Bei Stina brennt noch Licht

Ostfrieslandkrimi

Ele Wolff


ISBN: 978-3-95573-448-0
1. Auflage 2016, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2016 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Unter Verwendung eines Bildes von shutterstock.com

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

1

Der Himmel war dunkel und hing wolkenschwer über Ostfriesland. Die Luft war feucht. An diesem Septembernachmittag konnte Stina den nahenden Herbst schon ahnen. Sie blickte aus dem Fenster und sah in den Himmel. Eine der Wolken formte sich zu einem riesigen Schiff. Als junges Mädchen wäre sie sehr gerne mit so einem Überseedampfer mal nach Amerika gefahren. Aber das blieb immer ein Traum. Erst war sie zu jung, später hatte sie nie das Geld. In der kleinen Fischhandlung Sievers hatte Stina nie viel verdient. Sie hatte es bis jetzt nur von ihrem Geburtshaus in der Altstadt bis in die Ritterstraße, in einen anderen Teil des beschaulichen ostfriesischen Städtchens Leer, geschafft.

Jetzt war ihr Haar grau und die Haut hatte ihre Spannkraft verloren. Sie saß oft bis tief in die Nacht in ihrem Zimmer und las Reisebücher. Auch wenn Stina gewollt hätte, sie hätte gar nicht mehr verreisen können. Sie fühlte sich alt und zu unsicher.

„Es ist doch nicht zu glauben“, stöhnte Stina. Mit einer energischen Bewegung klappte sie den Deckel ihres nagelneuen Laptops zu. Sie hatte versucht, in einem Onlineshop ein Buch über Kalifornien zu bestellen. Nach dem vierten Versuch gab sie auf. Das ist alles Teufelszeug und ich hätte gar nicht damit anfangen sollen, dachte sie und machte sich auf den Weg in die Küche. Seit gestern hatte sie wieder so ein Brennen unter der Fußsohle. Elske meinte, es käme von diesen komischen Schuhen. Die komischen Schuhe waren Gesundheitssandalen mit dicken braunen Lederriemen. Stina liebte gesunde Sachen. Ihre Schwester Rieke zum Beispiel aß mit ihren dreiundsechzig Jahren noch immer jeden Nachmittag ein Stück Torte. Abends gönnte sie sich einen Kurzen und sonntags pichelte sie sogar eine ganze Flasche Rotwein. Viel Zeit verbrachte sie mit Dr. Hirsch in irgendwelchen Lokalitäten und genoss den Frühschoppen oder Dämmerschoppen. Stina verkündete zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ihre Meinung, dass sich dieser Lebenswandel für eine ehemalige Lehrerin für Französisch und Geschichte nicht geziemt. Die drei Lindemann-Schwestern wohnten in einem alten verklinkerten, in die Jahre gekommenen Haus in der Ritterstraße direkt hinter dem Evenburgpark in Leer. Die Büsche rund um das Haus waren groß und dick. Die vielen Bäume im Garten spendeten im Sommer reichlich Schatten und im Herbst verstopfte das viele Laub regelmäßig die Dachrinnen.

Die Haustür fiel krachend ins Schloss und Stina hätte bald vor Schrecken ihren Kaffee über ihr Kreuzworträtsel gegossen.

„Stina, bist du da…?“ Elskes Stimme bewegte sich immer in einer unangenehm hohen Tonlage. Stina hatte jahrelang versucht, ihre Schwester zu bewegen, eine Therapie zu machen. „Du musst zu einer Logopädin“, sagte Stina. „Jeder, der mit dir redet, bekommt Kopfschmerzen.“ Elske weigerte sich und behauptete, das käme daher, weil sie jahrzehntelang in der Bank schweigend die Buchhaltung erledigt habe und sich noch immer nicht an ihre eigene Stimme gewöhnt habe. Denn schließlich wurde im Haus Lindemann auch nie viel geredet.

„Wo ist Rieke?“ Elske füllte den Wasserkocher mit Wasser und schaltete ihn ein.

„Sie schläft“, antwortete Stina.

„Sie war heute Morgen zum Frühschoppen bei ihrem Hausarzt und da ging es wohl feuchtfröhlich zu.“

Das Wasser kochte. Elske übergoss den Pfefferminzteebeutel mit Wasser. Stina wurde übel von dem Geruch. Es erinnerte sie sehr stark an ihre Gallenoperation.

„Wir müssen einen Mann für sie finden, Stina.“ Elske war wild entschlossen. „Sie ist ja nur so trinkfreudig, seitdem dieser Johannes Dingsbums…“

„Förster.“

„Was?“

„Johannes Förster hieß der Kerl.“ Stina konnte sich noch gut an den Rechtsanwalt erinnern. Sie hatte Johannes nie leiden können. Rieke war viel zu schade für ihn gewesen. Stina bezweifelte, dass es überhaupt einen Mann auf der Welt gäbe, der es wert sei, sich auf ihn einzulassen. Nicht umsonst hatte sie nie geheiratet.

„Ok. Also dieser Johannes Förster. Seit er Rieke so plötzlich ohne Abschied verlassen hat, seitdem…“ Elske stockte.

„Elske, das ist fast dreißig Jahre her.“ Stina konnte es nicht glauben. Wie kann eine Frau so viele Jahre einem Kerl hinterher trauern. „Jetzt ist sie eine alte Schachtel.“

Rieke war damals sehr unglücklich gewesen. Johannes Förster war zu einer Tagung nach Berlin aufgebrochen und nie wieder zurückgekommen. Eine genaue Adresse hatte Rieke nicht. Außerdem war sie viel zu stolz, einem Mann, der sie ohne ein Wort verlassen hatte, hinterherzurennen. Noch Jahre nach Johannes Verschwinden hatte sich Rieke die Augen ausgeweint.

Elske nahm einen kleinen Schluck von ihrem Pfefferminztee.

„Es ist besser, sie hat einen Kerl, als dass sie sich zu Tode säuft.“

Stina stand auf. „Papperlapapp… so ein Unsinn.“ Sie drehte mit ihrem Zeigefinger an ihrer Halskette herum „Wir brauchen keinen Kerl im Haus.“

Mit einer energischen Bewegung strich sie ihre Bluse glatt. „Ich gehe jetzt in die Küche. Einer muss ja schließlich kochen.“ Mit trotzigem Schritt verließ sie das Wohnzimmer.

Elske lehnte sich entspannt in den Sessel zurück. Der Pfefferminztee war inzwischen kalt geworden. Sie atmete tief durch. Stina war schon manchmal komisch. Schon als junges Mädchen hatte sie das Zepter in die Hand genommen. Genauso streng wie unser Vater, erinnerte sich Elske.

Georg Lindemann hatte allergrößten Wert auf Ordnung und Sauberkeit gelegt. Niemals lag auch nur eine Zeitung nutzlos, wie er zu sagen pflegte, in der Gegend herum. Das Mittagessen stand pünktlich um halb eins auf dem Tisch. Donnerstags gab es Spinat, freitags Fisch. Gebadet wurde ausschließlich samstags. Einmal war der Kamin durch ein Vogelnest verstopft und der Badeofen konnte am Samstag nicht angeheizt werden. Obwohl zwei Tage später der Kamin gesäubert war, fiel das Baden aus. So weit käme es noch, dass man montags baden würde, empörte sich Herr Lindemann. Ordnung muss sein, betonte er immer wieder, sonst stünde ja die Welt Kopf.

Mutter Gerhardine Lindemann hatte große Mühe, den Vorstellungen ihres Mannes gerecht zu werden. Als junges Paar lebten sie in einer kleinen Wohnung. Nach der Geburt der drei Mädchen beschloss Vater Lindemann, dass es jetzt an der Zeit wäre, ein Haus zu bauen. Er bestimmte selbstverständlich, welche Farbe die Kacheln im Badezimmer hatten und welches Muster der Tapete für die Familie das Beste war. Frau Lindemann durfte entscheiden, wo die Kinderbetten hingestellt wurden. „Du bist die Mutter. Dann weißt du das ja besser.“

Herr Lindemann erfuhr niemals, dass seine Frau vorsorglich alle ihr unmöglich erscheinenden Muster aus den Tapeten- und Fliesenbüchern bereits vor der Inaugenscheinnahme des Gatten diskret entfernt hatte. Elske und Rieke hatten sich dem strengen Regiment des Vaters gefügt. Nur Stina stand in ständigem Krieg mit ihrem Vater. Elske bedauerte, dass Stina auch noch heute mit ihren kriegerischen Anwandlungen ihren beiden Schwestern übel mitspielte. Elske hatte sich immer mehr Harmonie in ihrer Familie gewünscht. Sie schloss die Augen. Die Gedanken um die Vergangenheit hatten sie schläfrig gemacht.

Stina hatte abends gekocht. Grünkohl mit Pinkel. Rieke war aus ihrem dreistündigen Mittagsschlaf erwacht. Elske gab zu bedenken, dass es für Grünkohl noch zu früh wäre, da es doch erst Ende September und noch nicht kalt genug sei.

„Unsinn“, sagte Stina. „Grünkohl kann man auch um Juni essen.“

„Aber es muss doch erst Frost…“, versuchte es Elske noch einmal.

„Ich hatte den Grünkohl eingefroren. Das ist Frost genug“, beendete Stina die Debatte.

Rieke stocherte in ihrem Essen herum. Stina sah sie mit Stirnrunzeln an.

„Was ist? Schmeckt es nicht?“

„Doch, doch“, versicherte Rieke schnell. Sie schluckte, legte ihre Serviette zusammen und holte tief Luft. „Ich muss euch was sagen.“

Ihre Stimme klang ernst. Elske hielt die Luft an.

„Du verreist?“, rief Stina. Sie hatte einen Reiseprospekt auf dem Küchentisch gesehen.

„Nein“, sagte Rieke und atmete heftig aus. „Ich werde heiraten.“

 

Die nächsten Tage verbrachte Rieke vorwiegend auf ihrem Zimmer. Sie konnte Stina unmöglich unter die Augen treten. Sie verließ nur zweimal kurz das Haus, um zum nächsten Supermarkt zu gehen. Sie kam mit flüssigem Proviant wieder, mit dem sie sich über den ärgsten Schmerz hinwegtröstete.

Elske hatte direkt nach der Hochzeitsankündigung einen hysterischen Lachanfall bekommen. Worauf Rieke wütend das Zimmer verließ. Stina hatte schwungvoll die Teller auf das Tablett geknallt, die Schüsseln nahm sie unter den Arm.

„So einen Unsinn habe ich noch nie gehört“, sprach sie laut mit sich selbst. „Wir leben hier doch gut. Kein Kerl, der uns ärgert. Und dann will diese dumme Pute heiraten.“ Voller Ärger und mit ungeheurer Kraft riss sie die Kühlschranktür auf. Diese hing sofort ganz schief in den Angeln, da die Schrauben aus dem Scharnier rausgeflogen waren.

 

Nach einer Woche, es war Elskes einundsechzigster Geburtstag, saßen die drei Lindemann-Schwestern das erste Mal wieder zusammen am Esstisch. Stina hatte auf dem gemeinsamen Abendessen bestanden. Sie war der Ansicht, dass sie mit vierundsechzig Jahren doch eine gewisse Verantwortung für ihre Schwestern übernehmen musste. Stina hatte Snirtjebraten mit Bohnen gekocht, Elskes Lieblingsessen.

„Jetzt erzähl doch mal“, begann Elske und sah Rieke an. „Woher kennst du deinen Zukünftigen?“ Ängstlich beobachtete sie Stina. Die saß aber mit unbeweglichem Gesicht am Tisch.

Rieke lächelte. „Es war so … Also ich habe…“

„Na was?“, unterbrach sie Stina schroff.

„Ich habe eine Zeitungsanzeige aufgegeben“, beendete Rieke erleichtert den Satz.

„Du hast eine was?“ Stina wäre bald an einem Stück Fleisch erstickt.

„Ich habe eine Zeitungsanzeige aufgegeben.“ Jetzt wurde Rieke trotzig. „In der Süddeutschen Zeitung.“

„Im Süden? Aber warum?“ Elske kannte nur die Ostfriesen-Zeitung. Da stand alles für sie Interessante drin. Sie interessierte sich ohnehin nur für die Todesanzeigen.

Stina schabte jetzt mit ihrem Messer auf dem Blumenmuster ihres Tellers herum. Sie sagte nichts. Aber nach ihrer Gesichtsfarbe zu urteilen, hielt sie die Luft an.

Rieke nahm jetzt allen Mut zusammen. „Ja, in der Süddeutschen Zeitung. Ich will keinen ostfriesischen Mann. Die reden immer so wenig, sie sind einfach maulfaul. Es sollte ein Bayer sein.“

Stina atmete zischend aus. Jetzt entspannte sich Rieke. Das Schlimmste hatte sie gebeichtet und die Welt war nicht untergegangen.

„Stellt euch vor, vier Männer haben mir geschrieben. Zwei aus München, ein Bierbrauer und ein Finanzbeamter, einer aus Garmisch Partenkirchen. „Der war …“, sie zögerte.

Jetzt wurde Stina ungeduldig. „Jetzt mach schon.“

„Also, er war Bestattungsunternehmer“, fuhr Rieke fort. „Ich war ganz schön enttäuscht. Er sah auf dem Foto so gut aus. Aber der fasst ja Leichen an und mit denselben Händen würde er dann mich anfassen.“ Sie zog schaudernd die Schultern hoch.

„Naja, der wird sich ja wohl mal waschen“, sinnierte Stina. „Aber, man weiß ja nie.“

Elske wurde jetzt ungeduldig. „Und wer ist es denn?“

„Wer ist was?“, fragte Rieke.

„Den du heiraten willst. Du hast doch gesagt, dass du jemanden kennen gelernt hast.“

Elske hatte sich schon immer über diese Langatmigkeit ihrer Schwester geärgert.

„Ensgraber heißt er. Alois Ensgraber“, schwärmte Rieke. Sie erzählte weiter, dass sie seit fünf Monaten in brieflichem Kontakt standen. Vier Mal hatten sie telefoniert. Dazu war Rieke jedes Mal zur Post gelaufen und hatte den dortigen Münzfernsprecher benutzt. Sie wollte auf gar keinen Fall, dass ihre Schwestern etwas mitbekamen. Sie ärgerte sich, dass sie sich nicht mit dem Internet auskannte. Aber sie konnte ja Stina schlecht bitten, einen Liebesbrief zu schreiben. Ensgraber war so alt wie Rieke und besaß in Fürstenfeldbruck ein Hotel, das er seit vier Jahren auf Rentenbasis verpachtet hatte. Er war Witwer und des Alleinseins müde. Vor drei Wochen sei dann der Brief gekommen, in dem Alois um Riekes Hand bat. Per Eilbrief hatte Rieke den Antrag angenommen.

Elske konnte es nicht fassen. „Da macht einer dir in einem Brief einen Antrag und du nimmst den an? Du kennst ihn doch gar nicht.“

Rieke holte ein Foto von Alois Ensgraber aus ihrem Zimmer. Stina meinte, er sehe aus wie der Bruder der Nachbarin. Elske tippte eher auf einen Schauspieler aus der täglichen Krankenhausserie. „Ihr wisst doch, der schwedische Arzt, der immer alle Krankenschwestern flachlegt.“

„Elske, jetzt reicht es“, stoppte Stina streng ihre Schwester.

„Ich habe ihn eingeladen. Er kommt in zwei Wochen, um mich zu sehen. Und um meine Familie kennen zu lernen.“ Ohne eine Antwort von Elske oder Stina abzuwarten, ging Rieke auf ihr Zimmer.

2

Es war bereits bitterkalt an diesem Oktobernachmittag. Die Lindemann-Schwestern standen auf dem Bahnsteig vier des Leeraner Bahnhofs. Stina und Elske froren erbärmlich, obwohl sie sich in dem kleinen Bahnhofscafé mit einer heißen Schokolade aufgewärmt hatten. Rieke stand mit offenem Mantelkragen am zugigen Bahnsteig. Elske war sich nicht sicher, ob diese Hitze ihrer Schwester von dem eben getrunkenen doppelten Wodka oder von der freudigen Erwartung auf ihren Zukünftigen kam. Rieke hatte im Central Hotel ein Einzelzimmer für Alois bestellt. Das war besser so. Immerhin war er ja noch ein Fremder.

Zwanzig Minuten später hielt der Zug aus Bremen am Bahnsteig. Alois Ensgraber hatte Rieke per Telefon an der Post mitgeteilt, dass er in München und Bremen umsteigen müsse und erst nach elfstündiger Fahrt in Leer ankommen würde.

„Wo bleibt er denn?“ Rieke reckte ungeduldig ihren nackten Hals. Die wenigen Reisenden waren bereits ausgestiegen und der Bahnsteig war bis auf ein paar Wartende leer.

„Vielleicht hat er den Zug verpasst“, mutmaßte Elske. „Oder den Anschlusszug. Die Verspätungen sind ja immerhin beträchtlich und wir sollten…“

„Grüß Gott“, sagte eine Männerstimme hinter ihnen. Die drei Frauen drehten sich erschrocken um. Vor ihnen stand ein Herr Mitte sechzig, gekleidet in grünem Loden und auf seinem runden Kopf saß ein brauner Filzhut.

Als erstes fand Stina ihre Sprache wieder. „Sind Sie der Bayer?“, fragte sie direkt.

Der Mann nahm seinen Hut vom Kopf und verbeugte sich. „Ja, mein Name ist Ensgraber, Alois Ensgraber.“ Er verbeugte sich vor den Damen.

 

Nach einem ausgiebigen Abendessen im Lindemannschen Esszimmer brachte Rieke mit Hilfe ihres Fahrrades als Gepäckträger Alois Ensgraber ins Central Hotel in der Stadt. Er weigerte sich, ein Taxi zu nehmen. „Das ist doch viel zu teuer, meine Liebe“, versuchte er Rieke von seinem Standpunkt zu überzeugen.

Das Abendessen war ruhig verlaufen. Stina und Elske brannten auf nähere Einzelheiten das Brautpaar betreffend. Sie wurden enttäuscht. Alois erzählte von seinem Hotel in Fürstenfeldbruck, von seinen Eltern, die das „Ding“ aus dem Nichts aufgebaut hatten. Die Eltern waren lange tot. Alois Schwester Walburga führte ihm seit dem Tode seiner Frau den Haushalt. „Sie ist eine zuverlässige Person.“ Er sprach von ihr so distanziert, als handele sich um eine Hausangestellte. Er lobte Stinas Schweinebraten. Stina hatte sich extra bei Frau van der Pütten, einer geborenen Regensburgerin, die seit fünfunddreißig Jahren in Ostfriesland lebte (nicht freiwillig, wie sie immer betonte, aber die Liebe halt) erkundigt, was der Bayer an sich am liebsten aß.

„Frau Lindemann, machen´s halt an Schweinsbraten. Das lieben die Mannsleut bei uns herunten.“ Alois war jedenfalls mit der Speisenfolge zufrieden. Elske hatte sich die Mühe gemacht und extra ein Blech Donauwellen gezaubert. Zuvor hatte sie sich bei Stina erkundigt, ob die Donau auch in Fürstenfeldbruck „vorbei käme“.

Zum Abschied küsste er Elske und Stina die Hand und machte sich mit Rieke auf den Weg zum Hotel. Elske behauptete noch jahrelang, Alois hätte an ihrer Hand geleckt.

„Du bist und bleibst eine Kuh. Ich geh jetzt ins Bett“, sagte Stina und ließ ihre Schwester stehen.

3

Rieke zeigte Alois ihre Stadt. Sie besuchten das Heimatmuseum in der Neuen Straße und machten eine Stadtführung mit. Wobei Rieke den Fehler begangen und bei der Buchung übersehen hatte, dass diese Führung in plattdeutscher Sprache angeboten wurde. Alois dachte, es wäre niederländisch. Mit dem Zug fuhren sie nach Emden in die Kunsthalle. Alois betrachtete die abstrakten Gemälde mit geneigtem Kopf. Er erzählte Rieke beim Rundgang, dass in seinem Hotel einmal der Dampfkochtopf mit Gulasch explodiert wäre.

„Die Wände in unserer Küche hatten dann auch so ein ähnliches Bild wie dieses hier.“ Er zeigt auf ein abstraktes Gemälde eines jungen Österreichers.

Rieke versuchte es noch mit einer Hafenrundfahrt durch den Leeraner Hafen. Alois fragte schon fünfzehn Minuten nach der Abfahrt, wo man denn hier gutbürgerlich zu Abend essen könne. In der Altstadt besuchten sie das Restaurant „Haus Hamburg“. Alois war begeistert. Das Essen war reichlich, die Preise angemessen und das frischgezapfte Glas Pils tat sein Übriges.

Nach sechs Tagen verabschiedete sich Alois, um wieder nach Hause zu fahren. Stina und Elske waren doch etwas ratlos. Mit keinem Wort hatten Rieke oder Alois bei den wenigen gemeinsamen Treffen eine Hochzeit erwähnt. Rieke hatte Alois am Abreisetag im Hotel abgeholt und war mit ihm und ihrem Fahrrad samt Gepäck zum Bahnhof gefahren. Elske und Stina erwarteten Rieke schon ungeduldig.

„Was ist denn jetzt?“, wollte Elske wissen. „Erst machst du ein Gedöns mit der Heirat, und jetzt?“

Rieke setzte sich an den Esstisch. „Alois lässt euch grüßen“, sagte sie. „Er kommt in drei Wochen wieder.“

„Ah ja?“, setzte Stina an. „Und wann ist es soweit?“

Rieke lächelte. „Wir haben den Hochzeitstermin auf den siebten November festgesetzt.“

4

Die Hochzeit fand an einem Freitagvormittag im Trauzimmer des historischen Rathauses statt. Alois hatte bis zur Hochzeit ganz züchtig wieder im Central Hotel logiert.

Rieke hatte sich in einem Modehaus in der Fußgängerzone ein sündhaft teures Kostüm gekauft. Echt Kaschmir in einem zarten Grünton. Elske kramte in ihrem Kleiderschrank und zwängte sich in das graue Kostüm, das sie sich anlässlich ihrer Abschiedsfeier bei der Bank gekauft hatte. Sie ignorierte konsequent, dass sie mindestens eine Kleidergröße mehr benötigte, und verschloss den Rock einfach mit einer Sicherheitsnadel. Die Jacke war zum Glück etwas länger geschnitten. Stina besuchte zweimal den Second-Hand Shop in der Altstadt. Bei ihrem zweiten Besuch wurde sie fündig. Ein schwarzer Hosenanzug, der nur ein Zehntel von Riekes Kostüm gekostet hatte. Alois Schwester Walburga konnte leider nicht an der Zeremonie teilnehmen. Sie unterzog sich gerade einer aufwendigen Zahnbehandlung. Die doch etwas überstürzte Heirat ihres Bruders konnte an der Durchführung des Sanierungsprojektes nichts ändern.

Die Standesbeamtin gestaltete die Eheschließung sehr feierlich. Sie betonte in ihrer Rede, dass ein Eheversprechen im etwas reiferen Alter in der Regel gut durchdacht wäre und somit diese Ehen meistens von Erfolg gekrönt seien.

Das Hochzeitessen nahmen das Brautpaar und die beiden Schwestern in einem Hotel außerhalb der Stadt ein. Alois hatte sich mangels einer Busverbindung zu einer Taxifahrt überreden lassen.

Stina bot Alois das „Du“ an. Elske zog nach. „Wir sind ja nun verwandt und da ist das ja üblich.“ Daraufhin bestellte er bei der Wirtin eine Runde Sanddornschnaps. Alois küsste seinen Schwägerinnen wieder die Hand und seiner Frau auf den Mund. Alois und Ehefrau verließen das Hotel gegen Nachmittag und fuhren zum Bahnhof. Der Zug nach Emden fuhr pünktlich ab und so erreichte das Brautpaar die Abendfähre nach Borkum. Vier Tage lang sollte auf der Insel geflittert werden. Elske und Stina machten sich indessen Gedanken, wie sich das weitere Familienleben gestalten sollte.

„Hat Rieke mit dir gesprochen?“ Elske konnte sich nur vorstellen, dass Rieke und Alois in der Nähe eine eigene Wohnung beziehen würden. Stina verbot ihrer Schwester, sich weiter mit diesem unbändigen Thema zu befassen. „Diese ganze Ehe ist ein Hirngespinst. Basta.“

Am darauffolgenden Dienstag kam das Ehepaar Ensgraber von der Insel zurück. Stina hatte auf Elskes Drängen das Gästezimmer mit einem Doppelbett ausgestattet. Alois konnte ja schlecht auf dem Sofa schlafen. Beim Abendessen, Grünkohl und Pinkel, teilte Rieke ihren Schwestern mit, dass sie in spätestens vier Wochen mit Alois nach Bayern ziehen würde. Stina wurde blass. Elske stotterte einen Glückwunsch. Rieke fing am nächsten Tag an, ihre Sachen zu packen.

„Wo werdet ihr wohnen?“, fragte Elske ihre Schwester.

Rieke kippte einfach den Inhalt ihrer Kommodenschubladen in ihren Koffer. „Alois hat eine schöne Wohnung in der Nähe seines Hotels.“

„Und …. also Alois ist ja immer sehr sparsam…“ Elske war das ein bisschen peinlich. „Ich meine, habt ihr genug zum Leben?“

Rieke sah ihre Schwester an. „Mach dir keine Sorgen. Alois bekommt eine gute Rente aus der Hotelverpachtung. Er hat mir sogar schon Vollmacht über seine Konten gegeben.“

Stinas Laune verschlechterte sich in den darauffolgenden Tagen immer mehr. Der Schock, dass Rieke sozusagen ins Ausland flüchten wollte, machte ihr doch sehr zu schaffen. Sie lebte mit ihren Schwestern länger zusammen, als manche Ehe dauerte. Nachts schlief sie schlecht. Alpträume quälten sie. Meistens jedoch lag sie wach und grübelte im Schein ihrer Nachttischlampe, wie sie in Zukunft damit leben sollte.

Einige Tage später fuhr Rieke mit dem Fahrrad zum Friseur. Stina bereitete das Abendessen vor. Elske war ein wenig wehmütig. Sie war traurig und vermisste ihre Schwester jetzt schon. Da kam so ein Süddeutscher und entführte Rieke einfach. Elske betrat den Garten. Sie sah Alois auf der Gartenbank sitzen. Sein Gesicht hatte er der noch milden Novembersonne zugewandt. Er kann es bestimmt nicht mehr abwarten, dachte Elske, bis er wieder in seine Heimat reisen kann. Ich werde ihn bitten, dass er oft mit Rieke nach Ostfriesland kommt, nahm sich Elske vor. Am besten jetzt gleich. Energisch ging sie den Gartenweg hinunter. Alois schien sie nicht zu bemerken.

„Alois, ich muss mal mit dir reden. Es ist wichtig.“ Elske legte ihre Hand leicht auf Alois Schulter. „Alois, du musst wissen, dass ich sehr an Rieke hänge und sie jetzt schon vermisse. Aber ich …“ Elske sprach nicht weiter. Mit toten leeren Augen starrte Alois Ensgraber seine Schwägerin an.