Paule. Britta ist nämlich schon elf und lernt sogar Englisch.

»One, two, three, four«, sagt Britta und hüpft auf dem Plattenweg auf einem Fuß, »wie schade, dass ihr noch kein Englisch könnt, sonst könnten wir uns mal unterhalten.«

»Können wir wohl, alte Ziege«, sagt Andreas. »Eins, zwei, drei, vier, das kann wohl jedes Baby!«

»Five, six, seven«, sagt Paule, damit Britta nicht denkt, nur Andreas kann Englisch. »Please, thank you, good morning!«

Aber Britta lächelt nur überlegen und hüpft weiter den Plattenweg entlang.

»Stand up, please, boys and girls, sit down!«, sagt sie. »Give me your pencil, please!«, und damit verschwindet sie um die Ecke.

»Eingebildete Kuh!«, ruft Paule.

»Angeber, Angeber!«, ruft Andreas.

Aber Britta ist schon verschwunden.

Natürlich ist sie nicht immer so. Manchmal machen sie auch alle was zusammen. Aber wenn dann Brittas Freundinnen kommen, tut sie so, als hätte sie nie mit Andreas und Paule gespielt.

»Man muss ja helfen auf die Kleinen aufzupassen«, sagt sie dann und geht kichernd mit ihren Freundinnen weg.

Das Baby hat Andreas noch nicht lange. Es ist auch ein Mädchen, aber das ist in dem Alter noch ganz egal. Es hat sowieso eine Glatze und kann nicht reden. Aber wenn Andreas kommt und sich über den Wagen beugt, lacht es.

»Aguuhh!«, sagt das Baby.

»Ja, ja«, sagt Andreas, »selber aguuhh, du kleine Wurzel!«

Das Baby heißt Bette. Und das sind sie dann auch schon, Andreas’ Schwestern.

Es gibt auch noch einen Viktor auf der anderen Straßenseite und gleich zwei Katrins. Und auf dem Spielplatz sind natürlich immer Kinder und in der Schule sowieso.

Es ist überhaupt ganz schön, da wo Paule wohnt, er möchte gar nicht woanders sein. Nur einen Bruder möchte er noch und bestimmt einen Hund.

Probleme wegen Gabriel

Am schönsten im Jahr ist Weihnachten, findet Paule. Er mag die Tannenbäume und die Lichter überall und den Geruch nach Keksen und Kerzenlicht und angekokelten Tannennadeln.

Natürlich auch die Geschenke und Weihnachtseinkäufe und die CDs mit Weihnachtsliedern, bei denen Papa immer sagt, er kriegt davon Kopfschmerzen.

Nein, Weihnachten ist hundertprozentig mit Abstand die beste Zeit im Jahr, da ist er sich mit Andreas einig.

Und in diesem Jahr passiert noch etwas besonders Gutes. Paule ist nämlich seit dem Sommer in der Schule, und genau am Montag nach dem ersten Advent sagt die Lehrerin, dass sie eine Überraschung hat.

»Wir wollen für eure Eltern und Geschwister ein Krippenspiel einüben«, sagt Frau Rübsam.

Die ganze Klasse soll mitspielen, man braucht so viele Hirten und Engel und Könige und einfach Leute, die das Kind angucken kommen. Für jeden gibt es eine Rolle und alle müssen auch verkleidet sein.

Erst mal erzählt Frau Rübsam die Weihnachtsgeschichte, weil es natürlich Kinder gibt, die gar nicht wissen, was ein Krippenspiel ist. Sie erzählt, wie Maria und Josef abends durch diese kleine Stadt Bethlehem gezogen sind, Maria schon mit einem ganz dicken Bauch, weil sie bald ein Baby kriegen sollte. Aber absolut nichts war da, wo sie übernachten konnten.

»Kein Hotel?«, fragt ein Junge, der Olaf heißt und im Sommer in Spanien war. »Das glaub ich aber nicht!«

»Hotel, haha«, sagt Andreas leise zu Paule. »Damals gab es ja noch nicht mal Autos, sonst wären die doch nicht so blöd gewesen und auf einem Esel geritten!«

Denn das waren Maria und Josef tatsächlich, erzählt Frau Rübsam, und dass sie dann schließlich einen Stall für die Nacht gefunden hatten, und das Baby musste in einer Futterkrippe liegen. Aber dann kamen plötzlich von überall Engel und sangen, weil es ein ganz besonderes Baby war, und die Hirten von den Feldern kamen gelaufen; und sogar drei Könige von ganz weit her, wo es Morgenland heißt, reisten an mit Geschenken für das Kind. Und alle standen um die Futterkrippe herum und freuten sich, weil dieses Baby später die Menschen erlösen sollte.

Paule kennt erlösen nur vom Fangenspielen, deshalb fragt er ganz leise Andreas, was das bedeutet.

Der zuckt die Achseln. »Keine Ahnung«, sagt Andreas. »Aber ziemlich viel Aufstand, bloß weil ein Baby angekommen ist, was? Bei Bette ist jedenfalls kein Engel aufgetaucht, und die ist auch ein ganz nettes Kind, finde ich.«

Paule denkt, dass es ganz richtig so ist. Schließlich haben sie auch Sekt getrunken, als er angekommen ist, wenn auch keine Engel da waren.

Diese ganze Geschichte sollen sie also den Eltern vorspielen, sagt Frau Rübsam. Nur für das Baby Jesus nehmen sie eine Puppe, die Kinder sollen morgen schon mal welche mitbringen, damit sie die schönste aussuchen können.

»Wir können Bette nehmen«, schlägt Andreas vor, aber Frau Rübsam ist dagegen. Und das ist auch gut so, denkt Paule, weil Bette immer nur schreit, und dann kann man nicht hören, wie die Engel singen und die Hirten anbeten und die Könige ihre Geschenke anpreisen.