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 Über das Buch:

Lena ist nicht gerade begeistert, als Luca neu in ihre Klasse kommt. Er trägt Schnöselklamotten und weiß ständig alles besser. Ein Typ zum Abgewöhnen! Doch mit der Zeit entwickelt er sich ganz passabel - aber ist das ein Grund, sich gleich an Lenas beste Freundin ranzumachen?! Da kann Lena sich ja getrost Lucas besten Freund schnappen und das Viererkleeblatt voll machen. Aber damit ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende, denn das Liebeskarussell kommt gerade erst richtig in Fahrt ...

Titlepage

1.

Luca kam an einem sonnigen Tag im März in unsere Klasse. Ihn nicht zu bemerken oder gleich in einer Datei mit der Aufschrift unwichtig abzuspeichern war unmöglich. Ebenso gut hätte ich versuchen können meine blonden Spaghettihaare in dunkle Locken zu verwandeln, Jade in eine Giftnatter oder die Erde in einen Erdnusskeks. Luca war Halbitaliener und weder zu übersehen noch zu überhören. Er hatte tubenweise Gel im Haar, trug ein pastellfarbenes Polohemd mit hochgeklapptem Kragen und redete dröhnend, wobei er alle paar Sekunden lachte. Wie von einem inneren Meldezwang besessen zeigte er ständig im Unterricht auf, und wenn er drankam, schwafelte er ohne Punkt und Komma. Das war einerseits gut, weil uns anderen weniger Zeit blieb, uns zu blamieren, andererseits nervte es, ihm dauernd zuhören zu müssen. Keine Ähs kamen über seine Lippen, er sprach, als hätte jemand seine Gedanken vorsortiert und in druckreife Sätze gebracht. Ein Typ zum Abgewöhnen. Lackaffe. Angeber. Wahrscheinlich auch noch ein Streber. Zu allem Überfluss hatte unsere Klassenlehrerin Frau Gabowski den Jungen mit der schnieken Notebooktasche ausgerechnet hinter mich gesetzt. Ich wusste nicht mal genau, warum, aber ich fühlte mich belauert und konnte das neunmalkluge Gequatsche in meinem Rücken kaum ertragen.

»Findest du eigentlich, dass er gut aussieht?«, fragte mich Jade wenige Tage nach Lucas Ankunft in der großen Pause. Während sich unsere Klassenkameraden in jeder freien Minute neugierig um Luca scharten, wohl um herauszubekommen, was ein Halbitaliener, der bisher an der Adria gelebt hatte, in unserer langweiligen norddeutschen Kleinstadt machte, flüchteten Jade und ich lieber auf den Schulhof, hielten unsere Nasen in die Märzsonne und sahen den Schneeresten beim Schmelzen zu.

»Mittel.«

»Mittelgut oder mittelschlecht?«

»Keine Ahnung.« Irgendwie war mir der Typ so egal, dass ich nicht mal Lust hatte, auch nur einen Gedanken an sein Äußeres zu verschwenden. »Und du?«

»Er hat ein schönes Lächeln und Nutella-Augen«, erklärte Jade mit Blick auf ihre Schneeboots. Es war bloß eine Frage von Tagen, bis sie sie gegen ihre geliebten Chucks austauschen würde.

»Schönes Lächeln, von wegen ... Seine Beißer sind doch bestimmt implantierte Kunstzähne«, lästerte ich. »Haben ihm seine superreichen Eltern spendiert.«

Jade prustete los. »Und zur Strafe, weil er damit angibt, wächst er nur in Zeitlupe.«

»Vielleicht bleibt er auch bis zu seinem Lebensende ein Zwerg«, setzte ich noch eins drauf. »Ein Zwerg in Lackaffenklamotten und mit Notebooktasche.«

Wir lachten, was im Grunde ziemlich gehässig war schließlich konnte der Neue nichts für seine Körpergröße –, dann hechelten wir weitere optische Details durch, bis uns bewusst wurde, was wir da eigentlich taten. Wir vergeudeten kostbare Lebenszeit damit, uns über einen total unwichtigen Typen auszulassen. So gesehen unterschieden wir uns kein bisschen von unseren Klassenkameraden mit ihrem Lucahier-Lucada-Getue.

Also schwenkten wir auf wichtigere Themen um. Jade erzählte, dass sie und ihre Tierschutzorganisation Bloody-Girls die lediglich aus ihr selbst und zwei weiteren Mädchen aus der Parallelklasse bestand, eine Antipelzmantel-Kampagne plante. Sie wollten sich mit Theaterblut beschmierte Transparente umhängen und damit vom Schloss über den Marktplatz bis zur Fußgängerzone ziehen.

»Findest du das nicht ein bisschen übertrieben?«, fragte ich. »Wer trägt in unserem Kaff schon Pelzmäntel?«

»Die Omas?«, verteidigte sich Jade.

»Und von denen verlangst du, dass sie ihre Nerze, die sie anno dazumal gekauft haben, wegschmeißen? Mann, Jade! Davon werden die süßen Tierchen auch nicht wieder lebendig.«

Meine Freundin wickelte ihr Brot aus, das mit einer stinkenden vegetarischen Paste bestrichen war. »Ich weiß auch, dass die Omas keine Gangster sind. Es geht doch bloß darum, das Bewusstsein der Leute zu schärfen.«

»Okay, dann schärf mal«, erwiderte ich matt. Ich fand, dass meine Freundin es mit ihrem Engagement bisweilen ziemlich übertrieb. Sie guckte mich ja schon schief von der Seite an, sobald nur ein Fitzelchen Wurst aus meinem Schulbrot hervorlugte, ereiferte sich, wenn ich mich von Mama mit dem Auto zur Schule fahren ließ, und fand Leute, die sich in Flugzeuge setzten, komplett daneben. Auf einer Skala von eins bis zehn lag Jades Nervfaktor bei 6,5. Der des Neuen allerdings bei 9,5. Mindestens. Und das war weitaus schlimmer.

* * *

Als ich am frühen Nachmittag in unsere Straße bog, parkte ein Möbelwagen mit den Ausmaßen eines Schlachtschiffes in unserer Straße. Man hätte damit problemlos Elefanten, Walrosse und Dinosaurier transportieren können.

Neugierig radelte ich näher und stieg ab, um mir die auf den Bürgersteig gespuckten Möbel genauer anzusehen: eine quietschgelbe Ledercouch, zwei Sessel in Leopardenoptik, Küchenstühle in allen Regenbogenfarben, ein Couchtisch mit wuchtigen Chrombeinen, silbrig lackierte Regalbretter und Zimmerpflanzen, die aussahen, als wären sie im Urwald geklaut worden. Bei uns zu Hause gab es keinen Schnickschnack, keinen Farbschock, keine tuschkastenbunten Möbel. Alles war schlicht – Holzmöbel, eine dunkelblaue Couch –, eben zeitlos schön, wie Mama immer sagte. So konnte man auch noch in zehn Jahren wohnen, zumal wir nicht zu den Leuten gehörten, die im Geld schwammen.

Gequäke drang aus dem Innern des Wagens. Die Stimme röhrte, versemmelte die Töne, wechselte in einen schrillen Sopran, bevor es erdrutschartig in die Tiefe ging. Ich wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen – der Singsang war wirklich total daneben –, als ein dunkelhaariger Typ an der Ladeklappe auftauchte.

Luca. Der Neue. In seinem Arm hielt er einen Kaktus und sah dabei so bescheuert aus, dass ich fast schon wieder lachen musste.

»Was ... was hast da?« Eigentlich hatte ich fragen wollen, was zum Teufel er hier zu suchen hatte, aber mein Gehirn hatte meinem Sprachzentrum schlicht die falschen Informationen übersandt.

»Einen Kaktus? Ja, ich glaube, die Pflanze hier nennt man Kaktus«, antwortete Luca, indem er nur einen Mundwinkel leicht nach oben bewegte.

»Und was machst du mit dem Kaktus?«

»Einziehen. Da.« Er deutete auf den Wohnblock direkt gegenüber von uns. »Ich und mein Kaktus.«

»Du und dein Kaktus, ihr zieht da ein?«, wiederholte ich, als hätte ich plötzlich einen Dachschaden.

»Ja, genau das tun wir. Und dann leben wir glücklich bis zu unserem Lebensende. Also ich und mein Kaktus.«

»Dann mal viel Spaß mit deinem Kaktus«, sagte ich, überquerte die Straße und schob mein Rad eilig auf den Hinterhof.

Den Schock, dass der Blödmann mit der großen Klappe und den gegelten Haaren direkt bei uns gegenüber einzog, musste ich erst mal verdauen. Unser Örtchen hatte an die 30000 Einwohner, ein Schloss, ein Kino, ein Theater – wieso um Himmels willen musste der Typ ausgerechnet in meinem kleinen Universum stranden? In der Rankestraße. Dort, wo sich sonst nur Hase und Igel Gute Nacht sagten. Wütend über das Schicksal, das mir so übel mitspielte, versuchte ich mein Rad anzuschließen, doch meine Hände zitterten wie Espenlaub.

»Scheißding!«, schimpfte ich und mühte mich verzweifelt mit der Kette ab.

Ich hörte Schritte und fuhr herum. Luca war mir nachgeschlichen und grinste, als wäre ein sperriges Fahrradschloss eine total witzige Angelegenheit. »Schloss kaputt?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, gab ich unwirsch zurück. »Du singst übrigens wie ein Hund mit Vollklatsche.«

»Weiß ich. Aber die Ärzte weigern sich mir neue Stimmbänder einzusetzen.«

»Dann kauf dir welche im Discounter und tausch sie selbst aus.«

»He, he, ganz schön frech!«

»Ist angeboren. Kleiner Gendefekt«, brummte ich und wandte mich wieder dem Fahrrad zu.

Eine Weile herrschte Schweigen, dann bückte sich Luca, so dass unsere Köpfe auf einer Höhe waren. »Sorry, dein Name ist mir irgendwie entfallen«, sagte er und ich konnte seinen Spearmint-Atem riechen. »Wie, äh, wie heißt du noch mal?«

»Wie-äh-wie-heißt-du-noch-mal will jetzt nicht gestört werden. Wie-äh-wie-heißt-du-noch-mal muss jetzt nämlich dieses dämliche Rad anschließen.«

»Lass mich mal machen, Wie-äh-wie-heißt-du-noch-mal.« Bevor ich protestieren konnte, drängte Luca mich beiseite, ging vor dem Rad in die Hocke und öffnete das Schloss mit zwei Handgriffen.

»Luisa! Du heißt Luisa.« Er kam wieder hoch, die Stirn in Dackelfalten gelegt.

»Falsch.« Er, Mister Super-Brain aus Italien, hatte sich meinen Namen tatsächlich nicht gemerkt, was mich ziemlich aufregte.

»Aber es war was mit L, richtig?«

»Lena«, sagte ich, weil ich keine Lust auf Spielchen hatte.

»Lena – und weiter?«

»Keller. Das Gegenteil von Dachgeschoss.« Ich brachte den Witz lieber selbst, bevor er noch auf die Idee kam. Lena Dachgeschoss war in unserer Klasse so etwas wie ein Running Gag. Ich konnte es kaum noch hören.

Ohne die Miene zu verziehen, reichte mir Luca die Hand. So als würden wir nicht in ein und dieselbe Klasse gehen, sondern wären Geschäftspartner, die einen Deal besiegelten. »Luca. Luca Pisani.«

»Freut mich«, erwiderte ich und lächelte schmierig wie ein Ganove.

»Glaub ich dir nicht.« Luca zeigte beim Grinsen seine weißen Beißerchen, die ein bisschen künstlich aussahen. »Du findest es zum Kotzen, dass ich hier einziehe. Kann ich auch verstehen. Es ist ja deine Stadt. Deine Straße. Dein Fahrrad. Und dein Fahrradständer.«

»Mir doch egal, wo du einziehst. Solange du nicht überall deine Duftmarke hinterlässt.«

Luca lachte scheppernd. »Du bist ja doch nicht so humorlos, wie ich zuerst dachte! Hätte mich allerdings auch gewundert – bei dem süßen Jeans-Po.«

»Sehr witzig«, gab ich zurück, sauer über seine plumpe Anmache. »Und du hast zu viel Gel im Haar.«

»Wirklich?« Luca griff sich in seinen gelstarren Lockenschopf. Einen Moment lang schien er aus dem Konzept geraten zu sein.

»Vielleicht läuft man in Italien so rum«, setzte ich nach. »Hier ist das einfach nur daneben.«

»Okay, dann muss ich das wohl ändern«, erwiderte er vollkommen ernst.

»Prima. Und klapp bitte auch deinen Polokragen runter. Das sieht total dämlich aus.«

Lucas Schneidezähne blitzten auf. »Hey! Du könntest mir zur Abwechslung ruhig mal was Nettes sagen! Irgendwas muss doch auch okay an mir sein. Abgesehen von meinem talentfreien Gesang, meinen bescheuerten Gelhaaren und dem aufgestellten Polokragen.« Er zupfte daran und klappte ihn dann tatsächlich runter.

»Warum zieht ihr eigentlich ausgerechnet in die Rankestraße?«, überging ich seine Bemerkung. Er sah so sehr nach Geld aus, dass ich mich tatsächlich darüber wunderte. Die Rankestraße war nicht gerade die nobelste Gegend.

Luca hob gleichgültig die Schultern. »Zufall. Es war die erste akzeptable Wohnung, die meine Mutter übers Internet gefunden hat. Wir konnten uns von Italien aus ja nichts angucken.«

»Und wo hast du vorher gewohnt?«

»In einer Pension. Unsere Möbel sind heute erst aus Italien gekommen.«

Weil ich nicht wusste, wohin mit meinen Händen, klimperte ich mit dem Fahrradschlüssel. »Und einen Vater? Gibt’s den auch?«

»Logisch! Sonst wäre ich ja wohl kaum hier, hätte zwei Beine, zwei Arme und ein Hirn zum Denken. Und um deine Neugier zu befriedigen: Er ist in Italien geblieben.«

Wahrscheinlich hatten sich seine Eltern getrennt. Bei vielen in unserer Klasse war das so.

»Ich bin auch mit meiner Mutter allein«, sagte ich in dem plötzlichen Bedürfnis, den Blödmann trösten zu wollen.

»Deine Eltern sind geschieden?«

»Nein, mein Vater ist tot.« Ich ließ meine Stimme fröhlich klingen. »Bei einem Unfall gestorben, als ich noch klein war.«

Ich kannte das schon. Die bestürzten Mienen, wenn ich davon erzählte. Aber es war gar nicht mal so schlimm, wie es sich anhörte. Schließlich erinnerte ich mich nicht an das Leben mit meinem Vater. Wen oder was sollte ich also vermissen? Es gab nur ein paar Fotos im Fotoalbum, die mich manchmal traurig stimmten.

»Oh, das tut mir leid.« Luca bohrte seine Turnschuhspitze in den Asphalt. Wie seine edle Schultasche waren auch seine Sneakers aus Leder.

»Muss es nicht«, murmelte ich. »Schon in Ordnung.« Warum hatte ich es ihm nur erzählt? Ausgerechnet dem Neuen, der so gar keine Bedeutung in meinem Leben hatte.

»Okay, ich geh dann mal wieder zu meinem Kaktus. Aber wenn du magst ...«Er blickte zu Boden. »Vielleicht trinken wir mal eine Cola zusammen?«

»Ja, vielleicht«, entgegnete ich und fügte in Gedanken hinzu: ›Mit dir ganz bestimmt nicht. Ich brauche niemanden zum Colatrinken – und schon gar nicht einen Lackaffen wie dich.‹

2.

Es war eine Woche nach meiner denkwürdigen Begegnung mit Luca. Jade und ich saßen im Stadtcafe, tranken Latte macchiato und diskutierten hitzig.

»Natürlich gibt es die große Liebe«, sagte Jade. Sie trug eine neue grüne Tunika, angeblich aus biologischer Baumwolle.

»Aber klar!« Ich nickte übertrieben. »Genauso wie den Weihnachtsmann.«

»Ach, Lena ... Du hast ja keine Ahnung.«

»O doch«, meinte ich lässig. »Jungs wollen immer nur Sex und Mädchen verwechseln das dann mit Liebe.«

»Manchmal wollen aber auch Mädchen nur Sex und Jungs verwechseln das dann mit Liebe.«

Ich musterte sie forschend. »Klingt ja ganz so, als würdest du dich bestens damit auskennen.«

Jade ließ Zucker in ihre Latte macchiato rieseln. »Vielleicht. Ab und zu. Aber auch Jungs haben manchmal große Gefühle. Das kannst du mir glauben.«

Eigentlich waren wir zum Französischlernen hergekommen, doch die Frühlingssonne hatte uns auf andere Gedanken gebracht. Herzflattern, Schmetterlinge im Bauch, Gefühlschaos. Ich konnte mir auch ein Leben ohne den ganzen Zirkus vorstellen, aber Jade malte sich ihr künftiges Liebesleben in allen Facetten aus. Darin kamen vor: a) die große Liebe, b) Herzensbrecher Anton aus der Elf, c) leidenschaftliche Küsse mit Anton, d) die Verwandlung des oberflächlichen Anton in einen Vegetarier und Kämpfer für die Tierwelt. Nicht darin kamen vor: a) Liebe, die im Grunde keine Liebe war, b) miese Küsse mit Anton, c) Liebeskummer wegen eines Typen, dem Tiere sonst wo vorbeigingen.

»Jade, du bist echt ein hoffnungsloser Fall«, stöhnte ich. »Die Menschen reden sich bloß ein, dass es so was wie die große Liebe gibt. Weil sie die Langeweile des Lebens sonst nicht ertragen würden.«

»Da spricht ja die Expertin. Ausgerechnet die Nonne!«

Jade nannte mich manchmal so. Weil ich noch nie einen Freund gehabt hatte und auch in absehbarer Zukunft keinen wollte.

Beleidigt blickte sie aus dem Fenster. Als hätte ich versucht ihr die Gefühle für Anton madig zu machen. Vielleicht hatte ich das auch, aber wenn, dann nur, um sie zu schützen. Anton war der Falsche. Er würde Jades Herz brechen und sie danach abservieren – so wie er es mit vielen Mädchen zuvor getan hatte. Doch davon wollte sie nichts wissen. Für sie war Anton so etwas wie eine heilige Kuh und heilige Kühe schlachtete man nicht.

»Dann nenn mir mal eine große Liebe, nur eine einzige«, forderte ich sie auf.

»Romeo und Julia«, sagte Jade wie aus der Pistole geschossen und tunkte ihren Löffel in den Milchschaum.

»Zählt nicht. Das ist Literatur.«

»Okay, dann meine Eltern.«

Auch wenn es unpassend war, prustete ich los. Jades Eltern waren seit etlichen Jahren geschieden und es verging kein Tag, an dem meine Freundin nicht hoffte, dass die beiden eines Tages wieder zusammenkommen würden. Was ziemlich traurig war. Denn was auch immer sie anstellen würde: Die Uhr ließ sich nicht zurückdrehen. Und das Leben war auch keine kitschige Telenovela, in der sich die Liebenden am Ende immer kriegten.

»Trotzdem muss man deswegen ja nicht aufhören an die große Liebe zu glauben, oder?« Jade leerte ihr Glas in wenigen Zügen, dann starrte sie auf den Grund, als wäre dort das Wort Liebe eingraviert.

»Richtig. Genauso wie man immer noch drauf hoffen kann, dass gleich der Osterhase um die Ecke biegt und dir einen Heiratsantrag macht.«

»Weißt du eigentlich, wie blöd du bist?« Es gelang ihr nicht, ein böses Gesicht zu machen, und von einigen Glucksern unterbrochen fuhr sie fort: »So blöd, dass man dich eigentlich versteigern müsste. Aber dich will ja keiner. Weil du so gefühllos, stumpf und kalt wie ein tiefgefrorenes Fischstäbchen bist.«

Wir lachten, doch bei mir blieb ein flaues Gefühl in der Magengrube zurück. War ich wirklich so? Ein tiefgefrorenes Fischstäbchen? Gar nicht in der Lage, mich zu verlieben? Vielleicht. Aber selbst wenn ich insgeheim doch darauf hoffte, dass eines Tages ein paar rosarote Gefühle herbeigeflattert kamen, ich kannte keinen Jungen, der es überhaupt wert war. Die meisten wollten doch sowieso nur Sex. Verschlangen Mädchen hungrig wie ein Pausenbrot und wussten später nicht mal mehr, ob sie Wurst oder Käse gegessen hatten.

Jade taxierte mich von der Seite. »Auch auf die Gefahr hin, dass du mich für völlig bescheuert hältst – ich finde ja, du würdest ziemlich gut zu Luca passen.«

»Igitt, zu dem Lackaffen?«, rief ich aus. »Der Typ hat mich total übel angemacht!«

»Ach, komm. Insgeheim bist du doch stolz darauf, dass jemand deinen Jeans-Po süß findet.«

Natürlich hatte ich ihr alles brühwarm erzählt. Wie wir uns immer alles erzählten.

»Überhaupt nicht!«, ereiferte ich mich und musste doch zugeben, dass Jade nicht ganz Unrecht hatte. Noch nie hatte irgendjemand irgendwelche Körperteile an mir als süß bezeichnet. Geschweige denn mein Hinterteil. Trotzdem musste es nicht ausgerechnet der Lackaffe sein. Ein cooler Typ in meiner Größe wäre mir eindeutig lieber gewesen.

Jade grinste. »Stell dir bloß vor, was für niedliche Kinderlein bei euch rauskommen würden. Eine Mischung aus Fischstäbchen und Lackaffe. Ein biologisches Wunder!«

»Danke, Jade. Du bist eine ausgesprochen tolle beste Freundin«, gab ich grinsend zurück.

»Jetzt kommen wir aber zur Frage des Tages.« Sie sah mich gespannt an. »Kannst du bei dem Lackaffen ins Zimmer gucken?«

»Woher soll ich denn das wissen? Und wieso ist die Frage superwichtig? Sie ist superunwichtig! Das interessiert doch niemanden.«

Jade schnappte sich die Getränkekarte und tat, als würde sie Preise studieren. »Also wenn ich Bewohnerin deines Zimmers wäre, hätte ich das längst geprüft.«

»Du bist aber nicht Bewohnerin meines Zimmers und jetzt lass uns bitte über was anderes reden, okay? Ich steh nicht auf den Schnösel.«

»Ist es dir vielleicht peinlich, in seiner Nähe zu wohnen?«, nervte Jade weiter.

»Nein, aber lästig.«

Das stimmte. Seit sich in unserer Klasse herumgesprochen hatte, dass Luca und ich Nachbarn waren, wurde ich ständig gelöchert. Was er so in seiner Freizeit treibe. Ob er eine Freundin habe. Wie er morgens nach dem Aufstehen aussähe. Mit welcher Zahnpasta er sich die Zähne putze. Ob die Mafia bei ihm ein und aus gehe und so weiter und so fort.

Mich interessierte das alles weniger als die Schafsköttel am Deich, und nachdem ich einmal einen Schatten am Fenster gegenüber ausgemacht hatte, der verdächtig nach Luca aussah, zog ich meistens die Gardinen zu, sobald ich mein Zimmer betrat.

»Kein Grund, so allergisch auf ihn zu reagieren«, meinte Jade.

»Doch! Er ist ein Lackaffe. Hast du selbst gesagt. Ein oberflächlicher Idiot und Streber.«

»Immerhin hat er keine Tiere auf seinem Schulbrot. Ganz im Gegensatz zu dir.«

»Wenn du die Schweinsköpfe, Rinderhälften und Lammhinterteile meinst – die esse ich gerne«, ärgerte ich sie.

Doch Jade ließ sich nicht mal ein müdes Lächeln entlocken und sagte: »Was ich aber echt irre finde ... Er hört auf dich. Oder warum gelt er sich sonst nicht mehr die Haare?«

Auch das stimmte. Seit ich Luca auf unserem Hof verspottet hatte, war er keinen einzigen Tag mehr mit schmierigen Gelhaaren und hochgeklapptem Kragen in die Schule gekommen. Er trug zwar immer noch Polohemden, mintgrüne, rosafarbene und himmelblaue, aber der Kragen blieb unten und seine braunen Haare ringelten sich so, wie sie sich ringeln wollten. Was seinen Anblick um einiges erträglicher machte.

Weil ich fand, dass wir genug über den Lackaffen gelästert hatten, gingen wir lustlos zum Französischlernen über. Ich hatte es dringend nötig, denn ich war innerhalb des letzten Schuljahres von Drei auf Vier abgesackt. In Deutsch und Mathe brachte ich ebenfalls keine Glanzleistungen und in Physik stand ich sowieso auf einer glatten Fünf. Das war blamabel und lag vermutlich an meiner angeborenen Faulheit. Statt zu pauken, hatte ich nun mal mehr Spaß daran, nachmittags mit dem Rad durch die Gegend zu flitzen. Trotzdem konnte es so nicht weitergehen. Wegen Mama, wegen Jade, von der ich nicht getrennt werden wollte, aber auch meinetwegen. Kleben zu bleiben war uncool.

Als ich eine Latte macchiato später nach Hause kam, saß meine Mutter mit einer rotblonden, ziemlich aufgetakelten Frau in der Küche. Die beiden tranken Tee und aßen Plätzchen.

»Hi«, sagte ich und starrte die Frau an. In ihrem engen grünen Kleid und mit den hochgesteckten Haaren sah sie ein bisschen wie eine Filmdiva aus.

»Lena, das ist unsere neue Nachbarin, Frau Pisani«, stellte mir Mama die Frau vor. »Bei ihr im Haus ist das Wasser abgestellt.« Sie lachte verlegen auf. »Da hab ich ihr unsere Toilette angeboten.«

»Moment«, schaltete sich die Frau mit sympathischem Lächeln ein. »Ich habe geklingelt und mich einfach aufgedrängt. So war das.«

Pisani ... Neue Nachbarin ... Wasser abgestellt ... Etliche Alarmglocken schrillten gleichzeitig los. Luca hieß ebenfalls Pisani, er war genauso unser neuer Nachbar und bestimmt war auch bei ihm das Wasser abgestellt. Man musste keine Leuchte in der Schule sein, um eins und eins zusammenzuzählen: Die gestylte Frau war Lucas Mutter und aller Wahrscheinlichkeit nach würde auch der Lackaffe irgendwann klingeln und unsere Toilette benutzen wollen. »Dann mal gutes Teetrinken«, murmelte ich und huschte gleich wieder hinaus.

In meinem Zimmer schickte ich Jade eine SMS:

Hilfe! Die Lackaffen-Mutter hockt in unserer Küche und trinkt mit Mama Tee. Lena

Bleib, wo du bist, simste Jade nur Sekunden später zurück. Ich komme und rette dich. J.

Bereits fünfzehn Minuten später stand sie tatsächlich auf der Matte, doch ihr groß angekündigter Rettungsversuch bestand lediglich darin, mich in mein Zimmer zu zerren und triumphierend grinsend ein Opernglas aus ihrer Tasche zu ziehen.

»Was soll das denn werden? Willst du die Lackaffen-Mutti damit erschlagen?«

Jade kicherte. Als wäre es das Normalste von der Welt, zog sie die Gardine weg und richtete ihr Opernglas auf das Fenster gegenüber.

»Spinnst du? Lass das!«, fauchte ich, aber sie rückte keinen Zentimeter beiseite und ließ sich auch nicht das Opernglas aus der Hand nehmen.

»Was meinst du, wie geschmeichelt er wäre, wenn er wüsste, dass wir gerade zu ihm rübergucken.«

»Wir? Du!« Ich schoss so giftige Blicke auf sie ab, dass sie eigentlich hätte tot umfallen müssen, aber sie blieb stur am Fensterrahmen stehen. »Du hast sie echt nicht mehr alle! Ich bin mir ja nicht mal hundertprozentig sicher, ob Luca überhaupt das Zimmer zur Straße hat.«

Jade schraubte an dem Opernglas herum, dann kicherte sie leise. »Doch. Hat er. Er sitzt am Tisch und lernt, der Streber.«

»Es reicht, okay?« Ich versuchte Jade das Opernglas zu entreißen, doch sie drehte sich blitzschnell weg. »Ehrlich, du nervst.« Ich ließ mich aufs Bett sinken und starrte missmutig an die Decke. »Man könnte ja fast meinen, du bist in ihn verknallt.«

»Ich? In den? Das wüsste ich aber!«

»Dann lass den Scheiß.« Ich sah sie flehend an.

Jade hockte sich rittlings auf die Fensterbank und strich sich über ihren kastanienbraunen, wie immer ein bisschen strubbelig aussehenden Bob. »Ich mag Luca nicht besonders, das stimmt, aber er ist auf jeden Fall interessanter als die Jungs in unserer Klasse.«

Ich zuckte teilnahmslos mit den Schultern.

»Na, hör mal! Jemand, der sein ganzes Leben an der italienischen Adria verbracht hat – das ist der Wahnsinn!«

»Wenn man dort eben geboren wurde ... Schwein gehabt.«

Jade nahm die Bänder ihrer Tunika in den Mund und kaute darauf herum. »Der Arme. Und jetzt muss er in der Rankestraße wohnen.«

»Jade!«, rief ich entnervt aus. »Ich will nicht die ganze Zeit über diesen Typen reden. Das ist pure Zeitverschwendung!«

»Jetzt mach aber mal einen Punkt. Du hast mich schließlich angesimst. Damit ich dich rette. Jetzt rette ich dich und was ist? Zum Dank krieg ich eins aufs Dach.«

»Danke, Rettung abgeschlossen.« Im Grunde war mir gar nicht so ganz klar, was ich überhaupt von meiner Freundin erwartet hatte. Vielleicht bloß, dass sie mich ablenkte. Nur funktionierte das nicht, wenn sie ständig vom Lackaffen faselte.

Gelangweilt drehte sich Jade um und richtete ihr Opernglas erneut auf das Fenster gegenüber. Gefühlte zwei Sekunden später prallte sie zurück, als sei ihr ein Geist erschienen. »Heilige Scheiße! Ich glaub, er hat mich gesehen.«

»Wer? Luca?«

»Natürlich Luca. Wer sonst!«

Ich vergrub meinen Kopf zwischen den Kissen und stöhnte auf. Wie peinlich war das denn! Beim Spannen erwischt zu werden – und natürlich würde Luca nur eine verdächtigen, nämlich mich!

Aus dem Flur drangen Stimmen. Wahrscheinlich war Frau Pisani dabei, sich zu verabschieden.

Jade kam zu mir rüber und strich mir über meine Spaghettihaare. »Komm, reg dich ab. Ist doch kein Drama.«

Ich schob ihre Hand weg. »Ich fange gerade erst an, mich richtig aufzuregen. Du hast mich bis auf die Knochen blamiert. Luca denkt doch jetzt garantiert, dass ich ihn beobachte. Weil ich entweder debil bin oder verknallt. Oder beides.«

»Und wennschon. Gefühle sind nie peinlich.«

»Ich hab aber keine Gefühle für ihn, verstehst du? Null, nada, niente!«

Jade nickte. »Ich geh dann besser mal.« Sie robbte vom Bett und blieb einen Moment am Fußende stehen. »Du bist jetzt aber nicht sauer auf mich, oder?«

»Doch! Und wie! Am liebsten würde ich dich killen.«

Jade ging geduckt zur Tür. »Und morgen? Willst du mich da auch noch killen?«

»Das sehen wir dann.«

Jade schlich sich mit einem gehauchten Tschüss davon, das ich mit einem gebrummten Ciao erwiderte. Ich wollte keinen Stress mit meiner besten Freundin, nur musste sie endlich begreifen, dass mir ihre kindischen Aktionen bisweilen auf den Geist gingen.

Luca kam an diesem Nachmittag nicht mehr zu uns rüber, um unser Bad zu benutzen, was bloß ein Glück war. Wahrscheinlich wäre ich vor Scham im Boden versunken. Aber ich wollte auch nicht an morgen denken, wenn ich ihn in der Schule wiedersehen würde.

3.

»Psst! Ey! Ks-ks!«

Ich hörte die Laute erst nur ganz leise, so als hätte ich eine Wollmütze über den Ohren. Dann wurden sie immer deutlicher, und als ich endlich begriff, was los war, spürte ich einen Piks im Rücken, im nächsten Moment tastete eine Hand nach meiner und schob mir einen Bonbon zu. Mir wurde heiß, dann wieder kalt, die Hand zuckte zurück und ich ließ den Bonbon blitzschnell in die Bauchtasche meines Kapuzenpullis wandern.

Es war die fünfte Stunde und wir schrieben Französisch bei Monsieur Monier. Das heißt, alle anderen schrieben, nur ich kaute schon eine ganze Weile an meinem Stift rum und starrte Löcher in die Luft. In meinem Hirn war nichts als eine Luftblase und darin stand in Schönschrift: Alle Französischfunktionen bis auf weiteres außer Betrieb. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch mal.

Ein astreiner Blackout also.

»Luca? Lena? Was treibt ihr da?«, drang Monsieur Moniers Stimme an mein Ohr.

»Fummeln!«, krähte Simon und ein paar Jungs wollten sich kringelig lachen.

»Ruhe bitte! Schließlich gibt es hier ein paar Schüler, die sich auf ihre Arbeit konzentrieren möchten. Also, Lena?«