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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einführung und Überblick
I. Kapitel: Ethische Pflichten
II. Kapitel: Verantwortung: individuell, kollektiv, global
III. Kapitel: Kommunitarismus versus Kosmopolitismus
IV. Kapitel: Internationale Gerechtigkeit: die globale Herausforderung
V. Kapitel: Ethische Aspekte der Armutsmigration
VI. Kapitel: Ethische Aspekte der Kriegs- und Bürgerkriegsmigration
VII. Kapitel: Ethische Aspekte der Wirtschaftsmigration
VIII. Kapitel: Sieben ethische Postulate für die Migrationspolitik
IX. Kapitel: Legitimation von Grenzen
X. Kapitel: Auf dem Weg zu einer gerechteren Welt
Nachwort: Verfestigungen und Verflüssigungen
Anhang
Anmerkungen
Über den Autor
Impressum

Einführung und Überblick

Der folgende Essay befasst sich mit ethischen Fragen eines uralten Menschheitsphänomens, nämlich dem der Migration. »Ethik« ist dabei weit gefasst. Alles, was mit Wertungen und Normen zu tun hat, mit dem Sollen und nicht lediglich mit dem faktischen Sein, gehört in diesem weiten Verständnis zur Ethik. Politische und kulturelle Aspekte der Thematik werden immer dann einbezogen, wenn diese für die normative Beurteilung relevant sind. Die interessanteste Frage der Politik ist: Was sollen wir (politisch) tun? Im Zentrum des Politischen steht das Normative. Auch diejenigen, die nichts davon wissen wollen, die meinen, dass man sich über normative Fragen nicht verständigen könne, dass alles kulturell oder gar subjektiv sei, nehmen, ob sie wollen oder nicht, normativ Stellung. Verdeckte Normativität ist aber weit problematischer als offenkundige. Wenn etwa der Streit um die Wahl des richtigen Paradigmas einer sozialwissenschaftlichen Studie Ausdruck differierender politischer Präferenzen ist, dann sind wir mit einem Rationalitätsproblem konfrontiert. Die normative Dimension kann und sollte man aus der Wissenschaft nicht heraushalten, aber man muss sie explizit machen und darf sie nicht verschleiern.

Über Werte und Normen kann man klar reden, man kann ihre Grundlagen offenlegen, ihre wechselseitigen Zusammenhänge analysieren und eigene normative Stellungnahmen rechtfertigen. Die Differenz zwischen Physik und Philosophie ist, was das wissenschaftliche Rationalitätsideal angeht, kleiner, als weithin angenommen wird, auch wenn die jeweiligen Methoden unterschiedlich sind und eine künstliche Angleichung der Methoden vielleicht einen Prestigegewinn, aber nur selten einen Erkenntnisgewinn erbringt. »Es zeichnet den Gebildeten aus, dass er nur das Maß an Genauigkeit verlangt, das dem Gegenstande angemessen ist«, meint Aristoteles in der Nikomachischen Ethik und fügt dem die These hinzu, dass die praktischen Wissenschaften immer nur nach dem Umriss (kata typon) vorgehen könnten, weil sie ansonsten ihrem Gegenstand nicht gerecht würden.6 Wir folgen Aristoteles noch in einem anderen Punkt, nämlich dass das Normative einheitlich sei7, dass man zwischen Ethik, Recht, Politik und Ökonomie keine scharfe Trennung vornehmen kann.8 Kulturelle, politische und ökonomische Aspekte der Migration werden in diesem Essay nicht um ihrer selbst willen, sondern im Hinblick auf die normative Beurteilung, die Stellungnahme dazu, was zu tun ist, erörtert.

Nach meinem Verständnis tritt die ethische Beurteilung nicht von außen an die politische, kulturelle oder individuelle Praxis heran, sondern sie bleibt integraler Teil davon. Es gibt keinen archimedischen Standpunkt außerhalb der geteilten menschlichen Lebensform, zu der unsere Fähigkeit, die jeweilige Handlung oder die jeweilige Überzeugung gegenüber kritischen Nachfragen zu begründen, gehört. Diese Begründungen enden nicht in einem philosophisch wie-auch-immer-erst-noch zu rechtfertigenden Prinzip, sondern in dem, was wir vernünftigerweise nicht mehr bezweifeln können, weil es zu den Selbstverständlichkeiten unserer menschlichen Praxis gehört. Nun gibt es zweifellos Differenzen zwischen Individuen, aber auch zwischen Kulturen, sozialen Gemeinschaften, politischen Ordnungen hinsichtlich dessen, was zu diesem Unhinterfragbaren, zum Selbstverständlichen, zum Essenziellen der jeweils geteilten Lebensform gehört. Aber auch innerhalb einer, in der Regel kaum problematisierten, geteilten Praxis kann es Urteilsdifferenzen geben. Was dem einen als selbstverständlich erscheint, erscheint dem anderen als völlig abwegig. Wir versuchen dann zu klären, welche Gründe überwiegen, welche Rechtfertigungen eher überzeugen können. Dies geschieht nicht in den dünnen Sphären reiner Philosophie, sondern immer in Anbindung an das, was uns allen, Philosophen wie Nichtphilosophen, als selbstverständlich erscheint. Die Philosophie darf sich nicht in eine splendid isolation begeben.

Wenn ich im Folgenden versuche, eine Ethik der Migration zu entwickeln, dann in diesem – kohärentistischen – Rahmen.9 Jedes Argument, das wir vortragen, hat seine letzte Rechtfertigung nicht in den Postulaten der einen oder anderen ethischen Theorie, sondern in der Praxis normativer Stellungnahmen, die wir teilen. Ethik und Philosophie generell sind nur eine Fortführung dieser Praxis, sie versuchen, einen Beitrag zu ihrer Systematisierung zu leisten, und nicht, aus dieser auszusteigen, sie zu zerstören oder neu zu konstruieren.

Dieses kohärentistische Ethikverständnis verbindet sich bei mir allerdings mit einem ungewöhnlichen Element, nämlich einer Interpretation moralischer Gründe, die man heute meist als »realistisch« bezeichnet. Gemeint ist, dass die moralischen Gründe, die wir vorbringen, nicht als Ausdruck subjektiver Stellungnahmen allein interpretiert werden können, sondern immer auch als Überzeugung, dass dieser Grund tatsächlich in der entsprechenden Situation für jene Handlung spricht. Dieses »tatsächlich« ist natürlich Gegenstand heftiger Debatten in der Philosophie von jeher. Gegenwärtig erleben wir einen neuen Höhepunkt in der Auseinandersetzung um den sogenannten ethischen Realismus, der Anfang des letzten Jahrhunderts durch Max Weber einerseits und das Entstehen der analytischen Philosophie andererseits als endgültig erledigt galt. Allerdings sind die Neuauflagen des ethischen Realismus fast durchgängig naturalistisch, das heißt, sie versuchen, normative Fragestellungen letztlich in bloß empirische zu übersetzen. Ich bin dagegen ethischer Realist, ohne Naturalist zu sein, und habe da nur wenige Verbündete in der zeitgenössischen Philosophie – Ronald Dworkin und Thomas Nagel gehören zu diesen philosophischen »Verbündeten«. Gründe können zutreffen unabhängig davon, welche Meinungen und Präferenzen ich habe oder andere Personen haben oder auch rationale Personen als Ergebnis eines idealen Diskurses hätten. Es gibt gute und schlechte Gründe, und was ein guter und was ein schlechter Grund ist, geht nicht auf in dem, was wir jeweils meinen oder präferieren. Der Subjektivismus in den radikalen individuellen Varianten, aber auch in den vorsichtigeren, kulturellen oder kollektiven, kann mich nicht überzeugen.10 Vielmehr versuche ich herauszufinden, was wir tun sollten, nicht das, was allgemein befürwortet wird, auch nicht das, was eine ideale Diskursgemeinschaft akzeptieren würde, sondern das, was tatsächlich zu tun ist.

Viele werden meinen, dass diese beiden Merkmale der Ethik, wie ich sie verstehe, nicht zusammenpassen: zum einen die vorsichtige Systematisierung der von uns (wie immer wir dieses »uns« abgrenzen) geteilten Gründe auf der einen Seite und die realistische Interpretation moralischer Gründe als etwas Objektives, vom subjektiven Vermeinen des Einzelnen und der Kollektive Unabhängiges. Da dieses sowohl kohärentistische als auch realistische Verständnis von Ethik aber für den weiteren Gang der Argumentation wesentlich ist, gehe ich darauf in einem ersten Kapitel näher ein, das allerdings von denjenigen, die sich für die philosophischen Hintergründe nicht interessieren, überschlagen werden kann. Meine Hoffnung ist, dass sich die hier zur Anwendung kommende philosophische Methode gewissermaßen in der Praxis der Argumentation bewährt.

Das zweite Kapitel befasst sich mit individueller, kollektiver (politischer) und globaler Verantwortung. Dazu ist es zunächst erforderlich, den Verantwortungsbegriff selbst zu klären und von den charakteristischen Entstellungen, für die auch die zeitgenössische philosophische und ökonomische Theorie zumindest teilweise verantwortlich ist, frei zu machen. Der von mir vertretene Verantwortungsbegriff konkretisiert die kohärentistische philosophische Methode, die im ersten Kapitel geschildert wird.11 Wir schreiben Verantwortung in demselben Sinne zu, in dem wir das in unserer lebensweltlichen Praxis tun. Wir postulieren keinen hochgespannten philosophischen oder ökonomischen Verantwortungsbegriff, der sich als Alternative zur lebensweltlichen Praxis versteht.

Tatsächlich liegt ein solcher überspannter Verantwortungsbegriff in der zeitgenössischen rationalen Entscheidungstheorie vor, der in der Philosophie durch eine an David Hume orientierte Metaphysik gestützt wird. Demnach sind es die zum jeweiligen Zeitpunkt kausal wirksamen Wünsche (desires), die zusammen mit den jeweiligen Kenntnissen (epistemic states) der handelnden Person eine Entscheidung verursachen. Dieser Zusammenhang gilt dann als rational, wenn die getroffene Entscheidung den Erwartungswert des subjektiven Nutzens maximiert. Verantwortung wird damit auf Folgenverantwortung und die Bewertung der Folgen auf den subjektiven Nutzen der handelnden Person reduziert. Beide Reduktionen führen zu einem ethisch inakzeptablen Verantwortungsbegriff, der weitab von der allseits geteilten Praxis der Rechtfertigung von Handlungen liegt.

Es sind die Gründe, die für oder wider eine bestimmte Praxis sprechen, denen wir uns stellen müssen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, hinsichtlich derer wir uns zu rechtfertigen haben. Darin besteht unsere Verantwortung: Gründe vernünftig abzuwägen, eigene Interessen mit den Interessen anderer in ethisch akzeptabler Form abzugleichen und die eigene Praxis in eine gerechtfertigte Struktur kollektiver (politischer, sozialer, kultureller) Praxis einzubetten. Um zu klären, was eine verantwortliche individuelle, kollektive oder auch globale Praxis ist, ist das Gesamt der Interessenlagen und Handlungsbedingungen einzubeziehen, aus denen wir dann die Gründe entwickeln, die für oder gegen eine Praxis sprechen. Verantwortung bestimmt sich nicht ex ante aufgrund eines ethischen Postulats, sondern ex post aufgrund der Berücksichtigung empirischer Bedingungen und der Abwägung normativer Gründe.

Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, um sich mit der Frage der globalen Verantwortung auseinanderzusetzen. Dass wir – jeder von uns – für die Entwicklung der Welt (mit)verantwortlich sind, wird weithin akzeptiert. In merkwürdigem Kontrast dazu steht die politische Praxis. So war es in den vergangenen Jahrzehnten nicht möglich, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, was die Gefährdung des Weltklimas durch den Verbrauch fossiler Ressourcen betrifft, in eine verantwortliche globale Praxis zu überführen. Eine Vielzahl internationaler Konferenzen hat eine Reihe von Postulaten hervorgebracht, aber keine kohärente Praxis. Offenbar gerät die nationalstaatlich fokussierte politische Verantwortung in einen fundamentalen Konflikt mit globaler Verantwortlichkeit. Dies wirft die Frage nach der kosmopolitischen Perspektive auf. Darunter verstehe ich eine Sichtweise, die die nationalstaatlichen politischen Grenzen überschreitet und auf eine Institutionalisierung globaler Praxis zielt. So wie die einzelstaatlichen Politiken an Institutionen gebunden sind, die erst die Überführung von Einsichten in verbindliches politisches Handeln über Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung ermöglichen, so spricht vieles dafür, dass globale politische Verantwortlichkeit ohne einen institutionellen Rahmen nicht realisierbar ist.12

An dieser Stelle konfligieren allerdings zwei philosophische Paradigmen: Das eine setzt auf die Zugehörigkeit zu kulturellen und politischen Gemeinschaften, um Loyalität, kollektive Praxis und Zusammenhalt zu ermöglichen, und das andere setzt auf universelle Prinzipien, deren Motivationskraft auf der gemeinsamen Einsicht in die Freiheit und Gleichheit aller Menschen, ihre gleiche individuelle Würde, die Gleichrangigkeit ihrer Interessen gestützt ist. Während die Kommunitaristen die Ethik an die Praxis der Kooperation und geteilte kulturelle Werte knüpfen, vertrauen die Universalisten (und Kosmopolitisten) auf das normative Prinzip gleicher menschlicher Würde. Die einen sind gegenüber ethischen Verantwortlichkeiten jenseits der kulturellen Gemeinschaft und jenseits des Nationalstaates skeptisch, die anderen neigen dazu, die besonderen Verpflichtungen gegenüber Nahestehenden, gegenüber der Gemeinschaft, der man sich angehörig fühlt, gegenüber dem Nationalstaat abzuwerten. Diese hier arg vergröberte Gegenüberstellung steht freilich quer zu den politischen Fronten, und es wäre eine ebenso grobe Fehleinschätzung, die Universalisten jeweils »links« und die Kommunitaristen jeweils »rechts« im politischen Spektrum einzuordnen.

Im dritten Kapitel werde ich zeigen, wie sich der Gegensatz zwischen Kommunitarismus und Kosmopolitismus, zwischen Partikularismus und Universalismus überwinden lässt. Diese Überwindung wird so radikal ausfallen, dass man sich am Ende vielleicht fragen wird, wie es überhaupt zu diesem Gegensatz kommen konnte. Dabei wird die kohärentistische philosophische Methode eine wichtige Rolle spielen.

Das vierte Kapitel wendet sich den empirischen Bedingungen globaler Praxis zu. In welchem Zustand ist die Welt, in der wir heute leben, wie hat sie sich in den letzten Jahren entwickelt, und wie wird sie sich in Zukunft vermutlich weiterentwickeln? Kann dieser Zustand verantwortet werden? Kann speziell verantwortet werden, dass trotz der Verfügbarkeit ausreichender Ressourcen ein Großteil der Weltbevölkerung in bitterster Armut lebt, dass die Zahl der Menschen, die chronisch unterernährt sind, trotz des beachtlichen Wachstums der Weltwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten kaum gesunken ist, dass die sozioökonomischen Unterschiede innerhalb der Staaten fast überall dramatisch gestiegen sind und die globalen sozioökonomischen Unterschiede, wenn man den Sondereffekt China herausrechnet, ebenfalls kontinuierlich ansteigen? Ist die Entkoppelung von ökonomischer Prosperität und sozialem Ausgleich, wie wir sie seit dem Ende der 1970er Jahre weltweit erleben, politisch verantwortbar? Welche ethischen Postulate ergeben sich aus dieser Zustandsbeschreibung der Weltgesellschaft? Wir nehmen also eine kosmopolitische Perspektive ein, um ethische Postulate globaler politischer Praxis zu entwickeln.

Damit ist das zentrale Argument des Essays vorbereitet: Die Aufnahme von Armutsflüchtlingen aus dem globalen Süden in den reichen Ländern des globalen Nordens, also in Nordamerika und Europa, ist kein vernünftiger Beitrag zur Bekämpfung von Weltarmut und Elend. Dies liegt zum einen am selbst für den Einzelnen sehr hohen Aufwand für die transkontinentale Wanderung, einschließlich der Gefahr, dabei ums Leben zu kommen, es liegt aber auch an den Integrationskosten im aufnehmenden Staat, an dem kulturellen Verlust der Migrierenden und vor allem an den sozioökonomischen Verlusten der in den Elendsregionen Zurückgebliebenen. Ich spreche mich also aus kosmopolitischen und humanitären Erwägungen gegen eine Politik der offenen Grenzen zur Bekämpfung des Weltelends aus.

So eindeutig diese ethische Stellungnahme ausfällt, so differenziert stellt sich jedoch die Problemlage insgesamt dar. Nicht allein, weil es ganz unterschiedliche Wanderungsmotive gibt, die sich teilweise überlagern, sondern auch, weil die aufnehmenden Staaten in eine genuine Dilemmasituation geraten: Die Gleichbehandlung der Ankommenden ist mit der Gleichbehandlung der Aufbrechenden unvereinbar. Die Bürgerkriegssituation in weiten Teilen der sogenannten MENA-Region (Middle East & North Africa), die unmittelbar an Europa im Süden und Osten anschließt, wirft andere ethische und völkerrechtliche Fragen auf als die afrikanischen Armutsregionen südlich der Sahara. Darauf gehe ich in einem eigenen fünften Kapitel ein. Die zentrale ethische Problematik im Falle von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen besteht darin, dass die Integration der Migrierenden in der Regel nicht sinnvoll ist. Eine substanzielle Integration auf dem Arbeitsmarkt, in die Bildungseinrichtungen, in Kultur und Sprache des aufnehmenden Landes bedarf einer Langzeitperspektive, also eines dauerhaften Verbleibs der Geflohenen im aufnehmenden Land. Der Sinn der Aufnahme von Bürgerkriegs- und Kriegsflüchtlingen ist es aber, vorübergehend Schutz zu bieten, um dann möglichst rasch nach Beendigung des Krieges eine Rückkehr und die Unterstützung des Wiederaufbaus des Heimatlandes möglich zu machen. Hier geraten wir zum zweiten Mal in einen Konflikt mit der üblichen Flüchtlings-Rhetorik, jedenfalls in Deutschland.

Länder, die dem Phänomen der sogenannten demografischen Schrumpfung ausgesetzt sind, freunden sich mit einer kontrollierten Einwanderung an, um wirtschaftliche und soziale Verwerfungen abzumildern. Daneben praktizieren Länder ohne deutliche demografische Schrumpfung, aber mit großen territorialen und natürlichen Ressourcen, wie Kanada oder Australien, eine gezielte Einwanderungspolitik, orientiert an den wirtschaftlichen und sozialen Eigeninteressen des Landes. Auch in Deutschland wird eine solche Politik als Alternative zur politisch (Asylrecht) oder humanitär (Genfer Flüchtlingskonvention) motivierten Einwanderung diskutiert. So sinnvoll es ist, die Wanderungsströme weltweit zu kanalisieren und nach begründeten Kriterien zu steuern, so muss man doch diese Form der Migrationspolitik aus kosmopolitischer und humanistischer Sicht als hochproblematisch ansehen. Sie führt zu einem massiven Verlust an Innovationskraft in den Ländern, aus denen die hoch qualifizierten Einwanderer kommen (Braindrain), und macht staatliche und bürgerschaftliche Bildungs- und Qualifizierungsanstrengungen oft zur Makulatur. Wer, wenn nicht die Hochqualifizierten in den ärmeren Ländern der Welt könnte dort eine eigenständige, vitale Entwicklung vorantreiben? Zweifellos gibt es auch positive Aspekte der Wirtschaftsmigration im Interesse der aufnehmenden Staaten, auch für die ärmeren Regionen der Welt, per Saldo kommen wir aber in der Beurteilung der Wirtschaftsmigration im siebten Kapitel zu einem kritischen Befund.

Nach dieser Einschätzung dreier Formen der Migration, deren Übergänge fließend sind, stellt sich die Frage nach den generellen ethischen Kriterien wünschenswerter und legitimer Migration. Was wünschenswert ist, soll dabei nicht aus der Perspektive des staatlichen oder ökonomischen Eigeninteresses der aufnehmenden Länder, auch nicht aus der Perspektive einer sozioökonomischen Klasse, auch nicht aus der eines besonderen politisch-kulturellen Milieus, sondern kosmopolitisch beurteilt werden. Wie stellen wir uns eine humane und wohlgeordnete Weltgesellschaft vor? Welche Rolle spielt darin politische und soziale Gerechtigkeit? Erst in einem solchen ethischen Rahmen lässt sich klären, nach welchen Kriterien globale Migration zu organisieren ist.

Zu den kosmopolitischen Kriterien einer humanen Migrationspolitik gehört das Schädigungsverbot gegenüber den Zurückgebliebenen, den Ländern, Kulturen und Regionen, aus denen die Migranten in die reichen Länder streben. Dies gilt für jeden der drei Grundtypen der Migration. Im Hinblick auf die Braindrain-Problematik müssen die aufnehmenden, von der Einwanderung profitierenden reichen Länder, Gesellschaften und Ökonomien auf entsprechende Kompensationszahlungen verpflichtet werden. Erste Modelle sind gegenwärtig schon in der Diskussion.13

Zu den kosmopolitischen Kriterien gehört aber auch die Sozialverträglichkeit der Einwanderung in die reicheren Länder. Der im Laufe von eineinhalb Jahrhunderten in den industrialisierten Ländern erkämpfte Standard sozialer Sicherheit und die Praxis, einen sozialen Ausgleich zu organisieren, der der Tendenz ökonomischer Märkte zur Ungleichverteilung entgegenwirkt, darf nicht außer Kraft gesetzt werden. Dies hängt zunächst von den Quantitäten, aber auch von der Zusammensetzung der Immigrierenden ab. Konflikte zwischen dem ethischen Kriterium der Sozialverträglichkeit und dem der Nichtschädigung der Ursprungsländer sind zu erwarten. Eine einfache ethische Auflösung dieser Konflikte ist vermutlich nicht möglich, hier ist jeweils politische Urteilskraft gefragt. In diesem achten Kapitel aber findet sich der Versuch, die bisherigen Fäden der Argumentation zu einer kohärenten Liste von Kriterien zusammenzuführen, die der Migrationspolitik in Deutschland, in Europa, aber grundsätzlich auch global Orientierung geben kann.

Kapitel neun setzt sich mit der grundsätzlichen politisch-philosophischen Frage auseinander, ob staatliche Grenzen und ihre Sicherung ethisch legitim sind. Angesichts der weltweiten Praxis von Nationalstaaten, Grenzen aufrechtzuerhalten und zu sichern, mag diese Frage trivial erscheinen. Dass sie es nicht ist, zeigt ein Blick in die zeitgenössische sozialwissenschaftliche und philosophische Literatur. Hier überwiegt seit einigen Jahren die Auffassung, dass staatliche Grenzen zwar auf absehbare Zeit nicht verschwinden werden, dass sie aber im Prinzip ein Hindernis darstellen für eine effiziente Weltwirtschaft und für den humanen Ausgleich der Interessen. Politisch berühren sich in dieser Fragestellung die Extreme: Die libertär gesinnten Neokonservativen der USA halten staatliche Grenzen grundsätzlich für ein Hindernis der Entfaltung ökonomischer Dynamik, aber auch die politische Linke in den USA und in Europa befürwortet eine Politik der Grenzöffnung gegenüber Migranten. Das Interesse von Wirtschaftsunternehmen an billigen Arbeitskräften und einer Absenkung des Lohnniveaus durch Einwanderung in den sogenannten Industrieländern korrespondiert mit einer humanitär motivierten Kritik staatlicher Grenzregime im ökoliberalen, aber auch im linken (in der US-Terminologie: radical) politischen Milieu.

Dieser Essay entwickelt schließlich eine kosmopolitische Argumentation für die Legitimation, ja Unverzichtbarkeit staatlicher Grenzen und ihrer Sicherung. Die Argumentation des neunten Kapitels beruht auf der These, dass das Menschenrecht auf kollektive Selbstbestimmung sich nur im Rahmen staatlicher Institutionen realisieren lässt, nicht in lockeren, sich immer wieder neu bildenden, ephemeren Gemeinschaften. Der Krypto-Anarchismus, der sowohl links als auch rechts der politischen Mitte heute weit verbreitet und ein Beleg für den ideologischen Erfolg von dreißig Jahren libertärer Indoktrination ist, würde in letzter Konsequenz zur Auflösung politischer Praxis führen. Ich bin dagegen ein Anhänger des Primats des Politischen, bei allem Respekt gegenüber der Rationalität ökonomischer Märkte und der Bedeutung kultureller Zugehörigkeiten. Ich befürworte das Primat des Politischen aus ethischen und kosmopolitischen Gründen. Das, was sich in den letzten Jahrhunderten in Teilen der Welt als sogenannter Nationalstaat14 etabliert hat, ist nicht die einzige Form, um politische Gestaltungskraft zu sichern. In jedem Fall aber muss sichergestellt sein, dass die politische Praxis durch staatliche Institutionen, seien sie lokal, regional, nationalstaatlich, transnational oder global, gesichert ist. Die kosmopolitische Perspektive, für die ich werbe, darf sich nicht gegen politische Selbstbestimmung richten, sondern muss diese in die Perspektive einer föderalen und humanen, das heißt an den Menschenrechten orientierten, gerechteren Ordnung der Welt integrieren, die im letzten Kapitel erörtert wird.

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Vorwort

Die europäische Flüchtlingskrise mit ihrem Höhepunkt in den Monaten September 2015 bis März 2016 scheint vielen Beobachtern unterdessen weitgehend behoben zu sein. Die Zahl der Immigranten ist deutlich zurückgegangen, die Schließung der Balkanroute und die Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei wirken. Die Lage scheint sich zu beruhigen, und die politischen Aufgeregtheiten lassen nach. Man darf sich jedoch von dieser Entwicklung nicht täuschen lassen. Die Fluchtursachen bestehen fort, die Situation in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten hat sich nicht beruhigt, und Millionen Menschen in Afrika südlich der Sahara hoffen darauf, ihr Land verlassen zu können, wenn sich die politische, ökonomische und soziale Lage nicht deutlich bessert. Es ist zu erwarten, dass sich die Versuche, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, wieder verstärken werden und der Migrationsdruck eher zu- als abnehmen wird.

Die Bundesregierung hat unterdessen eine Kehrtwende vollzogen. Von »Willkommenskultur« ist kaum noch die Rede, Abschiebungen werden ausgeweitet, und das Aufenthaltsrecht wird restriktiver gehandhabt. In den USA beabsichtigt der frisch gewählte Präsident, eine Mauer zu Mexiko zu bauen, viele Millionen illegale Einwanderer auszuweisen und die Einreise aus einer Reihe muslimischer Staaten vollständig zu unterbinden. Die Einwanderungspolitik ist weltweit zu einem zentralen Thema geworden.

Der Streit um Globalisierung, um Freihandel und Sozialstaatlichkeit verschärft sich in den westlichen Ländern, diesseits und jenseits des Atlantiks. Der Rechtspopulismus setzt auf die Mobilisierung der einwanderungskritischen Bevölkerung, liberale Kräfte halten dagegen und betonen die Einheit von wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung, sie befürworten nicht nur den freien Fluss der Güter und Dienstleistungen, sondern auch einen von staatlichen Grenzen nicht beschränkten Arbeitsmarkt.

In dieser Situation ist es notwendig, über die Rolle staatlicher Grenzen neu nachzudenken und die ethischen Aspekte von Migration und Einwanderungspolitik zu diskutieren. Die politische Praxis und der öffentliche Diskurs befinden sich ganz offenkundig in einer Orientierungskrise, die sich zu einer Gefährdung der liberalen und sozialen Demokratie auswachsen kann, wie die Wahlerfolge rechtspopulistischer Kräfte belegen.

Die Flüchtlingskrise zwingt zu gedanklicher Klarheit, die nur zu haben ist, wenn man sich von lieb gewonnenen Dogmen verabschiedet. In diesem Essay soll eine Brücke zwischen Ethik und Politik geschlagen werden, die im günstigsten Fall dazu beiträgt, die gegenwärtige Orientierungskrise zu beenden.1 Wer sich auf diese Brücke begibt, geht keinen einfachen Weg. Man kann sie nur betreten, wenn man bereit ist, die eigenen Vorurteile einer kritischen Prüfung zu unterziehen und empirische wie normative Fakten anzuerkennen.

Es war beeindruckend zu sehen, in welchem Maße die einheimische Bevölkerung in Deutschland während der Flüchtlingskrise Hilfsbereitschaft zeigte. In meiner Heimatstadt München, für einige Monate Ende 2015/ Anfang 2016 das Nadelöhr der Immigration, war sie besonders ausgeprägt und die Gegenbewegung aus PEGIDA und Nahestehenden auffällig schwach. Ohne die Hilfe der zahlreichen Freiwilligen, ohne die Spendenbereitschaft, die Pflegeeltern für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge etc. wäre die im Ganzen beachtlich humane Aufnahmepraxis in Deutschland in jenen Monaten nicht zu bewältigen gewesen. Diese »Willkommenskultur« bleibt ein großes Verdienst von Staat und Zivilgesellschaft. Dies anzuerkennen, steht nicht im Widerspruch damit, dass Migration in dieser Form und diesem Umfang nicht das geeignete Mittel ist, um auf Armut und Not zu reagieren, und dass eine Politik der offenen Grenzen nicht nur das aufnehmende Land längerfristig vor große Probleme stellen, sondern auch erfolgreichere Methoden der Bekämpfung von Not und Elend im globalen Süden blockieren würde.

Es ist ein Skandal, dass nach wie vor über zwei Milliarden Menschen der Erdbevölkerung in extremer Armut verharren, unter Hunger und Unterernährung, fehlender medizinischer Versorgung, fehlenden Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten leiden2, obwohl die Weltwirtschaft boomt und es mit einem winzigen Bruchteil der weltweiten Wirtschaftsleistung (0,5%) möglich wäre, dieses Unglück zu beheben. Den betroffenen Menschen aus den Armutsregionen der Welt fehlen jedoch die Mittel, um nach Europa oder in die USA zu migrieren. Der größte Teil der Flüchtlingsströme der Welt hält sich im lokalen Rahmen.

Zu den unangenehmen Tatsachen gehört, dass die Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa, speziell nach Deutschland, auch Folge eines vom Westen mit zu verantwortenden politischen Chaos in Nordafrika und im Nahen Osten sind. Vor allem der Irakkrieg, die Unterstützung der syrischen Opposition, die Destabilisierung der nordafrikanischen Diktaturen, der neue Religionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten samt all der zahlreichen örtlichen Konflikte haben eine Weltregion in eine tiefe Krise geführt, deren wirtschaftliche Entwicklung auch wegen autoritärer Herrschaftsstrukturen zwar über Jahrzehnte stagnierte, die aber doch von einem im Vergleich zu weiten Regionen Afrikas und Südasiens gehobenen Lebensstandard und Bildungsniveau geprägt war.

Die Hoffnung, dass eine Demokratisierung der Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens die sozialen und kulturellen Konflikte mäßigen könnte, hat sich bislang als trügerisch erwiesen. Der letzte Auslöser der Flüchtlingskrise war jedoch die mangelnde internationale Solidarität gegenüber den Anrainerstaaten, die die Bürgerkriegsflüchtlinge teilweise in sehr großen Zahlen aufgenommen hatten (Libanon, Jordanien, Türkei, nicht dagegen die Golfstaaten). Auch Deutschland hatte es an der gebotenen Solidarität fehlen lassen, sogar gegenüber den südeuropäischen Zielländern der Flüchtlinge aus dem arabischen Raum und Afrika, wie Italien, Spanien und Griechenland, also EU-Mitgliedsländern.

Zu den unangenehmen Tatsachen gehört, dass das Elend von über zwei Milliarden Menschen auch unter den Bedingungen großzügigster Willkommenskultur und offener Grenzen in den reichen Ländern dieses Globus nicht nennenswert zu mildern wäre. Schlimmer noch: Diejenigen, die ihre Familie zurücklassen, die sich auf einen beschwerlichen und oft gefährlichen, immer aber kostspieligen Weg in die nördlichen Gefilde machen, gehören in aller Regel zu den Jüngeren, den Qualifizierteren, die in den Heimatländern dringend benötigt werden. Die Hoffnungslosigkeit der Lage in den Herkunftsregionen verstärkt sich durch ihre Auswanderung in den meisten Fällen.

Die Tatsache, dass Auswanderung auch positive Effekte in den Herkunftsregionen haben kann, in Gestalt der Unterstützung zurückgebliebener Familienmitglieder, in Form neuer Kooperations- und Mobilitätsmöglichkeiten, auch als Kompetenzgewinn durch Rückkehrer, darf den Blick auf die großen Zusammenhänge nicht verstellen. Diese positiven Effekte treten in einer Welt weitgehend geschlossener Grenzen auf, die transkontinentale Migration auf einen sehr kleinen Prozentsatz der Weltbevölkerung beschränken. Eine Welt mit offenen Grenzen und freier Migration würde zu gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen führen, die selbst die sogenannte Völkerwanderung der Spätantike in den Schatten stellen würde. In den Herkunftsregionen aller massiven Migrationsbewegungen in der Vergangenheit waren die Wirkungen überwiegend negativ. So haben sich ganze Landstriche des europäischen Südens von der massiven Auswanderung in beide Amerikas über Jahrzehnte nicht erholt, oder, um ein Beispiel aus der jüngsten deutschen Geschichte zu nehmen: Die Entvölkerung weiter Teile Ostdeutschlands infolge jener ökonomisch unklugen Schockvereinigung der vormalig getrennten deutschen Staaten ohne Übergangsfristen und Sonderwirtschaftszonen (anders als bei der Integration des Saarlandes in den 1950er Jahren) samt der Einführung einer gemeinsamen Währung und vollständiger Freizügigkeit hat dort zu Perspektivlosigkeit und Resignation beigetragen und soziale Dysbalancen geschaffen, die bis heute nachwirken und für eine lange Zeit nicht mehr korrigierbar sein werden.

Zahlreiche Intellektuelle plädieren heute im Kontext der Flüchtlingsdebatte für offene Grenzen. Dieses Plädoyer fügt sich allerdings gut in die allgemeinen Globalisierungstendenzen: Grenzenlos bricht sich ein entfesselter globaler Markt in Gestalt wachsender Mobilität der Waren und Personen Bahn.3 Erstaunlicherweise wird die Forderung nach offenen Grenzen nicht nur aus der liberalen und neoliberalen (besser: libertären) Richtung vorgebracht, sondern auch von links, selbst vonseiten vehementer Globalisierungskritiker. So wie man migrationsskeptischen Libertären und Liberalen vorhalten kann, inkohärent zu argumentieren und willkürlich einen Markt, nämlich den der Arbeit, aus dem Programm einer möglichst weitgehenden Deregulierung und Liberalisierung herauszunehmen, so kann man den linken Vertretern offener Grenzen vorhalten, dass sie sich im Migrationsdiskurs, wohl ohne sich dessen bewusst zu sein, neoliberaler Argumentationsmuster bedienen.

In diesem Essay soll der Versuch unternommen werden, ethische Aspekte der Migration einer rationalen Klärung zuzuführen und damit auch die irreführende, ja gefährliche Entgegensetzung von Ethik (»Gutmenschen«) einerseits und sogenannter Realpolitik andererseits (samt der überkommenen und irreführenden Gegenüberstellung von Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik4) zu überwinden. Um dies zu leisten, müssen wir uns von politischen Stereotypen lösen, die rechts wie links im politischen Spektrum, aber auch in der Philosophie und den Sozialwissenschaften verbreitet sind. Ein wohlbegründetes Urteil liegt häufig quer zu den üblichen Fronten der öffentlichen Debatte. Es sich zu erarbeiten, erfordert geistige und politische Unabhängigkeit, es zu vertreten gelegentlich Zivilcourage. Den Leserinnen und Lesern wünsche ich von beidem reichlich, damit die hier gesetzten gedanklichen Impulse ihre Wirkung entfalten können.

Ich danke der edition Körber-Stiftung für die wie immer reibungslose Zusammenarbeit, dort besonders Bernd Martin, Kerstin Schulz und der Lektorin Ulrike Fritzsching, für Recherchen und die Erstellung der Anmerkungen danke ich Niina Zuber und Victoria Schöffel und den Diskutanten meiner Vorträge zu dieser Thematik5 für wertvolle Anregungen und Kritik.

München, im Februar 2017

JNR

I. Kapitel:
Ethische Pflichten

Zu Beginn möchte ich die philosophische Methode vorstellen, die im Folgenden zur Anwendung kommt. Die wichtigsten philosophischen Beiträge zur Theorie internationaler Gerechtigkeit gehen in einem erkenntnistheoretischen Sinne fundamentalistisch vor. Das heißt, sie beginnen mit einem oder mehreren ethischen Postulaten, bekennen sich zu einer ethischen Theorie und leiten aus dieser Schlussfolgerungen für den Begriff und die Kriterien internationaler Gerechtigkeit ab.

Peter Singer, der vielleicht einflussreichste Ethiker der letzten Jahrzehnte, postuliert eine bestimmte utilitaristische Theorie, wonach jede einzelne Person die moralische Pflicht hat, die Summe des individuellen Wohls in der Welt und unter Einschluss aller empfindungsfähiger Lebewesen zu maximieren, und leitet daraus eine Individualmoral globaler Verantwortung ab, wonach jede Person versuchen sollte, möglichst viele Mittel zu akquirieren, um diese für Hilfeleistungen weltweit einzusetzen. »Werdet reich, um zu helfen!«, fordert Peter Singer im Einklang mit einer jüngst geradezu modisch gewordenen Praxis US-amerikanischer Milliardäre, wie Bill Gates oder Warren Buffett. Da eine Praxis der Glücksoptimierung zu einer verbreiteten Bevormundung und Kontrolle von Menschen führen würde, modifiziert er diesen Ansatz dahingehend, dass die Glücksoptimierung nur für Tiere und noch nicht vernunftfähige, das heißt genauer auf die Zukunft gerichtete Intentionen fähige, menschliche Wesen anzuwenden ist, während ansonsten die Summe der Präferenzenerfüllung zum moralischen Kriterium wird: Handle so, dass die Summe erfüllter Präferenzen in der Welt optimal ist.15 Der Titel eines seiner Bücher ist durchaus passend: One World. Gerade deshalb, weil auf diese Weise andere Menschen für unsere tägliche Praxis dadurch relevant werden, dass wir ihr Wohlergehen beziehungsweise ihre Präferenzenerfüllung beeinflussen können. Unter den Bedingungen einer globalisierten Welt verschwinden so Grenzen und Distanzen.

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