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THEORIE DER KULTURINDUSTRIE

DIETER PROKOP

THEORIE DER KULTURINDUSTRIE

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Dieter Prokop ist Professor em. für Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt.

Bearbeitete Neuausgabe des Titels »Mit Adorno gegen Adorno. Negative Dialektik der Kulturindustrie«, Hamburg 2001

© 2017 Dieter Prokop

Coverillustration, Layout und Satz: Oliver Schmitt, Mainz

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN 978-3-7345-9891-3 (Paperback)

ISBN 978-3-7345-9892-0 (Hardcover)

ISBN 978-3-7345-9893-7 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

PRÄMISSEN

Das Wichtige: das Subjekt

Der Gegenstand: die Kulturindustrie

Das Unerlässliche: die Qualitätsfrage

Der falsche Kulturbegriff: »Wertvorstellungen«, »Diskurs«

Das Problem: die Maßstäbe der Kritik

Das Analyseverfahren: negative Dialektik

Antithesis, Thesis und übergreifende Thesis

ANTITHESIS ÜBER KULTURINDUSTRIELLE UNFREIHEIT

Unfreiheit und das Identische

Abstraktion im Denken und im Tausch

Antithesis über den Warencharakter: Das Geld, das die Wertform rein verkörpert, hat Identität und Macht

Abstraktive medienkulturelle Muster

Positivistischer, unkritischer Erfahrungsmodus in den abstraktiven medienkulturellen Mustern

Antithesis über das Verhältnis zur Realität: »das Tatsächliche« – und der Kult der Tatsachen

Antithesis über die Bilder: Idolatrie der Bilder verhindert Denken

Antithesis über das Verhältnis zum Ganzen: »das Nützliche« – und Konformismus, permanente Abreibung, Erniedrigung, kindische Regression

Antithesis über Mimesis: mimetische Regression
Antithesis über Fantasietätigkeit: Regression als Fusion mit verdrängten Emotionen

Antithesis über das Verhältnis zur Erfahrung: »das Gewisse« – durch obligatorisches Verfahren

Antithesis über Sportlichkeit: Formales Regelwerk dominiert über Vernunft

Weitere Antithesis über Fantasietätigkeit: Formalisierung als Abtrennung von Emotionen

Antithesis über das Verhältnis zum Lebendigen: »das Genaue« – durch Klassifikation

Antithesis über das Verhältnis zur Wahrheit: »das Relative« – und das angepasste Subjekt

Meinung zwischen Wahn und Wirklichkeit

Astrologie: Kultus des Faktischen im Geist der Regression

Zirkel der Unfreiheit

Zusammenschießen von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis

Werbung als Repräsentanz von Konzern-Kraft

Woher kommen die Publikumsbedürfnisse?

»Fetisch«, »verhext« und anderes Verrücktes

»Verdingtlichtes Bewusstsein«?

»Dumme Massen«?

Voltaire über den Wilden

Sadomasochismus, Ichschwäche, Wut des ohnmächtigen Individuums bei Fromm und Adorno

Antithesis über Pulp Fiction: Sadismus, Identifikation mit dem Aggressor oder vergnügter Trash?

Kulturindustrie-Kritik als Lizenz zum Fluchen

THESIS ÜBER KULTURINDUSTRIELLE FREIHEIT

Freiheit und das Nichtidentische

Produktivkräfte

Produktive Spontaneität

Thesis über Mimesis: ästhetische Mimesis, Lust auf Soma oder Arbeit des Verstands?

Produktive Spontaneität und Produktionsverhältnisse

Autonomie der Kunst, gut – aber bildfeindliche »Konsequenz«?

Exkurs: Abstrakte Kunst – kein Marktwert ohne bildfeindiche »Theorie«

Thesis über Warencharakter: Die Waren, die die Wertform unperfekter verkörpern als das Geld, haben die Probleme und Freiheiten des Nichtidentischen

Es gibt ein quo pro quid und damit einen Freiheitsaspekt in den Waren

Der Videoclip von Madonna, Die Another Day (Stirb an einem anderen Tag): reflektierte Warenstruktur

Kreative medienkulturelle Muster

Aufgeklärter, kritischer Erfahrungsmodus in den kreativen medienkulturellen Mustern

Thesis über das Verhältnis zur Realität: die Reflexion der Fakten

Thesis über die Bilder: Die Arbeit des Verstands durch Bilder ist möglich

Thesis über das Verhältnis zum Ganzen: das Rationale und Vernünftige

Homo oeconomicus: Rationalität der Bevölkerung als Produktivkraft

Thesis über Fantasietätigkeit: Realitätstüchtige Fantasie setzt Rahmenbedingungen

Homo psychologicus: das Ich als verinnerlichte Räuberbande?

Thesis über das Verhältnis zur Erfahrung: das Spiel und das menschliche Interesse

Weitere Thesis über Fantasietätigkeit: Formalisierung entlastet das Ich
Thesis über Sportlichkeit: Sportlichkeit enthält Spiel und Strategie
Human interests: nicht »falsches Bewusstsein«, sondern Element des Lebendigen

Thesis über das Verhältnis zum Lebendigen: das Interesse am Nichtidentischen

Thesis über das Verhältnis zur Wahrheit: die objektive Wahrheitssuche

Objektive Wahrheit im Journalismus: mehr als bloß Meinung

Zirkel der Freiheit

Zusammenschießen des Falschen mit der Spiegelschrift des Besseren

Disneyworld: Kultus des Inszenierten im Geist der Utopie

ÜBERGREIFENDE THESIS ÜBER DIE DIALEKTISCHE VERMITTLUNG VON KULTURINDUSTRIELLER FREIHEIT UND UNFREIHEIT

Rationale Identität

Arbeit am produktiven Moment im Falschen

Maßstab für rationale Identität: Vergleichbarkeit, gerechter Tausch

Das Münchhausen-Kunststück

Abstraktion ist auch »Medium selbsterhaltender Vernunft«

Dialektik von Abstraktion, Produktionsverhältnissen und Produktivkräften in den Waren

Übergreifende Thesis über Warencharakter: Waren haben Strategien der Wertformdarstellung, also der Identitätsdarstellung in der Nichtidentität

Strategien des pro quo quid in den Waren. Eine Liste von Möglichkeiten
Die klassische populäre Produktstruktur beim Film
Die referenzielle Produktstruktur, das produktive Zitieren
Maschendrahtzaun: produktiver Eigensinn in zitierten Versatzstücken

Auch Produktionsverhältnisse können Produktivkräfte sein

Auch Produktivkräfte können Produktionsverhältnisse sein

Ubergreifende Thesis über Pulp Fiction: Alles bloß Geschäftsberichte

Dialektik von positivistischem und kritischem Erfahrungsmodus

Blicke ins Nichtidentische – in der Kulturindustrie

Das sichere Spiel mit dem Unvertrauten in populären Universen
Übergreifende Thesis über Fantasietätigkeit: Tanz mit dem Nichtidentischen

Simultaneität des Ausbrechenden und des Starren

Literatur

Prämissen

Das Wichtige: das Subjekt

Die Kritik der Kulturindustrie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno aufzunehmen ist notwendig, weil sich ihre Theorie für das Schicksal des erfahrenden und erkennenden Subjekts interessierte, für die ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen Grundlagen der Autonomie des Subjekts.

»Subjekt«, das kann eine Person sein, eine Gruppe, eine Bevölkerungsmehrheit. Sofern man eine Person meint, wäre es falsch, zu glauben, es ginge beim Subjekt um ganz individuelle Erfahrungen. Das Subjekt geht nicht in der individuellen Erfahrung auf. Denn:

1. Subjekt sind wir erst, wenn wir unsere Erfahrungen objektivieren.

2. Das Subjekt ist immer zugleich Objekt, denn es geht aus gesellschaftlichen Verhältnissen hervor.

Hier könnte man fragen: Warum ist hier nicht vom Individuum und von »Individualisierung« die Rede? Schließlich spricht ein großer Teil der Soziologie von nichts anderem. Sind wir nicht alle individualisiert? Erhalten wir nicht punktgenau auf Zielgruppen, soziale Milieus und Lifestyles hin individualisierte Waren und Medienprodukte?

Antwort: »Individualisierte« Angebote und deren »individualisierte« Selektion schaffen keine autonomen Subjekte, sondern konformistische Konsumenten, die glauben, sie seien individualisiert, wenn ihnen geringfügige Variationen von geringfügigem Konsum »nach Lust und Laune« möglich sind. »Individualisierung« ist in Wirklichkeit Herrschaft von Waren-Anbietern. Und in der Soziologie ist »Individualisierung« ein Begriff, mit dem die profitorientierte Marktsegmentierung von Konsumenten in soziale Milieus und die flexibilisierte Niedriglohnarbeit schöngeschrieben wird. Auch für die flexibilisierten Niedriglohnarbeiter hat man einen schöneren Begriff, man nennt sie »lebensweltliche Reproduktionseinheiten des Sozialen«. (Beck 1986, S. 206)

Autonome Subjekte sind nicht »individualisiert«. sondern individuiert.

»Sich für das Schicksal des Subjekts interessieren«, bedeutet, zu untersuchen, wie frei, wie autonom eine Person, Gruppe, Bevölkerungsmehrheit angesichts der historisch gegebenen Machtstrukturen von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft ist oder sein kann oder sein könnte. Adorno schrieb dazu:

»Zum Subjekt wird das Individuum, insofern es kraft seines individuellen Bewusstseins sich objektiviert, in der Einheit seiner selbst wie in der seiner Erfahrungen; Tieren dürfte beides versagt sein. Weil sie in sich allgemein ist, und so weit sie es ist, reicht individuelle Erfahrung auch ans Allgemeine heran.« (1966a, S. 52)

Mit »dem Allgemeinen« ist gemeint, dass sich im Subjekt die Achsen von wirtschaftlichen, politischen, sozialen Machtstrukturen schneiden – und Freiheiten. Unautonom ist das Subjekt, wo es nur reaktiv handeln kann. Autonomie ist also nichts, was das Subjekt sich selbst idealistisch-konstruktivistischpostmodern gewähren könnte, indem es »aktiv« Warenangebote konsumiert. Adorno:

»Ob Autonomie sei oder nicht, hängt ab von ihrem Widersacher und Widerspruch, dem Objekt, das dem Subjekt Autonomie gewährt oder verweigert; losgelöst davon ist Autonomie fiktiv.« (1966a, S. 220)

Wo die Machtstrukturen keine Freiheit gestatten – die man erkämpfen muss –, ist das Subjekt nicht frei – oder gar nicht vorhanden. Letzteres war das Thema der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer und Adorno 1944), in der es um die Frage ging, warum das Subjekt-Werden des Menschen in der Geschichte – durch die Unterwerfung der Natur und durch instrumentelles Denken und Identifizieren – dazu führte, dass in heutigen Zeiten – in denen die Produktivkräfte ein besseres Leben für alle ermöglichen könnten – die Bevölkerungen nicht als autonome Subjekte auftreten, die eine vernünftige Gesellschaftsordnung durchsetzen. In diesem Kontext haben Horkheimer und Adorno auch gefragt, wie unfrei die Kulturindustrie das Subjekt macht. Diese Richtung ihres Erkenntnisinteresses ist richtig. Nicht richtig ist, dass sie Kulturindustrie pauschal als Subjekt-unterdrückend identifizierten.

(Zum Verhältnis von Subjekt und Objekt: Adorno 1966a, S. 183 ff.; über »Individualisierung«: Adorno 1951, Nr. 97, S. 195 ff., Nr. 99, S. 201 ff.; Theorie des Subjekts: Ritsert 2001; Weyand 2001)

Fast alle wissenschaftliche Richtungen – die Systemtheorie der Luhmann-Schule, der Konstruktivismus der Postmodernen, die Kommunikationstheorie der Habermas-Schule, die Cultural Studies – fallen über das Interesse der kritischen Theorie am Subjekt mit Wut her, sie tun es als »alteuropäische Bewusstseinsphilosophie« oder »traditionalistische Subjektphilosophie« ab, sie erklären das Subjekt für überflüssig, nicht neuzeitlich, obsolet etc.

Jürgen Habermas erhebt gegen Horkheimer und Adorno den Vorwurf, »Subjektphilosophie«, »Bewusstseinsphilosophie« zu sein (1981a, Bd. 1, S. 490, 517 ff.; Kritik: Rademacher 1993, S. 36 ff.). Habermas schreibt:

»Die subjektzentrierte Vernunft findet ihre Maßstäbe an Kriterien von Wahrheit und Erfolg, die die Beziehungen des erkennenden Subjekts zur Welt möglicher Objekte oder Sachverhalte regulieren.« (1985a, S. 366)

Tatsächlich hat die kritische Theorie Horkheimers und Adornos diesen Maßstab. Dennoch geht der Vorwurf, das sei »Subjektphilosophie«, an der kritischen Theorie vorbei, denn das wäre sie nur, wenn sie das Subjekt idealisieren würde. Sie versucht jedoch, die idealistische Hybris, die Selbstüberhebung des Subjekts durch Rückbezug auf die Mechanismen von Macht und Tausch kritisch-materialistisch aufzulösen. Habermas – ohnehin ein oberflächlicher Leser der Texte Adornos (Rademacher 1992, S. 108 f.) – unterstellt, dass die kritische Theorie ausschließlich vom einsam erkennenden Subjekt ausgehen, was Horkheimer und Adorno als kritische Materialisten nicht tun.

Die Postmodernen und Konstruktivisten postulieren am Subjekt, dass der »aktive Mensch« im Mittelpunkt stehe, ein anthropologisch neuer Menschentyp, der, wie schon angedeutet, alles unterschiedslos konsumiert, weil er Qualitätsurteile für politisch unkorrekt hält. In all seiner »Aktivität« sucht er (angeblich) nur eins: Anschluss. Auch die Systemtheorie hält den »Anschluss« von Institutionen und Personen an »Systeme« für den Sinn des Ganzen.

Wissenschaftliche Analyse darf jedoch den Anspruch der Wahrheitssuche keinem systemfunktionalen »Anschluss« unterordnen. Die kritische Theorie verweigert sich. Auch dort, wo sie Kulturindustrie als totalen Manipulationsapparat kritisiert (was ich für falsch halte), tut sie das mit dem Interesse, darzustellen, was der Gesellschaft, den Künstlern und Journalisten und den Konsumenten als Subjekten verloren geht (was ich für richtig halte).

Das Subjekt muss man in den Mittelpunkt der Analyse stellen, weil es notwendig ist, die Nicht-Qualität bzw. Qualität von Kulturindustrie zu erörtern. Das kann man nicht in der Frage aufgehen lassen, ob das Kulturindustrieprodukt »Anschluss« bringt oder »den Anderen einbezieht«. Funktionalität ist noch keine Qualität. »Qualität« ist die Möglichkeit, ein richtiges Leben zu führen.

Wissenschaft muss sich für freiheitliche Gesellschaften und freiheitliche Kultur – auch freiheitliche Kulturindustrie – interessieren. Warum? Weil reale Autonomie der Subjekte besser ist als der opportunistische »Anschluss« an das, was den Reichen und Mächtigen nützt; weil Freiheit und Demokratie besser sind als Unfreiheit und Unterordnung.

Der Gegenstand: die Kulturindustrie

Was ist Kulturindustrie? Horkheimer und Adorno sprachen zunächst von »Massenkultur«. Im Exil in Pacific Palisades bei Los Angeles, nicht weit von Hollywood, erschienen in ihren Schriften die Wörter »cultural industries« und »amusement industry«, schließlich »Kulturindustrie«, vielleicht, weil sich alle die Film-, Radio- Schallplatten- und später Fernsehleute im Großraum Los Angeles »the industry« nannten, was sie bis heute tun.

(»Massenkultur«: Adorno 1942; Horkheimer 1941, aber auch noch: Adorno 1955b, S. 190; »amusement industry«: Horkheimer 1941, engl. Original S. 303 f.; »Kulturindustrie«: Horkheimer und Adorno 1944)

Horkheimer und Adorno bezeichneten mit »Kulturindustrie«:

1. die kommerziellen Massenmedien und deren oligopolkapitalistische Produktionsbedingungen: Medienkonzerne und ihre kommerziell erfolgreichen Produkte. Kulturindustrie umfasste für Horkheimer und Adorno das Radio, in dem damals noch die Seifenopern liefen, Vorläufer der heutigen Fernsehserien; den Hollywood-Film (oft auch »den Film«); die Unterhaltungsmusik, die Jazz-Tanzmusik; den Klassik-Musikbetrieb; die Illustrierten; die Comics und Zeichentrickfilme; später das Fernsehen.

»Kulturindustrie«, das sind die Mainstream-Medien: die erfolgreichsten Produkte der Medienkonzerne. Es gibt sie heute wie damals. Heute gehören das interaktive Multimedia und das Internet dazu, letzteres dort, wo es kommerziell betrieben wird und das Angebot zum Mainstream gehört. Auch vieles am öffentlich-rechtlichen System ist Kulturindustrie, denn auch da gibt es Mainstream: die Fernsehserien, die Talkshows, die Unterhaltungsshows, die Versuche, Politik populär zu vermitteln. Alles kein Verbrechen. Sondern Mainstream.

Keine Kulturindustrie sind Kulturmagazine im öffentlich-rechtlichen Fernsehen oder die tageszeitung: Sie sind kein Mainstream. Es gibt sie, doch bedeutet ihre Existenz nicht – wie Rainer Erd behauptet (1989, S. 227 f.) – dass es Kulturindustrie heute nicht mehr gibt. Es gibt Kulturindustrie, solange es den Mainstream gibt.

Horkheimers und Adornos Kulturindustrie-Theorie interessierte sich nicht nur für die Produkte, die Werke, und sie ging nicht, wie ihr oft unterstellt wird, davon aus, dass die Produkte selbst einen manipulativen Einfluss haben. Folgendes Zitat zeigt das:

»Musik, mit all den Attributen des Ätherischen und Sublimen, die ihr freigiebig gespendet werden, dient wesentlich nur noch der Reklame von [d. h. für] Waren, die man erwerben muss, um Musik hören zu können.« (Adorno 1938, S. 330, [ ] hinzugefügt)

»Reklame für Waren«: Die Kulturindustrie-Theorie interessierte sich zwar für das Manipulationsinteresse, damit aber für den Gesamtzusammenhang, in den die Produktion und Konsumtion der Medien eingespannt ist.

Heinz Steinert lehnt es ab, Kulturindustrie unter der Rubrik Mediensoziologie zu behandeln. (1998, S. 9) Das hängt davon ab, ob man Soziologie positivistisch versteht oder supradisziplinär mit Bezug auf das Ganze von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Die kritische Medienforschung, die ich vertrete, ist alles zusammen: kritische Soziologie, Theorie der Kulturindustrie, Medienökonomie, Mediensoziologie. Es geht immer um das Ganze der Medien und der Gesellschaft.

(Zur supradisziplinären Rolle der Soziologie: Adorno 1969b, S. 67, Fußn. 60)

Horkheimer und Adorno verstanden unter »Kulturindustrie außerdem:

2. durch Kulturindustrie »deformierte« Kultur und Kunst: In diesem Sinn kann man, wie Steinert das tut, jede Form von kommerzialisierter Kultur als Kulturindustrie verstehen. (1998, S. 9)

3. den Bereich der Konsumgüter: Der späte Adorno sprach auch von der »Konsumgut- und Kulturindustrie«. (1965a, S. 242)

4. die herrschende Ideologie – heute nennt man das in den Cultural Studies »hegemoniale Kultur« –, wie sie aus ökonomischen Herrschaftsverhältnissen, der Notwendigkeit der Anpassung an das Berufsleben entsteht. Adorno nannte das auch »organisierte Kultur«. Dazu gehören auch kulturelle Institutionen, die man auf den ersten Blick nicht dazu rechnen würde, wie die Psychoanalyse. Sie sei, sagte Adorno, »fertig gelieferte Aufklärung«, die aus spontanen Reflexionen und schmerzlicher individueller Geschichte »geläufige Konventionen« macht, also ihre Kunden an die Gesellschaft anpasst. (1951, Nr. 40, S. 78) Ob diese Anpassung empirisch wirklich so geschieht, wurde selten erörtert.

Die Theorie der Kulturindustrie vertritt kein Elite-Theorem. »Kultur« – da sollte nicht die Unterscheidung von hoher versus niederer Kultur, highbrow versus lowbrow, Elite versus »Masse« draufgesetzt werden. Ich halte es lieber mit Max Horkheimer:

»Abstrakte Bestimmungen der höchsten Werte haben sich stets mit der Praxis von Scheiterhaufen und Guillotine vertragen. Eine Erkenntnis, die sich wirklich um Werte kümmert, hält nicht nach höheren Sphären Ausschau. Sie sucht vielmehr die Kulturheuchelei ihrer Zeit zu durchdringen, um hinter ihr die Züge einer enttäuschten Menschheit freizulegen. Werte sind nur so zu erschließen, dass man die historische Praxis aufdeckt, die sie zerstört.« (1941, S. 433)

Auch Adorno hat stets gegen das geistige Klima argumentiert, das das Höhere, Geistvolle idealistisch vom Niederen, Materiellen abgrenzt. (Alfred Schmidt 2002, S. 91 ff.) Das war das Programm der Kritik der Kulturindustrie.

Gegenüber der Frankfurter Schule wird oft der Vorwurf erhoben, ihre Kulturindustrie-Kritik sei elitär, highbrow, »hochgezüchtet«, ein »Elitekultur-Theorem« etc. Das ist falsch. In seiner Antrittsrede 1931 als Direktor des Instituts für Sozialforschung – in dem damals die kritische Theorie entwickelt wurde – fasste Horkheimer unter Kultur »nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der Wissenschaft, Kunst und Religion […], sondern auch Recht, Sitte, Mode, öffentliche Meinung, Sport, Vergnügungsweisen, Lebensstil u. s. f.« (1931, S. 32) Es ging Horkheimer und Adorno nicht darum, die hohe, bürgerliche Kultur zu retten, sondern – in Dialektik der Aufklärung – um die These, dass die Kulturindustrie, mit ihrer klassifikatorischen Anhäufung von Verkaufswerten, die Fortsetzung der schlechten Tendenzen der »hohen«, bürgerlichen Kultur ist. Adorno kritisierte als Anti-Aufklärung nicht nur die Kulturindustrie, sondern auch Wagner und Strawinsky, auch hier sah er Verrat an der Aufklärung. Außerdem hat er stets argumentiert, dass auch die Elemente der »niederen« Kultur – »Reiz, Subjektivität und Profanität, die alten Widersacher der dinghaften Entfremdung« – durch Kommerzialisierung der dinghaften Entfremdung verfallen. (1938, S. 324) Und in Minima Moralia thematisierte er an aller Kultur deren weltgeschichtliche Fatalität, unausweichliche Verblendung:

»Der Doppelcharakter des Fortschritts, der stets zugleich das Potenzial der Freiheit und die Wirklichkeit der Unterdrückung entwickelte, hat es mit sich gebracht, dass die Völker immer vollständiger der Naturbeherrschung und gesellschaftlichen Organisation eingeordnet wurden, dass sie aber zugleich vermöge des Zwangs, den Kultur ihnen antat, unfähig wurden, das zu verstehen, womit Kultur über solche Integration hinausging.« (1951, Nr. 96, S. 195, Kursivierung hinzugefügt)

Das zeigt, dass Adorno keineswegs »Kultur« als etwas idealisierte, das durch »Industrie« erst zum Bösen wird. Hier wird »Kultur« selbst als repressiv angesehen – der frühe Horkheimer hätte hier, statt von »Zwang« und »Integration«, von den Kerkern und Scheiterhaufen gesprochen, die Kultur stets begleiteten. Adorno sah »Kultur« dialektisch in ihrem Doppelcharakter, sie enthält sowohl Zwang als auch Menschliches:

»Fremd ist den Menschen das Menschliche an der Kultur geworden, das Nächste, das ihre eigene Sache gegen die Welt vertritt.« (1951, Nr. 96, S. 193)

Schuld daran sind auch die Menschen, sie sind eigentümlich verbohrt:

»Sie machen mit der Welt gemeinsame Sache gegen sich, und das Entfremdetste, die Allgegenwart der Waren, ihre eigene Herrichtung zu Anhängseln der Maschinerie, wird ihnen zum Trugbild der Nähe.« (Ebd.)

Diese »unausweichliche Verblendung« sei stets von den »Lakaien des Bestehenden« ausgenutzt worden:

»Von solcher unausweichlichen Verblendung haben zu allen Zeiten städtischer Zivilisation Lakaien des Bestehenden parasitär existiert: die spätere attische Komödie, das hellenistische Kunstgewerbe sind schon Kitsch, auch wenn sie noch nicht über die Technik der mechanischen Reproduktion und jene industrielle Apparatur verfügen […]« (A. a. O., S. 194)

Dann allerdings flippte Adorno in dieser Minima Moralia-Passage völlig aus, mit einem rhetorischen Rundschlag gegen alle Unterhaltung, von Lederstrumpf bis Hollywood:

»Liest man hundert Jahre alte Unterhaltungsromane wie die Coopers, so findet man darin rudimentär das ganze Schema von Hollywood. Die Stagnation der Kulturindustrie ist wahrscheinlich nicht erst das Resultat ihrer Monopolisierung, sondern war der sogenannten Unterhaltung von Anbeginn an eigen.« (A. a. O., S. 194)

Und der Essay endet mit dem Satz: »Die Subjektlosen, kulturell Enterbten sind die echten Erben der Kultur.« (A. a. O., S. 195) Auch später schimpfte Adorno ungeniert über die von totalitären Regimes oder Riesenkonzernen gesteuerte »Massenkultur, die die Menschen zu bloßen Empfangsapparaten, Bezugspunkten von conditioned reflexes reduziert und damit den Zustand blinder Herrschaft und neuer Barbarei vorbereitet.« (1955b, S. 190)

Also doch ein »Elite-Theoriem«? Nein, deshalb nicht, weil es dabei nicht um den Gegensatz von hoher und niederer Kultur geht, sondern um den von guter und schlechter Qualität. Schlechte Qualität gibt es in der hohen wie der niederen Kultur. Mist ist Mist, ob es eine ungekonnte Zeichnung von Goethe oder eine schlampige Talkshow von Harald Schmidt ist. Wer das ausspricht, vertritt kein »Elite-Theorem«.

Was Adorno allerdings ignorierte, war, dass es auch in der Kulturindustrie Qualität gibt. Qualität ist Qualität, ob es ein Gemälde von Dürer oder ein Videoclip von Michael Jackson ist. Auch in Bezug auf Kulturindustrie ist die Unterscheidung von Qualität notwendig. Wer das – wie Adorno – ignoriert, vertritt kein Elite-Theorem, sondern analysiert die Kulturindustrie nicht genau genug.

Das Unerlässliche: die Qualitätsfrage

Kritik macht keinen Sinn, wenn man nicht klärt, warum man überhaupt Subjekt sein soll; warum man sich nicht konformistisch anpassen soll. Aus einem einfachen Grund: Weil man nur als Subjekt objektive Qualität überhaupt erkennen, produzieren, konsumieren kann. Qualität ist etwas Objektives, Adorno beharrte darauf:

»Geistige Gebilde haben objektive Qualität, ihren objektiven Wahrheitsgehalt.« (1963c, S. 345) Und: »Immerhin, wer überhaupt einmal den Unterschied zwischen einem Stück, das etwas ausdrückt und einem, das sich anbiedert; zwischen einem, das die Konsequenzen seiner Voraussetzungen zieht, und einem, das die Konsequenz abbiegt; zwischen einem, das über die Mittel selbständig verfügt, und einem, das erprobte Wirkung imitiert – wer solche Unterschiede überhaupt einmal wahrgenommen hat und zugesteht, der gesteht damit auch die Möglichkeit objektiver Unterscheidung zu.« (A. a. O., S. 346)

Ich füge hinzu: Objektive Qualität, »Konsequenz« gibt es auch in guten Fernsehkrimis, Unterhaltungsshows, Hollywoodfilmen, im Fernsehjournalismus etc. Nicht nur »Intellektuelle« können jene erkennen, sondern auch das Medienpublikum. So weit ging Adorno nicht.

Natürlich ist »Qualität« kein unproblematischer Begriff. Er kann zu viel Falschem führen, zur Fetischisierung von »Differenz« und Einzigartigkeit, damit zu elitären Ansprüchen, nach welchen Qualität nur wenigen Reichen oder Gebildeten zugänglich sein könne. Selbst wenn es richtig ist, dass Qualität nicht allen zugänglich sein kann – wobei man dieses »kann« in Frage stellen muss –, enthält der Begriff auch die Tatsache bzw. Möglichkeit, dass auch Bevölkerungsmehrheiten erfahren, erkennen und darüber debattieren können, was gut oder schlecht ist, richtig oder falsch. Sie tun es.

Im Begriff ist auch die Möglichkeit enthalten, dass die Bevölkerung die Qualitätsfrage in sozialen Bewegungen, im Parlament und in öffentlich-rechtlichen Organisationsformen artikulieren kann bzw. können sollte, und wenn nicht selbst, dass zumindest Journalisten und Künstler das tun können bzw. können sollten. Sie tun es.

Die Postmodernen verfolgen eine andere Strategie, sie drehen den Spieß einfach um, sie lehnen diese obsolete, »alteuropäische« Kulturkritik ab und rufen alles, jeden Medien-Mist einfach zur »Kultur« aus, alles »Populäre« ist für sie »Kultur«. Diese ungemein demokratisch und politisch korrekt auftretende Position findet sich bei Cultural Studies, Konstruktivismus und Systemtheorie.

(Konstruktivismus: Faßler 2001; Maresch und Werber 1999; Rusch und Schmidt 1995; 1999; Siegfried J. Schmidt 2000; Stefan Weber 1996; Cultural Studies: Göttlich und Winter 2000; Hepp 1999; Hepp und Winter 1997; Systemtheorie: De Berg und Schmidt 2000; Luhmann 1996; Kritik der drei Ansätze: Prokop 2007)

Die Postmodernen leugnen alle Qualität. Sie übernehmen die Marotte der Philologen, alles »Text« oder »Sprachspiel« zu nennen und behaupten, es gebe keine »letzte Einheit des Textes«. (Fiske 2000, S. 59) Sie propagieren in der Medienwissenschaft einen Anti-Essenzialismus, Relativismus, Kontextualismus – und Irrationalismus. Sie glauben an flexible »Aktanten« – so nennen sie die Konsumenten –, die selbst aus den schlechtesten Medienprodukten in ihrer Fantasie das Beste machen und an Bricolage, Pastiche, Patchwork und Abgrenzung in Subkulturen viel Vergnügen haben. Systemtheoretiker halten »das System« selbst für einen Aktanten, der noch – oder gerade? – in den schlechtesten Medienprodukten nützliches Material findet, um sich selbst zwecks Selbstreproduktion, Autopoiesis, zu beobachten. Der Hinweis der kritischen Medienforschung auf objektiv schlechte Produkte der Kulturindustrie macht die Vergnügens-Wissenschaftler der Cultural Studies missvergnügt, weshalb sie den kritischen Wissenschaftlern – die sie als »Kritikerindustrie« diffamieren (Fiske 2000, S. 63) – entgegen halten, gut von schlecht, richtig von falsch zu unterscheiden, sei undemokratisch. Kritiker seien »anmaßend«, So schreibt der spätpostmoderne Andreas Dörner,

»[Horkheimer und Adorno] maßen sich an, die falschen und die richtigen Bedürfnisse der Massen zu kennen. Dies aber kommt letztlich einer Elitendiktatur gleich, in der ›Philosophenkönige‹ vorschreiben, was die ›wirklichen‹ Bedürfnisse des Volkes sind.« (2001, S. 80, [ ] hinzugefügt)

Dagegen ist zu sagen:

1. Dass verseuchte Nahrung falsch und unverseuchte richtig ist, kann auch ein Postmoderner nicht leugnen. Wer unverseuchte Nahrung will, hat ein richtiges Bedürfnis, und wer glücklich verseuchte Nahrungsmittel isst, hat ein falsches Bedürfnis. Also gibt es objektiv richtige und falsche Qualitäten und Bedürfnisse.

2. Es ist seltsam, dass gerade die postmodern so Korrekten, Sensiblen, die wieder von »Volk« – »the people« – sprechen, sich immer nur vorstellen können, dass die Bevölkerung nur die Wahl hat, entweder relativistisch alles zu akzeptieren oder von Diktatoren oder Königen beherrscht zu werden. Die Postmodernen ignorieren, dass die Bevölkerung demokratisch debattieren und dann selbst entscheiden kann – oder können sollte –, was falsch und was richtig ist.

Das demokratische Debattieren ist jedoch das, was die Postmodernen eliminieren wollen. Sie tun das stets mit dem Argument, wer nach objektiver Qualität suche, könne Andersdenkenden »ein Unrecht zufügen«. (Lyotard 1989, S. 9) Deshalb plädieren sie dafür, lieber gar keine Meinung zu haben – was aber heißt, dass man die marktgängige oder sonstwie dominante Meinung akzeptiert.

Das ist nicht so unpolitisch wie es tut. Die »Politik des Vergnügens«, die die Cultural Studies propagieren (Göttlich und Winter 2000), ist eine »Politik des verkappten Elitismus«, konservative Politik, die von Meinungsfreiheit, Öffentlichkeit, mündigen Bürgern nichts hält. Statt dessen werden »Identität durch Anschluss und Orientierung« idealisiert. Das ist undemokratisch. Relativiert wird damit das Menschenrecht auf freie Meinungsbildung und Meinungsäußerung – und dazu gehören öffentliche Debatten. Adorno sprach von der befreiten Gesellschaft, Willy Brandt von »Mehr Demokratie wagen«. Die Postmodernen mögen das nicht.

Der falsche Kulturbegriff: »Wertvorstellungen«, »Diskurs«

Die kritische Theorie ist wichtig, weil sie die politischen, ökonomischen, sozialen Gesamtzusammenhänge beachtet. Das ist nicht selbstverständlich. In der Soziologie werden die materiellen Rahmenstrukturen oft ignoriert, vor allem von den Positivisten.

»Die Postmodernen«, »die Positivisten« – solche Unterscheidungen sind notwendig. Das sind keine Schlagworte. Es geht auch nicht um Vorurteile. Hier geht es um wissenschaftliche Positionen, Denkweisen, Verfahrensweisen. Diese sind sowohl allgemein benennbar als auch intersubjektiv nachvollziehbar, und ebenso ist eine Kritik an »den Positivisten« intersubjektiv nachvollziehbar.

(Positivismuskritik: Horkheimer 1937; Adorno et al. 1969a)

»Positivismus«, das war im frühen 19. Jahrhundert – ausgehend von Auguste Comte, dem Namensgeber der Soziologie, ein Propagandabegriff, der sich vom »Negativismus« des kritischen Denkens absetzen wollte. Das gesellschaftlich Faktische sollte so hingenommen werden, wie man Naturgesetze als unabänderlich hinnimmt. Gesellschaftliche Zustände sollten nicht grundsätzlich hinterfragt, sondern nur auf ihre Strukturen und Funktionen hin untersucht werden. Das ist nicht prinzipiell schlecht, das ermöglicht die Analyse sozialer Gesetzmäßigkeiten. Es klammert nur die kritische Analyse der Gründe und Veränderbarkeit sozialer Gesetzmäßigkeiten aus, und das ist schlecht. Ein Großteil heutiger Soziologie ist positivistisch. Heute gehören dazu auch Konstruktivismus, Systemtheorie und Cultural Studies. Auch sie befinden sich in Opposition zum kritischen Denken und Handeln.

»Kritisches Denken und Handeln« geht davon aus, dass alles Gesellschaftliche von den historischen Strukturen von Macht und Wirtschaft geprägt ist. Seit den Freiheitskämpfen gibt es neben Macht und Wirtschaft eine weitere entscheidende Struktur: Solidarität – Habermas hat das betont. (1996, S. 288 f.; siehe auch: Brunkhorst 2002) Man nennt das auch Zivilgesellschaft oder Gemeinwohl. Da geht es darum, dass alle öffentlich und gemeinsam beschließen, was für alle das Beste ist. Ohne Solidarität gibt es keine Demokratie. Wer für Demokratie ist, ist auch dafür, dass man Macht und Wirtschaft verändern kann. Dazu gehören mündige, gut ausgebildete Bürger, die zu kritischem Denken und Handeln fähig sind.

Von den Positivisten wird das kritische Vorgehen bekämpft oder mutwillig ignoriert. Ihnen ist das Gesellschaftliche als solches heilig. Weil das so ist, tragen sie lauter Mystifikationen vor sich her: Bei den einen sind das »die kulturellen Symbole« oder »Orientierungsmuster«, bei den anderen »das System«, das »Sinn« verwaltet, bei anderen »die Sprache« oder »die Zeichen«, die »Kommunikation« ermöglichen.

Positivisten beharren auf der Vorstellung, die Menschen hätten primär keinen Verstand im Kopf, sondern »Werte«, »Wertvorstellungen«. Wenn Wertvorstellungen in der Gesellschaft selbstverständlich werden – also deren kritisches Durchschauen schwieriger ist –, nennt das die positivistische Soziologie »Institutionalisierung« oder auch »objektive Sinnstrukturen«. Sie meint jedoch: subjektive Sinnstrukturen, denn für sie sind jene nur insofern objektiv, als sie allgemein verbreitet sind. Wenn in der positivistischen Soziologie ein gesellschaftlicher Tatbestand als »institutionalisiert« bezeichnet wird, bedeutet das, dass er als selbstverständlich akzeptiert ist, so wie die Luft, die man atmet. Das ist nicht falsch. Keine Gesellschaft funktioniert ohne Regeln. Diese müssen intersubjektiv anerkannt werden, und das bedeutet, dass sie normativ gelten müssen. Ohne gemeinsame Werte oder Sinnstrukturen geht es nicht. Jene müssen jedoch keine irrationalen Glaubensvorstellungen sein, wie das die Positivisten voraussetzen. Es muss Regeln geben, Normen, Sinnstrukturen, die gelten, akzeptiert werden – aber die auch stets auf ihre Geltungsberechtigung geprüft werden müssen. Die Positivisten ignorieren das. Sie verhalten sich machtkonform und wirtschaftskonform – und damit nicht immer demokratisch. Ihr Interesse gilt nicht der solidarischen, rationalen Gesellschaft, sondern »dem Kollektiv«, das sie als »Orientierung« und »Sicherheit« bringend heroisieren.

Wenn es in den populären Medien um erfolgreiche kulturelle Muster wie Liebe, Superhelden, Action oder Gewalt geht, behaupten die Positivisten lauter mystisches Zeug: Das sei »der Massengeschmack« oder »der Zeitgeist« oder »das Kollektivbewusstsein«, manche sprechen sogar von »ewigen Mythen«, die im »kollektiven Unbewussten der Menschheit« verborgen sind. Sie stellen sich dumme »Massen« vor, die blindlings »Werte« vor sich hertragen oder sich »Sinnstrukturen« unterwerfen.

Heute sind die Positivisten, vor allem in Systemtheorie und Cultural Studies, in einem naiven Kollektivglauben erstarrt, hervorgegangen aus der von Durkheim beeinflussten Handlungstheorie und einem falsch verstandenen symbolischen Interaktionismus. Auch die Cultural Studies wollen mit der Betonung von »Symbolen«, »Mythen« und »Gemeinschaftsgefühlen« das Kollektiv unbedingt als nützlich und vergnüglich deuten. Der Kenner aller Horroroder Raumschiff-Enterprise-Filme; das Kind, das Pokemons sammelt: diese subkulturellen Konformisten werden zu etwas ganz Besonderem, angeblich sind sie »individualisiert« – weil sie an Gemeinschaften teilhaben und ein für die Gemeinschaft nützliches Bewusstsein haben. Hier fehlt die Beachtung des autonomen Subjekts. Wer »kollektive Ausrichtung« als etwas Positives darstellt, ist entweder naiv oder bewusst demokratiefeindlich.

Die positivistische Idealisierung von »Wertvorstellungen« wurde von Habermas und seiner Schule übernommen. Bekanntlich hatte Habermas (1976b; 1981a) die kommunikative Verständigung mittels Sprache zum Paradigma des Sozialen gemacht. Kommunikation funktioniert auch bei Habermas, wie Positivisten sich das vorstellen: im Rahmen eines »institutionalisierten Wertsystems«. Es gibt bei Habermas zwei Bereiche:

1. Das System und damit das »instrumentelle« Wertsystem:

Und damit das Drama der Naturbeherrschung und der Selbsterhaltung. Die Dialektik hieran, die Horkheimer und Adorno behandelten – die Aufklärung, die in einem instrumentellen, destruktiven Interesse an der Welt erstarrte –, interessiert Habermas nicht, für ihn ist das ein Prozess der »Evolution« – als hätte es nie Spencers Sozialdarwinismus gegeben, der die Macht der Kartelle von Industrie und Banken als »Evolution« legitimierte! Ohne Gefühl für das Üble am Sozialdarwinismus behauptet Habermas, Geschichte sei ein »sozialevolutionärer Lernprozess der Gesellschaft«, in dem »bestandsgefährdende Steuerungsprobleme« gelöst werden. (1976a, S. 169 f.; Adornos Kritik am Evolutionsbegriff: 1941, S. 74) Lernprozess wodurch? Dadurch, dass absolutistische Herrscher und Päpste jede Opposition niedermachten? Dass die großen Trusts die kleinen Unternehmen mit kriminellen Mitteln kaputtmachten?

Nicht bei Habermas. Da besteht der evolutionäre »Lernprozess« in der »Ausdifferenzierung von Wertsphären«. (1985a, S. 137) Ausdifferenzierung wodurch? Durch den Oligopolkapitalismus und die zunehmende Segmentierung von Publikumsmärkten mittels Imagewerbung und Zielgruppenforschung?

Nicht bei Habermas. Da entsteht der evolutionäre Prozess der »Ausdifferenzierung« von selbst. Außerdem »lernt das System« mittels »Kommunikation«. Kommunikation habe »die Funktion«, Komplexität für Teilsysteme zu reduzieren. Diese »Funktion« besteht darin, dass bestimmte Institutionen jene Wertvorstellungen verstärken, die für das System »funktional« sind. Früher habe das die Religion effektiv geleistet, darin ist sich Habermas mit Luhmann einig. Nie werden hierzu die Folter und die Scheiterhaufen erwähnt.

Soweit ist das positivistische Systemtheorie.

2. Die Sprache, die Lebenswelt und damit die Beratschlagung:

Andererseits betont Habermas den gesellschaftlichen Kompromisscharakter von Moralvorstellungen und Rechtsnormen. Das eröffnet die Möglichkeit, dass jene zum Thema deliberativer, d. h. beratschlagender Diskurse gemacht werden können, dass sie sich also als vernünftig legitimieren müssen. »Deliberation« ist ein veraltetes Wort für Beratschlagung, Überlegung, im römischen Recht ist das die Zeit, die man zum Beispiel hat, um zu überlegen, ob man ein Erbe annimmt oder nicht. Eine Deliberationsstimme ist eine beratende Stimme, ohne Entscheidungsrecht. »Deliberative Diskurse« sind keine Diskurse, die mit Entscheidungskompetenz versehen sind.

Die Wurzeln beratschlagender Kommunikation, der »Einbeziehung des Anderen« (1996), sieht Habermas in der Grundstruktur der Sprache, der alltäglichen, »lebensweltlichen« Rede, der sprachlichen Verständigung verankert. (1976b, S. 357; 1981a, Bd. 1, S. 523) In ihr gebe es universale Geltungsansprüche, jene der Verständlichkeit, der Wahrheit, Wahrhaftigkeit und der Richtigkeit (1984, S. 138 f.), jedenfalls auf der normativen Ebene, also jener der Wertvorstellungen – und nur auf der Ebene der »Deliberation«, also der Beratschlagung, nicht auf jener der Dezision, der Entscheidung.

»Lebenswelt«, das ist bei Habermas eine Art Resudalbereich, ein Bereich der nicht instrumentellen Wertvorstellungen, mit den Unter-Rubriken: »eigensinnige kommunikative Strukturen«, »Protestpotenziale« und »Lebensweltpathologien« (1981a, Bd. 2, S. 171 ff., 575 ff.) Mit letzterem sind die human interests, die menschlichen Interessen gemeint. Sie werden von Habermas verachtet. Eigensinn und Protestpotenzial werden dagegen als Hort kritischer Vernunft und vernünftiger Kritik angesehen.

Mit diesem Interesse befindet sich Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns in der aufklärerischen Tradition, wenn auch nicht der kritischen Theorie. Claudia Rademacher stellt das aufklärerische Moment so dar:

»Die unverkürzte Aufklärungvernunft hält für Habermas damit wieder Einzug in den Alltag und die Geschichte. Es bedarf daher nur einer Entbindung der der alltäglichen Rede immanenten Vernunftpotenziale, um die Ansprüche der instrumentellen Vernunft in Schranken zu halten und den Schein der falschen Totalisierungen aufzulösen. Das, was an ›wahrer‹ Vernunft über ihre instrumentellen Verkürzungen hinausgeht und daher erst den Maßstab liefert für die Kritik gesellschaftlicher Verdinglichungsphänomene, nimmt bei Habermas die Gestalt einer kommunikativen Rationalität an, die als vernünftiges Potential der Rede in den kontrafaktischen Unterstellungen alltäglicher Redepraxis immanent enthalten ist.« (1993, S. 22, Kursivierung im Original)

Habermas wehrt sich damit – zu Recht – gegen alle jene vulgärmaterialistischen Tendenzen – die er allerdings auch Horkheimer und Adorno unterstellt –, die Alltagskommunikation als durch und durch vom System der Arbeit, des Kapitalismus, der Kulturindustrie durchstrukturiert anzusehen. Er schreibt:

»Die Umstellung des kommunikativen Handelns auf mediengesteuerte Interaktionen und die Verformung von Strukturen einer versehrbaren Intersubjektivität sind keineswegs vorentschiedene Prozesse, die sich auf wenige Begriffe abziehen lassen. Die Analyse von Lebensweltpathologien erfordert die unvoreingenommene Untersuchung von Tendenzen und Gegentendenzen.« (1981a, Bd.2, S. 575. Kursivierung im Original)

So richtig das ist, ist einzuwenden: Wenn Habermas »Handlungsnormen«, »Normengefüge« etc. als das Allerwichtigste betrachtet, ist das falsch. Das Subjekt »verständigt« sich nicht nur, es beratschlagt nicht nur, sondern: Es produziert, es herrscht und entscheidet – oder es konsumiert, es wird beherrscht und über es wird entschieden. Betont man nur die »Werte«, blendet man à la Max Weber den ökonomisch-politischen Hintergrund der »Werte« aus (Kritik an Weber: Adorno 1969b, S. 73), und man beschränkt die analytische Perspektive aufs Herrschaftsfunktionale. Es ist nicht richtig, den Bereich der Arbeit, des Kapitalismus, der Kulturindustrie als einen des instrumentellen Handelns darzustellen und die Gegentendenzen lediglich in der »Lebenswelt« zu suchen.

Damit gerät aus dem Blickfeld, dass sich kritische Potenziale nicht nur in den Nischen des politisch protestierenden Publikums zeigen. Gegentendenzen gibt es mitten in der Struktur der Arbeit, des Kapitalismus, der Kulturindustrie.

(Kritik an Habermas: Bolte 1989; Moritz 1992; Rademacher 1993; Schweppenhäuser 1989)

So ist es nicht überzeugend, wenn der Habermas-Schüler Axel Honneth froh verkündet, Kultur sei das Ergebnis von Gruppen-Kommunikation, sie entstehe durch »kooperative Erzeugung normativer Orientierungsmuster« (1989, S. 37), oder, wie Honneth das mit habermasischem Charme ausdrückt:

»[…] diese gruppenspezifisch hervorgebrachten und kommunikativ abgestützten Orientierungsmuster vermitteln, weil in ihnen die ökonomischen Handlungszwänge alltagspraktisch uminterpretiert werden, und daher sozialisationswirksam gespeichert sind, zwischen dem System der gesellschaftlichen Arbeit und der individuellen Motivbildung. Das natürliche Potenzial der menschlichen Antriebe und der sozial verselbständigten Zwänge der ökonomischen Reproduktion brechen sich an dem Fundus von alltäglichen Interpretationsleistungen, in denen die Subjekte sich wechselseitig einer mit anderen Subjekten geteilten Sozialdeutung und Wertorientierung immer erneut versichern müssen.« (1989, S. 35 f.)

Selbst »kritisches Verhalten« ist in dieser Interpretation bloß ein Prozess des Aushandelns von »Wertorientierungen«. So schreibt Honneth: