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Über den Autor:

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Dr. phil. Bernd Schmid ist Leitfigur der isb GmbH, Wiesloch (seit 1984) www.isb-w.eu und der Schmid-Stiftung www.schmidstiftung.org

Studium der Wirtschaftswissenschaften, Erziehungswissenschaften und Psychologie. Tätig als internationaler Referent, Lern- und Professionskulturentwickler, Unternehmer und Gründer von Initiativen und Verbänden, dabei Mentor und Konzeptentwickler für das Feld Organisation, für das Nutzen von OE- und Coaching-Know-how auch im Zusammenwirken von Profit- und Nonprofit-Unternehmertum.

Er ist u.a. Ehrenmitglied der Systemischen Gesellschaft, Ehrenvorsitzender Präsidium Deutscher Bundesverband Coaching www.dbvc.de, Preisträger des Eric Berne Memorial Award 2007 der Internationalen TA-Gesellschaft ITAA und des Wissenschaftspreises 1988 der Europäischen TA-Gesellschaft EATA. Life Achievement Award 2014 der Petersberger Trainertage.

Essays zu persönlichen und professionellen Themen www.blog.bernd-schmid.com, zahlreiche Veröffentlichungen als Schriften und Audios zum kostenlosen Download unter www.isb-w.eu.

Videos: www.youtube.com/user/ISBlearning

Internationale Präsenz unter www.isb-i.eu/

Bernd Schmid

Verantwortung

Last und Würde

Essays

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Lesebuch Band II

© 2016 Bernd Schmid

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

978-3-7345-5596-1 (Paperback)
978-3-7345-5597-8 (Hardcover)
978-3-7345-5598-5 (e-Book)

Umschlagabbildung: © Bernd Schmid Fotoarchiv

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Einleitung

Vertrauen

Kontrolle

Ziele

Geben und Nehmen

Sensibelchen

Robustheit

Verlässlichkeit

Leichtigkeit

Weg und Ziel

Große Räder

Kraft schöpfen

Gutmenschen

Des Kaisers Kleider

Bodenpflege

Bedenkenträger

Gründergeist

Unternehmertum im Blut?

Schaulaufen

Whistle-Blowing

Einspruch

Spielräume

Luxus

Zynisch

Nüchtern

Querdenker

Vollkasko

Klare Kante

Plünderer

Raubtierwirtschaft

Verschwendung

Matthäus-Effekt

Kasino-Mentalität

Fortschritt

Spinner und Funktionäre

Professionelle und Dilettanten

Expertokratien?

Reformierbar?

Schuld und systemisch?

Verantwortung

Integrationsverantwortung

Auf der Suche nach der verlorenen Verantwortung

Literatur

Intendanten – ein Thesenpapier

Einleitung

Verantwortung als Schlüsselwort beschäftigt mich schon mein ganzes Leben. Für mich kommt „Verantworten“ von „Antwort geben“, gelebte Antworten vorzugsweise, denn es handelt sich nicht um ein intellektuelles Spiel.

Viele Fragen stellen sich von selbst. Andere muss man stellen lernen, damit man sich zum Antworten aufgerufen fühlt. Mit den Fragen und Antworten umzugehen, im Denken, im Erleben, in Begegnungen und in der Lebensweise, ist nicht immer leicht oder bequem, doch entscheidend für Würde, für Professionalität und Menschlichkeit. Dabei geht es nicht um Strenge, sondern um Wachsamkeit, damit man öfter mal die besseren Antworten versucht. Gelegentlich ein Beispiel geben davon, wie man leben möchte, ist schon viel. Dann stellen sich stille Genugtuung, manchmal sogar Freude ein.

Für diesen Band wurden Essays aus drei Jahrzehnten ausgewählt. Sie spiegeln Erfahrungen und Überlegungen in meinen Lebensbereichen wieder. Sie wurden z.B. als Blogs (www.isb-w.eu/blog.php) von vielen Menschen gerne gelesen. Also kurze Erzählungen, die auch hier zum Sinnieren anregen sollen. An Aktualität haben sie bestimmt nicht verloren.

Die Essays in der ersten Hälfte des Lesebuchs nehmen vorwiegend persönliche Erfahrungen, Einstellungen und Verhaltensweisen in den Blick. Dann öffnet sich zunehmend die Perspektive hin auf gesellschaftliche und berufliche Perspektiven. Mit „Auf der Suche nach der verlorenen Würde – Kritische Argumente zur Ethik und zur Professionalität in Organisationen1“ skizzierte ich 1991 wesentliche Herausforderungen im beruflichen Bereich. Ein Auszug daraus findet sich in Kapitel 40. Die besondere Verantwortung, eigene Beiträge integrierbar zu gestalten, kam 2008 dazu (Kap. 41). Mit „Auf der Suche nach der verlorenen Verantwortung“2 (Kap 42) legte ich 2011 noch einmal die Finger an den Puls. Alles noch offen! Diese Beiträge am Ende des Bandes sind systematischere Abhandlungen, die auf weitere verfügbare Schriften mit Konzepten und Vorgehensweisen verweisen. Ein ergänzendes Thesenpapier soll anregen, ideologische Strohfeuer von nachhaltigen Auseinandersetzungen mit dem Thema zu unterscheiden.

Ich danke Jan Zierock, der seit Jahren meinen Blog sorgfältig betreut und Laura Sobez, die sich engagiert der Lesebuchreihe angenommen hat.

Wiesloch, den 1. November 2016

Vertrauen

April 2013

Ich fange mit einer einfachen Behauptung an: Wir wollen alle vertrauen! 3

Welche Reaktionen darauf können wir bei uns selbst beobachten?

Einfach: Ja! Ohne Einwände? Dann gehören wir zu den wenigen Ungebrochenen. Oder spüren wir ein: Ja, aber! Oder Ja, wenn!? Dann ist die Sehnsucht wach, aber gebrochen. Spüren wir ein: Besser nicht! Dann ist sie zerbrochen und Resignation dominiert. Spüren wir ein: Niemals! oder Träum’ weiter! Dann sind wir wohl schon zynisch geworden. Flucht in generelles Misstrauen. Spüren wir ein: Ja, unbedingt! Dann machen wir uns einer Flucht in die andere Richtung verdächtig.

Die guten Nachrichten: Kultur entsteht aus Gebrochenheit. Also keine Rückkehr zu Naivität. Und: Zyniker sind Idealisten, aber eben verprellte. Beide können sich schwer tun, der Spannung zwischen Sehnsucht und Realismus Stand zu halten.

Generell ist das Problem auch nicht zu lösen. Ich habe meinen Klienten immer gesagt:Mir ist nicht wichtig, ob Sie mir anfänglich misstrauen oder vertrauen. Wichtiger ist, ob Vertrauen oder Misstrauen blind oder wach sind! Sind sie wach, dann werden Sie mir vertrauen, wenn ich es verdiene.“ Blindes Vertrauen ist also nicht besser als blindes Misstrauen und führt am Ende meist zu Misstrauen.

Die entscheidende Frage: Ist die Beziehung lernfähig, was Vertrauen angeht? Gebrochenheit gehört dazu. Wachheit und Dialog über Vertrauen bieten die Chance zu geläuterten Vertrauensbeziehungen, in denen berechtigtes Misstrauen neben berechtigtem Vertrauen seinen Platz finden kann.

Worin wollen wir vertrauen? Zum Beispiel in

…Zugehörigkeit: Wer will schon von Ausschluss bedroht sein?

…Verlässlichkeit: Je unsicherer die Verhältnisse und je angewiesener wir sind, desto wichtiger, dass die Dinge in verlässlicher Weise abgehandelt werden.

…Würdigung als Subjekt: Nicht ohne Grund ist die Würde des Menschen der zentrale Wert in fast allen freiheitlichen Verfassungen.

…Raum und Resonanz für Selbstverwirklichung.

Nimmt man eine Gemeinschaft in diesen Dimensionen als vertrauenswürdig wahr, dann entstehen Bindung, Vertrauen und Loyalität. Missbrauch und Ausbeutung sind Gegenkräfte dazu. Erstaunlicherweise können auch diese binden, wenngleich auf ungute Weise.

Kontrolle

April 2013

Wenn Menschen kein Vertrauen in die Kultur einer Gemeinschaft haben, suchen sie Kontrolle, Macht und Privilegien zu erlangen, als Ersatz und oft suchtartig. Umgekehrt errichten Gemeinschaften Kontrollsysteme, wenn sie kein Vertrauen in die Loyalität ihrer Mitglieder haben, auch als Ersatz und unmäßig. Beides bedingt sich gegenseitig.

Doch Kontrolle alleine löst die Kulturprobleme nicht, aus denen Missstände erwachsen. An den in vielen Gesellschaftsbereichen überhand nehmenden Kontrollen kann man das erleben. Sie schützen angeblich Betroffene. Doch Kontrolle trifft hauptsächlich die Falschen und überzieht sie mit aufgabenfremden Beschäftigungen und Maßstäben. Wer aus seinem Kultur- und Selbstverständnis heraus nicht zu verantwortlichem Handeln veranlasst wird, kann nur vielleicht durch flächendeckende Kontrolle erreicht werden, meist um den Preis totalitärer Verhältnisse, die den ursprünglichen Sinn der Kontrolle sabotieren.

Ersetzt werden z.B. Vertrauen in Zugehörigkeit durch Rechtsanspruch, Verlässlichkeit durch Bürokratisierung, Würdigung durch Privilegien!

Verwaltung und Kontrolle binden die Kräfte. Sie werden zum Korsett, das Verkrümmungen im Rahmen hält. Kontrolle verheißt zunächst Sauberkeit, Schutz vor Fehlentwicklung und Missbrauch. Doch selbst ein ordentliches Kontrollsystem gerät leicht zur beherrschenden Organisationsdynamik. Was die Aufmerksamkeit dominiert, dominiert die Kultur. Anders als meist zitiert, soll jedoch das berühmte Lenin-Wort besser übersetzt werden mit:

Vertraue! Doch kontrolliere auch!4 Kontrolle also Ergänzung und nicht Ersatz! Nicht leicht, einen guten Pfad und maßvolles Vorgehen zu finden.

Gesunde und leistungsfähige Gemeinwesen brauchen Kontrolle, vorrangig gelernte und kulturell bestärkte Selbstkontrolle. Außenkontrolle soweit notwendig, möglichst nur übergangsweise und dann als Sicherung im Hintergrund. Vertrauenskultur darf nicht zahnlos sein. Sonst wird sie zu verwundbar gegenüber Störern.

Vertrauen hat viel mit Leistung zu tun. Risiko und Kreativität sind nötig, um Gemeinwesen lebendig zu halten. Zur positiven Risikokultur gehört die Akzeptanz, aus Fehlern zu lernen und dass durch Rahmen verhindert wird, dass sich Fehler unbemerkt in gefährliche Dimensionen auswachsen. Das funktioniert nur, wenn Verantwortungsdialoge als selbstverständlich institutionalisiert sind und dabei alles auf den Tisch kommt. Dies wiederum ist nur der Fall, wenn Vertrauen in den guten Umgang damit gewachsen ist. Daher unser Motto: Kultur entsteht durch Kultur und Beispiele machen Schule.

Ziele

März 2012

Noch so erfolgreiche Wege können erschöpfen, wenn das Wie nicht mehr stimmt. Dann taugen neue Ziele für alte Gangarten nicht. Vielleicht aber können andere Gangarten zu neuen Zielen führen.

Hierzu ein Beispiel:

Coaching-Gespräch mit einem Geschäftsführer aus einer Edelbranche im Handel. Er ist ein Mittvierziger, hat alles Angenehme, mit dem man sich in gehobenen Positionen umgibt, auch Familie. Es ist ihm ein Anliegen zu definieren, wo er in zehn, fünfzehn Jahren sein möchte.

Er hatte sich vor 20 Jahren vorgenommen, Geschäftsführer zu werden. Dieses Ziel ist seit einiger Zeit erreicht. Seither sucht er ein neues Ziel, auf das hin er leben könnte. Doch klappt es irgendwie nicht. Es gibt nur noch eine begrenzte Menge an solchen Zielen und keines will ihn so recht begeistern. Andere Arten von Zielen, wie sich neuen Lebensbereichen und Menschen öffnen, dabei an Lebensentwicklungen anderer Anteil nehmen, sich selbst in neuer Weise erproben und erfahren, machen ihn unbeholfen. Wie sollte man das angehen? Er ist ein gescheiter Mensch und begreift bald, dass er mit der Bildung von Zielen wie bisher nicht wirklich weiter kommt. Aber wonach und wie suchen?5

Wir begegnen dem oft in der Lebensmitte. Menschen versuchen in altem Modus neue Wege zu beschreiten. Doch wäre für sie wichtig zu verstehen, dass nicht ein neues Ziel im alten Modus, sondern ein neuer Modus der Lebensorientierung wirkliche Entwicklung bedeutet und Chancen bietet, dem Leben neuen Sinn zu verleihen. Zunächst aktivierte obiger Coachee sein bislang erfolgreiches Steuerungsprogramm: Ziele definieren, Zielerreichung planen, Aktivitäten Richtung Zielerreichung starten und loslegen! Wie Motorboot fahren. Egal was Wind und Wasserströmungen nahe legen, den Motor anwerfen und mit viel PS los düsen!

Eine Alternative wäre Segeln. Man weiß sich auf Wind angewiesen, arrangiert sich mit den Strömungen, muss gelegentlich gegen den Wind kreuzen, „Umwege“ in Kauf nehmen, um letztlich doch in die richtige Richtung voranzukommen. Ausstattung und Können sind zwar wichtig, doch garantieren sie kein Vorankommen. Drifts und Unwägbarkeiten geben Gelegenheit, sich in Wagemut, aber auch in Demut zu üben.

Vielleicht steht keine nächste Etappe im bekannten Rennen, sondern eher ein Entwurf an, wie das Berufsleben und die weitere Lebens-Entwicklung anders angegangen werden könnten und zu wem6 man sich dann entwickeln könnte. Hierzu können innere Bilder und Erinnerungen, vielleicht aus der Jugendzeit, befragt werden7. Oft sind es Träume, in denen brach liegende Seiten der eigenen Persönlichkeit in Erscheinung treten. Man erkennt sie nur nicht als zu sich gehörend. Lange vernachlässigt, können sie zunächst ziemlich heruntergekommen erscheinen. Vielleicht mussten sie aus verständlichen Gründen lange Ziele zurückstehen und könnten nun zum Zuge kommen. Sollten es wesentliche Seiten sein, verlangen sie gerade in der 2. Lebenshälfte ihren Platz. Bleiben sie unberücksichtigt, können sie absterben oder subversiv im Hintergrund wirken.8

Für viele Menschen ist der Dialog mit Träumen9 ein Weg, sich mit ungewohnten Bestrebungen der eigenen Seele anzufreunden. Da man dazu neigt, mit Träumen auf gewohnte Weise umzugehen, sind Spiegelungen anderer wichtig. Diese können oft unbefangener und konstruktiver mit Bildern aus dem Schattenbereich der anderen Persönlichkeit umgehen. So entstehen Ideen, wer oder wie man sonst noch sein könnte. Man hebt die Augen, ahnt irgendwo jenseits der Nebelfelder ein Gipfelkreuz. Doch man muss sich an den Aufstieg machen. Dieser kann langwierig sein, schwierig trotz guter Voraussetzungen und Ausrüstung. Man ist von Wetterlagen abhängig. Vieles kann nicht allein bewältigt werden. Die passenden Seilschaften zu finden und sich im Team zu bewegen, ist nicht so einfach. So manches scheint im Wege. Erst langsam erkennt man, dass Vieles auf dem Weg ist, diesen reich macht. Man lernt, die Befriedigung nicht im vorweggenommenen Gipfelsturm, sondern in den Etappen zu finden. Dann ist schon viel gewonnen. Wer vom Gipfel alles erwartet, kann dort nach kurzer Euphorie nur enttäuscht sein. Und was soll danach sein? Ein kluger Bergsteiger hat immer den Abstieg mit in der Planung.

Geben und Nehmen

Februar 2012

Ein Dilemma kommt selten allein.

Dass in Beziehungen Geben und Nehmen irgendwie gut geregelt werden muss, stößt überall auf Zustimmung. Spannend finde ich, wenn man bei Auseinandersetzungen um Anrechte, Ansprüche und Entgegenkommen in Beziehungen, ein Paradox beobachten kann: Einige, die am wenigsten beitragen, wenn Suppe gekocht wird, beeilen sich, mit möglichst großen Tellern beim Austeilen derselben zur Stelle zu sein. Oft stellen die, die nicht wirklich reichlich beigetragen haben, die höchsten Ansprüche an das, was geworden ist bzw. an die anderen in der Gemeinschaft. Diese Ansprüche werden mit Verbissenheit vorgetragen und aus einer erstaunlichen Geschichtsschreibung abgeleitet. Abenteuerliche Rechnungen werden aufgemacht, bei denen die tatsächlichen Köche schlecht und die Suppenpiraten gut wegkommen. Das ruiniert auf Dauer die Großzügigkeit und die Friedfertigkeit der geduldigsten Köche. Statt ihre Beiträge gewürdigt zu sehen, wird ihnen manchmal sogar Ausbeutung, Missbrauch oder gar Betrug unterstellt. Wird da nicht durch ein Haltet den Dieb! die Aufmerksamkeit fehlgelenkt?

Müsste der Vorteilnehmer nicht irgendwo wissen, wie ungerechtfertigt seine Haltung ist? Darf die Scham darüber nicht zu Bewusstsein kommen? Würde er sich erst recht erniedrigt fühlen? Er müsste sich die eigenen Mängel, die eigene Anmaßung und das Profitieren von anderen eingestehen. Wird hingegen die Großzügigkeit der Geber als (zumindest moralisches) Herrschaftsgebaren Geben und Nehmen interpretiert, können sich die Nehmer mit dem eigenen Opferstatus und ihren Ansprüchen auf Wiedergutmachung beschäftigen. Durch Lärm soll vermieden werden, dass all dies offensichtlich wird, und dass man es bei diesen Rahmensetzungen nicht auf Augenhöhe schafft. Statt vermeintliche Rechte einzufordern, auch noch die Großmut der Geber anzuerkennen, würde den Gesichtsverlust - auch vor sich selbst- so verschärfen, dass dies die eigene Aufrichtigkeit überfordert. Kann dies -psychologisch betrachtet- in einer solchen Lage erwartet werden?

Bei den Gebern, könnte man denken, wäre die Lage komfortabel. Dies stimmt vielleicht bezüglich der materiellen Lage. Denn wer bisher gut Suppe kochen konnte, wird dies auch weiterhin können und tun, selbst wenn er viel abgibt. Doch wie ist die Seelenlage? „Was soll’s?“ könnten die Geber eigentlich sagen und der Sache ihren Lauf lassen. Doch will man diesem Treiben Vorschub leisten? Wer will sich schon übervorteilen lassen? Sollte man dem Einhalt gebieten, auch wenn dies ein heikles Unterfangen ist? Lohnt es, seine Kräfte dabei zu verzehren? Eigentlich nicht. Aber will man auch noch eine erlebte Imagebeschmutzung hinnehmen? Dann wird einem doppelt genommen. Aber, wie sich wehren, ohne eine unfruchtbare Auseinandersetzung zu führen und den Schaden noch zu vergrößern? Zwar hätte man zunächst gerechte Motive, doch müsste man den weiteren Schaden mitverantworten, weil man ja weiß, wohin das führt. Denn: „Im Rechthaben verharren führt zu Unrecht“10 Eine loselose-Situation innerhalb der entstandenen Optionen und für beide Seiten ein Dilemma11.

Hätte man das verhindern können? Ein klarer Umgang mit dem Geldbeutel erhält die Freundschaft, sagt der Volksmund. Doch soll man wirklich in Freundschaftsbeziehungen rechnen? Muss denn alles kommerzialisiert werden? Eher nicht, doch wenn Geben und Nehmen nicht irgendwie ausgeglichen werden, gehen Freundschaften eben auch baden. Alles muss irgendwo seinen Ausgleich finden. Man kann guten Gewissens von Beziehungsökonomie sprechen. Wer das verteufelt, muss mal näher nachschauen, welche seiner „zwischenmenschlichen Geschäfte“ unter der Ladentheke abgewickelt werden sollen.

Helm Stierlin spricht vom Verrechnungsnotstand12. Großzügigkeit allein ist keine Lösung, sondern ein Holzweg, den man leicht aus Bequemlichkeit, Überlegenheitsneigungen oder falsch verstandener Selbstlosigkeit zu gehen bereit ist. Also besser, man klärt frühzeitig mit sich und anderen, wie es mit Geben und Nehmen und mit der Augenhöhe steht. Dabei geht es nicht unbedingt um Kommerz. Neben Geld gibt es viele Maßeinheiten, in denen gerechnet werden kann und viele Währungen, die dabei zählen. Man sollte sich verständigen, was für wen wie zählt, sonst stimmen die Rechnungen nicht und erst recht nicht überein. Währungen, für die es nicht die üblichen Preisschilder gibt sind z.B. Kreativität, Aufmerksamkeit, Hingabe, und Würdigung, Solidarität, Treue, Engagement oder Mut. Ich jedenfalls traue solchen, deren Rechnungen ich kenne, und die meine kennen, mehr als jenen, die vielleicht in untergründigen Buchhaltungen Gläubigerpositionen aufbauen. Stehe ich selbst zu dem, was ich aus der Beziehung nehmen will, dann können wir gemeinsam mit unseren Bilanzen umgehen und so einer Entgleisung der Beziehung vorbeugen. Manchmal gibt eine Beziehung auch weniger als erwartet, dann muss man auch damit umgehen und „abschreiben“. Sonst zahlen alle irgendwie drauf. Und das zerstört, was die Beziehung sonst noch sein kann.

Sensibelchen

Februar 2011

Sind wir Sensibelchen? Wenn mein Wecker um 6 klingelt, stehe ich auf und fertig. Fällt es mir schwer? Ich beschäftige mich nicht damit. „Wat mut, dat mut.“

Auf die Frage, wie es mir geht, habe ich schon immer etwas verstört reagiert. Ich weiß es nicht so recht. Ich interessiere mich auch nicht besonders dafür, es sei denn, es wäre etwas Besonderes. Das liegt wohl daran, dass man sich in meiner Familie nie dafür interessiert hat, wie es jemandem geht. Man wurde selbstverständlich mit dem Nötigen versorgt und bekam Hilfe, wenn dafür offensichtlicher Bedarf war. Ansonsten war Befinden kein Thema. Ist das nun ein Unglück oder ein Glück?

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