1


Montezuma und Jessica ließen sich durch die Stadt treiben. Es war lau. Ein mildes Lüftchen. Das Wasser in den Kanälen schwappte leise vor sich hin. Sie hatte kein Höschen an. Sie waren albern. Sie pilgerten von Bar zu Bar und tranken Wein. 

Langsam aber sicher spürten sie den Alkohol. Jessica zog ihn in eine dunkle Toreinfahrt, öffnete unverhohlen seine Hose, schob ihre Hand in seine Shorts und nahm seinen Schwanz in die Hand. Sie zog ihren Rock hoch und rieb wortlos mit seinem steifen Glied ihre feuchte Klitoris und Schamlippen. Sie küssten sich, gingen weiter, stoppten in der nächsten Toreinfahrt. Rauschhaft. Sie wollten heute Abend jemanden ficken, es ausarten lassen, keine Grenzen kennen. Es liefen so viele Frauen hier rum, teils gutes Material, teils zu fett, um angefasst zu werden. Sie wollten eine dritte Gespielin, ein Spielzeug, an dem sie alles machen, eine Puppe, in deren Löcher sie eindringen konnten. 

Da war sie. Plötzlich sahen sie sie. Sie ging vor ihnen quer über die Straße. Große Brüste, schlank, sportlich. Zwanzig Jahre alt vielleicht. Ihr Kleid ging ihr nur knapp bis über den Arsch. Ein Wollkleid, das ihre Figur wunderbar betonte. Sie trug keinen BH. Ob sie wohl ein Höschen trug?

Montezuma und Jessica waren entflammt. Sie nahmen die Verfolgung auf. Sie schlossen auf und nahmen die Schöne in die Mitte. Sie war irritiert und hatte etwas Angst. Er sprach sie an, beruhigte sie, lud sie ein, gemeinsam ein Glas Wein zu trinken. Er machte ihr Komplimente und sie entspannte sich. Sie lachte gurrend – sie war wirklich entzückend. Wie unabsichtlich berührte Jessica mit dem Arm ihre Brust, sie fühlte sich fest und straff an. Die Kleine zuckte leicht zurück. Jessica war erregt. Sie wusste genau, dieses Mädchen war es. Er steuerte eine Bar an, etwas intimer, mehr Ruhe zum Spielen. Alle drei nahmen auf Barhockern Platz, er bestellte Gin Tonic. Als sie kurz aufs Klo ging, schüttete Jessica ihr das Zeug unauffällig in den Gin. Die Süße kam wieder.

Die Wirkung war bald zu spüren. Ihre Bewegungen wurden lasziv, sie sackte ein wenig auf dem Hocker zusammen, die Beine fielen auseinander, zwischen den Spitzen des süßen schwarzen Höschens wurde ihre leicht geöffnete Fotze sichtbar. Sie war blank, kein Härchen würde ihnen den Weg in ihr Innerstes verstellen. 

Sie war nicht vollständig ohnmächtig. Montezuma und Jessica nahmen sie zwischen sich. Er hatte Mühe zu gehen, weil sein Schwanz so hart war. Zum Glück mussten sie nicht weit laufen. Das Gartenhaus war gleich um die Ecke. Sie legten sie auf den Tisch. Er zerschnitt ihr erst das Kleid, dann das Höschen. Ihre Brüste fielen wunderschön auseinander. Sie sah so geil aus. So hübsch. Sie waren so erregt in Erwartung auf das, was jetzt kommen würde. Jessica nahm seinen harten Schwanz in die Hand. Er hatte Lust, sie jetzt sofort bis zum Orgasmus zu ficken. Aber sie hatten anderes zu tun.

Die Kleine wurde wieder ein wenig munter. Er setzte ihr den Flachmann an die Lippen und zwang sie, den billigen Whisky komplett auszutrinken. Ihre Hände bewegten sich zu ihrer Fotze, sie rieb sich selbst, vielleicht hatte sie Angst und wollte sich auf diese Weise beruhigen. Sie ließen sie erst einmal gewähren, sie öffnete ihre Schenkel weit, ihre Finger drangen weit in ihre Muschi ein, sie stöhnte vor Lust. Sie beobachteten sie und küssten sich dabei.


Jessica schnallte sich den Gummipenis an, Montezuma fickte die Süße in den Mund, den sie völlig willenlos weit aufriss, während Jessica ihr vorderes Loch penetrierte. Jessica umklammerte die Oberschenkel der Kleinen mit ihren Füßen, umarmte ihren weichen Oberkörper und drang in sie ein, während er jetzt ihren festen Arsch fickte, hart und brutal den Anus durchdrang. Sie schrie plötzlich, bäumte sich auf, doch beide Schwänze in ihr hielten sie tief im Griff. Jessica fickte sie hart mit dem Gummischwanz und lutschte ihre süßen Brüste, deren Warzen in ihrem Mund ganz steif wurden. Sanft biss sie ihr in die Zitzen, während sie ihren Hals packte, ihr die Luft nahm und den Kopf hoch drückte. Er zog seinen Schwanz aus ihrem bereits blutigen Anus. Sie weinte. Aber nicht lange – schnell stopfte er ihren Mund mit seinem Schwanz und fickte sie da rein, während Jessica sie beobachtete und ihre Brüste streichelte, quälte und kniff. Dann hielt Jessica es nicht mehr aus. Sie bat ihn, die Kleine zu fesseln und an die Seite zu legen, so dass sie ihnen noch zusehen konnte, sofern sie in ihrem Dämmerzustand überhaupt noch etwas mitbekam. Montezuma warf Jessica auf den Tisch, wie eine leichte Beute, über die er sich hermachen würde. Erst noch taxierend, mit seinen Fingern den Körper entlangstreichend, ihre Fotze weitend, sich vergewissernd, dass sie feucht genug war, um noch kurz, gönnerhaft, ihre Klit zu stimulieren.  

Die Kleine kauerte erschöpft an der Seite, gefesselt, in sich reinwimmernd, der Speichel floss ihr aus dem Mundwinkel. Montezuma und Jessica traten zu ihr und betrachteten ihren Körper. Sie würde sich wegen des Medikaments an nichts erinnern können. Eigentlich schade. Sie sollten ihr eine kleine Erinnerung hinterlassen. Er zückt das Messer und schnitt in ihre Brustwarzen feine Schnitte. Sie schrie vor Schmerzen und begann zu weinen. Jessica hielt sie fest, riss ihren Kopf an den schönen Haaren nach hinten, tröstet sie gleichzeitig und befriedigte ihre Muschi. Er wurde wieder hart, als er ihr die Brustwarzen ritzte, also legten sie die Kleine wieder auf den Tisch, auf dem er sie nochmal hart fickte, tief und mit aller ungefilterter Energie in ihr Lustloch und in ihren Anus. Jessica kniete sich über den Kopf der Kleinen und drückte ihr ihre rasierte Fotze ins Gesicht. Sie musste Jessicas Klitoris zwangsläufig lecken, während Montezuma nun in Jessicas Anus eindrang. Jessica schrie und genoss es, sie war kurz vor dem Höhepunkt. Nachdem Montezuma in ihrem Arsch gekommen war, hob er das Mädchen vom Tisch und hüllte sie in eine warme Decke. Sie sollte ja nicht erfrieren. Mit dem Auto fuhren sie an eine Bushaltestelle und legten den geschunden Körper dort ab.  

2


Ob sie schreien wird? Die Kleine schien sich selbst überlassen zu sein. Das war gut. Gegenüber auf dem Bolzplatz kickten ein paar Jungs. Die hatten mit sich selbst genug zu tun. Jetzt Ruhe. Komm zur Ruhe, Mann, sagte er sich selbst. Erst mal ein Weilchen die Gegend auschecken.

Wolfhart setzte sich auf eine der Bänke, die im Bereich des schmalen Grünstreifens der Telemannstraße zwischen Bolzplatz und Kinderspielplatz aufgestellt waren.

Der Mann auf der Bank gegenüber war keine Gefahr. Tief in seine Zeitung vertieft. Vielleicht schlief er auch. Ging bestimmt schon auf die Achtzig zu.

Die beiden Teenager, die auf das Mädchen aufpassen sollten, hatten eine Gruppe von Jungs auf dem Bolzplatz gegenüber entdeckt. Sie setzten das Mädchen auf der blauen, schräg stehenden Drehscheibe ab. Sie drehten die Scheibe ein paar Mal. Die Kleine quiekte vor Vergnügen. „Wir kommen gleich wieder. Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind bloß da drüben.“

Außer dem Zielobjekt waren noch zwei ältere Kinder auf dem Spielplatz. Zwei Jungs. Sie schlugen gekonnt und konzentriert den Ball über die große steinerne Tischtennisplatte.

Die Kleine schunkelte auf der schräg stehenden, blauen Drehscheibe hin und her. Immer wieder. Versunken. Glücklich.

Die Babysitterinnen waren mit den Jungs auf dem Bolzplatz zugange. Zeigten sich Videos und Fotos auf ihre Smartphones. Die Jungs liehen ihnen ihre Kopfhörer.

Er zündete sich eine Camel Filter an. 

Unbedingt daran denken, nachher die Kippen einzusammeln. Nichts rumliegen lassen. Wolfhart zog den Rauch ein. Er spürte die Anspannung im ganzen Körper.

Eigentlich fand Wolfhart diesen Auftrag widerlich. Er hatte früher nie Kinder entführt. Und jetzt ist das schon das dritte Mal.

Sein Job gefiel ihm. Sonst jedenfalls. Auf die Präzision der Waffe und des Zielfernrohrs vertrauen. Die wahrscheinlichen Abweichungen durch Seitenwind abschätzen. Den Finger langsam um den Abzug krümmen. Den leisen Rückstoß spüren, wenn sich der kaum hörbare Schuss löst. Das leise „Plopp“ des Schalldämpfers. Und dann, dem Zusammenbruch des Opfers zusehen. Die Waffe auseinanderschrauben und sicher in der unauffälligen Tragetasche verstauen. Die Sonnenbrille aufsetzen. Ruhig und ohne Aufmerksamkeit für die entsetzten Schreie von Passanten den Schauplatz verlassen. 

Abwarten. Sich ein paar Tage in der Wohnung aufhalten, die Einkäufe sind vorher längst erledigt. Warten, dass das Geld auf dem Konto ist. Und dann Abreise, ein paar Wochen Dominikanische Republik. Bis sich die Wogen geglättet hatten.

Solche Aufträge mochte er. Am liebsten Männer. Am liebsten aus großer Entfernung.

Einmal hatte er den Auftrag angenommen, eine Frau zu erledigen. Edel. Schick angezogen. Unternehmerin, Kuratorin des Rotary Clubs Hamburg Altstadt. Er hatte ihre Überraschung genossen. Ihre weit geöffneten Augen, als er ihr den Lauf der Waffe in den Mund geschoben hatte. Er hatte nicht geschossen. Er hatte sie gezwungen, in ihrem Büro auf den Drehstuhl zu steigen. Er hatte ihr die Arme nach hinten gebunden. Das Seil über ihrem Schreibtisch an den architektonisch eindrucksvoll frei laufenden Rohren einer ehemaligen Gasleitung befestigt. Ihr die Schlinge um den Hals gelegt. Den Stuhl unter ihr weggestoßen. Er hat zugesehen, wie sie ihren seidenen Rock einnässte. Die Zuckungen ihres Todeskampfes. Er mochte es, Menschen beim Sterben zuzusehen.

Trotzdem. Komisch. Danach war ihm elend gewesen. Er hatte nie wieder einen Auftrag angenommen, eine Frau zu töten.

Und jetzt schon wieder ein Kind. Ein kleines Mädchen. 

Wolfhart beobachtet sie. Er behielt die Babysitterinnen im Auge. Keine Gefahr. Die waren mittlerweile in ihrer eigenen Welt. 

Er streifte sich die Asche vom Parka. Unscheinbare Arbeitskleidung war wichtig. Er drückte die Camel mit den Fingern aus, steckte sich die Kippe in die Gesäßtasche seiner schmutzigen Jeans.

Die beiden Tischtenniskinder waren mittlerweile aufgebrochen. Der alte Mann gegenüber schien endgültig eingenickt zu sein. Auf dem Bolzplatz war Hochbetrieb. Die Babysitterinnen lachten, flirteten mit den Jungs. Wolfhart erhob sich und ging langsam auf das Mädchen zu. 

3


Als Oliver Kienbaum über den Stellinger Weg zum Bäcker fuhr, war der Morgen noch zauberhaft. Knallblauer Himmel. Einige  Vögel zwitscherten, und die Tauben machten sich mal wieder einen Spaß daraus, direkt vor seinen Fahrradreifen auf der Straße oder dem Fahrradweg zu picken. 

Kosta saß an seinem Platz vor dem „Griechen“, dem Lokal „Zeus“ Ecke Stellinger Weg/Schwenckestraße unter dem Sonnenschirm und las die Morgenpost. Um diese Tageszeit war noch kein Mensch vor Ort, selbst die Fleischlieferanten würden erst nach zehn Uhr vom Großmarkt vorbeikommen. 

Kosta blickte kurz auf, als Oliver ihm zuwinkte, hob seine Hand. Ein allmorgendlich wiederkehrendes Ritual. 

Zurück in der Wohnung hatte Lukas den Tisch gedeckt und Lea angezogen.

Lea war heute Morgen nölig. Oliver machte sich Sorgen, dass er die nächsten Tage nicht zum Arbeiten kommen würde. Wenn Lea krank war, konnte sie nicht in den Kindergarten. Lukas war fast unendlich hilfsbereit. Aber als bei der letzten Runde Infektionskrankheiten die Magen- und Darmgrippe, die den ganzen Kindergarten in Atem hielt, nach drei Tagen immer noch nicht vorbei war, war er mit seiner Geduld am Ende. „Die nächste Runde übernehmen Sie, Kobra.“ Oliver hatte es versprochen. 

Immerhin hatte Lukas, Olivers Mitbewohner und bester Freund, für heute noch einmal Erbarmen gezeigt und würde sich um Lea kümmern. Oliver rechnete es ihm hoch an, dass er seinen Arbeitstag am Schreibtisch opferte. Schon wieder einmal. 

Lukas. Lukas vom Hofe. Komischer Name, aber, wie Lukas erzählte, so hieß in seinem Heimatdorf die eine Hälfte der Bewohner. Und die andere hieß Fricke. Die Freundschaft der beiden hatte vieles überstanden. Aber jetzt war Lukas bestimmt schon zwei Jahre in einer Dauerkrise. Seitdem sich Nadine, seine Frau, nach unglücklichen Jahren von ihm getrennt hatte, in denen Lukas Dorfpastor in der Helmstedter Rübenpampa gewesen war. Und die Kinder mitgenommen hatte.

Lukas war gerne Babysitter. „Für mich ist das kein Opfer. Das weißt du.“ Lukas hatte die Kleine geknuddelt, die fröhlich losquietschte.

Vielleicht doch nicht so krank. Jedenfalls musste Oliver jetzt los. Blöderweise musste er nun doch den Wagen nehmen. Die Strecke war eigentlich wie fürs Fahrrad gemacht, aber es regnete mittlerweile Bindfäden.


Der Scheibenwischer klemmte. Oliver fluchte leise vor sich hin. Lukas hatte ihm versichert, dass der Wagen in Ordnung sei. Er hätte sich nicht darauf verlassen sollen. Opel Kadett, Baujahr irgendwann Ende der Achtziger. Der Wagen hatte bestimmt drei Monate auf dem Parkplatz unter Linden gestanden, ohne bewegt worden zu sein. Oliver hatte zehn Minuten gebraucht, wenigstens die Scheiben von dem Schmier zu befreien, den diese Bäume überall unter sich ließen.

Sein Interviewpartner wohnte in Ottensen, Arnoldstraße, Hinterhaus im Garten. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln schlecht zu erreichen. Außerdem wäre er bei dem Wetter klatschnass geworden. Scheißwetter.

Oliver arbeitete an einem Beitrag über die Hamburger Musikszene. Warum gründen so viele Sechzigjährige ihre alten Rockbands aus den Siebzigern wieder? War es die Sehnsucht nach verlorener Jugend? Geldsorgen? Die Meinung (die Oliver teilte), dass die populäre Musik damals kreativer war als heutzutage? 

Oliver freute sich auf das Gespräch. Endlich eine Abwechslung von den immer neuen Berichten über misshandelte Kinder, massenhafte Einbruchserien in Hamburg, brennende Flüchtlingsunterkünfte. Und dann die beiden Fälle verschwundener Kinder.

Oliver musste lächeln. Julia hatte ihn gestern erst am Telefon belehrt, dass er „Geflüchtete“ oder „Geflohene“ schreiben soll. „Du als Zeitungsmensch hast da 'ne echte Verantwortung, Oliver. Worte mit ‚-ling‘ haben in der deutschen Sprache immer was Abschätziges. Sträfling, Lüstling, Sonderling, Schädling. Wenn die Geflüchteten ‚Flüchtlinge‘ genannt werden, ist dieser Beigeschmack immer da. Außerdem stimmt es nicht. Die Menschen haben ihre Flucht hinter sich. Jetzt sind sie angekommen. Sie sind Geflohene.“

Toll, wie sich Julia ereiferte. Ganz Verenas Tochter. Es gab Oliver jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn er daran dachte, dass sie mal als Kleinfamilie zusammengelebt hatten. Komisch. Man merkt oft erst im Rückblick, dass es eine glückliche Zeit war.

Seitdem Julia in Marburg war, hatte sie einen riesigen Sprung gemacht. Oliver hatte bei einem Besuch ihre Freunde kennen gelernt. Alle in Projekten engagiert, die nicht immer ganz legal waren, aber immer auf Seiten der Bedrohten. Julia war im Leben angekommen. Vernetzt, engagiert, klar in ihren Meinungen. Eine aufrechte junge Frau. Oliver fand das genauso wichtig wie die Frage, wie Julia mit ihrem Religionspädagogikstudium weiterkam. 

„Das stimmt doch gar nicht. Was ist mit Liebling? Oder Bratling? Kümmerling?“, hatte Oliver lahm gefragt. Sie hatten noch ein wenig gefrotzelt und dann das Gespräch beendet. Ein Glück, dass die Pubertät vorbei war. Julia hielt, wenn es darauf ankam, immer noch zu ihrer Mutter. Das hielt sie aber heute nicht mehr davon ab, mit Oliver zu sprechen. 

Verena. Julias Mutter. Offiziell: Verena Petri. Polizeikommissarin in der Mordkommission. Die Frau seines Lebens. Über alle Trennungs- und Wiederannäherungskonflikte hinweg.

Oliver bremste scharf und wurde aus seinen Gedanken gerissen. Er wäre fast dem Smart hinten drauf gefahren. Der Wagen stand plötzlich vor ihm. Der hatte auch eine Vollbremsung hinlegen müssen. 

Oliver versuchte, durch den dichten Regen zu erkennen, was los war.

Der Bus weiter vorn stand leicht quer. Er hatte anscheinend so scharf gebremst, dass einigen Fahrgästen etwas passiert war. Oliver beobachtete, wie ein Fahrgast nach dem anderen den Bus verließ. Zwei junge Männer mussten eine Frau stützen, die sich am Kopf verletzt hatte.

Oliver stieg aus. Er orientierte sich kurz. Max-Brauer-Allee, kurz vor der Abzweigung der Goethestraße.

Er ging am Smart vorbei. Die junge Frau hinter dem Steuer sprach in ihr Handy. Sie sah entnervt aus. Oliver passierte den Bus. Vor dem langen Fahrzeug hatte sich eine Menschentraube gebildet. Oliver verlangsamte seinen Schritt. Er konnte es fast körperlich spüren. Es war etwas Schreckliches passiert. Kein Mensch bewegte sich in dieser Gruppe. Stocksteif. Alle blickten wie gebannt auf einen Punkt vor der Front des Busses, den Oliver noch nicht sehen konnte. Die Leute sahen vollkommen geschockt aus. Eine Frau mit Kopftuch weinte leise.

Sollte er wirklich weitergehen? Mit jedem Schritt wurden seine Füße schwerer. Dann sah er es. 

Das Kind mochte vielleicht fünf Jahre alt sein. Ein Mädchen. Es war unter den hart eingeschlagenen Vorderreifen des Busses geraten. Der kleine Körper lag grotesk verrenkt. Ein kleines Blutrinnsal lief aus dem offenstehenden Mund des Kindes. Das kleine Gesicht sah erstaunt aus.

Oliver wich zurück. Er musste sich hinsetzen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Die Nässe und den Matsch des Straßenbelags spürte er nicht.


Plötzlich war alles wieder da. Hildesheim, vor dreizehn Jahren. Vor seinem inneren Auge läuft die Szene wieder ab. Er sieht die erstaunten Augen des Kindes unmittelbar vor dem Kühler seines Wagens, als würde es in diesem Moment geschehen. Wie er versucht, mit aller Macht zu bremsen. Das schreckliche Geräusch, als der kleine Körper aufschlägt.


Oliver spürte, wie ihm von links und rechts jemand unter die Arme griff. Ein Mann und eine junge Frau, anscheinend seine Freundin. „Kommen Sie“. Sie brachten ihn ein wenig abseits, weg von der Fahrbahn. Weg von der Menschentraube. „Wie ist es passiert?“ Oliver konnte kaum sprechen. „Waren Sie dabei, als es geschehen ist?“

„Es war seltsam. Wir waren auf dem Fußweg gegenüber. Ich habe nicht besonders darauf geachtet. Ich habe aus den Augenwinkeln einen Mann gesehen, wie er sich über ein Kind gebeugt hat. Dann hat er sich aufgerichtet und ist weggegangen. Das Kind ist langsam und wie in Trance auf die befahrene Straße zugegangen.“ Oliver blickte kurz auf. Er sah in die ernsten Augen der jungen Frau. „Wir haben beide geschrien, dass die Kleine stehen bleiben soll. Sie hat nicht gehört. Vielleicht war der Verkehr zu laut. Sie ist ganz langsam weitergegangen, wie verträumt. Zwischen den parkenden Fahrzeugen hindurch. Wir haben den Bus kommen sehen. Das Kreischen der Bremsen. Es war furchtbar laut. Das Mädchen hätte sich noch umdrehen und weglaufen können. Es ist einfach stehen geblieben.“ Jetzt brach die junge Frau in Tränen aus. Der Mann nahm sie in den Arm. „Komm, mein Schatz. Wir müssen bestimmt am Bus warten, bis die Polizei kommt. Wir sind Augenzeugen.“ Er sah Oliver konzentriert an. „Sind Sie soweit okay?“

„Soweit man das unter diesen Umständen sein kann“, antwortete Oliver. 

4


Zum Glück war Monika sofort am Telefon. Monika Grafenhorst, die Seele der Redaktion. Wenn sie nicht hier arbeiten würde – Oliver wüsste nicht, ob er dann noch hier wäre. Er kannte sie, seitdem er hier war. Vom ersten Augenblick hatte der das Gefühl, sich auf sie verlassen zu können. Restlos.

Dieses Gefühl hatte ihn nie getrogen. „Kannst du bitte den Interviewtermin absagen? Ich muss mich für den Rest des Tages krank melden.“

„Was ist los?“ 

Monika klang besorgt. Sie spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Komisch. Er musste gar nicht weiter reden. Ihr kam sofort die Zeit in den Sinn, als er beim Hamburger Kurier angefangen hatte. 

Die ersten Monate würde sie niemals vergessen. Als er völlig aus dem Takt gewesen war. Wochenlang arbeitsunfähig. Er war in tiefe Depression verfallen, nachdem ihm ein Kind vors Auto gelaufen war und er nicht mehr hatte bremsen können. Damals war ihre Freundschaft entstanden. 

„Genau wie damals, Monika.“ Plötzlich spürte er den Kloß im Hals. Er konnte nicht mehr weitersprechen. „Lass dir Zeit.“ Oliver atmete ein paar Mal tief durch. „Fast vor meinen Augen. Monika. Es war wieder ein Kind. Ein kleines Mädchen. Sie ist vor den Bus gelaufen. Fast unmittelbar vor meinem Wagen.“

„Oh Gott. Das ist ja furchtbar.“ Monika schwieg. Er konnte sie atmen hören. „Hast du mitbekommen, wie es passiert ist?“

„Nicht direkt. Ich habe mit Augenzeugen gesprochen. Sie sagten, dass das Kind eigenartig gewirkt habe. Es ist ganz langsam auf die Straße gelaufen. Wie paralysiert. Wie unter Drogen. Das haben sie so nicht gesagt. Aber sie haben es so beschrieben.“

Monika zögerte. „Ich sprech schon mal mit dem Chef, wenn es dir recht ist. So wie du den Vorfall geschildert hast, musst du dran bleiben. Fahr jetzt nach Hause. Spiel mit deiner Tochter. Trink ein Gläschen mit Lukas. Versuch, auf andere Gedanken zu kommen. Und morgen früh sagst du alle weiteren Termine ab und gehst direkt zum Chef. Geh der Sache nach, Oliver. Das ist mein Rat für heute. Du kannst sowieso an nichts anderes mehr denken.“


Lea trödelte mit dem Essen. Lukas sah schon wieder auf die Uhr, überschlug seine Chancen. Er wollte so gerne an den Schreibtisch. So wurde das nichts.

Manchmal ärgerte er sich, dass Oliver ihm die gesamte Arbeit mit Lea überließ. Okay, das war übertrieben. Aber fast die gesamte Arbeit. 

Lukas liebte Lea. Das war es nicht. Er liebte sie genauso, wie Oliver sie liebte. Aber Oliver war schließlich der Papa. Und es kam ständig vor, dass Oliver erst aus der Redaktion nach Hause kam, wenn das Abendessen fertig, die Kleine im Schlafanzug und Lukas vollkommen erledigt war. 

„Soll ich dir die Geschichte von Petterson und Findus vorlesen?“ 

„Au ja!!!“ Lea liebte Geschichten. Und sie liebte vor allem die Geschichten vom alten Petterson und dem Kater Findus. 

„Aber lies wirklich alles vor, ja?“ 

Seitdem Lea bis zum Nachmittag im Kindergarten war, war sie schon groß. Sie ließ sich nichts mehr vormachen. Sie merkte, wenn Lukas versuchte, die Geschichte abzukürzen. „Ich kann nämlich jetzt schon lesen!!!“

„Du bist jetzt viereinhalb. Du musst noch gar nicht lesen können.“

„Stimmt nicht!!! Ich bin gleich vierdreiviertel!!!“ Lukas setzte sich auf den Fußboden, mit dem Rücken an der Tür zum Kinderzimmer. Lea kuschelte sich zwischen seine Beine. „Los, lies jetzt vor!!!“

Lukas las die Geschichte von der Geburtstagstorte vor. Wie Petterson für Findus eine Geburtstagstorte backen wollte und keine Eier da waren. Und wie ein Hindernis nach dem anderen auftauchte, das erst einmal aus dem Weg geräumt werden musste. Als Lukas zu der Stelle gekommen war, wo der wilde Stier durch das Gequake des alten Plattenspielers so in Wut geriet, dass er wie von einer Tarantel gestochen über die Wiese raste, quietsche Lea vor Vergnügen.

„Na, bei euch ist ja richtig gute Stimmung!“ Sie hatten die Tür gar nicht gehen hören. „Papa!!“, jubelte Lea. „Komm, du musst dich schnell zu uns hinsetzen. Es ist gerade so spannend!!!“

„Kannst du mal übernehmen?“ Lukas sah Oliver flehend an, ohne dass Lea es sehen konnte. „Na klar, mach ich.“

Oliver hob Lea hoch in die Luft. „Lass mich runter!!! Ich will die Geschichte!!!“

Lukas war schnell in sein Zimmer verschwunden. Oliver setzte sich an der Stelle auf den Fußboden, wo Lukas gesessen hatte. 


Oliver lehnte im Türrahmen. 

„Nun setz dich schon einen Moment.“

Oliver angelte sich ein halbwegs sauberes Weinglas aus Lukas Bücherregal und goss es sich halbvoll. Er hatte heute ohnehin nichts mehr vor und war hinreichend erledigt.

„Hast du einen Moment? Bitte.“

Lukas hörte am Klang der Stimme, dass es ernst war.

„Ich habe heute eine furchtbare Szene miterlebt. Ein kleines Mädchen ist vor einen Bus gelaufen, fast unmittelbar vor mir.“

„Oh Gott , Scheiße!“

Oliver zündete sich eine Zigarette an. Er inhalierte langsam, ließ den Rauch aufsteigen. Er versuchte, sich zu besinnen. Lukas bewegte sich nicht. Er ließ dem Freund Zeit.

„Mir ist alles wieder hochgekommen. Du weißt schon. Die Augen des Kindes, das ich damals überfahren habe. Die weit aufgerissenen Augen. Meine Panik, als ich nicht mehr bremsen konnte. Es war alles wieder da.“

Lukas sah Oliver besorgt an. Er wartete ab. Er hatte diese Monate noch gut vor Augen. Wie Oliver sich immer mehr zurückgezogen hatte. Nicht mehr gearbeitet hatte. Alle Freunde vor den Kopf gestoßen hatte. Auch ihn selbst. „Du darfst gerne in meinem Zimmer rauchen.“

„Danke.“ Oliver lächelte und zündete sich an der brennenden Zigarette gleich eine Nächste an. Er setzte sich auf den alten, bequemen Plüschsessel, den Lukas für viel Geld hatte neu beziehen lassen.

„Und das Verrückte ist: Es war nicht nur der Unfall. Ich habe danach mit zwei Augenzeugen gesprochen. Die hatten den Eindruck, dass das Kind wie ferngesteuert auf die Straße gelaufen ist. Wie unter Drogen. Langsam. Ohne sich bremsen zu lassen. Und dass es unmittelbar vorher von einem Mann begleitet wurde, der weggegangen ist, noch vor dem Unfall. Das ist doch komisch, oder?“

Lukas war spontan froh, dass Oliver mit seinen Gedanken und Gefühlen schon nicht mehr bei der traumatisierenden Erfahrung seines eigenen Unfalls war. Er dachte nach. „Ja, das ist seltsam. Hast du schon mit deiner Kontaktperson bei der Polizei gesprochen?“

„Kontaktperson. Witzig. Okay. Viel zu viel Kontakt. Viel zu viel Gefühl, im ganzen Leben.“ Oliver holte tief Luft, drückte die Zigarette in den Aschenbecher, den Lukas ihm schnell hinschob, und nahm einen Schluck aus dem Weinglas. „Ja, ich habe im Kommissariat angerufen. Aber wie du weißt, ist Verena gerade in den USA. Ich habe mit einem anderen Beamten gesprochen, Waldemar Gerster heißt er. Ein ausgesprochen freundlicher Mann. Er war informiert. Das Ganze wird als Unfall behandelt.“

„Hast du ihm berichtet, was du mir eben erzählt hast?“

„Na klar.“

„Und?“

„Ja. Herr Gerster hat mir zugesagt, mit den Beamten noch einmal zu sprechen, die den Unfall aufgenommen haben. Er ruft mich noch mal an.“

Die beiden Freunde tranken schweigend und hingen ihren Gedanken nach. „Komm, gib mir auch mal 'ne Zigarette.“

Oliver schob ihm das Päckchen rüber.


__________


Er war gut vorbereitet, hatte eine ganze Tüte Gummibärchen eingekauft. Die Sorte, die er selbst gern aß. Wolfhart nestelte die Tüte aus seiner Jackentasche und riss sie auf. Langsam näherte er sich dem Mädchen. Er konzentrierte sich. Ruhig atmen. Nicht zu überraschend vor ihr auftauchen. Am besten war es, wenn er immer im Blickfeld des Mädchens blieb. Die Kleine sah nicht auf. Aber er konnte an ihren Bewegungen spüren, dass sie ihn bemerkt hatte.

„Magst du Gummibärchen?“ Wolfhart langte in die Tüte und schob sich selbst ein rotes und ein grünes in den Mund. Er lutschte genüsslich. Er musste sich nicht einmal Mühe geben, Wohlbehagen auszustrahlen.

Das Mädchen sah kurz zu ihm herüber und blickte schnell wieder weg.

„Ich kenne Mädchen, die mögen keine Gummibärchen.“ Wolfhart lächelte ungläubig und trat vorsichtig einen Schritt auf das Mädchen zu.

Er behielt die Babysitterinnen gegenüber im Auge. Er musste schnell machen.

Die blaue Drehscheibe stand jetzt still. Die Kleine hielt sich am Rand fest, ihre Händchen umspannten die Plastikschiene eng neben ihren Hüften. Sie machte sich steif. „Ich darf nichts von Fremden nehmen.“

„Ich heiße Wolfhart.“ Er trat noch einen Schritt auf sie zu. „Jetzt kennst du mich schon. Und wie heißt du?“ Er hielt ihr die Tüte jetzt schon fast unter die Nase. Das Mädchen schielte auf die Tüte. „Mein Papa hat gesagt, ich darf nicht.“

„Ich bin ein Freund von deinem Papa.“ Wolfhart bewegte seine Hand nicht, obwohl es anstrengend war, den Arm so lange ausgestreckt zu halten.

Er spürte ihren inneren Zwiespalt. Wartete. Jetzt griff sie in die Tüte. Wolfhart lachte. Er tätschelte ihr den Kopf. 

5


Jessica empfand Lust, wenn sie ritzte. Solange sie sich erinnern konnte. Wann hatte das angefangen? Als sie klein war, durfte sie der Oma helfen. Gemüse schneiden. Das Messer war abgerutscht. Das Blut quoll aus ihrem Fingerchen. Jessica hatte interessiert zugesehen. Sie empfand kaum Schmerzen. Als Oma mit dem Pflaster kam, war es schade.

Jessica erinnerte sich noch heute gern an solche Szenen. Vor allem, wenn sie sich streichelte. Oft hatte sie sich geritzt, um sich zu beruhigen. Besonders, wenn ihre Eltern Streit hatten. Sie konnte durch die dünnen Wände genau hören, wenn sie schrien. Und wenn sie dann seine Schläge hörte und das Wimmern ihrer Mutter, war sie in die Küche gelaufen und hatte das Messer geholt. Dann war sie weinend zu den Eltern gelaufen und hatte ihr Aua gezeigt.

Wann hatte es angefangen, dass sie es mit anderen ausprobierte? Ihre Freundinnen wollten nicht. Als sie vielleicht zwölf war, hatte sie Strolch festgebunden, den Familienhund. Sie hatte in Papas Kulturbeutel ein Rasiermesser gefunden. Sie hatte Strolch gestreichelt, bis er ganz ruhig war. Dann hatte sie ihm mit dem Rasiermesser seine Schnauze geritzt. Strolch hatte so gewimmert, dass es sich fast wie Weinen anhörte. Das hatte großen Spaß gemacht. Es hatte sich zwischen ihren Beinen sehr gut angefühlt. Als ihr Vater gesehen hatte, was sie gemacht hatte, hatte er den Rohrstock geholt. Ihr Vater war sehr streng gewesen. Er war Lehrer. Er hatte sie bäuchlings über den Tisch gelegt und immer wieder zugeschlagen. Es hatte kaum weh getan. Sie hatte den erregten Atem ihres Vaters gehört, und das Gefühl zwischen ihren Beinen war sehr schön gewesen.

Drei Jahre später war dann Marieke dran gewesen. Keiner im Musikkurs mochte Marieke. Sie war dick und langsam und konnte eigentlich gar nichts. Wozu war sie gut? Jessica hatte damals viel zu sagen in ihrer Klasse. Es war Winter gewesen. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin und ein paar Jungs hatten sie Marieke auf dem Nachhauseweg abgepasst. Sie hatten sie auf das Brachgelände einer Baustelle geschleppt und ihr Hose und Höschen runtergezogen. Sie hatten sie gezwungen, sich in den Schneematsch zu knien und den Arsch nach oben zu recken. Die anderen hatten sie festgehalten, und Jessica hatte ihr mit einer Rasierklinge das Wort „Schlampe“ in den Arsch geritzt. Obwohl es sehr geblutet hatte, konnte man es gut lesen. Sie war dann nach Hause gelaufen und hatte ihrem Vater gebeichtet, was sie gemacht hatte. Als der sie brutal verdroschen hatte, als sie seinen keuchenden Atem hörte, hatte sie den Po nach oben gereckt, genau wie sie es vorher Marieke befohlen hatten. Sie hatte die Beine so breit auseinander gemacht, dass der Rohrstock ein paar Mal zufällig ihre Muschi getroffen hatte. Da hatte sie den ersten Orgasmus ihres Lebens gehabt. 


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Oliver sah auf die Uhr. Zehn Minuten Zigarettenpause waren schon wieder um. Er zündete sich noch eine an. Der Arbeitstag war ohnehin bald zu Ende. Es tat ihm gut, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Unten in der Methfesselstraße waren schon die Lieferwagen zum Markt an der Grundstraße unterwegs. 

Bald neunzehn Uhr. Dienstagabend. Morgen würde er erst gegen Mittag in der Redaktion aufschlagen müssen. Vorher würde er mit Lea über den Markt ziehen. An den holländischen Käseständen stehen bleiben und den alten Gouda probieren. Sich ein Stück einpacken lassen. Dann zum Fleischer, der Lea jedes Mal ein Stück Fleischwurst schenkte, das sie umstandslos auflutschte. Dann zu dem freundlichen Schwarzen, der aus einer abenteuerlichen Maschine in seinem Kleinwagen leckeren Cappuccino zubereitete. Hier würde er stehen bleiben und mit den umstehenden Männern ein Schwätzchen halten. So lange, wie Lea ihre Geduld behielt. Wenn Väter da waren, die auch ein Kind dabei hatten, konnte er diese Pause ein wenig ausdehnen. Wenn Lea auf andere Kinder traf, mit denen sie ein Weilchen spielen konnte. Wenn nicht, wurde sie schnell ungeduldig und zog ihn nach Hause.

Oliver fröstelte. Hoffentlich würde der Nieselregen nicht zum Dauergast werden. Noch zwei Züge. 

Herr Gerster, sein Gesprächspartner im Polizeikommissariat, hatte angerufen und von dem Gespräch mit den Beamten berichtet, die den Unfall des kleinen Mädchens bearbeitet hatten. „Ja, es war ein Unfall. Davon gehen wir bis jetzt jedenfalls aus.“

„Aber ich hab Ihnen doch erzählt …“

„Ja, na klar. Die Aussage der Zeugen, mit denen Sie gesprochen haben, ist eigenartig. Wir nehmen das ernst, Herr Kienbaum. Aber das reicht nicht. Wir haben nicht genug Anhaltspunkte, um Ermittlungen aufzunehmen.“ Oliver hatte etwas lahm protestiert. Er hatte wirklich nur dieses eine zufällige Gespräch mit den Zeugen, dass die Polizisten ja offenbar ernst genommen hatten. 

Aber das dumpfe Gefühl wollte nicht weggehen. Irgendwas stimmte da nicht. 

Diese Stimmung hatte sich den ganzen Tag nicht verflüchtigt. Oliver hatte seit dem frühen Morgen in der Redaktion gearbeitet. Er hatte den Beitrag zu den Musikern für die Redaktionssitzung fertig gemacht. Dann war er wieder bei seinem Dauerthema gelandet. Aber seit dem Erlebnis gestern Morgen hatte sich sein Gefühl dazu verändert.

Er bekam es noch nicht richtig zu fassen. Etwas war eigenartig an diesem Unfall. Es war wie eine dunkle Ahnung. Schemenhaft. Nicht mehr als ein undeutliches Gefühl. Aber er spürte eine Nähe zwischen den furchtbaren Bildern des Unfalls und der Recherche, die ihn in den letzten Wochen immer mehr in Atem hielt.

Irgendwie gab es da einen Zusammenhang. Oliver hatte in der Geschichte seiner Arbeit als Redakteur gelernt, sich auf solche Gefühle zu verlassen. 

Sein Dauerthema im Kurier war die Situation der Kinder in Hamburg. Dazu schrieb Oliver jeden Donnerstag eine Kolumne. Hamburg war eine reiche Stadt. Zumindest für viele. Für Alleinerziehende galt das nicht. Junge Mütter, die jeden Tag Organisationskunststücke vollbringen mussten. Wie lässt sich Arbeit im Büro, im Betrieb oder in einer Schule mit der Arbeit zu Hause verbinden, mit der Beziehungs- und Versorgungsarbeit für die heranwachsenden Kinder und Jugendlichen? Oliver fand es notwendig, diesen Kontext aufzuzeigen. Kinderarmut, Armut von Jugendlichen, Armut von Alleinerziehenden in einer reichen Stadt. Wenn irgendwo die Rede von „struktureller Gewalt“ in Deutschland anschaulich wurde, dann doch hier. 

Oliver hatte das in seiner letzten Kolumne erwähnt und einige zustimmende Reaktionen über Facebook bekommen. Zwei seiner Follower hatten seinen Hinweis auf den Beitrag, den er über Twitter veröffentlicht hatte, retweetet. Oliver war sich sicher, einem Thema auf der Spur zu sein, mit dem sich viele Menschen in der Stadt herumschlugen. Warum wurden in Hamburg immer wieder Kinder vernachlässigt, gequält, verhungern gelassen, zu Tode geschüttelt? Und es war wichtig zu fragen: Seit wann hatte das Jugendamt Kenntnis davon, dass das Kindeswohl in Problemfamilien bedroht war? Hatte das Jugendamt, wenn ein Kind verletzt wurde oder zu Tode kam, schlampig gearbeitet? Oliver wollte die nötigen Fragen so formulieren, dass sich seine Leser nicht genüsslich zurücklehnen konnten angesichts des Grusels, sondern sich selbst fragen mussten: Warum setzen wir uns nicht stärker dafür ein, dass der Reichtum unserer Stadt gerechter verteilt wird? Wie kann es angehen, dass Eltern oder Alleinerziehende dauerhaft überfordert sind? Dass sie nicht mehr wissen, wie sie den Ansprüchen begegnen sollen, die Heranwachsende jeden Tag, jeden Moment stellen: an ihre Zuwendung, ihre Fürsorge, ihre oft nicht vorhandene Zeit, ihr noch weniger vorhandenes Geld?

All diese Fragen hatten ein brisanteres Gewicht bekommen seitdem Oliver das Sterben des kleinen Mädchens mit ansehen musste. 

Und damit auch an seine eigene Schuld erinnert wurde. Seitdem versuchte er, die inneren Bilder zu bannen. 

Hatte an der Max-Brauer-Allee jemand sein Kind loswerden wollen? Auf derartig furchtbare Weise? War das kleine Mädchen bewusst der Gefahr ausgesetzt worden, in einen Unfall verwickelt zu werden? Oder noch schlimmer: Hatte hier eine überforderte Mutter, ein überforderter Vater ein Kind „entsorgt“?

Diese Fragen waren da. Sie mussten gestellt werden. Selbst wenn es keinen Anhaltspunkt gab. Es kam einfach zu oft vor, dass Kinder von Hochhausbalkons stürzten, zu Tode geschüttelt oder in Kühltruhen gefunden wurden.

War bei diesem Unfall ein solcher Hintergrund vorstellbar?

Natürlich war das vorstellbar. 

Oliver zündete sich eine neue Zigarette an.