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Christine Eder

Be my Sunrise





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

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CHRISTINE EDER

 

 

 

 

 

be my

Sunrise

 

Die Handlung sowie alle handelnden Personen dieses Buches sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wäre rein zufällig.

Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Alle Rechte vorbehalten.

© Christine Eder 2020 Be my Sunrise

1. Auflage unter dem Titel „Es scheint die Sonne“ 2016

 

 

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www.instagram.com/christine_eder_autorin

 

Coverdesign: © © Licht Design – Kristina Licht

Korrektorat/Lektorat: Lüneburger Lektorat

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Autorin

Christine Eder schreibt ihre Bücher unter ihrem Mädchennamen. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in der Nähe von Hansestadt Lüneburg. Ihre Romane handeln von Träumen und Hoffnungen, sowie Überwindung von Ängsten der meist jungen Protagonisten und zeigen, dass Freundschaft und Liebe der Kern des Lebens sind und sowohl Ursache als auch Lösung sein können.

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Kinder:

Vincent, Ewan und Lavinia.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Was wäre, wenn …

du deine eigene Zukunft sehen könntest?

nur ein einziges Wort dein Schicksal ändern könnte?

ein Traum dein ganzes Leben auf den Kopf stellte?

deine Liebe auf eine ungewöhnliche Weise geprüft wird?

 

 

 

Kapitel 1

 

2013, September

 

Die Sonne stand in ihrem Zenit und schien grell, als ich aus dem Schulgebäude kam. Die Luft war herrlich warm. Es duftete nach den Kastanienblüten, die um die Schule rundherum wuchsen und jetzt in ihrer vollen weiß-rosa Blütenpracht standen.

Genüsslich atmete ich den Duft durch die Nase ein, reckte mein Gesicht gen Sonne und ließ die angenehm warme Brise durch meine Haare wehen, bevor ich freudig die Treppen hinuntersprang, während die Schultasche an meiner Schulter hin und her baumelte. Ich schlängelte mich durch die dichte Masse an Schülern über den Schulhof bis zum Gehweg. Endlich, der letzte Tag, dachte ich.

Auf der anderen Straßenseite bemerkte ich Eric, der rauchend gegen seinen schwarzen BMW lehnte, während eine Blondine aufgeregt auf ihn einsprach. Mann, bald geht er studieren, dann werden wir uns garantiert nicht so häufig sehen. Mir wurde etwas mulmig bei dem Gefühl, dass ich Eric nicht mehr so nah bei mir haben und ihn dann nur an den Wochenenden zu Gesicht bekommen würde. Wenn überhaupt!

Er zog an seiner Zigarette und als er den Rauch herausblies, sah er mich und winkte mir freudig zu. Lächelnd winkte ich ihm zurück und schlug die Richtung meines Zuhauses ein.

Der Bürgersteig war voller Leben, Geschäftsleute liefen in ihren Anzügen und mit ihren Aktentaschen eilig zu Geschäftsterminen, und Bauarbeiter standen neben den Imbissbuden und Cafés, die am Straßenrand gelegen waren, und aßen Mittag. Eine Mutter ging freudestrahlend mit ihrem Kind an der Hand, das sie vom Kindergarten abgeholt hatte und nicht minder beglückt neben ihr herhoppelte, während es ihr voller Begeisterung etwas erzählte, an mir vorbei.

Ein dunkelhaariger Mann mit Anzug und einer Laptop-Tasche über der Schulter kam mir entgegen. Ich musste darauf achten, dass mir nicht versehentlich der Mund offen stehenblieb, weil er verdammt gut aussah, edel, perfekt und makellos. Als er mitbekam, wie ich ihn ansah, lächelte er, ehe er an mir vorüberging.

Wow, dachte ich und atmete die angehaltene Luft schnell und laut aus, als ich bemerkte, dass ich bei seinem Anblick offenkundig das Weiteratmen vergessen hatte.

„Entschuldigen Sie bitte“, sagte jemand hinter mir und ich zuckte piepsend zusammen.

Rasch drehte ich mich um und erstarrte vor Ehrfurcht, als mich seine azurblauen Augen durchdrangen.

„Sie haben mich so angeguckt, kennen wir uns?“, wollte er wissen. Seine tiefe Stimme löste Gänsehaut bei mir aus.

Leicht verlegen schüttelte ich den Kopf. „Nein“, hauchte ich in seinen Augen versunken und lächelte ihn ergeben und wohl auch etwas geistesabwesend an.

Die Sonne verschwand hinter den Wolken und der Himmel sah jetzt eher milchig aus.

„Aber ich habe Sie schon mal gesehen“, stellte er mit etwas verkniffenen Augen fest, als ob er sich genau erinnern wollte. Er sah mir ins Gesicht. „Sie haben in einem Club gesungen“, bemerkte er erstaunlich erleichtert, dass es ihm doch noch eingefallen war.

Meine Mundwinkel konnten ein geschmeicheltes Schmunzeln nicht verbergen, so sehr ich mich auch mühte, unbeeindruckt zu bleiben. Als ich antwortete, brachen jedoch alle Dämme.

„Ja … kann sein“, grinste ich nun bis über beide Ohren und konnte nach wie vor nicht die Augen von ihm abwenden.

Meine Haare wehten mir ins Gesicht, doch das hielt mich nicht davon ab, ihn weiter zu bestaunen. Scheiße, er ist zum Verrücktwerden schön!

„Ich heiße Yves“, sagte er lächelnd und schien mich dabei mit seinen Blicken zu studieren. „Und, Sie sind?“, fragte er etwas ungeduldig.

Ich versuchte, mich zu beruhigen und meinen Namen ohne Stottern auszusprechen. Möglichst unmerklich und leise atmete ich tief durch und hielt meine Haare zurück, denn es wurde immerzu windiger und der Himmel verdüsterte sich allmählich.

„Lavinia“, antwortete ich endlich.

Es begann stürmisch zu werden und ich musste mein weißes Sommerkleid bändigen, um keine Blöße zu zeigen.

„Wollen wir uns irgendwohin setzen, falls Sie nichts dagegen haben? Ich glaube, es fängt gleich an zu regnen“, sprach er lauter, um gegen den Wind anzureden.

„Ehm, ja, warum nicht? Sehr gerne. Dort drüben ist ein schönes Café“, schlug ich vor und wies auf die andere Straßenseite. Dabei bemerkte ich, dass Eric noch immer da stand und mich beobachtete.

Als Eric sah, wie ich mit Yves die Straße überquerte, setzte er sich in seinen Wagen, ohne dabei seine Augen von mir abzuwenden. Wir wechselten die Straßenseite, betraten das Café und ich sah Erics Auto nur noch davonfahren.

 

Das Geräusch des vorbeirasenden Autos riss mich jäh aus meinem Traum. Verzweifelt bemühte ich mich, weiter daran festzuhalten. Als es nicht gelang, öffnete ich ein wenig missgestimmt meine Augen. Ein seltsamer Traum. Er war so klar und deutlich, dass er mir bisher vollkommen unbekannte Gefühle auslöste.

Ich richtete mich leicht auf, nahm mein Handy vom Nachttisch und sah auf die Uhr: 5.48 ... Toll! Wieder einschlafen kann ich jetzt wohl vergessen. Das Hintergrundbild, das mich und Eric dabei zeigt, wie wir Grimassen schneiden, tröstete mich über diesen Umstand jedoch ein wenig hinweg. Ich legte mein Handy zurück und mich wieder hin.

Erst vor zwei Wochen kehrte ich in die Wohnung meiner Mutter zurück.

Vor einem halben Jahr verstarb sie plötzlich an einem Schlaganfall. Sie kam damals ächzend nach der Arbeit nach Hause und ich hörte, wie sie schwer keuchte. Ich sprang aus meinem Bett und wollte nach ihr sehen. Sie konnte kaum sprechen und presste ihre Hand auf die Brust. Ihren Blick dabei werde ich nie vergessen: erschrocken, panisch.

Ich zerrte sie auf das Sofa und legte sie hin. Ich war starr vor Angst. Geschockt und hilflos versuchte ich zu begreifen, was gerade geschah. Als das Adrenalin in meine Adern schoss, rannte ich schnell in die Küche, goss mit zitternden Händen Leitungswasser in ein Glas und rannte zurück zu ihr. Dort, im Wohnzimmer, ließ ich vor Schreck das Glas fallen.

Sie lag vollkommen regungslos da. Ein Arm hing nach unten, der andere lag auf der Brust, die Beine waren erschlafft. Die Wärme aus ihren Augen war gewichen, sie strahlten kein Leben mehr aus. Ich versuchte sie wachzurütteln. Vergeblich. Noch nie hatte ich einen derart stechenden Schmerz in mir verspürt. Selbst meinem ärgsten Feind würde ich ein solches Erlebnis nicht wünschen.

Es war sehr schwer für mich, den Tod meiner Mutter zu akzeptieren, morgens aufzustehen und das Leben ohne sie weiter zu führen. Irgendwann muss man aber einsehen, dass man die Vergangenheit nicht zurückholen kann. Ich wusste, ich musste sie loslassen, denn so hätte sie es sich für mich gewünscht, sagte ich mir. Ich wusste freilich nicht, ob mir das je gelingen würde.

Und, da ich zurück war, tat es mir wieder weh, die Wohnung so zu sehen, wie ich sie vor einem halben Jahr verlassen hatte. Alles erinnerte mich an meine Mutter und bereitete mir höllische Schmerzen in der Brust. Als würden tausende feine Nadeln auf mich einstechen, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte. Aber da musste ich durch. Mich überwinden, lernen mit dem Schmerz und meiner Trauer fertigzuwerden und zu leben. Wie Mutter es mir einmal sagte: „Das ganze Leben ist dir ein Lehrer und der Unterricht hat einen hohen Preis.“ Erst jetzt verstand ich den Sinn dieses Ausspruchs.

Nach meiner Rückkehr räumte ich erst einmal die Wohnung auf, putzte das Bad und befreite die Möbel vom Staub der letzten Monate. Das Aufräumen brachte leider nicht den gewünschten Effekt. Es half mir nur wenig. Die Vergangenheit ließ sich einfach nicht aufräumen. Jeder Gegenstand, den meine Mutter berührt hatte, zwang mich, an sie zu denken. Jede Ecke löste in mir die Hoffnung aus, dass sie hervorkommen und mich mit ihrem liebevollen Lächeln anstrahlen würde. All ihre Sachen, die noch umherlagen, ihre Kleidung im Schrank, weil ich es nicht übers Herz brachte, sie auszuräumen, ihre kleine Wolldecke, mit der sie sich die Füße beim Lesen zugedeckt hatte, all das erinnerte mich an sie. Die Trauer übermannte mich immer und immer wieder. Wie eine stürmische Welle, in der ich panisch und voller Hast um Atem rang, weil ich zu ertrinken drohte, drückte sie mich nieder.

Zum dritten Mal seit meiner Rückkehr in die Wohnung tauchte dieser Mann in meinen Träumen auf. Zuerst sah ich nur seine schönen blauen Augen und schemenhaft vereinzelte Gesichtszüge, später etwas mehr. Meist waren diese Träume trüb und verschwommen, doch nun wurden sie zunehmend klarer und intensiver. Ich führte letzte Nacht sogar ein Gespräch mit diesem Mann, was zuvor stets unmöglich schien.

Endlich, endlich kenne ich seinen Namen und … mein Gott, er ist wunderschön, so umwerfend.

„Ich hoffe, ich treffe ihn irgendwann mal wirklich“, flüsterte ich im Dunklen meines Schlafzimmers vor mich hin und grinste dabei mein breitestes Grinsen.

„Nicht!“, zischte meine Mutter.

Ich schreckte hoch und versuchte, die Stimme im Raum zu lokalisieren. Meine Mutter stand am Fenster neben dem Bett. Eine blasse Silhouette. Weiß und reglos sah sie mich wehleidig an, ehe sie wieder verblasste und mich im Dunkel zurückließ. Ich atmete tief durch und legte meinen Kopf zurück ins Kissen. Nicht?!, verstand ich nicht, was sie mir damit sagen wollte.

Vor unseren Begegnungen fürchtete ich mich längst nicht mehr, denn dies war nicht der erste Besuch meiner Mutter. Vielleicht auch deswegen, weil sie mir nie etwas tat. Sie versuchte nicht, mich anzufassen, verschob nicht irgendwelche Gegenstände oder warf sie herunter. Sie erschien und verschwand schnell wieder. Es kam mir manchmal so vor, als wolle sie nur nach dem Rechten sehen. Wie es mir erging, wie ich zurechtkam und lebte.

Seit ihrer Beerdigung hatte ich das Grab meiner Mutter nicht mehr besucht. Ich konnte nicht, denn das hieße ja, sie möglicherweise tatsächlich loslassen zu müssen – und eben dies vermochte ich nicht. Ich wollte ja loslassen, aber ich wollte sie nicht vergessen. Der Gedanke allein schmerzte und deprimierte mich. Ich war verwirrt und mit der Situation völlig überfordert. Doch je öfter ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zu dem Schluss, dass es sein musste. Es gab nur noch mich, hier und jetzt.

Ich riss mich los von meinen Gedanken und kuschelte mich tiefer in die Decke ein, während ich die Ahornbäume vor dem Fenster beobachtete und den Tag begrüßte. Die Sonne erhob sich langsam am Horizont und erfüllte das Zimmer nach und nach mit ihrem warmen Licht.

In meinem Kopf versuchte ich, den Traum der letzten Nacht noch einmal zu rekapitulieren. Wieder traf ich diesen Mann und hatte diesmal seinen Namen erfahren: Yves. Ich erinnerte mich an unser Gespräch. Er sah mich in einem Club, sagte er. In welchem Club? Blödsinn. Ich stand noch nie auf einer Bühne und werde es nie. Und dennoch gab ich ihm recht. Ich nahm es als einen wirren Traum hin, denn in Träumen darf man doch wohl mal träumen.

Um 7.00 Uhr ging mein Radiowecker, den ich lauter aufdrehte und machte mich fertig für die Schule. Früher sang ich jeden Morgen mit, tänzelte dann in die Küche und frühstückte manchmal zusammen mit meiner Mutter. Doch diese Zeiten waren vorbei und ich hatte das Gefühl, dass es nichts mehr zu besingen gab.

Aus meinem Kleiderschrank holte ich ein Sweatshirt und eine dunkle Jeans. Kleider und Röcke trug ich eher selten. Meist nur zu besonderen Anlässen, aber die gab es in letzter Zeit einfach zu wenig. Meine Mutter trug Kleider gerne, immer und überall. Dabei fiel mir ein, dass ich heute Nacht im Traum ein weißes Kleid trug. Ein besonderer Anlass?

Angezogen ging ich ins Bad, wusch mich und steckte meine Piercings in ihr jeweils dafür vorgesehenes Loch: Einen kleinen Ring in den rechten Nasenflügel, drei Ohrringe ins rechte und zwei ins linke Ohr. Ich kämmte mir mein dickes rotes Haar und ließ es heute offen auf die Schultern fallen. Die Haare hatte ich von meiner Mutter geerbt, allerdings waren sie bei ihr gelockt, meine waren glatt.

Wie jeden Morgen aß ich nichts, trank nur einen Becher Kaffee und eilte dann zur Schule. Die war nur zehn Minuten Fußmarsch entfernt, daher ging ich immer so spät los, dass ich es gerade so pünktlich in den Unterricht schaffte.

Der Altweibersommer kündigte mit morgendlicher Frische bereits die kühlen Herbsttage an. Schnellen Schrittes ging ich die belebte Straße runter und erreichte – wohl in neuer Rekordzeit – den leeren Schulhof, als ich schon die Schulklingel hörte.

Ich lief durch den Schulflur entlang und sah den Lehrer am anderen Ende des Flurs. Schnell huschte ich in die Klasse, in der plötzlich alle zu mir hochsahen, weil sie mit dem Lehrer gerechnet hatten. Ich ging, vorbei an Eric, der mich grinsend mit einem Nicken und Augenzwinkern begrüßte, rasch zu meinem Platz, ließ mich auf meinen Stuhl fallen und sah nach links zu Helen, die mir lächelnd zuwinkte.

Sie war wie immer äußerst stark geschminkt, aber immerhin beherrschte sie ihr Handwerk. Ihre langen Haare, die mittlerweile bis zur Hüfte reichten, hatte sie akkurat zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Ihr puppenhaftes Aussehen war nahezu vollkommen. Trotz ihres Perfektionismus, der durchaus anstrengend sein konnte, war Helen meine beste Freundin.

Der Unterricht plätscherte so dahin. Uns wurden die ersten Klausuren angekündigt, die vor den Herbstferien noch geschrieben werden mussten. Ansonsten bekam ich nicht viel mit und war in Gedanken bei der letzten Nacht. Immer und immer wieder lief der Traum vor meinem inneren Auge ab und ich wurde praktisch erneut geweckt, als die Pausenklingel zur großen Pause endlich ertönte.

Ich ging mit den anderen Schülern hinunter in die Schulkantine und verlor Helen und Eric in der Menge aus den Augen. Das machte allerdings nichts, denn wir hatten unseren Stammtisch, und da würde ich sie sicher antreffen. Als ich mir das Essen nahm, steuerte ich mit meinem Tablett unseren Tisch an. Helen saß bereits dort und stocherte in ihrem Salat herum, den sie von zu Hause mitgebracht hatte.

„Na, wieder auf Diät?“, stichelte ich, als ich mich zu ihr setzte.

„Immer noch!“, stöhnte sie und rollte mit ihren Augen. „Die Pfunde wollen einfach nicht runter! Siehst du das?“, empörte sie sich und griff demonstrativ in ihre Hüfte, um mir zu zeigen, wie viel überschüssigen Speck sie mit sich trug.

„Ich sehe es, Helen. Ich habe das auch, das ist Haut!“, antwortete ich und ertränkte genüsslich Pommes im Ketchup. Helens Empörung über meine Aussage wich ihrem neidischen Blick auf meinen Teller, weswegen ich kichern musste.

Helen hatte immer etwas an sich auszusetzen. Die Haare waren stets zu kurz, die Zähne nicht weiß genug, die Nägel zu kurz (und ohnehin kaputt) und nicht zuletzt war sie natürlich viel zu dick. Immerhin, und das musste ich ihr lassen, war sie konsequent. Wenn ihr Po zu dick wurde, machte sie Sport und arbeitete daran.

Ich hatte mich längst daran gewöhnt und konnte ihre Nörgeleien mittlerweile ganz gut ab. Mit einem Lächeln nickte ich alles ab, denn ansonsten war sie eine sehr zuverlässige, ehrliche und liebenswerte Person. Gerade in den letzten Monaten war sie immer für mich da und das wusste ich zu schätzen.

Helen war zwar ein Püppchen, und die Männer standen Schlange bei ihr, doch sie wartete auf den „Prinzen auf dem weißen Pferd“, wie sie immer zu sagen pflegte. Wir warteten beide auf den richtigen Mann. Ein Attribut, auf das nicht mehr allzu viel Wert gelegt wurde, und vielleicht war dies auch der Grund, weshalb mich ihre Nörgeleien verfehlten, denn sie machte das alles nur für sich und nicht für jemand anderen. Trotzdem musste ich sie manchmal bremsen, damit sie nicht vollkommen an sich selbst verzweifelte.

„Helen, du siehst gut aus. Du brauchst das nicht“, sagte ich ihr dann. Doch sie tat meine Aussagen stets mit einer Handbewegung ab, als ob sie eine lästige Fliege verscheuchen wollte.

Kopfschüttelnd lächelte ich, während ich auf meinen Pommes herumbiss. Gut, dass ich diese Probleme nie hatte. Ich konnte alles Mögliche verdrücken, ohne ein Gramm zuzulegen. Ich war zwar nicht klapperdürr, aber eben auch nicht dick. Eigentlich war ich sogar zufrieden mit mir.

Eric kam nun mit seinem Tablett Pommes und Nuggets zu uns und setzte sich an den Tisch. Er schaute mich an und kaute dabei auf seinem Unterlippen-Piercing herum.

„Du siehst müde aus“, merkte er an.

Seine dunkelbraunen Haare waren an den Seiten und hinten anrasiert, vorne und oben waren sie dagegen länger und fielen ihm in einem Seitenscheitel ins Gesicht. Er sah mich mit seinen großen, braunen Augen und seinen verflucht langen Wimpern, die länger waren als meine und seine Augen dadurch umso größer wirken ließen, an. Eric war ein gutaussehender Mann geworden und so verwunderte es mich nicht, dass sich so viele Mädchen an ihn ranschmissen. Er wusste es, glaube ich, und nutzte seinen Charme, um den Mädchen den Kopf zu verdrehen.

„Ich habe schlecht geschlafen“, antwortete ich wehklagend und nahm einen ordentlichen Schluck meiner Cola.

„Hast du wieder von diesem Mann geträumt?“, fragte Helen plötzlich aufgeregt. Ich warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

„Was für ein Mann?“, hakte Eric sichtlich irritiert nach und blickte mich an wie eine wiederkäuende Kuh.

Ich zögerte. Eigentlich erzählte ich Eric immer alles, aber diesmal wusste ich nicht, ob ich ihm das erzählen wollte, und wusste aber auch nicht genau, warum ich das nicht wollte. Helen dachte weniger lange nach und nahm mir die Aufgabe ab.

„Lavinia träumt in letzter Zeit von einem Mann.“ Und fügte noch hinzu: „Von einem äußerst gutaussehenden Mann!“

„Also von mir?“ Eric grinste.

„Nein!“ Ich lachte auf. „Aber dich habe ich im Traum auch gesehen.“

Er wirkte plötzlich interessiert. „Ach, echt? Und was habe ich gemacht?“

„Du hast mit einer Blondine dagestanden und bist dann mit ihr weggefahren.“

„Ah, ja das klingt sehr nach mir.“ Er schmunzelte mit vollem Mund.

Ich wandte mich wieder Helen zu. „Heute im Traum, da durfte ich ihn dann endlich kennenlernen“, schwärmte ich ein wenig. „Unsere Wege kreuzten sich und da fragte er nach meinem Namen. Wir kamen ins Gespräch und er lud mich in unser Café ein.“

„Ooh, ist da etwa jemand verknallt? Ich sehe doch, wie rot du wirst“, unterstellte sie mir und spielte dabei mit ihren Augenbrauen.

„Ach, hör auf!“, schnaubte ich lächelnd. „Es war doch nur ein Traum. Auch wenn ich mich wohl tatsächlich in ihn verschossen hätte – bei dem Aussehen“, gab ich zu und rollte verträumt mit den Augen. „Er heißt übrigens Yves“, fügte ich hinzu.

„Uhuu, Yves. Der Mann meiner Träume“, sprach Eric mit hoher Stimme und belächelte das Ganze.

„Du!“, mahnte ich und bewarf ihn mit einer Pommes, die er abwehrte und die dann auf seinem Teller landete.

„Oh, Danke“, gab er zurück. Wir lachten.

„Was ist hier los? Warum die ausgelassene Stimmung?“, fragte Alex plötzlich, der zusammen mit Wei zu uns an den Tisch kam. Die beiden setzen sich und wir begrüßten einander.

Alex war etwas kräftiger gebaut, hatte eisblaue Augen und kurze, hochgegelte blonde Haare. Wei hingegen war schlank und recht sportlich. Neben seinem Namen verrieten seine mandelförmigen Augen, dass er asiatischer Abstammung war.

Die Stimmung wurde immer ausgelassener. Wir hatten uns viel zu erzählen, alberten und lachten, wobei die Jungs mit ihren Storys und ihrem lauten Lachen mal wieder die gesamte Kantine unterhielten.

Irgendwann wurde ich jedoch stiller. Und nervöser, denn ich wollte sie alle unbedingt um etwas bitten, weil es mir selbst schwerfiel, die Sache allein zu bewältigen. Es war nicht so, dass wir uns gegenseitig nie helfen würden, aber ich hatte trotzdem Angst, dass ich damit zu viel von ihnen verlangen könnte, Angst, dass sie mir absagten. Dabei ging es mir weniger um physische als seelische Unterstützung.

Eric sah als Erster, wie nervös ich wurde und anfing, auf meiner Unterlippe zu kauen.

„Lavinia?“

Ich zuckte leicht zusammen, als ich meinen Namen hörte, der mich aus dem inneren Konflikt holte, und starrte zu Eric.

„Alles okay?“, wollte er leise wissen.

Nickend atmete ich tief durch, so als könnte ich damit die Schwere, die mir auf der Seele lag, eindämmen.

„Leute?“, begann ich, fasste meinen Mut zusammen und beschloss, sie zu fragen. „Ich brauche eure Hilfe.“ Alle Blicke lagen auf mir und die Gruppe wartete darauf, worum ich sie bitten würde.

Alex kaute auf seinem Brötchen und durchbrach die Stille. „Na, schieß schon los! Was liegt dir auf dem Herzen?“

„Ich möchte“, setzte ich an und überlegte unwillkürlich, ob ich das denn wirklich wollte. Ich will, ich muss. „Ich möchte meine Wohnung ausräumen, sie renovieren. Es soll meine Wohnung werden“, sagte ich und nach diesen Worten fiel mir augenblicklich ein Stein vom Herzen. Der erste Schritt war getan. Es würde vorwärtsgehen und das musste es auch.

„Um Gottes Willen. Ich dachte schon, du würdest nach einer neuen Niere fragen“, amüsierte sich Eric, und alle lachten vor Erleichterung, dass es doch nichts Schlimmes war.

Für mich allerdings war es schwer. Ich konnte nicht recht mitlachen, denn ich hatte ein wenig Schuldgefühle, dass ich sie da mithineinzog.

Eric beruhigte mich. „Selbstverständlich helfen wir dir dabei. Wir wissen, dass es hart für dich ist, aber es ist wohl auch das Beste.“ Ich schaute ihn an und lächelte dankbar.

„Ja, Süße“, kam es von Helen, die ihre Hand auf meine legte und sie leicht drückte. „Wir sind für dich da und so kommst du besser damit klar.“

Ich nickte und atmete durch. „Ich verlange aber nicht zu viel von euch, oder?“

Helen schüttelte den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht. Es ist ein Neuanfang für dich und du brauchst keine Angst davor haben, dass du deine Erinnerung damit verdrängen wirst.“

„Genau davor habe ich aber Angst“, sagte ich betrübt, doch Helen schüttelte erneut nur den Kopf.

„Veränderungen sind gut“, meinte Wei, lächelte und nickte mir kaum merklich zu.

Ich versuchte, meine Bedenken beiseitezuschieben und Mut zu fassen. „Allerdings würde ich das alles nicht alleine schaffen, deswegen brauche ich …“

„Na, klar!“, war Alex einverstanden und richtete sich im Stuhl breit auf. „Mister Alex kann alles!“ Grinsend zog er den Bauch ein und schob seine Brust nach vorn. Ich musste lachen. Helen verdrehte die Augen und Wei lachte hinter vorgehaltener Hand.

„Bleib locker, Meister Proper!“, gluckste Eric, und wir brachen alle in Lachen aus. Alex boxte Eric in die Schulter und beide fingen an, leicht zu rangeln.

„Bist du sicher, dass du sie als Helfer möchtest?“ Helen sah mich vielsagend an.

Ja, war ich. Auch wenn es manchmal ein chaotischer Haufen war. Es waren meine besten Freunde, und ohne sie hätte ich das letzte halbe Jahr nicht überstanden, besonders nicht ohne Eric.

„Hey“, rief Wei den beiden zu. „Ich glaube, Lavinia war noch nicht fertig.“ Er schaute mich an und ich lächelte ihm ob seines Feingefühls zu.

„Ja, entschuldige“, räusperte sich Alex und zupfte sein Poloshirt zurecht. Eric lehnte sich zu mir herüber, stützte seinen Kopf in die Hände und zeigte mir, dass er bereit war, mich anzuhören.

„Also … ich habe an…“, begann ich wieder und überlegte, woran ich überhaupt gedacht hatte. „Ach, eigentlich habe ich an noch gar nichts gedacht. Nicht wie, nicht wann … Ich möchte es einfach so schnell wie möglich hinter mich bringen“, sagte ich, erschrocken von mir selbst, dass ich diesen Satz so gleichgültig über die Lippen brachte.

„Wir können jederzeit. Sag einfach Bescheid und wir kommen“, meinte Eric.

Ich konnte seinen Blick spüren, als ich ins Leere starrte. Vermutlich lag es an den vielen Jahren, die wir uns so gut kannten, ich weiß es nicht, aber ich konnte Erics Anwesenheit und seine Blicke auf gefühlten hundert Meter Entfernung wahrnehmen. Ich sah erst Helen und dann Eric an. Wenn es die beiden nicht gäbe, wäre ich elendigst verloren.

„Habt ihr diese Woche Zeit?“, fragte ich in die Runde. Sie nickten allesamt.

„Was willst du denn alles machen?“, wollte Helen wissen.

Ich zuckte mit den Schultern. „Streichen, vielleicht mit etwas Farbe, Möbel umstellen und ein paar Sachen … wegräumen.“ Wieder sackte ich in mich zusammen. Es kam mir nicht richtig vor. Als sei es ein Verbrechen, die Sachen meiner Mutter wegzuräumen, ein Verbrechen, für welches ich einen hohen Preis zahlen müsste.

„Du schaffst das“, redete Helen ein und drückte wieder meine Hand, diesmal aber etwas kräftiger. Ich erwiderte ihre Geste mit meinen Fingern und zwang mich zum Lächeln.

„Na, das Möbelschieben überlassen wir mal dem Meister Proper hier.“ Eric klatschte lachend Alex auf die Schulter.

Die Pause neigte sich dem Ende zu, und wir gingen alle zusammen wieder in unsere Klassen zurück. Alex und Wei hatten sich in ihren Kurs verabschiedet und ich ging mit Helen und Eric in unseren.

Eric grinste beim Vorbeigehen die Mädels neckisch an und zwinkerte jeder zweiten zu – typisch. Helen und ich verdrehten die Augen, weil die Mädels darauf auch noch ansprangen und ihn anschmachteten, aber wir waren es ja gewohnt von Eric. Er sah nun mal gut aus, hatte Charme und wäre sicherlich Schwiegermutters Liebling. Ich bin jedenfalls froh, dass ich mehr als nur das von ihm weiß.

Eric lernte ich kennen, als ich mit meiner Mutter aus der weißen Stadt im Süden hierher in die rote Stadt in den Norden gezogen war, nicht weit von der Nordsee entfernt. So nannte ich die Städte in meiner Kindheit, weil sie durch die Fassadenfarben der Häuser eben für mich so aussahen. Damals war ich gerade sechs geworden und wurde sofort hier eingeschult. Gleich am ersten Tag hänselten mich zwei Jungs in einer Schulpause wegen meiner zwei roten Zöpfe. Pippi Langstrumpf nannten sie mich.

Eric ging dazwischen und verteidigte mich in einer für mich damals fremden Sprache. Vielleicht war es für die zwei Witzbolde aber genau die richtige Sprache, denn danach lief mir keiner der beiden mehr über den Weg.

Eric war damals erst aus Russland nach Deutschland gekommen und konnte noch nicht wirklich Deutsch sprechen. Auch wenn wir uns gegenseitig kaum verstanden, fanden wir sehr schnell zueinander und freundeten uns an. Manchmal nahmen wir unsere Brotdose unter die Lupe und unsere Butterbrote auseinander, um uns in unserer jeweiligen Sprache gegenseitig zu zeigen, womit sie belegt waren. Das fanden wir immer äußerst amüsant, weil entweder seine Worte für mich oder meine für ihn lustig klangen.

Mit der Zeit wurden wir zu besten Freunden und verbrachten außerhalb der Schule viel Zeit miteinander. Zum Glück wohnten wir nicht weit voneinander entfernt und konnten einander somit oft besuchen. Seine Mutter bestand aber unbedingt darauf, dass er mich immer nach Hause brachte und dabei nie meine Hand losließ. Das Witzige ist: Auch Jahre später befolgten wir ihre Anweisungen, eher gesagt Eric. Aber mir gefiel es, Erics warme Hand festzuhalten. Wir behielten dieses Ritual lange, wirklich sehr lange bei. Hin und wieder halten wir uns sogar noch an den Händen. Ich muss immer lachen, wenn er mir grinsend die Hand hinhält. In letzter Zeit wurde das aber seltener. Man wird dann doch irgendwann erwachsen und die Eifersucht seiner Mädels machte es auch nicht leichter, die so liebgewonnene Tradition zu bewahren.

Im Winter, wenn es früh dunkel wurde, brachten uns unsere Mütter zueinander, damit wir zusammen spielen konnten, und holten uns dann auch wieder ab. So lernte meine Mutter seine, Alvina, kennen.

Als Eric zwölf war, kam sein Vater bei einem Arbeitsunfall ums Leben. Unsere Freundschaft wurde daraufhin auf eine harte Probe gestellt, denn Eric verschloss sich und wollte mich nicht mehr sehen. Er wollte niemanden sehen oder sprechen. Er tat mir unheimlich leid und einerseits wollte ich ihm die Zeit der Trauer lassen, aber andererseits wollte ich ihn dabei nicht allein lassen. Doch so sehr ich es auch versuchte, er ließ mich nicht an sich ran. Stur wie ich war, gab ich so leicht nicht auf. Also besuchte ich ihn trotzdem weiterhin und quasselte ihn in Grund und Boden, weil ich vielleicht dachte, ich würde das Problem aus der Welt quatschen können. Eric ließ es still über sich ergehen. In der Schule das Gleiche. Doch er kam nicht aus seiner Trauer heraus. Ich wusste nicht mehr, wie ich ihm noch dabei helfen konnte.

Zu dieser Zeit fing Eric an, einmal in der Woche in der Musikschule Gitarrenunterricht zu nehmen. Vielmehr, um die Noten zu verstehen, denn er hatte ein unglaubliches Gehör. Er brauchte meist nur einmal in ein Lied hineinhören und konnte es anschließend sofort auf der Gitarre nachspielen. Das hatte ich immer an ihm bewundert. Aber es waren für mich die unerträglichsten Abende der Woche, weil ich dann niemanden zum Reden hatte. An diesen Abenden fühlte ich mich allein und fürchtete um unsere Freundschaft. Mit Eric war es sonst immer so ausgelassen, ich konnte ihm alles erzählen und er konnte mir zuhören und hatte mir in allem den Rücken gestärkt. Dass unsere Freundschaft dadurch brechen könnte, wollte ich nicht wahrhaben.

So kam ich eines Tages zu ihm zu Besuch und er spielte in seinem Zimmer auf der Gitarre eine Melodie, die ich sofort erkannte. Vorsichtig ging ich rein und setzte mich neben ihn. Wie immer ließ er sich nicht von mir irritieren und spielte weiter die Melodie des Songs „Fallin’“ von Alicia Keys. Als er beim Refrain angekommen war, begann ich leise zu der Musik zu singen.

Eric sah mich verwundert an, hörte auf zu spielen und ich zu singen. Ich räusperte mich und rechnete jeden Moment damit, dass er mich aus dem Zimmer schmiss, doch er blickte mich sekundenlang nur an.

„Ich wusste gar nicht, dass du so schön singen kannst“, brach er heiser die Stille, und ich erkannte so etwas wie ein Lächeln in seinem Gesicht.

Augenblicklich fiel mir ein unheimlich großer Stein vom Herzen. Ich merkte, wie angespannt ich dasaß, und ließ erleichternd meine Schultern fallen, während ich ihn freudestrahlend anlachte, als wäre er soeben von einer langen Reise zurückgekehrt.

Dies war der Abend, an dem ich den Weg zurück zu ihm fand und wir die Kluft zwischen uns gemeinsam überwunden hatten. Wir verbrachten wieder viel Zeit miteinander und fühlten uns sogar verbundener denn je. Wir hatten beide keinen Vater mehr. Vielleicht war dies sogar der Moment, in dem wir erwachsen wurden.

Als wir in die Oberstufe unseres Gymnasiums kamen, stellte Eric sogar eine kleine Band zusammen und traf auf den Russen Alex, der ebenfalls Gitarre spielte. Dann lernten wir Wei, den Drummer seiner Band, und Marvin kennen, der am Keyboard spielte und den die Jungs aufgrund seiner dunkelblonden Lockenpracht Goldlöckchen nannten. Marvin ging jedoch auf eine andere Schule und nur durch Alex stieß er später zu der Band. Eric selbst war der Lead-Gitarrist und Sänger. Für mich hatte er die schönste Stimme der Welt. Manchmal sang ich sogar mit, aber nie auf der Bühne, sondern nur, wenn wir rumhingen. Die Schule entdeckte recht schnell das Talent der Jungs und bat sie bei Schulveranstaltungen und kleinen Feiern aufzutreten. Schon bald waren sie gar nicht mehr wegzudenken.

Mit 16 Jahren kamen Eric und ich auf die Idee, unsere zehnjährige Freundschaft auf irgendeine Weise symbolisieren zu wollen. Wir wollten unsere Verbindung unbedingt mit einem gemeinsamen Tattoo – statt Freundschaftsbändern oder anderem Murks – besiegeln. Unsere Mütter bekamen einen Riesenschreck und versuchten natürlich mit allen Mitteln, es uns auszureden. Doch wir hatten so lange rumgejammert und sie bearbeitet, bis sie schließlich nachgaben. Allerdings kniff ich im letzten Moment und ließ mir stattdessen ein Nasenpiercing machen. Eric sah es mir nach, doch ließ es sich nicht nehmen, ein verschnörkeltes Tattoo auf seinen Oberarm tätowieren zu lassen. Später ließ er sich die Lippe piercen, damit wir wenigstens das gemeinsam hatten. Von dem Moment an wurde Eric von den Mädchen in der Schule endgültig vergöttert. Er hatte eine Band, spielte Gitarre, konnte himmlisch gut singen und sah auch noch ungemein verwegen aus.

Nach dem Tod meiner Mutter durfte ich ein halbes Jahr lang bei ihm und Alvina leben. Seine Mutter kümmerte sich sehr um mich und Eric war immer an meiner Seite in dieser schlimmen Zeit. Er war der große Bruder, den ich nie hatte, und ich war seine kleine Schwester, die er nie hatte. Beide waren so herzlich zu mir, dass es nicht lange dauerte, bis sie wie eine zweite Familie für mich waren. Zu dieser Zeit lernte ich viel über die russische Kultur und war überwältigt von der Wärme, Herzlichkeit und Liebe, die die beiden ausstrahlten.

Doch jetzt, da ich wieder in die Wohnung zurückgekehrt war, musste ich allein gegen den Verlust kämpfen. Meine Mutter fehlte mir sehr und ich wusste nicht, ob ich das alles alleine durchstehen könnte. Aber ich musste. Ich musste mich damit abfinden und zurückkehren, auch wenn es mir unmöglich erschien, dass ich es, ohne Eric bei mir zu haben, schaffen würde.

 

Nach der Schule betrat ich meine leere Wohnung. Sofort verschlang mich die Stille. Meine Heiterkeit und mein Frohsinn erloschen augenblicklich. Ich hatte das Gefühl, jedes Staubkorn fallen hören zu können und spürte förmlich, wie sich die Leere in meinen Körper hineinfraß. Bei jeder Bewegung, die ich tat, und mit jedem Gegenstand, den ich ansah, stieg in mir die Erinnerung an meine Mutter auf. Jeder Schritt tat mir weh und schnürte mir die Luft ab.

Ich ging ins Wohnzimmer und sah das Bild meiner Mutter auf der Kommode, das ich mir sofort am ersten Tag nach meiner Rückkehr eingerahmt hatte. Ich nahm es an mich, ließ mich auf dem Sofa nieder und deckte meine Füße mit Mutters liebster Wolldecke zu – so wie sie es immer tat. Ich schaute mir das Foto an und strich mit meinen Fingerspitzen die Konturen ihres Gesichts nach. In meinem Kopf wiederholte sich ständig nur ein einziger Satz: Ich vermisse dich so sehr! Ich liebte sie. Dafür, dass sie mich allein großgezogen und mir so viel Liebe gegeben hatte, obwohl sie selbst als Waise, die im Heim aufgewachsen war, diese nie erfahren hatte.

Als sie kurz vor ihrem Schulabschluss mit mir schwanger wurde, verließ ihr damaliger Freund sie, nachdem sie sich geweigert hatte, mich abzutreiben. Er ließ meine Mutter mit der Verantwortung und dem Kummer allein zurück. Trotzdem weinte sie bittere Tränen um ihn, wie sie mir einmal erzählte. Sie wollte sich von ihrem Entschluss aber nicht abbringen lassen und entschied sich für mich – und das, obwohl sie jung war, ihren Freund liebte und alleine keinerlei Perspektive für die Zukunft hatte. Von dem bisschen Geld, das ihr zur Verfügung stand, kaufte sie Essen und Kleidung.

Als ich dann etwas selbstständiger wurde und zur Schule ging, nahm meine Mutter halbtags ihren Job als Verkäuferin wieder auf. Ich musste früh und schnell lernen, alleine auszukommen. Nach der Schule holte mich meine Mutter ab, wir machten uns etwas zu essen, ein wenig den Haushalt und ich die Hausaufgaben. So verging Tag für Tag.

Irgendwann nahm meine Mutter einen Zweitjob an und arbeitete zusätzlich abends, indem sie nach Feierabend die Straßenbusse reinigte, weshalb sie erst spät wieder nach Hause kam. Ich lag immer schon im Bett und wartete auf sie, denn ich konnte ohne sie nicht einschlafen. Es war nicht so, dass ich Angst hatte – ich brauchte einfach die Gewissheit, dass meine Mutter wieder da war. Sie kam dann immer vorsichtig in mein Zimmer und ihre Augen strahlten, wenngleich ich ihr stets ansah, wie erschöpft sie war. Sie legte sich zu mir unter die Decke, nahm mich in den Arm und küsste mich, bis ich zufrieden fest einschlief. Aber ich wusste, sie war jedes Mal wieder aufgestanden, nachdem ich eingeschlafen war, denn am Morgen sah es immer aufgeräumter aus als am Abend. Meine Kleidung für die Schule lag ordentlich zusammengefaltet für mich bereit, meine Brotdose stand fertig im Kühlschrank und das Essen für den Tag war entweder fertig oder zumindest vorgekocht.

Sie wollte für mich nur das Beste. Ich sollte mich voll auf meine Schule konzentrieren, um irgendwann einen guten Abschluss und eine gute Ausbildung zu erlangen. Deshalb war sie stolz, als ich ins Gymnasium kam und das trotz – vielleicht aber auch gerade wegen – der Umstände, in denen wir lebten.

Als mir die Tränen die Sicht nahmen, legte ich das Bild weg und rieb mir die Augen wieder trocken. Ich sah mir das Wohnzimmer an. Nein, ich werde verrückt! Es muss sich hier sofort etwas ändern!

Ich nahm mein Handy zur Hand und schickte Eric, Helen & Co. eine Nachricht, ob sie mir bereits morgen helfen könnten. Sie sagten alle zu und wir vereinbarten, dass wir mit Eric, der als einziger von uns ein Auto besaß, nach der Schule zum Baumarkt fahren würden.

Tatsächlich waren Eric und Alex die Ältesten unseres Jahrgangs. Als beide nach Deutschland kamen, mussten sie sich zunächst einleben und wurden deshalb entweder spät eingeschult oder mussten eine Klasse wiederholen. Dies hatte den Vorteil, dass sie im Gegensatz zu den meisten anderen schon volljährig waren.

Einige Augenblicke später bekam ich eine Nachricht von Eric und wir simsten ein wenig hin und her.

„Kommst du klar?“, fragte er.

„Was bleibt mir übrig?“, antwortete ich ihm.

„Bei uns wohnen!“

„Ich muss es einfach lernen, Eric.“

„Schon gut, verstehe ich ja. Du tust mir nur unheimlich leid.“

Ich war kurz davor, das Handy wegzulegen, konnte es aber nicht. „Eric, hör auf mit dem Scheißmitleid. Mir geht’s gut! Ich habe bloß hin und wieder Durchhänger, nichts weiter.“

„Soll ich vielleicht kommen?“

Die Antwort auf diese Frage überlegte ich mir gründlich. Seine Nähe tat mir immer gut und beruhigte mich ungemein. Aber irgendwie kam es mir diesmal nicht richtig vor. Ich wollte ihn nicht ständig belasten und ihn zu meinem Aufpasser verkommen lassen. Ich wollte nicht, dass er nur noch dieses Bild von mir hatte. Ich wollte Stärke zeigen.

In meinen Gedanken versunken, erschöpft allein zu sein, schlief ich wohl urplötzlich ein.

Stunden später wachte ich auf und schaute hastig auf mein Handy. Es war halb 8 Uhr abends und Erics Nachricht strahlte mir entgegen. „Noch da?“, hatte er vor zwei Stunden geschrieben. Ich schmunzelte etwas verschlafen.

Ich erinnerte mich an eine Zeit, da haben wir uns pausenlos SMS geschrieben. Fast jeden Abend bis zum Morgengrauen, oder bis einer von uns einschlief, was wir daran merkten, dass keine Antwort mehr zurückkam. So wie jetzt.

„Ja, sorry. Danke, ich komme zurecht“, antwortete ich ihm.

„Alles klar, dann sehen wir uns morgen in der Schule. Melde dich, wenn du mich brauchst!“

„Danke, Eric, mach ich. Gute Nacht!“, wünschte ich ihm und bemerkte augenblicklich, dass es eigentlich noch zu früh dafür war. Er stellte es aber nicht in Frage und wünschte mir ebenfalls eine gute Nacht.

Ich ging ins Schlafzimmer und legte das Handy auf den Nachttisch neben den Wecker. Es war tatsächlich früh, um ins Bett zu gehen, aber ich wusste auch nicht recht, was ich sonst alleine machen sollte. Also machte ich mich bettfertig, nahm mein Buch und schlüpfte unter die Decke.

Ich las dann noch lange und es war bereits Mitternacht, als ich das letzte Mal auf die Uhr schaute, das Buch zuklappte und weglegte. Eine kurze Weile musterte ich die Decke, denn ich war seltsam aufgeregt. Morgen war der Tag, an dem es sich vieles ändern würde. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Es wird gut, es wird alles gut, redete ich mir ein, bis meine Augen zufielen.