Christiane Thiel

Das Jahr in dem ich 13½ war

Roman

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Gulliver 1035

www.gulliver-welten.de

Originalausgabe

© 2007 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Alle Rechte vorbehalten

Neue Rechtschreibung

Lektorat: Susanne Härtel

Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg

Einbandgestaltung: Diana Lukas-Nülle

ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza

ISBN 978-3-407-74181-3

Der Roman Das Jahr, in dem ich 13½ war wurde mit dem Peter-Härtling-Preis der Stadt Weinheim ausgezeichnet, der alle zwei Jahre an hervorragende Manuskripte der erzählenden Literatur für Kinder oder Jugendliche vergeben wird.

Jury zum Peter-Härtling-Preis:

Hans-Joachim Gelberg (Autor und Herausgeber), Peter Härtling (Autor), Prof. Susanne Krüger (Hochschule der Medien, Stuttgart), Katrin Mühlfellner (Buchhändlerin), Dietmar Pfennigschmidt (Dipl. Bibliothekar und Bibliotheksleiter der Stadt Weinheim), Christoph Schmitz (Journalist)

1

Hier bleibt der Schnee nie lange liegen. Wenn er aber doch einmal für eine Schneedecke reicht, machen alle, die unter vierzehn sind, ihre Schlitten startklar und flitzen raus in den Park und fahren die zwei kleinen Hügel runter. Die Rodelpisten sind höchstens zehn Meter lang, aber ein Gedränge ist dort wie sonst was.

Ich war heute mit meiner kleinen Schwester da. Sie kann noch nicht rodeln. Ich hatte sie im Tragetuch vorn in meiner Jacke. So klein ist sie noch. Sie heißt Maria und hat die ganze Zeit geschlafen. Gott sei Dank. Wenn sie weint, fühle ich mich völlig hilflos.

Ich habe nachgesehen, ob jemand aus meiner Klasse da ist. Manchmal kommen welche von uns mit ihren Schlitten und der Rest steht am Rand und quatscht. Ich hätte gern meine Freundin Ulli getroffen oder die schlaue Babette. Na ja, eigentlich sind wir schon zu groß zum Rodeln, ist ja klar. Aber hier bleibt so selten der Schnee liegen, dass sich fast keiner beherrschen kann, wenn es mal welchen gibt. Sogar Erwachsene kann man rodeln sehen. Die sind albern, wie kleine Kinder. Es dauert nur ein paar Stunden und schon guckt die Erde wieder unterm Schnee hervor. Trotzdem machen alle weiter. Wie die Verrückten. Es ist laut, Lachen füllt die Luft wie Musik.

Heute war keiner aus meiner Klasse da. Schade. Wahrscheinlich lernen sie alle. Wir schreiben morgen wieder einen großen Test in Deutsch. Ich habe keine Lust zum Lernen, und außerdem kann ich meiner Mutter helfen, wenn ich Maria eine Weile mit rausnehme. Ich hätte sie ja so gern mal vorgeführt! Sie ist noch ziemlich neu. Und so süß!

Geplant war sie nicht. Ich meine Maria. Das heißt, das weiß ich nicht genau, aber ich nehme es an. Es gab ziemlichen Wirbel, als es rauskam. Meine Mutter grinste beim Abendbrot so komisch und sagte dann plötzlich: »Wir ziehen um.«

»Hä?«, machte Mella, meine größere Schwester, siebzehn.

»Na ja. Wir brauchen ein Zimmer mehr und Carsten könnte auch gleich mit einziehen.«

Meine Augen fielen fast aus den Höhlen, so weit riss ich sie auf. War das zu fassen? Wieso brauchten wir ein Zimmer mehr? Und Carsten? An den hatten wir uns zwar schon fast gewöhnt, aber zusammen wohnen?

»Was ist los?«, fragte Mella.

»Ich krieg ein Kind«, sagte meine Mutter. »Seid mir nicht böse.«

Pause. Wieso sollten wir böse sein? Komischer Gedanke.

»Ich freu mich. Und Carsten auch. Stellt euch das mal vor. Wir wären wieder eine Familie!«, redete sie einfach weiter.

Das war jetzt echt zu viel. Ich sah Mella an und bemerkte, dass sie wütend schluckte. Ihr schöner Schwanenhals wurde rot und fleckig.

»Wieder eine Familie? Mami, spinnst du?«

Wir waren mal eine Familie. Aber meine Mutter hat unseren Vater vor ungefähr sieben Jahren verlassen. Da sind wir schon mal umgezogen. Danach hatte ich eine Riesensehnsucht nach ihm und diesem ganzen Familienzauber, wenn alle beisammen sind und es so schön gemütlich und geborgen ist.

Mein Vater Paul ist ein starker Typ. Er macht Musik. Außerdem managt er eine Kulturkneipe, vielleicht war er deshalb fast nie zu Hause. Aber wenn er da war, dann hatte er gute Laune und wirbelte uns in der Luft herum, sang mir Lieder ins Ohr und tanzte mit Mella. Allerdings gab es zwischen ihm und meiner Mutter oft Streit. Sehr oft. Das war nicht zu überhören. Und es war schrecklich. Zuletzt haben sie sich dann getrennt.

Wenn es heute zwischen Mella und meiner Mutter kracht, dann fangen sie manchmal an, über die Vergangenheit zu reden, so als würde ihnen das helfen, das Ganze besser zu verstehen. Meine Mutter sagt dann, dass wir nur eine Nebensache in Vaters Leben waren, dass sie oft das Gefühl hatte, Mutter von drei Kindern zu sein und nicht nur von zwei, dass sie sich nie auf ihn verlassen konnte. Neuerdings guckt Mella bei solchen Gesprächen ganz verständnisvoll. Vielleicht liegt das an ihrem Alter?

Vater hat wieder eine Frau und zwei neue Kinder und wir sehen uns einmal im Jahr. Dann macht er einen riesigen Aufriss, schleppt uns irgendwohin, zeigt uns was, und wenn der Tag rum ist, bin ich völlig fertig. Meistens kommt er im Frühjahr auf die Idee. Dieses Jahr ist Mella zum ersten Mal nicht mitgekommen. Sie hat wirklich was verpasst. Er ist mit mir nach Berlin gefahren. Zum Reden sind wir nicht gekommen. Ich würde ihn doch gern mal fragen, warum es mit unserer Familie damals nicht geklappt hat und ob’s ihm was ausmacht, dass es Carsten gibt.

»Wieder eine Familie? Mami, spinnst du?«

Klar, da waren alle Fragen drin. Die ganze Geschichte. Meine Mutter machte auch gleich so ganz tiefe Augen und biss sich auf die Unterlippe. Was sollte sie auch tun? Dann bekam ihr Gesicht einen trotzigen Ausdruck.

»Ach was! Es ist, wie es ist. Das Baby ist unterwegs, und ich habe endlich einen Mann, der mir hilft. Und ich habe euch, und ich wette, wir kommen klar.«

Dann schaute sie uns fröhlich und herausfordernd an, grinste wieder in sich hinein. Sie schien von dem Baby irgendwie Kraft zu kriegen. Später wurde das noch stärker, je dicker sie wurde.

Die Flecken an Mellas Hals und der Krampf in meinem Unterkiefer konnten sowieso nichts ändern. Wir mussten uns ergeben, aber nicht wie bei einem großen Krach, nein. Das brachte nichts. Maria war nun mal unterwegs. Die Uhren tickten anders. Da war allerhand los und irgendwie war’s auch schön und sehr spannend.

Wir besichtigten Wohnungen und zogen in die vierte Etage eines schönen Fachwerkhauses. Unsere Wohnung ist ziemlich groß, jedenfalls für unsere Verhältnisse. Bisher hatten wir drei Zimmer, Küche und Bad. Jetzt haben wir vier echte Zimmer und einen kleinen Verschlag. »Für Gäste«, hat meine Mutter gleich gesagt. Jetzt steht da ein Sofa drin, das man auseinanderklappen kann. Dann ist Platz für zwei. In der Küche gibt es eine Speisekammer, die so groß ist, dass ein kleiner Mensch richtig gut reinpasst. Ich kann mir vorstellen, wo wir Maria später finden werden, wenn sie sich versteckt.

Ich teile ein Zimmer mit Mella. Es hat einen Balkon, von dem aus wir auf Kleingärten voller Blumen und Gemüse sehen. Carsten hat uns ein Hochbett gebaut. So was kann er. Außerdem stehen bei uns: eine Lümmelcouch mit einem kleinen Tisch und einem uralten Sessel, zwei Schreibtische und zwei schöne alte Schränke. Die haben wir aber schon, so lange ich denken kann. Auf dem einen steht in schnörkeliger Schrift »Mella«, auf dem anderen »Tine« – das bin ich. Die Zimmerwände sind tiefgelb, wenn es so eine Farbe gibt. Sattgelb, könnte man auch sagen. Wie Sonne am Abend nach einem langen, warmen Tag.

Kurz vor Ferienbeginn sind wir umgezogen. Es war schon fast Sommer. Ich hatte kurze Hosen an und der Bauch meiner Mutter war riesig. Sie konnte nichts mehr tragen. Sie stand nutzlos rum und meistens im Weg. Meine Omi kümmerte sich besorgt um sie. Das ging Mami zwar auf die Nerven, aber hilfreich war es schon, dass sie da waren, unsere neuen Großeltern. Schließlich ist Opa fit und packt richtig mit an, so dass alles ruck, zuck ging.

Für uns waren die beiden eine echte Sensation, denn die Eltern meiner Mutter sind schon lange gestorben und die von unserem Vater haben sich seit der Trennung nicht mehr blicken lassen. Sie hatten sich auch vorher nicht gerade aufgedrängt.

Und jetzt hatte Carsten diese Großeltern in unsere Familie mitgebracht. Als wir sie zum ersten Mal treffen sollten, war mir richtig komisch vor Angst. Sie kamen zu uns zu Besuch und ich hatte mir das so vorgestellt wie im Fernsehen: Wir sitzen alle steif um den Kaffeetisch herum, die Großeltern sehen altmodisch aus, und die Oma hat silbergraue Löckchen, die sie immerzu mit einer steifen Handbewegung nach oben schiebt. Alle versuchen, sich unauffällig zu beobachten, und wenn die alten Leute wieder weg sind, atmet die restliche Familie auf.

So hatte ich mir das gedacht, aber so war es gar nicht. Sie kamen und waren nur ein kleines bisschen altmodisch. Das schon. Vor allem Omis Löckchen, die sie tatsächlich hat. Allerdings kamen wir gar nicht zum vorsichtigen Beobachten, denn sie fragten uns gleich Löcher in den Bauch. Das war überhaupt nicht peinlich, denn es ging auch andersrum. Wir konnten einfach zurückfragen und dann haben sie geantwortet. Als wäre nichts dabei, zum ersten Mal unserer neuen Familie zu begegnen, noch dazu, wenn mit diesem unübersehbaren Babybauch die nächste Überraschung bevorstand.

Sie schienen sich sehr über den Zuwachs zu freuen. Nicht nur über das Baby, sondern auch über Mella und mich. Und über Mutter. Ganz offensichtlich. Sie kamen ein zweites Mal zum Geburtstag meiner Mutter zu Besuch und da habe ich mich schon richtig auf sie gefreut. Als ich hörte, dass sie uns beim Umzug helfen wollten, war das wie eine Versicherung, dass eigentlich nichts schiefgehen würde.

Und so saßen wir nun auf den Küchenstühlen, schnüffelten die frische Farbe, die neue Wohnung, sahen uns wortlos an – das kommt bei uns nicht oft vor! – und freuten uns wie die Schneekönige. Omi hatte eine Plastikdose voll Kuchen mit und eine mit Schnittchen. Die Kaffeemaschine stand schon da und der Wasserkessel auf dem Herd.

Es war also alles da, um gemütlich Kaffee zu trinken. Wobei meine Mutter, Mella und ich Tee bevorzugen.

Die Kleingärten vor unserem Fenster leuchteten in Sommerfarben. Es war warm und die laue Luft strich um meine Beine. Kurz danach kam Maria zur Welt. Es war Sommer. Und bald waren Ferien.

Zum Glück, denn die erlösten mich von der größten Qual der Welt: der Schule. Nicht, dass ich die Schule hasse oder in eine besonders blöde Schule gehen muss. Das kann ich so nicht sagen. Aber ich hänge in manchen Fächern so hinterher, dass ich die Versuche, irgendwas aufzuholen, heimlich längst aufgegeben habe. Ich begreife einfach nicht, was die mir in Mathe beibringen wollen. Nichts als Fragezeichen. Das Ganze nervt mich total. Die einen sagen, dass ich das alles können müsste, weil ich gar nicht so blöd bin, die anderen gucken mich immer nur mitleidig an, dass ich denke, bei mir kommt sowieso jede Hilfe zu spät. Aber nun waren Ferien und damit konnte ich die Tasche in die Ecke pfeffern und an was anderes denken. Maria war nagelneu und vor mir lagen sechs lange Wochen Freiheit. Alles andere konnte warten.

Aber das ist lange her. Ewig fast. So kommt es mir vor. Dabei wohnen wir gerade mal ein halbes Jahr in dieser neuen Wohnung.

2

Ich habe Maria durch den Matsch zurück zur Straßenbahn geschleppt und dann sind wir nach Hause gefahren. Draußen wurde es schon dunkel und die Weihnachtsbeleuchtung glitzerte durch die tropfenverhangenen Scheiben. Es roch feucht und nass von vielen nassen Schuhen und tauendem Schnee. Maria lag warm und friedlich an meinem Bauch. Wie ein Kängurubaby. Das tat ihr gut. Und mir gefiel es auch. Sie träumte. Ihre Beine zuckten und mit den Ärmchen fuhr sie durch die Luft. Sie hatte keine Ahnung, was sie alles verändert hat. Nicht nur die neue Wohnung ist ihr Verdienst, nicht nur, dass Carstens Zahnbürste nun einen festen Platz im Bad hat und seine Jacke ganz selbstverständlich an der Garderobe hängt, sondern auch, dass es jetzt ein Thema in unserer Familie gibt, das bisher überhaupt keine Rolle gespielt hat.

Ich konnte es nicht fassen! Als Carsten irgendwann davon anfing, da haben wir ihn alle mit offenen Mündern angestaunt. Mutter genauso wie Mella und ich. Das war ja wenigstens was. Ich meine, dass meine Mutter auch mal sprachlos war.

Also, ganz langsam: Kurz vor Weihnachten, vielleicht zwei Wochen vorher, sagte Carsten plötzlich, dass er zu Weihnachten in den Gottesdienst gehen wolle.

»Kannst du machen«, war die ruhige Reaktion meiner Mutter. Keine ahnte, was gleich noch kommen würde.

»Und dann … wollte ich euch sagen … dass ich Maria taufen lassen möchte.« Jetzt saßen wir alle drei da und glotzten.

»Was willst du machen?«, fragte ich mit einem komischen Gefühl im Bauch, so als wollte er mir was wegnehmen. Ganz seltsam. »Von uns ist niemand getauft.«

»Aber ich bin getauft«, antwortete Carsten.

Dazu fiel mir nichts mehr ein. In unserer Wohnung wohnte jemand, der getauft ist? Das ist hier in Leipzig ungefähr so häufig, wie mit einem Außerirdischen zusammenzuleben. Okay, vielleicht sind die Getauften nicht ganz so selten wie die Außerirdischen, und ganz offensichtlich sind sie ziemlich irdisch, was ich ja an Carsten feststellen konnte. Aber trotzdem haute mich das alles fast um. Der ganze Rest der Familie war ebenfalls verstummt. Der Kühlschrank brummte.

»Habt ihr darüber eigentlich schon mal gesprochen?«, fragte Mella meine Mutter, nachdem sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. In dieser Frage klang spitz wie eine Nadel der Vorwurf mit: Siehst du jetzt, dass das hier nichts werden konnte!

Jetzt ging Mella zu weit, dachte ich, aber es war doch schon ziemlich offensichtlich, dass es in dieser Sache ein Problem zwischen unserer Mutter und Carsten gab. Sonst hätte sie nicht so sprachlos dagesessen und ihre schönen braunen Augen aufgerissen.

Aber langsam fing sie sich. Sie ließ sich allerdings nicht von Mella anstacheln, sondern wandte sich Carsten zu: »Dass du getauft bist, wusste ich, aber mit Maria …«

Mir kam es vor, als wäre sie sehr aufgeregt. Aber nicht ganz eindeutig, sondern so, als kämpften in ihr Erschrecken und Wut miteinander. Nach einer Atempause, in der sie ziemlich tief Luft holte, kam sie dann zur Sache: »Das kommt nicht in die Tüte. Egal, was es zwischen Himmel und Erde gibt, ich glaub so was nicht. Und Kirche? Lass mich bloß damit in Ruhe.«

Das klang ganz schön heftig. Ich wusste gar nicht, dass meine Mutter eine Meinung zur Kirche hat.

»Du musst es nicht wollen. Es reicht, wenn ich es will. Maria ist auch meine Tochter.« So war Carsten. Der ließ nicht locker: »Ich würde dich gern mal mit in die Kirche nehmen. Vielleicht änderst du ja deine Meinung?«

Ich dachte, ich bin im falschen Film. Was ging hier vor? Kein Mensch geht hier in die Kirche. Ich kenne jedenfalls keinen. Das wäre was, dachte ich plötzlich, ich in der Kirche und Matthias aus der achten sitzt zwei Reihen vor mir. Wie romantisch!

Meine Mutter blieb ganz stumm. Carsten blickte sie intensiv an. Mella schüttelte den Kopf und schälte eine Apfelsine. Aus der Schale spritzten kleine Tröpfchen.

»Zu Weihnachten kannst du gern in den Gottesdienst gehen«, gab meine Mutter überraschend nach, »und vielleicht komme ich mit. Ja, vielleicht. Frag mich das bitte später noch mal. Aber Maria …. dazu fällt mir gerade nichts ein. Ich fühl mich irgendwie überrumpelt. Ich wusste gar nicht, wie wichtig dir die Kirche und so ist.«

»Müssen wir da auch mit?«, unterbrach ich sie. Ich musste so sehr an Matthias denken, dass die Frage aus mir rausplatzte. Warum eigentlich Matthias? Ich weiß überhaupt nicht, ob der was mit Kirche und Gottesdienst zu tun hat. Aber das liegt vielleicht an seinem Namen. Klingt irgendwie altmodisch, wie Kirche eben. Oder? Welcher Junge heißt denn heute sonst Matthias? Meine Gedanken flogen in alle Richtungen davon. Matthias und Kirche …

Ich wusste auch gar nicht, wieso mich das interessieren sollte. Klar, ich sah immer schnell weg, wenn ich ihm in der Schule begegnete, und musste blöd in mich reinfeixen, wenn ich das Gefühl hatte, er guckt mich an. War ich denn verliebt in ihn? Ich und Liebe? Die war bei mir nicht angesagt. Aber irgendwie … Ich merkte, wie meine Ohren zu glühen anfingen. Passiert mir immer, wenn es um so was wie Liebe geht. Also doch? Na ja, ich wäre schon neugierig, was der in seiner Freizeit macht. Aber wieso stelle ich mir ausgerechnet vor, er sitzt Weihnachten in der Kirche?

»Ich weigere mich schon mal«, machte Mella Schluss mit meinen peinlichen Tagträumen. »Und dann sollen wir wohl bald auch noch vorm Essen beten?«

»Das würde mich freuen«, sagte Carsten.

Ich saß wortlos da und staunte. Irgendwie spitzte sich da was zu. Ich konnte es meiner Mutter ansehen. In ihr arbeitete es mächtig. Aber irgendwas hielt sie auch zurück. Ich hätte gern gewusst, was. Ob das Liebe war? Richtige Liebe? Ich meine, mehr Liebe als rote Ohren und Tagträume von völlig unbekannten Typen?

Carsten ist wirklich in Ordnung. Wirklich. Die spitzen Angriffe von Mella sind nicht gerecht. Ganz eindeutig. Unser Leben als neugebaute Familie ist gut. Und dass sich vieles ändert, kommt mir mit der Zeit schon fast normal vor. Schließlich ändert sich Maria auch jeden Tag. Das ist bei Babys wirklich krass, wie schnell das geht.

Bei uns am Tisch war es immer noch still. Sehr still. Was hielt meine Mutter bloß zurück?

»Ich habe Respekt vor deinem Mut«, sagte sie plötzlich. Ich horchte auf. Na klar, das ist es. Respekt vor seinem Mut. Carsten hat Mut. Ich konnte ihr innerlich zunicken. »Aber bitte, übertreibe es nicht«, sagte sie dann noch und klang dabei irgendwie müde und ratlos.

»Es glaubt hier auch niemand an Horoskope.« Das war wieder Mella. Sie hatte auch Recht, aber irgendwie traf sie den Ton nicht richtig. Sie klang einfach nur zickig.

Damit war das Thema erst einmal vom Tisch.

Aber nicht lange. Es war ja auch kurz vor Weihnachten.

3

Weihnachtsvorbereitungen nehmen mich immer total mit. Ich hab so eine Freude im Bauch und gleichzeitig Angst, dass ich vielleicht nichts von dem geschenkt kriege, was ich mir gewünscht habe. Weil meine Mutter zu Hause ist – Maria wird noch immer gestillt –, backt sie sogar mit mir Plätzchen. Und nicht nur die wie jedes Jahr, die sie blitzschnell durch den Fleischwolf presst. Dieses Jahr machen wir welche, die sind schwarz-weiß. Ich fresse mich am Teig satt, bis mir schlecht wird.

Bei den Geschenken bin ich mal wieder supergeizig. Ich bastle was. Ich halte mein mickriges Taschengeld zusammen. Ja, Leute, ich weiß, das ist Mist. Und wenn ich dann sehe, wie Mella prasselvolle Einkaufstüten anschleppt, kriege ich ein schlechtes Gewissen. Ich habe dieses Jahr alle gefragt, was sie haben wollen, und alle haben gesagt: Bastle doch was für mich oder mal mir ein Bild. Also bitte. Na ja, eigentlich bin ich nicht mehr so klein, dass das gilt. Ich bin schließlich schon in der siebten Klasse. Vielleicht kauf ich meiner Mutter doch noch ein schönes Tuch. Ich habe eins bei Indigo gesehen. Das ist ein Laden in der Stadt, wo es indische Sachen gibt und so viele Räucherstäbchen abgebrannt werden, dass mir die Augen tränen. Aber schön ist es da. Da gibt’s auch so kleine Feengestalten, die Mella bestimmt gefallen würden. Aber wenn ich da einkaufen gehe, bin ich hinterher arm.

Ich habe mir jedenfalls ein Buch über Religionen gewünscht. Da hat Carsten gleich ein Geschenk für mich. Und die neue CD von Rosenstolz. Ich stehe auf die, weil sie auf Deutsch singen. In Englisch bin ich nämlich auch richtig schlecht. Bekanntlich bin ich ja in der Schule eine Niete. Ist aber erst, seitdem ich auf dem Gymnasium bin. Ich habe zwar die Empfehlung bekommen, aber der Streberstress dort macht mich alle. Meine Mutter schüttelt natürlich den Kopf darüber. Sie sagt: »Du bist so klug, Tine. Was hast du nur?«

Ich weiß es doch auch nicht. Ich fühle mich in der Schule wie in einem Aquarium, bloß dass ich kein Fisch bin. Ich habe Atemnot. Nur Sport geht. Und Bio ein bisschen. Dabei müsste ich ein naturwissenschaftliches Genie sein. Meine Mutter ist nämlich Mathematikerin. Ja, so was gibt’s. Sie arbeitet an der Uni, wenn sie nicht gerade zu Hause ist. Sie ist ein helles Köpfchen, meine Mutter.

Carsten ist übrigens Uhrmacher. Er hat von seinem Vater einen Laden übernommen. Der läuft schlecht. Kein Mensch lässt heute noch Uhren reparieren. Er ist außerdem aber auch noch Uhrenwärter und kontrolliert die meisten öffentlichen Uhren in der Stadt. Deshalb kennt er sie alle und weiß genau, wo sie sind, welcher Kirchturm eine Uhr hat und ob das Funkuhren sind oder echte alte mit einem alten Uhrwerk. »Eigentlich kannst du gut ohne Uhr auskommen«, sagt er immer, »weil es so viele öffentliche Uhren gibt. Du musst nur wissen, wo.« Na ja, er hat trotzdem eine Uhr am Arm und ich auch.

Mella macht seit letzten Herbst eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Sie ist selten zu Hause. Wenn sie nicht in der Schule ist, trifft sie sich mit Tom. Das ist ihr Freund. Der ist Student und hat ein eigenes Auto. Seine Eltern haben Knete, sagt Mella.

»Du wirst bequem«, mault meine Mutter, wenn Tom unten wartet, um sie irgendwo hinzubringen. »Wann hast du das letzte Mal das Rad genommen?« Außerdem verhandelt sie jeden Abend mit ihr, wann sie zurück sein muss. Mella verdreht die Augen und kocht vor Wut. Aber meine Mutter ist unerbittlich.

»Andere Mädchen dürfen schon bei ihren Freunden schlafen«, motzt Mella.

Falscher Weg. Das geht immer schief. Vergleiche kann meine Mutter nicht leiden. Wenn wir früher, als wir noch kleiner waren, sagten, dass unsere Freundinnen dies und das durften, war ihre Standardantwort: »Frag doch mal bei ihren Eltern nach, ob sie dich adoptieren. Vielleicht willst du ja lieber bei ihnen wohnen?« Das hat sie mit solchem Ernst gesagt, dass ich immer sofort zurückgerudert bin. Das wollte ich nicht riskieren.

Jetzt kommt sie damit nicht mehr. Wie auch? Mella würde garantiert sagen: Klar will ich bei Tom wohnen. Obwohl, ganz sicher bin ich mir nicht. Es ist nämlich wirklich schön bei uns, das muss ich sagen. Mella denkt das sicher auch. Wir reden einfach viel miteinander. Und es geht sehr temperamentvoll zu bei uns und Maria ist überhaupt der Gipfel der Freude.

»Mitternacht«, sagt Mella. Es ist wie auf dem Trödelmarkt. Mella steigt hoch ein, um gut was rauszuhandeln.

»Heute?«, sagt Mutter. »Um zehn!«

»Was? Ich bin doch kein Baby mehr.«

»Du hast morgen Schule. Halb elf ist mein letztes Wort.«

Mella geht los. Da guckt meine Mutter noch mal durch die Küchentür und fragt: »Warum kommt Tom eigentlich nie mit hierher?«

Mir wird mulmig. Es stimmt. Steffen, der Freund vorher, war oft hier. Er ging auch mit Mella in eine Klasse. Tom ist schon so erwachsen.

»Weil das hier ein Kindergarten ist.« Zack! Mella schmeißt die Tür hinter sich zu und donnert die Treppe runter. Weg ist sie. Maria fängt an zu weinen, der Krach hat sie aufgeweckt. Meine Mutter wäscht sich die Hände, streicht sie an den Jeans ab und geht zu ihr ins Zimmer.

Was für ein Durcheinander! Ich wollte meine Mutter auch noch was fragen. Schon seit Wochen will sie mir zeigen, wie man CDs brennt. Ich kann das nicht. Bei uns ist meine Mutter der Computerfreak, und wir haben auch allen möglichen technischen Schnickschnack, aber irgendwie schafft sie es nicht, mir das beizubringen. Ich will Carsten eine CD mit der Johannespassion, vom Thomaner-Chor gesungen, brennen.

Er hat neulich beim Abendbrot wieder mit dem »heiligen« Thema, wie wir es jetzt nennen, angefangen. »Wir könnten ja alle mal in die Thomaskirche zur Motette gehen. Da gibt es meistens wunderbare Musik von Bach zu hören. Und das alles in einer herrlichen Kirche.«

Wenn er dachte, dass er da auf Gegenliebe stoßen würde, hatte er sich getäuscht.

»Johann Sebastian Bach. Der berühmteste Sohn Leipzigs.« Mella äffte einen ihrer Lehrer nach und spielte Schule.