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Über dieses Buch:

Als Jeremias Voss eine brutal zugerichtete Leiche findet, ahnt er noch nicht, dass ihn dieser Fund selbst in Gefahr bringen wird. Nur knapp entkommt er einem Anschlag auf sein Leben – doch nun ist sein Jagdinstinkt geweckt! Der Killer hat offensichtlich keine Ahnung, mit wem er sich angelegt hat, denn so leicht lässt sich Hamburgs bekanntester Privatdetektiv nicht aus dem Weg räumen. Die Spurensuche führt Voss tief in den undurchsichtigen Morast des organisierten Verbrechens – doch die eigentliche Gefahr ist viel näher, als er denkt …

Über den Autor:

Ole Hansen, geboren in Wedel, ist das Pseudonym des Autors Dr. Dr. Herbert W. Rhein. Er trat nach einer Ausbildung zum Feinmechaniker in die Bundeswehr ein. Dort diente er 30 Jahre als Luftwaffenoffizier und arbeitete unter anderem als Lehrer und Vertreter des Verteidigungsministers in den USA. Neben seiner Tätigkeit als Soldat studierte er Chinesisch, Arabisch und das Schreiben. Nachdem er aus dem aktiven Dienst als Oberstleutnant ausschied, widmete er sich ganz seiner Tätigkeit als Autor. Dabei faszinierte ihn vor allem die Forensik – ein Themengebiet, in dem er durch intensive Studien zum ausgewiesenen Experten wurde.

Heute wohnt der Autor in Oldenburg an der Ostsee.

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Originalausgabe Januar 2017

Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/schneider Foto

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-790-1

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Ole Hansen

Jeremias Voss und der Tote in der Wand

Der sechste Fall

dotbooks.

Kapitel 1

Jeremias Voss saß in seinem Lieblingssessel hinter dem Schreibtisch im Büro. Der Sessel war eine Maßanfertigung und die einzige Sitzgelegenheit, in der er ohne Rückenschmerzen stundenlang sitzen konnte. Niemand, der Hamburgs bekanntesten und erfolgreichsten Privatermittler kannte, wäre auf den Gedanken gekommen, dass er schon vor Jahren wegen Dienstunfähigkeit aus der Hamburger Polizei entlassen worden war. Kein Dienstvergehen, sondern ein Hubschrauberabsturz war der Grund gewesen. Dabei war er noch glimpflich davongekommen. Seinen Co-Piloten hatte ein Teil eines Rotorblatts regelrecht geköpft.

Voss hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und blätterte durchs Hamburger Tageblatt. Der politische Teil interessierte ihn nicht. Die Schlagzeilen reichten ihm. Sein Interesse galt vielmehr den Berichten, aus denen sich möglicherweise ein Auftrag für ihn ergeben könnte, wobei er aber nur an wirklich geheimnisvollen Projekten interessiert war.

»Das gibt’s doch gar nicht!«, rief er plötzlich, nahm die Füße vom Schreibtisch und breitete die Zeitung darauf aus. »Vera, haben Sie die heutige Zeitung schon gelesen?«

»Nein, hatte noch keine Zeit. Es muss ja wenigstens einer arbeiten, damit der Laden läuft.«

Voss nahm seiner Assistentin die burschikose Art nicht übel. Sie war seit dem ersten Tag, an dem er die Agentur für vertrauliche Ermittlungen eröffnet hatte, mit dabei. Sie waren ein hervorragendes Gespann, denn Vera Bornstedt war auf allen Gebieten, die Voss nicht mochte und die er schleifen ließ, eine versierte Ergänzung. Ohne sie wären die Finanzen der Agentur eine Katastrophe. Ihre besondere Stärke war jedoch die Arbeit mit dem Computer. Ihre Fantasie beim Aufspüren von Informationen im Internet hatte Voss schon manches Mal verblüfft.

Kurz darauf stand Vera in der offenen Tür zu seinem Arbeitszimmer. »Haben Sie was gefunden, Chef?«, fragte sie neugierig.

Obwohl sie schon seit Jahren eng zusammenarbeiteten und zwischen ihnen ein vertrautes Verhältnis herrschte, siezten sie sich. Das lag nicht an Voss, sondern an Vera. Sie war glücklich verheiratet, doch sie liebte gewissermaßen auch ihren Chef und befürchtete, dass ein Du letztendlich zu einer erotischen Beziehung führen könnte, und das würde das Glück ihrer Familie gefährden. Und dieser Gedanke hatte sie davon abgehalten, Voss’ wiederholtes Angebot, sich zu duzen, anzunehmen. Er hatte ihren Wunsch schließlich akzeptiert. Verstanden hatte er ihn nicht, was wohl daran lag, dass er Junggeselle war und sich allzu gern den Verlockungen weiblicher Reize hingab.

»Die Galerie Gläser hat einen großen Coup gelandet.«

»Gläser, ist das nicht die …«

»Sie sagen es. Es ist derselbe Gläser, gegen den wir vor drei Jahren ermittelt haben.«

»Wenn ich daran denke, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Um Haaresbreite wären Sie im Gefängnis gelandet, und ich säße jetzt ohne Job da.«

»Nun werden Sie nicht zu dramatisch. Aber Sie haben schon recht. Es hätte wirklich nicht viel gefehlt, und ich säße hinter Gittern, weil ich angeblich Gläsers Lebensgefährtin vergewaltigt habe. Bei solchen Delikten haben wir Männer meistens schlechte Karten.«

»Sicherlich zu Recht.« Das war ihr spontan herausgerutscht, deshalb fügte sie schnell hinzu: »Das gilt natürlich nicht in Ihrem Fall.«

»Na, das will ich doch meinen.«

»Wenn Sie nur nicht immer solche unmöglichen Einfälle hätten, dann wäre das Ganze nicht passiert. Sie hätten einfach …«

»Lassen Sie man gut sein. Schließlich habe ich fast alle Fälle dadurch gelöst, dass ich nicht wie die Polizei brav nach Lehrbuch vorgehe. Im Fall Gläser haben Sie allerdings recht. Da bin ich blindlings in eine Falle getappt. Ich könnte mir jetzt noch in den Hintern beißen, dass ich den Braten nicht gerochen habe. Das ärgert mich mehr als die ganzen Anschuldigungen und die Gerichtsverhandlung.«

»Und Sie waren so sicher, dass sie Gläser festgenagelt hatten.«

»Hatte ich auch – jedenfalls so gut wie. Wenn nicht diese Anzeige wegen Vergewaltigung dazwischen gekommen wäre. Ich hätte ihm den Versicherungsbetrug nachweisen können. War schon beschi...«, Voss verschluckte aus Höflichkeit den Rest des Wortes, »… dass ich gezwungen war, die Ermittlungen einzustellen und den Auftrag zurückzugeben.«

»Hätten Sie ja nicht gemusst.«

»Ich hätte nach der Anzeige schlecht gegen Gläser weiterermitteln können. War eine Frage der Berufsethik.«

Bevor Vera antworten konnte, klingelte das Telefon auf Voss’ Schreibtisch. Vera langte hinüber, hob den Hörer ab und meldete sich mit: »Jeremias Voss, Agentur für vertrauliche Ermittlungen, am Apparat Vera Bornstedt. Wie können wir Ihnen helfen?« Gleich darauf: »Oh, guten Morgen, Frau Professorin«, begrüßte sie die Anruferin. »Ja, Herr Voss ist hier. Ich reiche Sie weiter.«

Sie gab ihm den Hörer.

»Guten Morgen, Silke«, sagte er fröhlich. »Womit habe ich diese freudige Überraschung verdient?«

»Moin, Jeremias, mit deinen unregelmäßigen Besuchen bestimmt nicht.«

Voss lachte. »Akzeptierst du als Entschuldigung, wenn ich sage, dass ich in letzter Zeit viel zu tun hatte?«

»Bestimmt nicht. Doch ich rufe nicht an, um deine fadenscheinigen Begründungen zu hören. Ich rufe an, weil ich einen Begleitservice benötige. In der Galerie Gläser stellen sie am Wochenende einen Cézanne aus. Den möchte ich mir ansehen.«

»Ich weiß, habe es gerade in der Zeitung gelesen.«

»Würdest du mich begleiten? Ich mag da nicht allein hingehen.«

Voss zögerte, bevor er antwortete: »Im Grunde gern. Nur weißt du, dass diese Galerie nicht meine Lieblingsgalerie ist.«

»Du meinst wegen deiner Vergewaltigungsanklage?«

»Richtig.«

»Das liegt doch drei Jahre zurück, wenn ich mich richtig erinnere. Über die Geschichte ist längst Gras gewachsen. Stell dich nicht so an. Komm mit.«

Diesmal zögerte Voss noch länger mit der Antwort. Er überlegte, ob es zu einer unschönen Szene kommen könnte, wenn Gläser ihn sah. Schließlich sagte er: »Nur wenn du mich zurückhältst, wenn ich auf Gläser treffe. Den Kerl könnte ich glatt ermorden.«

»Keine Sorge. Ich nehme eine schnell wirkende Beruhigungsspritze mit. Die ramme ich dir bei Gefahr in den Hintern. Danach bist du in Sekunden friedlich wie ein Schaf.«

»Also gut, ich komme mit.«

»Das freut mich, Jeremias, wird auch höchste Zeit, dass wir beide mal wieder etwas unternehmen. Holst du mich am Sonnabend um 19 Uhr ab?«

»Mach ich.«

»Bis dann. Ich muss mich beeilen, habe gleich eine Vorlesung.«

»War das nicht ein bisschen voreilig?«, fragte Vera, nachdem er aufgelegt hatte, und sah ihn besorgt an. »Gläser dürfte nicht sonderlich gut auf Sie zu sprechen sein.«

Voss erwiderte ihren Blick. »Ja, vielleicht war ich zu voreilig.« Nach einigen Augenblicken fügte er hinzu: »Egal, nun habe ich zugesagt. Jetzt noch zu kneifen, wäre feige.«

Vera schüttelte den Kopf. »Sie immer mit Ihren schnellen Entscheidungen.«

Voss hatte nicht zu Unrecht ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Die Verhandlung im Sitzungssaal 305 der zweiten Strafkammer in Hamburg war in seinem Gedächtnis noch so präsent wie vor drei Jahren. Noch heute geriet er in Wut, wenn er daran dachte, dass er, der bekannteste Privatdetektiv Hamburgs, dessen Ruf von Seriosität, Integrität und Zuverlässigkeit weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt war, auf der Anklagebank hatte sitzen müssen. Er, der als ehemaliger Angehöriger der Hamburger Polizei noch immer als einer der ihren betrachtet wurde, war eines der widerlichsten Verbrechen angeklagt worden. Laut Staatsanwalt wurde er beschuldigt, die Lebensgefährtin des Galeristen Gläser vergewaltigt zu haben. Seinen Unschuldsbeteuerungen hatte niemand geglaubt. Auch nicht seine Behauptung, dass das angebliche Opfer ihm eine Falle gestellt hatte.

Wenn er daran dachte, dass er sich wie ein Anfänger benommen hatte, konnte er seine Gefühle auch heute nur schwer verdrängen.

Er sollte damals im Auftrag einer Versicherung einen Kunstbetrug aufklären. Im Laufe der Ermittlungen war er auf ein Paar gestoßen, das in Hamburg eine Galerie betrieb. Der Mann war ein Deutscher aus dem Ruhrgebiet, seine Lebensgefährtin kam aus Osteuropa. Um an Beweismaterial zu gelangen, hatte er eine freundschaftliche Beziehung zu dem Paar begonnen, besonders zu Ilonka Popescu, Gläsers Lebensgefährtin.

Alles ließ sich gut an, und er war überzeugt, ihnen bald auf die Schliche zu kommen. Er fand deshalb auch nichts dabei, als Ilonka ihn nach einem gemeinsamen Kinobesuch auf einen Drink einlud. Sie servierte ihm einen Whisky, sein Lieblingsgetränk, wie sie wusste. Das Nächste, an was er sich erinnerte, war, dass er in einem zerwühlten Bett lag und ungeheure Kopfschmerzen hatte. Von Ilonka war nichts zu sehen. Benommen torkelte er zum Bad. Die Tür war verschlossen. Eine Frau schrie im Badezimmer hysterisch auf. Er versuchte sie zu beruhigen, aber seine Bemühungen wurden von der Polizei unterbrochen, die gegen die Eingangstür hämmerte. Als niemand öffnete, brachen sie die Tür auf und fanden ihn vor der verschlossenen Badezimmertür. Nachdem sich die Beamten als Polizisten identifiziert hatten, öffnete Ilonka weinend die Tür. Sie hielt sich notdürftig ein Handtuch vor die Brust. Jeder konnte sehen, dass ihre Arme und Beine mit blauen Flecken übersät waren. Schluchzend beschuldigte sie Voss der versuchten Vergewaltigung. Er wurde festgenommen und blieb bis zur Verhandlung in Untersuchungshaft. Es war die schlimmste Erfahrung in seinem Leben, schlimmer noch als der Absturz mit dem Hubschrauber, den er nur mit viel Glück überlebt hatte.

Die Verhandlung war beschämend. Er musste mit ansehen, wie die Lebensgefährtin des Galeristen ihn von der Zeugenbank mit vorwurfsvollen Blicken musterte. Als die Anklage die Bilder von ihrem mit Hämatomen übersäten Körper zeigte, weinte sie lautlos. Vor einer Verurteilung hatte ihn letztlich nur bewahrt, dass der Gerichtsmediziner bei ihm keine Abwehrspuren der Klägerin gefunden hatte und dass auch unter ihren Fingernägeln keine Hautpartikel von ihm entdeckt worden waren. Bei dem Ausmaß der Verletzungen hätte sich das Opfer vehement gewehrt haben müssen, was bei ihm entsprechende Verletzungen hinterlassen hätte. Das war aber nicht der Fall. Er war heilfroh, dass er nach seiner Verhaftung darauf bestanden hatte, sofort von einem Gerichtsmediziner untersucht zu werden. Entscheidend aber war, dass sich die Klägerin im Kreuzverhör seines Rechtsanwalts in seltsame Widersprüche verwickelte. Nach kurzer Beratung wurde er in allen Punkten der Anklage freigesprochen. Die Erleichterung, die er bei der Verlesung der Urteilsbegründung verspürt hatte, war nicht mit Worten zu beschreiben. Als er wenig später als freier Mann den Sitzungssaal verließ, sah er, wie Gläser Ilonka Popescu am Arm packte und wütend auf sie einredend zum Ausgang zog.

Wilfried Gläser, der Mann, der fast Voss’ Karriere beendet hätte, stand am mittleren der drei hohen Fenster seines luxuriösen Apartments im zweiten Stock über seiner Galerie und schaute auf die Straße hinunter. Sein Gesicht strahlte vor Freude und ließ seine fleischigen, von Äderchen durchzogenen Wangen noch roter erscheinen, als sie ohnehin schon waren.

»Ilo«, rief er zum Schlafzimmer hinüber. »Komm her, schau dir bloß den Auflauf unten auf der Straße an. Alle warten nur auf die Ausstellungseröffnung.« Als er kein Geräusch aus dem Schlafzimmer hörte, rief er ungehaltener: »Nun mach schon! Der dicke Hansen vom Hamburger Tageblatt ist auch schon da. Selbst das Fernsehen.«

Ilonka saß im Schlafzimmer vor der Frisierkommode und vervollständigte ihr Make-up. Im Gegensatz zu ihrem Partner wirkte sie desinteressiert. Sie achtete nicht auf das, was er sagte, sondern fuhr, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, mit ihrer Tätigkeit fort.

Gläser war inzwischen so damit beschäftigt, prominente Gesichter in der Menge zu suchen, dass er nicht bemerkte, dass sie nicht aus dem Schlafzimmer kam.

»Verflucht, das gibt’s doch nicht!«, rief er wütend. »Dass der Kerl sich traut, hierherzukommen!«

Gläser griff zum Handy in seiner Tasche und wählte eine Nummer. Als sich der Teilnehmer meldete, sagte er erregt: »Du glaubst nicht, wen ich gerade gesehen habe … Voss, Jeremias Voss, diesen verfluchten Privatermittler … Nein, mitten zwischen den Besuchern, die sich vor der Galerie drängen … Natürlich bin ich mir sicher … Sag ich doch … Ich werd’s versuchen … Nein, schon gut. Du brauchst keine … Okay, mach ich.« Er drückte auf die rote Austaste und steckte das Telefon wieder in die Tasche.

Ilonka kam aus dem Schlafzimmer und stellte sich neben ihn, wobei sie darauf achtete, Körperkontakt zu vermeiden.

»Wen hast du gesehen?«, fragte sie desinteressiert, obwohl ihr Blick alles andere als gleichgültig wirkte.

»Voss, diesen Hurensohn«, schnaubte er wütend. »Wenn du dich bei der Gerichtsverhandlung nur ein klein wenig zusammengerissen hättest, dann säße der Kerl jetzt hinter Gittern und wir hätten Ruhe vor ihm.«

»Der tut dir doch nichts. Sicher will er sich auch das berühmte Bild ansehen.«

»Doofe Kuh, bist du so dämlich, oder tust du nur so? Voss ist sicher nicht hierhergekommen, weil er sich für das Bild interessiert. Ich fress ’nen Besen, wenn der nicht spionieren will. Du hältst dich von ihm fern, verstanden?«

»Wenn du mich so nett darum bittest, gern.«

»Das war keine Bitte, das war ein Befehl. Und nun sieh zu, dass du fertig wirst. Wir müssen gleich nach unten.«

Ilonka beobachtete noch einige Augenblicke die immer größer werdende Menschenmenge vor der Galerie, doch sie konnte Voss nicht ausmachen. Dann drehte sie sich um und ging wortlos ins Schlafzimmer zurück. Für den Empfang gestylt kam sie nach kurzer Zeit zurück. Zusammen gingen sie die Treppe nach unten. Auf der letzten Stufe blieben sie mit einem strahlenden Lächeln stehen, um die Besucher, die in diesem Moment eingelassen wurden, zu begrüßen.

Voss hatte Professor Dr. Silke Moorbach pünktlich abgeholt. »Wow!«, rief er, als sie in ihrer dezenten Kleidung zu ihm auf die Straße trat. »Du siehst hinreißend aus.«

»Danke, dabei trage ich doch nur eine Jeans, ’ne weiße Bluse und einen blauen Blazer«, antwortete sie bescheiden.

Voss wollte schon vorschlagen, zu Hause zu bleiben und es sich bei einer Flasche Rotwein gemütlich zu machen.

»Nix da«, sagte Silke, die offenbar seine Gedanken lesen konnte. »Erst die Galerie, danach das Vergnügen.«

Voss kannte sie schon aus seiner Zeit bei der Polizei. Ein paar Jahre lang waren sie ein Liebespaar gewesen. Als er aus dem Polizeidienst ausschied und sich mit ganzer Kraft seinen neuen Aufgaben widmete, ging ihre Beziehung auseinander. Auch Silke verfolgte ehrgeizige Ziele, die keinen Platz für eine Partnerschaft ließen. Beide hatten die Situation akzeptiert, ohne dem anderen Vorwürfe zu machen. Sie waren enge Freunde geblieben und genossen ihre gelegentlichen sexuellen Treffen.

Voss hielt ihr die Tür zu seinem SUV auf.

Er parkte im Parkhaus Alsterhaus, und sie bummelten zu den Großen Bleichen. Als sie in die Straße einbogen, sahen sie, dass schon etliche Besucher vor der Galerie Gläser auf Eintritt warteten. Die Tür wurde von zwei stämmigen Männern eines privaten Sicherheitsdienstes bewacht.

Silke und Voss sahen sich an. Beide dachten offenbar das Gleiche.

»Kennst du die Galerie?«, fragte er.

»Ja, schon mit der Hälfte der Wartenden wird es da drin ein mächtiges Gedränge geben.«

»Genau.«

Sie schlenderten langsam auf das Besucherknäuel zu. Voss’ Schritte wurden immer zögerlicher, schließlich blieb er stehen.

»Was meinst du, Silke, wollen wir uns das antun?«

»Ich weiß nicht recht. Bei der Menge werden wir Glück haben, wenn wir den Cézanne überhaupt zu Gesicht bekommen. Hast du einen besseren Vorschlag?«

»Was hältst du davon, essen zu gehen?«

»Dann versäumen wir aber das Grußwort des Oberbürgermeisters und die Rede der Kultursenatorin. Auch den Sachverständigen, der das Bild für echt erklärt hat, wirst du nicht kennenlernen.«

»Mir kommen die Tränen. Das habe ich nicht berücksichtigt. Trotzdem, was hältst du von meinem Vorschlag?«

Silke tat, als müsse sie überlegen. »Also gut«, sagte sie nach einigem Zögern. »Wenn dir der Sinn nicht nach Kunst steht, dann lass uns gehen. Ich habe nämlich heute Abend noch nichts gegessen.« Ein ironisches Lächeln unterstrich ihre Worte.

»Dann nichts wie weg hier.«

»Was schlägst du vor?«

»Was hältst du vom Galatea am Ballindamm? Das Essen ist dort gut, und man hat von dem ehemaligen Dampfer einen schönen Blick auf die Alster.«

»Klingt gut. Ich war noch nie dort.«

»Dann komm.«

Sie drehten sich um und gingen in entgegengesetzter Richtung davon.

Das Galatea war nur mäßig besetzt, sodass sie einen Fensterplatz bekamen. Sie genossen das vorzügliche Essen, die Aussicht und die Zweisamkeit. Der einzige Wermutstropfen war, dass Voss als Fahrer nichts von dem guten Rotwein trinken konnte. Er holte es jedoch nach, als sie es sich später in Silkes Apartment gemütlich machten. Zu seiner Wohnung konnte er nun nicht mehr zurück, was aber auch gar nicht vorgesehen war.

Kapitel 2

Es war zwei Wochen nach der Cézanne-Ausstellung, als Voss von seinem Morgenspaziergang mit Nero zurückkam. Wie immer waren sie an der Außenalster gewesen.

»Guten Morgen, Kapitän«, begrüßte ihn Vera mit todernstem Gesicht.

Voss schaute sie verwundert an, denn sie redete ihn gewöhnlich mit Chef an oder benutzte, wenn sie wütend war, seinen Nachnamen. Noch nie hatte sie ihn Kapitän genannt. Warum auch? Er hatte nie ein eigenes Boot besessen, obwohl er einen Sportbootführerschein besaß.

»Moin, Vera«, beantwortete er ihren Gruß und fügte hinzu: »Sie machen so ein ernstes Gesicht. Ist etwas passiert?«

»Das kann man wohl sagen. Sie sollten sich besser setzen, Kapitän.«

Er reagierte ein wenig ungehalten. »Erzählen Sie schon, und lassen Sie diesen blöden Kapitän weg.«

»Wenn Sie darauf bestehen, Chef. Sie haben ein Problem. Dieser Umschlag kam vorhin zusammen mit der Zeitung. Sie wissen doch, die Nordpost stellt die Post mit der Zeitung zu. Ich dachte …«

»Jetzt kommen Sie endlich zur Sache.« Voss verlor langsam die Geduld.

»Der Brief war an Sie gerichtet. Als ich ihn öffnete, fiel leider der Inhalt heraus, und so ergab es sich …«

»Schluss jetzt, verdammt noch mal. Hat Ihr Mann noch nie versucht, Sie wegen Schwätzerei zu erwürgen?« Voss war nun wirklich verärgert. Er konnte Um-den-heißen-Brei-Herumreden nicht ausstehen.

Vera ließ sich von seiner Stimmung nicht aus der Ruhe bringen. »Nun gut, Chef, wenn Sie so drängeln. Sie haben geerbt.«

»Was? Machen Sie Witze?«

»Ich hatte Ihnen ja geraten, sich hinzusetzen.«

»Quatsch!«

»Nein, Chef, hier steht es schwarz auf weiß.« Sie reichte ihm das Schreiben aus dem Kuvert. »Sie sind jetzt Besitzer einer Villa auf Fehmarn und eines seegehenden Schiffs, oder um es seemännisch auszudrücken, Kapitän eines Schiffs.«

Voss griff nach dem Schreiben, das von einem Rechtsanwalt aus Burg auf Fehmarn stammte, und überflog die wenigen Zeilen.

»Wer ist dieser Henning Schmütz, der mir das vererbt hat?«

Vera lächelte süffisant, als sie sagte: »Ihr Gedächtnis ist auch nicht mehr das beste. Können Sie sich wirklich nicht an den Mann in dem viel zu kleinen Anzug erinnern? Sie haben ihm damals aus der Patsche geholfen und ihm das Honorar gestundet.«

Voss grinste. »Richtig, jetzt weiß ich’s wieder. War er nicht Kredithaien in die Hände gefallen, die ihn um seinen Besitz bringen wollten?«

»Richtig, Chef, ihm gehörte im Gemeindehafen von Orth ein beträchtlicher Teil der Kaianlage, wo er auch seinen Fischkutter liegen hatte. Eine Finanzierungsgesellschaft wollte ihm seinen Anteil abkaufen, und als er nicht verkaufen wollte, begannen sie, ihn fertig zu machen, denn die Gesellschaft plante, dort eine große Marina zu bauen.«

Voss’ Grinsen wurde breiter. »Die haben wir ganz schön auf den Pott gesetzt. Wie ist der eigentlich auf uns gekommen?«

»Dazu müsste ich in den Akten nachlesen. Es liegt ja ungefähr fünf Jahre zurück.«

»Lassen Sie es. Ihr Ozeanriese entpuppt sich also als Fischerkahn, und die Villa schrumpft zu einer Fischerkate zusammen. Ich hätte mir gleich denken können, dass Sie maßlos übertreiben.«

»Sehen Sie es positiv, Chef. Wenigstens hat er sein Honorar nun doch bezahlt, wenn auch mit Sachmitteln. Wollen Sie das Erbe antreten?«

»Ich weiß nicht. Ansehen werde ich es mir auf jeden Fall. Bin doch gespannt, was mir da untergejubelt werden soll. Vielleicht sattle ich auch um und werde Fischer.«

»Und was wird aus mir?«

»Sie kommen mit. Sie nehmen meinen Fang aus und verarbeiten ihn.«

»Den Gedanken sollten wir nicht weiterverfolgen. Ich als Fischfrau – jetzt gehen Sie entschieden zu weit.«

Voss lachte. Er ging ins Vorzimmer, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und kam zurück ins Büro.

Nero lag auf seiner Matte hinter dem Schreibtisch und schnarchte. Seine Beine zuckten. Wahrscheinlich träumte er schon davon, wie er zusammen mit seinem Herrn die Fischernetze leerte.

Bereits zwei Tage später war Voss mit dem SUV auf dem Weg nach Fehmarn. Er hatte sich dazu nicht das beste Wetter ausgesucht. Der Wetterbericht hatte ein Sturmtief angekündigt, das von der Deutschen Bucht kommend nach Osten zog. Er hatte gehofft, noch vor dem Tief auf der Insel zu sein, doch der Sturm hatte ihn schon vor der Fehmarnsundbrücke erreicht. Obwohl er einen kompakten, schweren Wagen fuhr, drückten ihn die Sturmböen zur Seite, sodass er gegensteuern musste. Jeder freie Platz rechts und links der Straße war mit Lastwagen, Wohnmobilen und Wohnwagengespannen zugeparkt. Seit drei Stunden war die Brücke über den Sund, der Fehmarn vom Festland trennte, für diese Fahrzeuge gesperrt. Wind in Stärke acht bis neun, in Böen bis zu elf war angekündigt. Ab zwölf Windstärken würde der Wetterdienst ihn als Orkan einstufen.

»Nero, jetzt wird’s ungemütlich«, sagte er zu dem Hund, der auf der Rückbank lag und schnarchte. Er musste volles Vertrauen in seinen Herrn haben, denn selbst die warnenden Worte brachten ihn nicht dazu, seinen Schlaf zu unterbrechen.

Zum Glück galt die Sperrung noch nicht für PKWs.

»Auf geht’s«, sagte er zu sich selbst, als er auf die Brücke fuhr. Obwohl er kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit fuhr, musste er das Lenkrad fest mit beiden Händen halten, damit ihn die Böen nicht von der Fahrbahn drängten.

Nach fünf Minuten war es geschafft. Sie hatten die etwa einen Kilometer lange Brücke passiert und befanden sich nun auf der Insel Fehmarn. Genauer gesagt, sie fuhren in die Stadt Fehmarn, denn seit 2003 hatte die Insel den Status einer Stadt.

Er hatte die einstige Hauptstadt der Insel, Burg, noch nicht erreicht, als er im Verkehrsfunk hörte, dass nun auch PKWs die Brücke nicht mehr passieren durften.

Nach ein paar Kilometern bog er von der Bundesstraße 207 in Richtung Burg ab. Eine Viertelstunde später hielt er vor dem Gebäude, in dem der Rechtsanwalt sein Büro hatte. Er hatte Glück und fand auf dem gewöhnlich zugeparkten Marktplatz eine Lücke.

Der Himmel war inzwischen blauschwarz. Zum Lesen hätte man am helllichten Tag eine Lampe einschalten müssen. Vereinzelt klatschten dicke Regentropfen auf die Windschutzscheibe.

Voss schätzte die Entfernung von seinem SUV bis zur Tür des Rechtsanwalts auf 50 Meter. Mit einem Sprint müsste er es schaffen, bevor sich die dicken Tropfen zu einem Regenguss verdichteten. Er öffnete die Fahrertür und schwang die Füße nach draußen. In diesem Moment öffnete die Wolke über ihm ihre Schleusen. Wie eine Wand aus Wasser klatschte der Regen auf das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes. Voss zog blitzartig die Füße ein und schlug die Autotür zu. Wäre er zum Gebäude des Rechtsanwalts gerannt, hätte ihn der Regen innerhalb von Sekunden bis auf die Haut durchnässt. Die herunterstürzenden Wassermassen trommelten derart auf das Fahrzeugdach, dass selbst Nero den mächtigen Kopf hob und seinen Unmut durch lautes Knurren kundtat.

»Ist schon gut, Nero. Kein Grund zur Aufregung. Ist gleich vorbei«, beruhigte ihn Voss.

Nero schielte zweifelnd zum Dach empor. Das Trommeln hörte nicht auf, und er schien der Aussage seines Herrn nicht so richtig zu glauben. Er legte sich jedoch wieder auf die Rückbank nieder und verlieh seinen Zweifeln durch anhaltendes Knurren Ausdruck.

Nach fünf Minuten hörte der Regen so schlagartig auf, wie er begonnen hatte. Der Marktplatz hatte sich in einen See verwandelt. An vielen Stellen waren die Pflastersteine nicht mehr zu sehen.

Voss wartete, bis das Wasser weitgehend abgelaufen war, dann öffnete er die Fahrertür und stieg aus. Bevor er die Tür schloss, drehte er sich zu Nero um und befahl: »Pass auf!«

Nero setzte sich zum Zeichen, dass er ihn verstanden hatte, aufrecht auf den Rücksitz. Sein mächtiger Kopf stieß beinahe an das Dach des SUV. Schon allein durch die drohende Haltung stellte er sicher, dass sich niemand an den Wagen herantrauen würde. Mit 55 Kilogramm reiner Muskelmasse und Knochen, dem breiten Maul, aus dem zwei gelbe Reißzähne nach oben ragten, den wulstigen Stirn- und Augenfalten und dem grimmigen Blick wirkte er wahrlich furchterregend. Die meisten Menschen hielten ihn für einen hässlichen Hund. Einige von Voss’ Bekannten hatten die Köpfe geschüttelt, weil er sich so einen grässlichen Gefährten hielt.

Voss quittierte all diese Bemerkungen mit einem Lächeln. Die Qualitäten seines Hundes herauszustellen, hielt er nicht für notwendig. Seine Freunde hätten ihm doch nicht geglaubt. Er erklärte ihnen auch nicht, dass nicht er den Hund ausgesucht hatte, sondern der Hund ihn.

Es war in Istanbul gewesen. Er musste mehrere Stunden bis zum Abflug seines Fluges nach Hamburg totschlagen, und so nutzte er die Wartezeit, um durch einen der vielen Märkte zu schlendern. Das wütende Geschrei eines Mannes ließ ihn neugierig stehen bleiben. Augenblicke später fühlte er etwas Warmes an den Beinen. Ein kräftiger Welpe hatte sich hinter seinen Beinen versteckt. Im Maul hielt er eine Wurst, und eine weitere hing herunter. Fast gleichzeitig drängte sich ein stämmiger Fleischer durch die Menschen, in der erhobenen rechten Hand ein blutiges Fleischermesser. Es sah aus, als würde er Amok laufen. In dem Moment, in dem er den Welpen hinter Voss’ Beinen entdeckte, stürzte er auf die beiden zu.

»Hab ich dich endlich erwischt«, schrie er wutentbrannt und wollte den Welpen packen. Der drängte sich so eng wie möglich an Voss’ Waden. Voss gebot dem wütenden Fleischer mit einer herrischen Handbewegung Einhalt. Mithilfe der Übersetzungskünste der Umstehenden erfuhr er, dass der Fleischer nichts Gutes mit dem überführten Wurstdieb vorhatte. Voss hatte Mitleid mit der armen Kreatur zu seinen Füßen, zog seine Geldbörse und entschädigte den Fleischer mit einem Zwanzigeuroschein. Es waren die teuersten Würste seines Lebens. Der Fleischer steckte den Geldschein ein, drehte sich um und ging. Wahrscheinlich hielt er den Deutschen für verrückt.

Auch Voss ging. Der Welpe folgte ihm, während er seine Würste hinunterschlang. Voss scheuchte ihn davon. Der Hund, in dessen Stammbaum sich jeder Straßenköter Istanbuls verewigt zu haben schien, ließ sich dadurch aber nicht abschrecken. Er folgte Voss auf Schritt und Tritt.

Um ihn loszuwerden, versuchte Voss ihn einigen Marktbesuchern anzudrehen, doch niemand wollte diese Ausgeburt an »Schönheit« haben. Schließlich versprach er einem Marktstandbetreiber 50 Euro, wenn er den Hund bei sich behalten und gut für ihn sorgen würde. Der Handel wurde unter Zeugen mit einem Handschlag abgeschlossen. Der neue Besitzer band den Welpen zur Sicherheit an seinem Stand fest.

Voss – froh, den lästigen Begleiter los zu sein – verließ den Markt, überquerte eine Hauptverkehrsstraße und machte sich auf den Weg zu seinem Hotel. Er war noch nicht weit gekommen, als er ein Keuchen hinter sich hörte. Er drehte sich um und sah den Welpen mit hängender Zunge herankommen. Sobald er Voss erreicht hatte, begann alles an dem Hund zu wedeln – Kopf, Körper und Schwanz. In diesem Augenblick hatte eine Männerfreundschaft begonnen.

Das Haus, das Jeremias Voss nun betrat, war ein dreistöckiges, im klassischen Stil der Kaiserzeit erbautes Backsteingebäude. Vom Flur aus ging es links zum Anwaltsbüro und rechts zu einem Immobilienmakler. Eine abgenutzte Holztreppe führte in die oberen Etagen, die ebenfalls mit Büros belegt waren, wie Voss an den Schildern neben dem Eingang gesehen hatte.

Er klopfte an die Tür zum Rechtsanwaltsbüro und trat ein, ohne auf eine Aufforderung zu warten.

Eine junge Frau Anfang 20 hämmerte auf die Tasten eines Computers. Sie hatte einen Kopfhörer im Ohr und schrieb weiter, während sie sich dem Eintretenden zuwandte.

»Sind Sie Herr Voss? Herr Jeremias Voss?«, fragte sie.

»Ja.«

Die junge Frau hörte auf zu schreiben und nahm den Kopfhörer aus dem Ohr.

»Herr Paulsen lässt sich entschuldigen. Er musste zu einem wichtigen Termin aufs Festland. Er gab mir die Schlüssel zu dem Haus, das Sie geerbt haben.« Sie langte neben ihren Computer und holte einen Schlüsselbund hervor, an dem Schlüssel aus längst vergangenen Tagen hingen, und reichte ihn Voss. »Wenn Sie mir den Empfang quittieren möchten.«

Sie schob ihm einen vorbereiteten Computerausdruck hinüber, den Voss unterschrieb. Er machte sich nicht die Mühe, ihn durchzulesen.

»Herr Paulsen hat mich beauftragt, Sie daran zu erinnern, dass der Erblasser den oberen Teil der Scheune an einen Maler vermietet hat. Soweit ich informiert bin, ist der Maler vor zwei oder drei Jahren nach Russland gegangen. Ein Galerist betreut bis zu seiner Rückkehr das Atelier. Wenn Sie dem Maler kündigen wollen, wenden Sie sich bitte an die Adresse des Galeristen. Wie Sie sehen, hat er ein Haus im gleichen Dorf, gleich gegenüber.« Die Angestellte überreichte ihm einen Zettel mit Name und Anschrift.

»Ich weiß, Herr Paulsen hat mit mir darüber gesprochen.« Voss blickte auf den Zettel mit der Adresse des Galeristen und stutzte.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte die Angestellte besorgt, als sie seine Reaktion bemerkte.

»Nein, nein, ist alles okay. Der Name hat mich nur irritiert. Ich kenne einen Gläser, der auch Galerist ist, deshalb habe ich mich gewundert. Wohl nur eine Übereinstimmung von Namen.«

Oder auch nicht, dachte er und fühlte sich auf einmal beklommen.

»Wo befinden sich die Schlüssel für den Fischkutter, der wohl auch zu dem Erbe gehört?«

»Die liegen in der Küche auf der Anrichte.«

»Noch eine Frage. Hat das mit der Reinigung des Hauses geklappt? Ich hatte Herrn Paulsen gebeten, es zu veranlassen.«

»Ich denke doch. Es war schwierig, denn jetzt zu Beginn der Saison sind alle Reinigungskräfte damit beschäftigt, die Touristenunterkünfte herzurichten.«

»Falls Sie mich für irgendetwas benötigen, finden Sie mich im Haus oder auf dem Kutter. Oh, fast hätte ich es vergessen. Wie heißt der Kutter überhaupt?«

»Er heißt Hanna und liegt ihm Hafen von Orth, an der Seite, wo sich auch die Cafés und Restaurants befinden.«

»Nur der Ordnung halber«, sagte Voss. »Ich hatte mit Rechtsanwalt Paulsen vereinbart, dass ich mir das Erbe erst einmal gründlich ansehe, bevor ich mich entscheide, ob ich es annehme oder nicht.«

Die Rechtsanwaltsgehilfin machte sich eine Notiz. »Ich weiß, Herr Paulsen hat mich davon unterrichtet.«

Voss verabschiedete sich. Er steckte den Schlüsselbund mit den Bartschlüsseln in die Hosentasche, zog ihn jedoch gleich wieder heraus, weil er die Hose so sehr ausbeulte, dass man ihm erotische Gedanken unterstellen könnte.

Vom historischen Marktplatz aus fuhr er auf die Bahnhofsstraße und nahm dann den Landkirchener Weg. Er schlängelte sich durch Landkirchen, passierte Lemkendorf und bog kurz vor Petersdorf nach Gollendorf ab. Im Dorf Mönkshagen lag die Fischerhütte. Er war gespannt, was ihn erwarten würde.

Als sein Navi meldete »Ziel erreicht«, war er angenehm überrascht. Die Fischerhütte entpuppte sich als ein typisches Fehmarner Bauernhaus. Es war aus roten Backsteinen, wie man sie im Norden überall findet, erbaut und lag mitten im Dorf direkt an der Hauptstraße, wenn man denn die durch Mönkshagen verlaufende Dorfstraße so nennen durfte. Zur Straße hin lag das Wohnhaus. Daran schloss sich eine Scheune an, deren Rückseite in die Richtung zeigte, aus der die schweren Wetter kamen. Zur Straße hin wurde der Vorgarten von einer Hecke begrenzt. Aus welchen Sträuchern sie bestand, konnte Voss nicht sagen. Auf ihn wirkte sie wie ein verwilderter Knick.

Die Einfahrt war mit einem verrosteten, schief in den Angeln hängenden Eisentor verschlossen. Das doppelflügelige Tor war mit einer Kette und einem Vorhängeschloss aus Omas Zeiten zugesperrt. Voss zog den Schlüsselbund hervor, der passende Schlüssel war nicht zu übersehen. Er hatte einen Bart und in der Mitte ein etwa fünf Millimeter großes Loch. Voss steckte ihn in das Vorhängeschloss, und zu seiner Verblüffung ließ er sich leicht drehen. Auch die beiden Flügel der Tür öffneten sich geräuschlos. Ihm fiel ihm ein, dass der Boden der Scheune ja an einen Maler vermietet war. Wahrscheinlich hatte der dafür gesorgt, dass das Vorhängeschloss und die Scharniere gut geschmiert waren.

Er ging zum Auto zurück und fuhr vor die Haustür. Dann ging er zurück und verschloss das Eingangstor. Es abzuschließen hielt er nicht für notwendig. Nachdem er sichergestellt hatte, dass Nero nicht auf die Straße konnte, ließ er ihn aus dem Wagen springen. Der Hund stürmte laut bellend davon.

Das Wohnhaus bestand aus einem dreistöckigen Mittelteil von etwa drei Metern Breite und schloss mit einem spitzen Giebel ab. Die seitlichen Anbauten hatten nur zwei Stockwerke und eine Art Walmdach. Zur Straße hin gab es in jedem Stockwerk sechs Fenster, im Mitteltrakt jeweils zwei schmale und zu beiden Seiten zwei große.

Über der Eingangstür befand sich im dritten Stock ein rundes Fenster. Ursprünglich musste das Haus einmal von Efeu umrankt gewesen sein, denn an den Mauersteinen sah Voss Rückstände der Pflanzen.

Er schloss die Eingangstür auf und trat in eine breite Diele. Sie war gefliest und wirkte bis auf eine feine Staubschicht sauber. Sie lief der Länge nach durch den Wohnteil. Rechts, links und am Ende gab es weiß gestrichene Türen. Voss beschlich ein eigenartiges Gefühl. Es war schon komisch, einen Bereich zu betreten, in dem bis vor kurzem noch ein anderer Mensch sein Leben verbracht hatte. Obwohl jetzt alles ihm gehörte, wenn er das Erbe annahm, kam er sich doch vor wie ein Fremdkörper, wie jemand, der die Totenruhe störte. Eigentlich hatte er immer geglaubt, gegen sentimentale Gefühle gefeit zu sein, trotzdem spürte er, wie sein Magen revoltierte, als er die erste Tür zu seiner Rechten öffnete. Er betrat eine geräumige Wohnküche. Sie wirkte aufgeräumt, nichts stand oder lag herum – als würde er eine Ferienwohnung betreten. Dabei hatte er erwartet, überall Gegenstände zu finden, die der Tote zu Lebzeiten benutzt hatte.

Er kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn in diesem Moment stürzte Nero herein. In seinem Maul hatte er einen Maulwurf, den er ihm stolz zu Füßen legte. Lob erheischend blickte er zu ihm auf. Voss tätschelte seinen riesigen Kopf. »Hast du gut gemacht, Nero.« Damit schien für Nero die Tat ausreichend gewürdigt zu sein, denn er legte sich nieder und machte Anstalten, den Maulwurf zu verzehren.

»Aus!«, rief Voss, denn das ging ihm entschieden zu weit. Er griff nach dem Maulwurf, ging damit nach draußen und warf ihn in hohem Bogen über die knickartige Hecke auf die Straße. Nero stürmte hinterher, und er hätte sich durch die Hecke gedrückt und sicher auch den Holzzaun davor umgerissen, wenn ihn nicht ein scharfer Befehl seines Herrn zur Ordnung gerufen hätte. Mit hängendem Kopf kehrte er zurück. Voss hatte inzwischen einen Hundekuchen aus dem Auto genommen und stellte damit Neros Gemütsverfassung wieder her. Sobald der Kuchen vertilgt war – eine Frage von Sekunden –, stürmte Nero wieder davon. Offenbar hoffte er, dort, wo er den Maulwurf ausgebuddelt hatte, noch ein weiteres Leckerli zu finden.

Neros Auftritt hatte Voss’ bedrückende Gefühle vertrieben. Seine Stimmung verbesserte sich zusehends. Neugierig verließ er die Küche, öffnete die gegenüberliegende Tür und befand sich in der Wohnstube. Auch sie war aufgeräumt. Von der Stube führte eine Tür in ein Arbeitszimmer. Daneben gab es im Erdgeschoss noch einen Wirtschaftsraum, ein Badezimmer und eine Treppe, die ins Obergeschoss führte. Hier lagen das Elternschlafzimmer und drei weitere Räume, die früher wohl als Kinder- oder Gästezimmer genutzt worden waren, sowie ein weiteres Badezimmer. Im dritten Stock lagen zwei Kammern mit Dachschrägen. Alles war mit einer Staubschicht bedeckt, ansonsten aber aufgeräumt. Neugierig öffnete er den Kleiderschrank im Schlafzimmer. Hier hatte niemand Ordnung geschaffen. Die Kleidung des Toten hing durcheinander, und die Wäsche war mehr oder weniger geordnet in die Fächer gestopft worden. Als er sich im Zimmer umsah, fiel ihm auf, dass es nirgends schmutzige Wäsche gab. Er fand sie auch nicht in den Badezimmern oder im Hauswirtschaftsraum.

Eigenartig, dachte er, denn eine Reinigungsfirma oder eine professionelle Reinigungskraft hätte sich nicht die Mühe gemacht, die Wäsche zu waschen.

Er ging wieder ins Erdgeschoss zurück und probierte die Tür am Ende der Diele aus. Sie öffnete sich, wie er schon gedacht hatte, zum ehemaligen Stall. Dort traf ihn beinahe der Schlag. Es war, als würde er einen Schrottplatz besuchen. Sein Vorgänger schien alles, was nach Metall aussah, gesammelt zu haben. Zwei alte Autos, ein halb verrosteter Trecker, eine Pferdekutsche ohne Räder, ein altes Motorrad waren die Großteile, die er von der Tür aus identifizieren konnte. Als er weiterging, sah er abgefahrene Autoreifen. Zwei angeschlagene Toiletten- und ein kaputtes Waschbecken lagen in einer der Kuhboxen. In einer anderen lagen Fischernetze und Bootsbedarf. Nur bei den Kleinteilen wie Schrauben und Nägeln hatte er Ordnungssinn bewiesen. Anstatt sie einfach in einer Ecke zu sammeln, hatte er sie in eine Seekiste geworfen. Die Kiste war nach Voss’ Schätzung halb voll.

Während er seinen Rundgang fortsetzte, kam Nero angeschossen. Wahrscheinlich wollte er nur nachschauen, ob es seinen Herrn noch gab. Ein Blick genügte ihm, und er begann zwischen dem Schrott herumzuschnüffeln. Voss betrachte seinen Hund, wie er voller Tatendrang versuchte, dem Ursprung der unterschiedlichen Gerüche auf die Spur zu kommen, und lächelte belustigt. Für Nero war das Anwesen ein Paradies.

Plötzlich quiekte es. Dann folgte ein Poltern und Scheppern. Offenbar hatte Nero eine Ratte entdeckt, die er nun auf geradem Weg verfolgte. Gleich wird er zornig bellen, dachte Voss. Und er hatte recht. Die Ratte schien durch ein Loch in der Wand entkommen zu sein. Nero ließ seine Wut über den Misserfolg an der Wand aus. Voss ließ ihn toben. Hier konnte er keinen Schaden anrichten, dachte er und ging zu der Stiege, die zum Boden führte. Sie lag gleich rechts neben der Tür, durch die er die Scheune betreten hatte. Aber das Betreten des Heubodens – er ging davon aus, dass er dafür früher genutzt worden war – wurde ihm durch eine Tür verwehrt. Er betrachtete verwundert das Eisenblech des Türblatts. Wie er wusste, hatte der Vorbesitzer dem Maler gestattet, den Boden als Atelier zu nutzen. Inwieweit der Künstler dafür Miete zahlte, wusste er nicht. Es interessierte ihn im Augenblick auch nicht. Sehr wohl aber fragte er sich, warum hier eine Tür – und dann auch noch eine metallverstärkte – eingebaut worden war. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Bilder des Malers solchen Wert besaßen. Die meisten Künstler, das wusste Voss von früheren Recherchen, konnten von ihrer Arbeit nicht leben. Nur ein minimaler Prozentsatz schaffte es, mit Bildern Geld zu verdienen, und das waren gewöhnlich Künstler, die an bekannten Universitäten bei bekannten Meistern studiert hatten. Von einem Piotr Kolbe hatte er jedoch noch nie gehört. Zwar war er auf dem Gebiet alles andere als ein Experte, doch wenn der Name schon einmal in der Presse oder im Fernsehen erwähnt worden wäre, wäre er ihm aufgefallen.