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Dörte Müller

Das Eichhörnchen erzählt Märchen

Reise ins Märchenland


Für alle Märchenfans


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Adelheid

 

Das kleine Eichhörnchen saß auf einem Baum und sah den Schneeflocken zu, wie sie langsam auf die Erde rieselten.

„Es wird Winter!“, dachte es bei sich und zog seine rote Mütze tief ins Gesicht. Es freute sich, denn am frühen Abend kuschelte sich die Familie eng zusammen und erzählte sich Geschichten. Dann war es nicht so langweilig und in Gedanken konnten sie in ferne Länder reisen und Abenteuer erleben. Sie hörten von Prinzen und Prinzessinnen und vergaßen die Kälte und den Schnee.

Da fiel dem Eichhörnchen etwas ein: Wo war das Märchenbuch?

Am Ende des letzten Winters hatte es das Buch irgendwo hingelegt. Dann war der Frühling gekommen und die Eichhörnchen hatten draußen gespielt. Sie hatten die langen Tage und die wärmende Sonne genossen.

„Kinder, wisst ihr, wo das Märchenbuch ist?“, fragte das Eichhörnchen aufgeregt. Die Kinder schüttelten die Köpfe.

„Schnell, ihr müsst es suchen!“, sagte das Eichhörnchen. „Es schneit, wir müssen uns vorbereiten!“

Die Kinder suchten und suchten, doch sie fanden es nicht.

„Dann muss ich euch die Märchen auswendig erzählen!“, sagte das Eichhörnchen schließlich.

„Ich glaube, ich bekomme das hin, denn ich habe die Märchen schon so oft erzählt!“

Die Kinder kuschelten sich in freudiger Erwartung an die Mutter. Es war ganz dunkel geworden und ein kalter Wind pfiff um den Baum. Sie waren warm geschützt in ihrem Schlupfloch. Die Mutter schloss die Augen und fing an zu erzählen.

 

 

Adelheid

                                         

 Es war einmal eine Prinzessin. Sie hieß Adelheid und lebte mit ihrem Vater und ihrer Mutter hoch oben auf einem Berg in einem prunkvollen Schloss.

 

 

Adelheid hatte langes, goldenes Haar, doch sie war nicht so hübsch wie die anderen Prinzessinnen. Ganz im Gegenteil: Sie war hässlich. Statt einer zierlichen kleinen Nase prangte ein Gurken ähnlicher Zinken in ihrem stets rosigen Gesicht.

 

Ihre Lippen glichen denen eines Fisches und ihre Ohren standen weit vom Kopf ab, so dass sie nicht von den langen Haaren bedeckt werden konnten. Viele Leute erschraken bei ihrem Anblick. Die Gleichaltrigen aus dem Dorf am Fuße des Berges verspotteten sie. Es gab unzählige hässliche Reime und Lieder, die die Kinder im Laufe der Jahre gedichtet hatten. Deshalb vermied Adelheid es, ins Dorf zu gehen und verbrachte ihre Nachmittage einsam im Schloss.

 

Die Königin versuchten vergeblich sie abzulenken und ihr zu beweisen, dass sie doch ganz gut aussah. Sie schenkte ihr teuren Schmuck und wertvolle Kleider, aber damit sah sie auch nicht besser aus. Adelheid hatte auch schnell begriffen, dass die Eltern ihretwegen alle Spiegel aus dem Schloss entfernt hatten. Ihre einzigen Freunde waren die Bücher und mit der Zeit hatte sie alle Bücher der gesamten Schlossbibliothek von vorne bis hinten mehrfach gelesen. Boten mussten ihr neue Bestände aus den umliegenden Büchereien bringen und auch das war ihr nicht genug. Adelheid wurde immer klüger. Mit sechs Jahren schlug sie ihren Vater im Schachspiel und mit sieben unterstütze sie ihn beim Regieren.

 

Immer, wenn er vor einer wichtigen Entscheidung stand, holte er sich ihren Rat. Die Diener und Hofleute liebten die junge Prinzessin. An ihr außergewöhnliches Äußeres hatten sie sich schon lange gewöhnt. Sie mochten ihre freundliche Art und schätzten ihre Großzügigkeit.

 

Außer den Büchern gab es noch eine andere Leidenschaft, der Adelheid in ihrer Freizeit gerne nachging: Sie liebte es, durch die großen Wälder ihres Vaters zu reiten und den Wind in ihren Haaren zu spüren. Auf dem Rücken ihres weißen Pferdes war sie unendlich glücklich. Sie fühlte sich frei und unbeschwert und dachte nicht mehr über ihre Hässlichkeit nach. Sie durfte überall reiten – Täler, Wiesen, Berge und Wälder, es gab keine Grenzen.

 

 

Nur ein Verbot musste sie beachten: Schon von klein auf hatte der Vater ihr verboten, den wilden Fluss zu überqueren. Der wilde Fluss strahlte etwas Magisches aus. Er schimmerte grünlich und riss alles mit sich, was er kriegen konnte. Die Strömung war stets sehr stark und immer wurden irgendwelche Äste und manchmal auch ganze Bäume mitgespült. Adelheid hatte nie das Verlangen gespürt, auch nur in die Nähe dieses unheimlichen Gewässers zu gelangen und es fiel ihr leicht, sich an die Regel zu halten.

 

Aber Adelheid war sehr traurig, denn mit zunehmendem Alter wurde ihr bewusst, welche Nachteile ihr ihre Hässlichkeit brachte. Wenn sie auf einen Ball ging, wurde sie nie aufgefordert. Und obwohl sie langsam im heiratsfähigen Alter war, machte ihr keiner der Prinzen den Hof.

Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, einsam und allein bis an das Ende ihrer Tage hier im Schloss zu leben und irgendwann das Land zu regieren.

 

 

Eines Nachts, als sie einmal wieder nicht einschlafen konnte, weil ein voller Mond in ihr Zimmer schien, wandelte sie wie so oft rastlos im Schloss umher und wollte sich in das obere Kämmerlein schleichen. Da blickte sie dann in den Nachthimmel und dachte über das Leben nach. Auch in dieser Nacht schlich sie sich durch das dunkele Schloss. Als sie am Schlafgemach ihrer Eltern vorbei huschte, hörte sie plötzlich die Stimme ihrer Mutter.

 

„Es ist schon ein Trauerspiel, dass Adelheid nicht mit Schönheit gesegnet ist ...!“ Der König brummte zustimmend. „Andererseits ist sie sehr klug, das ist auch etwas wert! Ohne sie könnte ich in den Wirren dieser Zeit gar nicht mehr regieren ...“

„Aber wenn keiner der Prinzen sie heiraten will, was werden wir dann tun?“, fragte die Königin besorgt. „Auf keinen Fall werde ich zulassen, dass Adelheid von dem Fluch erfährt und sich in Gefahr begibt!“, antwortete der König mit fester Stimme. Adelheid erschrak. Von was für einem Fluch war hier die Rede? Davon hatte sie noch nie etwas gehört. Ihre Hände zitterten und sie presste ihr linkes Ohr ganz dicht an die schwere Eichentür, um noch weitere Gesprächsfetzen aufzuschnappen.

„Wie gerne würde ich für sie auf der anderen Seite des wilden Flusses im Haus der Zauberin die Mutproben bestehen, dann wäre alles wieder gut!“, seufzte die Königin und weinte leise in ihr Taschentuch.

 

 

 

 

 

 

 

„Ihr seid sehr klug! Woher wisst Ihr das alles?“ Die Prinzessin antwortete nicht und verlangte das nächste Rätsel. „ Womit fängt der Tag an und womit hört die Nacht auf?“ Wieder musste die Prinzessin lachen. „Das ist das T !“ Der Prinz jubelte und umarmte Adelheid. „Was für schönes langes Haar Ihr habt ...!“, brachte er hervor. „Es duftet so wundervoll!“ Die Prinzessin sah den Prinzen überrascht an. Das hatte noch nie jemand zu ihr gesagt. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, doch sie schwieg und wartete auf das nächste Rätsel.

Der Prinz stellte ihr folgende Aufgabe: „Welches Kellertier ist das Klügste?“„Die Leseratte!“, rief die Prinzessin. Der Prinz gab ihr einen langen Kuss und die Prinzessin fühlte sich wie verzaubert und so glücklich wie noch nie in ihrem Leben.