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In meiner Haut

Ingrid Bäumer hat 2010 in Köln die erste deutschsprachige Selbsthilfegruppe für Skin Picker gegründet. Die Herausgeberin ist studierte Politik- und Literaturwissenschaftlerin. Sie arbeitet hauptsächlich als Journalistin, Autorin und Social Media Managerin.

Barbara Schubert ist Diplom-Betriebswirtin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und Business Coach. Als ehemalige Betroffene unterstützt sie andere therapeutisch bei ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit Skin Picking.

Ingrid Bäumer (Herausgeberin und Autorin), Barbara Schubert (Autorin)

In meiner Haut

Leben mit Skin Picking

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2. Auflage 2017

Satz und Gestaltung: Martin Vollnhals, Neustadt a. d. Donau

ISBN 978-3-86321-327-5
eISBN 978-3-86321-357-2

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort der Herausgeberin

(Texte, wo nicht anders vermerkt, von Ingrid Bäumer)

Teil A: Daten, Fakten und Definitionen

1.Was ist Skin Picking? Definition – klinisch und aus Sicht von Betroffenen

2.Zahlen, Daten, Fakten

3.BFRB: Was hinter dem Wortungetüm steckt

Teil B: Geschichten von Betroffenen

1.Katharina*: Nicht nur sauber, sondern rein. Eine katholische Mädchengeschichte

2.André*, 41 Jahre: Wie werde ich gut genug?

3.Kiki*, 19 Jahre, Studentin: „Wenn ich mal wieder verzweifle, nimmt er mich in den Arm“

4.Klara*, 26 Jahre: Mein Weg zur stationären Therapie

5.Lina*, 29 Jahre: Bitte keine Belehrungen!

6.Majda*, 20 Jahre: Neue Wege gehen

7.Martin*, 37 Jahre: 15 Jahre Kampf – endlich fast am Ziel

8.Sophia*, 33 Jahre, Erzieherin aus München: Alltagsknibbeln

9.Stella*: Der Wind auf meiner Haut

10.Jacqueline, 18 Jahre: Eine Achterbahnfahrt mit Höhen und Tiefen

11.Barbara Schubert: Wegbegleiter für Betroffene sein

Teil C: Bilder

Teil D: Selbsthilfe

1.Skin Picking ist in Wirklichkeit dein Freund. Erfahrungen als Therapeutin (von Barbara Schubert)

2.Mein langer Weg zur Selbsthilfe (von Ingrid Bäumer)

3.Wie gründet man eine Selbsthilfegruppe?

4.Unsere Heldinnen: Christina Pearson, Sarah Robertson, Angela Hartlin

5.Tipps gegens Knibbeln, Drücken und Piddeln

Danksagung

Literatur- und Web-Tipps

Literaturtipps

Web-Tipps

Quellenangaben

Vorwort der Herausgeberin

Jeden Tag tust du es. Wie von alleine wandern deine Finger ins Gesicht, zu deinen Schultern, zu deinen Armen und Beinen. Sie finden eine Unebenheit, beginnen daran zu arbeiten. So lange, bis die Unebenheit glatt gemacht worden ist. So lange, bis du eine Wunde hast.

Nein, nicht nur eine. Stundenlang stehst du vor dem Spiegel, gräbst in deiner Haut nach Pickeln und Mitessern – nach etwas, das du niedermachen kannst. Oder du tust es nebenbei, während du vor dem Computer oder Fernseher sitzt. Jedenfalls kannst du nicht damit aufhören, bis dieser innere Druck verschwunden ist. Bis du das Gefühl hast, dein „Auftrag“, die Haut zu glätten, ist erfüllt.

Dann fühlst du Befriedigung, aber danach folgen unweigerlich Schuldgefühl und Scham. Schon wieder hattest du deine Finger nicht unter Kontrolle. Schon wieder sieht deine Haut aus wie zerbombt. Und wenn du ganz ehrlich bist, hat es dich auch irgendwie zufrieden gemacht auf eine kranke Art und Weise.

Du weißt: Bevor du nach draußen gehst, musst du dich wieder einmal stundenlang schminken. Dir kommt es vor, als würde jeder sofort sehen, was du mit deiner Haut angerichtet hast. Deshalb traust du dich auch oft gar nicht erst raus, bleibst gleich in der Wohnung. Vom Genuss des Sonnenbadens im Sommer hast du dich vor Jahren schon verabschiedet; selbst in der Julihitze trägst du lange Hosen und langärmlige Oberteile. Du bist gut darin geworden, Umkleidekabinen zu meiden – und alle Situationen, in denen jemand dich leicht bekleidet sehen könnte. Dein sozialer Austausch im „echten Leben“ ist verarmt; neue Kontakte knüpfst du lieber über das Internet. Denn da musst du dich nicht mit Haut und Haaren zeigen. An manchen Tagen sieht deine Haut so schlimm aus, dass selbst die beste Schminke die Zerstörung nicht übertüncht. Dann meldest du dich notgedrungen von der Arbeit oder anderen Terminen ab – mit „Erkältung“ oder „Magen-Darm“.

Würdest du jemandem von deiner zerstörerischen Angewohnheit erzählen, hätte der bestimmt den weisen Rat parat: „Hör doch einfach damit auf!“ Das hast du schon zu oft gehört. Wem kannst du dich anvertrauen? Du hörst sie schon lachen: Pickel ausdrücken, das machen doch nur dumme Teenies, ist ja total pubertär. Aber warum kannst du immer noch nicht damit aufhören, obwohl du schon 30, 40, 50 Jahre alt bist?

Dass du eine psychische Störung hast, wusstest du nicht. Wie denn auch: Nicht einmal bei Ärzten und Therapeuten ist Skin Picking (auch „Acné excoriée“ oder „Dermatillomanie“ genannt) sehr bekannt. Keiner hat dir bisher geholfen, du wurdest alleingelassen mit einem Verhalten, unter dem allein im deutschsprachigen Raum mindestens eine Million Menschen leiden.

Wir alle, die zu diesem Buch beigetragen haben, wollen das ändern. Wir sind selbst Betroffene, wollen Skin Picking bekannt machen, damit niemand mehr im Stillen leidet und glaubt, er oder sie sei der oder die einzige Doofe auf der ganzen Welt, der/die die eigene Haut attackiert. Wir wissen: Es ist verdammt schwer, aber es gibt Wege, vom Knibbeln und Drücken wegzukommen.

Woher wir das wissen? Im November 2010 wurde in Köln die „Selbsthilfegruppe Skin Picking“ gegründet. Im Lauf der Jahre haben wir – auch in den Internetforen – erlebt, wie Menschen lernten, über Skin Picking zu sprechen, sich anderen Betroffenen anzuvertrauen. Und wie sie dann, langsam, unter vielen Rückschlägen, begannen, sich mit ihrem Verhalten auseinanderzusetzen und ihren ganz persönlichen Umgang damit zu finden.

In diesem Buch beschreiben Gruppenmitglieder ihren Lebensweg – mit (und endlich ohne) Skin Picking. Das Faszinierende daran: Obwohl es in unserem Verhalten viele Gemeinsamkeiten gibt, ist jeder Weg weg vom Skin Picking so individuell wie der Betroffene selbst. Diese Geschichten sind keine Blaupausen, die du über dein eigenes Leben legen kannst, um das Problem Skin Picking durch Nachahmung loszuwerden. Nicht alle Geschichten hier haben ein Happy End. Einige der Autoren stecken noch mitten in der Auseinandersetzung. Die Erzählungen sollen Anregung und Inspiration sein. Und Ermutigung: Ja, es ist möglich, sich endlich in der eigenen Haut wohlzufühlen!

Auch Angehörige und Freunde von Betroffenen sollten die Geschichten lesen. Nicht nur werden sie dann mehr Verständnis entwickeln. Sie finden darin auch direkte Tipps und Ratschläge, welches Verhalten wir uns von Nahestehenden erhoffen – aus erster Hand. Jede Geschichte ist einzigartig und von Bedeutung, auch deine. Die Auseinandersetzung mit Skin Picking kann zu einer Abenteuerreise werden, auf der du den wichtigsten Menschen deines Lebens entdeckst: dich selbst. Es lohnt sich, denn du bist schön!

Aber wer bin ich überhaupt, so etwas zu sagen?

Ingrid Bäumer, Jahrgang 1971, Journalistin und Social Media Managerin. Herausgeberin dieses Buches und Skin Pickerin seit meiner Kindheit. Nach vielen verständnislosen Ärzten und mehreren – zumindest in Bezug auf Skin Picking – erfolglosen Therapien gründete ich 2010 in Köln die erste themenbezogene Selbsthilfegruppe Deutschlands.

Ich weiß, ich werde bis an mein Lebensende nicht ganz aufhören können, meine Haut zu bearbeiten. Das ist meine Art, mit unangenehmen Gefühlen umzugehen. Doch nicht zuletzt dank der Selbsthilfegruppe habe ich gelernt, aktiv zu werden und mich nicht mehr machtlos zu fühlen. Dadurch hat mein Skin Picking so sehr abgenommen, dass es jetzt kaum noch ein Problem ist.

Ein paar Worte zur Gliederung des Buches

Teil A enthält die wichtigsten Fakten zu Skin Picking und erklärt, was sich hinter dem Begriff BFRB verbirgt. Teil B widmet sich den persönlichen Geschichten von Betroffenen. Im darauffolgenden Teil C seht ihr Bilder von anderen Betroffenen. Ich finde sie sehr inspirierend und hoffe, dass es euch auch so geht.

Teil D geht der Frage nach, was Selbsthilfe ist, wie sie funktioniert und was sie leisten kann. Wir zeigen Beispiele aus den USA und Kanada; die beiden Länder sind Europa weit voraus bei der Bildung von Selbsthilfeorganisationen für Skin Picking. Ebenfalls in diesem Teil stellt Barbara Schubert ihre Erfahrungen aus der therapeutischen Arbeit mit Skin Pickern vor. Als Betroffene und Therapeutin verfügt sie über eine wertvolle Perspektive, zumal es in Deutschland kaum Forschung zum Thema gibt und wir weit entfernt sind von der Entwicklung wissenschaftlich überprüfter Therapieverfahren. Zum Schluss liefern wir Tipps für den täglichen Kampf gegen Skin Picking – getestet und für gut befunden.

Köln, im August 2016

Ingrid Bäumer

Teil A: Daten, Fakten und Definitionen

1. Was ist Skin Picking? Definition – klinisch und aus Sicht von Betroffenen

Kurz gesagt, ist Skin Picking das krankhafte Kratzen, Zupfen und Drücken der eigenen Haut. Eine psychische Störung, die uns Betroffenen viel Scham bereitet und unser Leben oft massiv einschränkt.

Es gibt viele Namen dafür. Hier sind ein paar davon:

Dermatillomanie

Excoriation Disorder

Neurotische Exkoriation

Acné excoriée des jeunes filles

Pyschogene Exkoriation

Skinorexie …

Warum haben wir uns für die Bezeichnung Skin Picking entschieden? Weil das unserer Ansicht nach der Begriff ist, der am wenigsten wertet. Denn er beschreibt in einer Sprache, die die meisten von uns verstehen, was wir tun: an unserer Haut herumdrücken, -zupfen und -kratzen. (Die meisten hier im Buch verwenden dafür auch das umgangssprachliche Verb „knibbeln“.) Der Vollständigkeit halber müsste man ein „chronisches“ oder „exzessives“ oder „krankhaftes“ davor setzen, um klar zu machen, dass das Bearbeiten und Pflegen der Haut über das normale Maß, „mal einen Pickel auszudrücken“ oder „gelegentlich einen Mückenstich aufzukratzen“, bei weitem hinausgeht. Aber das ist ja klar, sonst würden wir nicht darüber reden; daher lassen wir diese Adverbien einfach weg.

Häufig wird auch der Begriff Dermatillomanie oder Dermatillomania (in den englischsprachigen Ländern) verwendet. Er ist aus dem Griechischen hergeleitet und besteht aus drei Worten: Derma für Haut, tillein für ziehen und mania für Raserei, Wut oder Wahnsinn. Und hier haben wir – neben der Wortlänge – ein Problem mit dem Begriff „Manie“, denn Manie gilt heutzutage vor allem als Teil einer bipolaren Störung (manische Depression). Damit aber hat Skin Picking überhaupt nichts zu tun. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass Skin Picker auch unter einer manischen Depression leiden. Es gibt viele Betroffene mit einer sogenannten Komorbidität, also einer weiteren psychischen Störung. Eben um das abzugrenzen, bevorzugen wir den Begriff Skin Picking.

Dasselbe gilt für eine Bezeichnung, den man hier und da noch finden kann: Acné excoriée des jeunes filles (in etwa: Schürfakne der jungen Mädchen). Urheber ist der französische Dermatologe Louis Brocq, der schon 1898 das Phänomen der Knibbelakne beschrieb, diese aber vor allem Mädchen und jungen Frauen zwischen 16 und 30 Jahren zuschrieb. Wie wir mittlerweile wissen, beginnt Skin Picking zwar oft in der Pubertät. Es kann aber auch vorher oder nachher erstmals auftreten. Und oft hört das Picking leider auch nicht auf, wenn die Akne zurückgeht. Aus der Kölner Selbsthilfegruppe kennen wir viele Betroffene über 40. Dieses Verhalten nur jungen Mädchen zuzuschreiben, ist irreführend, denn es verschwindet nicht „von selbst“ mit zunehmendem Alter. Und vor allem: Nicht nur (junge) Frauen, auch Männer sind davon betroffen.

„Neurotische Exkoriation“ ist ebenfalls ein etwas altertümlicher Begriff, zumal das Wort Exkoriation hierzulande nicht besonders geläufig ist. Es bedeutet „Abschürfung“.

Seit Mai 2013 ist Skin Picking als eigenständige psychische Störung im „DSM-5“ aufgeführt (1), dem Diagnosemanual der amerikanischen American Psychiatric Association (APA), die in Sachen Diagnoseentwicklung tonangebend ist. Eingegliedert ist Skin Picking in die Störungsgruppe „Zwangsstörungen und ähnliche“. Kurioserweise ist Skin Picking hier wieder unter dem antiquierten Namen „Excoriation Disorder“ zu finden, in Klammern wird erklärend „Skin Picking“ hinzugefügt. Um die Verwirrung komplett zu machen: In der deutschen Ausgabe des DSM-5 wird es als „Dermatillomanie (Pathologisches Hautzupfen/ -quetschen)“ bezeichnet.

Gut am DSM-5 ist, dass es Skin Picking auf fünf sehr aussagekräftige Diagnosekriterien herunterbricht:

A. Wiederkehrendes Zupfen oder Quetschen an der Haut, was Hautverletzungen zur Folge hat

B. Wiederholte Versuche, das Hautzupfen/ -quetschen einzuschränken oder zu unterlassen

C. Das Hautzupfen/ -quetschen verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beinträchtigungen im sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen

D. Das Hautzupfen/ -quetschen ist nicht Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz (z. B. Kokain) oder eines medizinischen Kranheitsfaktors (z. B. Skabies)

E. Das Hautzupfen/ -quetschen kann nicht besser als eine andere psychische Störung (…) erklärt werden“ (2)

Vielleicht habt ihr schon mal vom ICD-10 gehört. Das ist das aktuell gültige Therapiemanual der Weltgesundheitsorganisation. Sozusagen die „Diagnosebibel“ für Mediziner, auch für Psychotherapeuten. Wer eine Therapie beantragt, muss zum Beispiel einen Diagnoseschlüssel verwenden, der sich aus diesem Buch ableitet. Bisher war Skin Picking dort nicht als eigenes Störungsbild aufgeführt, es wurde nur unter „Störungen der Impulskontrolle, nicht näher bezeichnet“ geführt.

Das wird sich mit der nächsten Ausgabe, die 2018 erscheinen soll, sehr wahrscheinlich ändern! Im so genannten Beta Draft findet man Skin Picking als „Excoriation Disorder“ bei den „body-focused repetitive behaviors“ in der großen Gruppe „Zwangsstörungen und ähnliche“. Damit zeichnet sich ab, dass das ICD-11 die Klassifizierung der American Psychiatric Association übernimmt, die vor drei Jahren ihr Manual DSM-5 aktualisiert und Skin Picking erstmals aufgeführt hat.

Der große Vorteil am ICD-11: Es ist für Deutschland bindend! Das DSM-5 hat nur im US-Raum Bedeutung. Das heißt: Sobald es im ICD-11 eine eigenständige Diagnose Skin Picking gibt, wird es sehr viel leichter sein, eine Therapie zu beantragen – es gibt ja dann ein eigenes Krankheitsbild! Das Problem, das Skin Picker „nicht krank genug“ für eine Therapie sind, wird damit hoffentlich der Vergangenheit angehören.

Aber: Bisher ist es nur ein Entwurf (Draft). Ob Skin Picking wirklich ins ICD-11 kommt, steht noch nicht fest. Experten halten es allerdings für sehr wahrscheinlich.

Hier lest ihr mehr dazu: http://apps.who.int/classifications/icd11/browse/f/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f726494117

Diese klinischen Definitionen des pathologischen Skin Picking wenden sich an Fachleute. Für Menschen, die wissen wollen, ob sie vielleicht betroffen sind, empfehlen wir, sich zunächst die folgenden sechs Fragen zu stellen, um einer Antwort näherzukommen – wobei „knibbeln“ hier für verschiedene Formen steht, die eigene Haut zu bearbeiten: kratzen, quetschen, reiben, drücken, Wundschorf abziehen etc., und zwar sowohl mit den Fingern als auch mit Werkzeugen wie Nadeln und Pinzetten.

1.Verursacht dein Knibbeln dir emotionales Leid?

2.Hält dich dein Knibbeln davon ab, unter Menschen zu gehen?

3.Hast du das Gefühl, wegen deines Knibbelns im Leben eingeschränkt zu sein?

4.Hältst du dein Knibbeln geheim aus Angst vor negativen Urteilen anderer?

5.Schämst du dich wegen deines Knibbelns, kannst aber trotzdem nicht aufhören?

6.Fühlst du dich wegen deines Knibbelns alleine?

Beantwortest du all diese Fragen mit einem Ja, dann spricht schon viel dafür, dass bei dir Skin Picking vorliegt. Dennoch ersetzen diese Fragen keine professionelle Diagnose. So kann es sein, dass die Pickel, die du aufkratzt, tatsächlich aknebedingt sind oder eine andere Hautkrankheit vorliegt. Das solltest du, falls noch nicht geschehen, bei einem Hautarzt abklären. Denn es besteht ja immerhin die Möglichkeit, dass du nach einer erfolgreichen medizinischen Hautbehandlung nicht mehr so viel knibbelst, weil es „nichts mehr zum Wegmachen gibt“.

Möglicherweise ist Skin Picking individuell auch auf Drogenmissbrauch zurückzuführen. Kokain, Speed und Crystal Meth werden stark verdächtigt, Picking auszulösen. (3) Auch Medikamente gegen das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (AD/H/S), die Methylphenidat enthalten, beispielsweise Ritalin oder Medikinet, sollen diese Wirkung haben. Methylphenidat wird nicht nur Kindern, sondern zunehmend auch Jugendlichen und Erwachsenen verschrieben.

Und schließlich ist es auch möglich, dass Skin Picking als Symptom einer anderen psychischen Erkrankung auftritt. Bekannt ist beispielsweise, dass viele Menschen mit Angststörungen, körperdysmorpher Störung oder Depressionen sowie bipolarer Störung auch unter Skin Picking leiden. Die genaue Abklärung kann nur ein Experte leisten: ein Psychiater oder Psychologe.

Aber auch wenn du keine offizielle Diagnose hast, bist du natürlich herzlich willkommen in jeder Selbsthilfegruppe zum Thema. Vom Austausch unter Betroffenen kannst du nur profitieren!

2. Zahlen, Daten, Fakten

Wie verbreitet ist Skin Picking?

Skin Picking betrifft weitaus mehr Menschen als man glaubt. Wer würde sich schon ausmalen, dass es allein im deutschsprachigen Raum nach den vorsichtigsten Schätzungen mindestens eine Million Betroffene gibt, von denen jede/r daheim im Kämmerchen sitzt, sich schämt und glaubt, er/sie sei mit diesem „Tick“ allein?

Wie verbreitet Skin Picking wirklich ist, lässt sich aus Studien nur bedingt ableiten. Einerseits muss man von einer hohen Dunkelziffer ausgehen, weil das Verhalten extrem schambesetzt ist. Daher ist zweifelhaft, ob Teilnehmer beispielsweise in Telefon-Interviews wahrheitsgemäß antworten, wenn sie nach Skin Picking gefragt werden. Oder ob sie es nicht möglicherweise trotz Anonymisierung der Tests leugnen. Ein Manko der meisten Studien ist auch, dass ausschließlich Studenten befragt werden. Diese spiegeln nicht den Durchschnitt der Bevölkerung. Dennoch sind Studien unverzichtbar, um zumindest eine ungefähre Vorstellung zu erhalten, wie groß der betroffene Anteil der Bevölkerung ist.

Eines der wenigen Beispiele für eine repräsentative Umfrage ist die Studie von der Forschergruppe um Nancy Keuthen aus dem Jahr 2010 (1). Sie befragte 2500 erwachsene US-Amerikaner. Von ihnen gaben 1,4 Prozent an, dass sie übermäßig ihre Haut bearbeiten und deswegen zum Zeitpunkt der Befragung sehr stark belastet und in wichtigen Lebensbereichen beeinträchtigt sind. Zehn Prozent der Befragten sagten, sie hätten in ihrem Leben schon einmal durch eigene Manipulation ihre Haut verletzt. Diese Studie diente offenbar als Grundlage der Angaben, die das Diagnosemanual DSM-5 macht: Dort heißt es, bei „1,4 Prozent oder etwas höher“ liege der Anteil von Skin Pickern an der Gesamtbevölkerung.

Doch die Zahlen schwanken: So hatten S. L. Hayes und Kollegen (2) ein Jahr zuvor in einer Befragung herausgefunden, dass 19 von 354 befragten Amerikanern unter Skin Picking litten (etwa 5 Prozent). Laut einer weiteren US-amerikanischen Studie von Odlaug und Grant im Jahr 2013 (3), an der sich 1916 Studenten beteiligten, sind 4,2 Prozent der Befragten Picker, darunter deutlich mehr Frauen als Männer: 5,8 Prozent der befragten Frauen gaben an, ihre Haut in krankhaftem Ausmaß zu bearbeiten, hingegen nur 2 Prozent der Männer. So ergibt sich der Mittelwert von 4,2 Prozent.

Ähnliche Zahlen findet man bei deutschen Psychologiestudenten: Antje Bohne und Kollegen stellten fest, dass fünf Prozent der befragten Psychologiestudenten ihre Haut in behandlungsbedürftigem Ausmaß manipulieren (4). Der Frauenanteil unter den Skin Pickern liegt je nach Untersuchung zwischen 60 und 90 Prozent.

In welchem Alter beginnt Skin Picking?

Skin Picking kann in jedem Alter anfangen, schon in der Kindheit, bei Mückenstichen oder Verletzungen, die aufgekratzt und anschließend monatelang als Wunden am Leben erhalten werden. Doch der „Klassiker“ und mit Abstand am häufigsten berichtet ist der Beginn in der Pubertät – wenn die Pickel sprießen. Diese geben permanenten Anlass, sich der Haut zu widmen, selbst wenn man ihr vorher noch nie Beachtung geschenkt hat.

Eine weitere Station, die häufig den Beginn von Skin Picking markiert, ist das junge Erwachsenenalter: Der Stress in Studium und Beruf nimmt zu, viele wählen als Druckventil das Bearbeiten der eigenen Haut, der Nägel und Nagelbetten. Laut einer weiteren Untersuchung von Grant und Odlaug tritt Skin Picking auch überdurchschnittlich häufig im Alter zwischen 30 und 45 Jahren auf (5), möglicherweise auch vor dem Hintergrund starker beruflicher Belastung. Doch selbst nach dem Beginn der zweiten Lebenshälfte ist man nicht vor dem Knibbeln gefeit: In der Kölner Selbsthilfegruppe ist auch ein Mann, der erst im Alter von über 60 Jahren damit begonnen hat – kurz nachdem er in Rente ging.

Skin Picking und andere psychische Störungen