Es ist der Sommer, der für die Kleinstadt St. Jude in Ohio immer unvergessen bleiben wird: Hollywood kommt in die Stadt. Es sind aufregende Tage: das geschäftige Werkeln der Filmarbeiter unter der heißen Sonne, die hinreißenden Kostüme der Schauspieler, die Chance auf eine Statistenrolle, die bei allen Stadtbewohnern ein Kribbeln auslöst. Nur June lässt der Rummel kalt; die junge Frau ist ganz und gar mit ihrer anstehenden Hochzeit beschäftigt. Bis sie Jack Montgomery, dem großen Filmstar, begegnet und er all ihre Pläne auf den Kopf stellt. Doch noch bevor ihre Liebe gelebt werden kann, wird die Idylle erschüttert, und June muss sich entscheiden, was ihr wichtiger ist: ihre Gefühle für Jack oder ihre Loyalität.
Nach ihrem Bestsellererfolg Bittersweet erzählt Miranda Beverly-Whittemore in June von den glänzenden Zeiten der Fünfziger, vom strahlenden Hollywood und von einer Liebe zwischen zwei Welten.

Miranda Beverly-Whittemore, geboren 1976, verbrachte als Tochter eines Anthropologen einen Teil ihrer Kindheit im Senegal. Zurück in Nordamerika, besuchte sie ihre Großmutter regelmäßig in Ohio und ließ sich von deren Kleinstadt zu June inspirieren. Heute lebt Miranda Beverly-Whittemore mit ihrer Familie in Brooklyn.
mirandabw.com
Anke Caroline Burger übersetzt Romane aus dem Englischen, u.a. von Candice Fox, Mark Haddon und Adam Johnson. Sie lebt in Berlin und Montreal, Kanada.

Miranda Beverly-Whittemore

June

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Anke Caroline Burger

Insel Verlag

June

 

Für Grander,

die mir so viele Geschichten aus ihrer Kindheit vor hundert Jahren erzählt hat — und vom echten Lemon Gray Neely

 

 

und für ihre Tochter, meine Mama,

die zu jedem Abenteuer bereit ist und liebend gern aufregende, unbegangene Pfade einschlägt

Juni 2015

1. Kapitel

Nicht alle Häuser träumen. Die meisten tun das nicht. Doch Two Oaks träumte. Es träumte wieder von den Mädchen — von dem Mädchen June, das schon eine junge Frau war, und von dem Mädchen Lindie, das wie ein Junge wirkte. In dem Traum lagen June und Lindie zusammen im Bett, oben an der Treppe in Junes Kinderzimmer.

Nur im Traum entkam Two Oaks seinem gegenwärtigen Zustand — dem Ballsaal unterm Dach, durch den die Fledermäuse flatterten, der verstaubten Prunktreppe hinunter in die Eingangshalle, in der sich die Briefe an eine Tote stapelten, den rohen Kiefernholzstufen der Gesindestiege wieder hinauf. Im Traum konnte die Villa sich vormachen, ihr stünden noch einmal ereignisreiche Tage bevor. Das alte Haus beschwor das Geflüster der Mädchen herauf, ihre Geheimnisse und Ideen, das Drängen von June mit ihrem starken Willen, das Ziehen von Lindie mit ihrer Sehnsucht.

Häuser, die träumen, sind für die Ewigkeit gebaut (in jeder amerikanischen Kleinstadt gibt es nicht mehr als eines oder zwei davon). Früher waren sie einmal Herrenhäuser, jetzt sind sie kaum mehr als Bruchbuden: säulenbewehrte Festungen an kleinen Nebensträßchen, auf die man beim Besuch ältlicher Tanten stößt; ein Anblick, bei dem man anerkennend pfeift, ein Handyfoto schießt und weiterfährt. Sie werden von Männern mit hochfliegenden Träumen errichtet, im Fall von Two Oaks war es der Ölmagnat Lemon Gray Neely, der im Jahr 1895 den ersten Spatenstich im Zentrum von St. Jude, Ohio, tun ließ. In jungen Jahren glauben diese Anwesen, dass sie, von begabten Baumeistern gestaltet und vor Stolz förmlich berstend, auf Jahrhunderte hinaus jedem Zuflucht bieten werden, der über ihre Eichenschwelle tritt.

Doch dann stehen sie, abgesehen von Besuchen vereinzelter Postboten oder Handwerker, jahrzehntelang leer, die Morgensonne wandert tausendmal über den schmutzigen Boden, und sie müssen die würdelose Bewucherung der Außenmauern durch Efeu ertragen, ganz zu schweigen von den an der Vertäfelung nagenden Mäusen. Schließlich akzeptieren sie die traurige Wahrheit: Man hat sie vergessen. Ihr Fundament wird immer schwerer unter den Erinnerungen an die bedeutenden Männer, die die Treppengeländer mit ihren warmen Händen poliert, an die fleißigen Frauen, die ein Hefebrot nach dem anderen in den Öfen gebacken, an die pfeifenden Lieferjungen, die ihre hellblauen Milchflaschen in die Milchklappe gestellt haben, und an die wilden Mädchen, die im Vollmondlicht die korinthischen Säulen hoch in den ersten Stock geklettert sind, auf der Suche nach neuen Abenteuern. Die prächtigen Häuser nehmen ihren Niedergang hin, verlieren sich in süßen Erinnerungen und vergessen ihren Platz in der Welt. Sie lassen die Schultern hängen, sacken auf einer Seite langsam ab und merken nicht einmal, wenn jemand mit einem Koffer und einem Stoß schwerer Kartons aus dem Schnee hereinkommt, die Chenille-Tagesdecke über der bequemsten Matratze zurückschlägt und eine Dose Eintopf auf der einzigen Flamme anbrennen lässt, die am Herd noch funktioniert.

Heutzutage war Two Oaks vielleicht einsam, aber es hatte immerhin glücklichere Zeiten gekannt. Im Gegensatz zu anderen Häusern war es einmal voller Leben gewesen. Wenigstens hatte es eine Lindie und eine June gehabt. Wie ein alter Retriever, der den Kopf zu Boden sinken lässt und den süßen Träumen an ein früheres Leben nachhängt — dem quicklebendigen kleinen Blondschopf, dem Lieblingsschuh, dem rauchigen Duft gebratenen Specks —, so kann auch ein dem Verfall überlassenes Haus seine Geschichte noch einmal Revue passieren lassen. Im Fall von Two Oaks gehörten dazu die dunkle, fürchterliche Nacht, in der Lindie einem Mann den Kopf einschlug, bis sie seine Hirnmasse an den Fingerspitzen spürte. Dazu gehörte aber auch der verheißungsvolle Glanz der Filmstars, der seidenglatte Galgenstrick, der sich um alles zuzog, was den Mädchen lieb und teuer geworden war, das leise Stöhnen unter gestohlenen Küssen und das Baby.

 

Cassie hatte noch nie von träumenden Häusern gehört; sie hätte sich gegen so eine Vorstellung verwehrt. Sie wusste nur, dass sie ungewöhnlich lebhafte Träume hatte, seit sie im Dezember nach St. Jude, Ohio, gekommen war. Sie hatte Zuflucht im Haus ihrer Großmutter gesucht, wie sie es immer noch nannte — der Name »Two Oaks« kam ihr überkandidelt vor, und dass es jetzt ihres war, vergaß sie immer wieder. Cassie steckte mit ihren fünfundzwanzig Jahren in einer tiefen Lebenskrise; das Haus war ihr wie eine praktische Notlösung vorgekommen: eine Wohnmöglichkeit, als kurz vor Weihnachten klar geworden war, dass sie aus Jims Loft in Williamsburg im Speziellen und New York im Allgemeinen verschwinden musste. Sie hatte noch nie in Two Oaks gewohnt, und auch ihre Großmutter hatte hier nur noch wenig Zeit verbracht, nachdem sie nach Columbus gezogen war, um Cassie großzuziehen.

Die rostige Zentralheizung im Keller war kaputt, genau wie das Dach und der Herd und Gott weiß, was sonst noch. Der ergraute Handwerker, den sie am ersten Morgen kommen ließ, schusterte eine provisorische Notlösung zusammen, sodass wenigstens die Rohre nicht einfroren, lieh ihr einen Heizlüfter und empfahl ihr, baldmöglichst einen Fachmann zu rufen. Mittlerweile war Juni, und Cassie hatte sich immer noch nicht darum gekümmert. Die Rohre waren zwar nicht eingefroren, aber das war reines Glück gewesen, und sie wusste genau, dass sie sich nicht auf dieses Glück verlassen sollte. Das Dach war an manchen Stellen, nun ja, mitgenommen; wenn sie ganz ehrlich war, leckte es, besonders in einer der Abstellkammern neben dem Ballsaal. Die Tür einfach nicht aufzumachen war vermutlich kein besonders erwachsener Umgang mit der Situation. Auch dass man im Keller durch einen Riss im Fundament das Tageslicht sehen konnte, war kein allzu gutes Zeichen. Viel verstand Cassie nicht von Häusern, aber die Lage war ernst, das stand fest. Jeden Tag wachte Cassie mit dem Vorsatz auf, ein Bauunternehmen anzurufen. Sie müsste lediglich den Hörer des altmodischen Tischfernsprechers im halbrunden Arbeitszimmer auf der Vorderseite des Hauses abnehmen, den Zeigefinger in die Wählscheibe stecken, drehen, einen freundlichen, aber bestimmten Tonfall anschlagen und eine Handvoll Fachleute zu Hilfe rufen. Jeden Tag beobachtete sie sich dabei, wie sie es nicht tat. Vielleicht zum Teil, weil sie es sich nicht leisten konnte — dabei wusste sie ja gar nicht, wie viel Geld sie noch hatte. Seit sie im November die auf dem Konto ihrer Oma verbliebenen vierzehntausend Dollar geerbt — ein Schock, denn sie hatte mit viel mehr gerechnet — und mittels ihres inzwischen vernachlässigten E-Mail-Accounts automatische Abbuchungen eingerichtet hatte, hatte sie sich um keine Rechnung, keinen Brief und keinen Anruf mehr gekümmert.

Richtig sympathisch war ihr dieser Charakterzug nicht, und auf einen Winter in einem eiskalten Haus hatte sie auch keine Lust. Cassie zwang sich sogar täglich daran zu denken, wie scheußlich das Erwachen mit eiskalter Nase und rauem Hals gewesen war. Sie verbrachte einen nicht unerheblichen Teil ihres Tages mit Sorgen über die durchfeuchtete Decke in der Abstellkammer direkt über ihrem Bett. Aber sie schaffte es einfach nicht, zum Hörer zu greifen. Vielleicht glaubte sie unbewusst, das Einfrieren der Rohre und der Einsturz des Daches seien genau die richtige Strafe dafür, dass sie Jim verlassen und ihrer Großmutter das Herz gebrochen hatte, weil sie aus lauter Dummheit und Arroganz nicht mitbekommen hatte, dass die alte Frau im Sterben lag.

Den lebhaften Träumen, die ihr Two Oaks bescherte, war es zu verdanken, dass sie Grundbedürfnisse wie Wärme und ein heiles Dach über dem Kopf ignorieren konnte. Cassie kannte den Ursprung der Träume nicht — genau wie die meisten Menschen war sie überzeugt, dass sie ihrem Unterbewussten entstammten. Aber die nächtlichen Dramen waren wesentlich besser als alles, was ihr waches Leben an jenen dunklen Wintertagen zu bieten hatte. Im April, als sich die wild wuchernde Flora vor den Fenstern in hundert verschiedenen Smaragdtönen färbte, schlief Cassie bereits vierzehn, sechzehn Stunden am Tag.

Das Haus richtete sich in seinem tiefen, honigbraunen Schlaf ein und nahm Cassie mit unter seine schläfrigen Fittiche. Selten einmal wurde es durch ein Niesen oder einen zerspringenden Teller dazu gezwungen, das Menschenwesen in seiner Mitte zu bemerken; Cassies Anwesenheit war sicher vorübergehend wie die unter den Dachsparren nistenden Grackeln oder die Beutelrattenfamilie, die in der Milchklappe hauste. Die Jahreszeiten kamen und gingen, und das Mädchen würde auch bald wieder verschwunden sein.

 

Der Traum von June und Lindie, den Two Oaks und Cassie zusammen träumten, ging so:

Der Juni war da. Eigentlich interessieren sich Häuser nicht für Zeit, für die sie im Grunde kein Verständnis aufbringen. Doch der Juni dieses Jahres markierte einen eindeutigen Wendepunkt auf der Reise des Hauses von Wohnstatt zu Leerstand, und deswegen erinnerte es sich auch an die roten Ziffern auf dem Küchenkalender über Apathas gusseisernem Herd: 1955.

Lindie und June lagen im goldenen Licht von Junes Lampe mit dem rosa Keramikfuß zusammen im Bett, in der Nacht, die Mai und Juni miteinander verband. Lindie betrachtete die vor Begeisterung kichernde June: Sie hieß June, und dieser Juni würde ihr Wonnemonat werden. Lindie hatte sich den ganzen Tag lang darauf gefreut, über den Portikus — das Vordach über dem Eingang, aber Onkel Lemon bestand darauf, dass sie es »Portikus« nannte — zu June ins Zimmer zu klettern. An Lindies Haut klebte noch die schwüle, vom Gesang der Grillen erfüllte Nacht, als sie durch Junes Fenster einstieg und sich zu ihr ins Bett schlich.

Die Mädchen waren umgeben von dem, was Lindie in den drei Jahren seit Junes Ankunft in Two Oaks als die wichtigsten Besitztümer ihrer besten Freundin lieben gelernt hatte: die Aquarellfarben, die bunten Haarbänder, die sich im kühlen Luftzug des Ventilators bewegten, eine mit kleinen Rosen bemalte chinesische Porzellandose und die neben der Tür aufgereihten damenhaften Schühchen. Ein Teller mit Apathas Haferkeksen stand auf dem Nachttisch, von denen June einen gegessen hatte (Lindie hatte sich bereits vier stibitzt und ein Auge auf die restlichen geworfen).

June richtete sich auf und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, wobei sie etwas von Chopin vor sich hin summte. Lindie klaute sich einen weiteren Keks, merkte sich die Melodie — genau wie alles, was mit June zu tun hatte — und Junes leicht schrille Stimme in den hohen Tönen. Wenn sie das nächste Mal allein in ihrem schmucklosen Zimmerchen auf der anderen Straßenseite lag, würde sie die Augen schließen, sich das Lustempfinden in Erinnerung rufen, das sie fast schmerzhaft erfüllte, und so tun, als wäre sie wieder bei June.

Lindie schlug eine der bunten Filmzeitschriften auf, die sie über Junes Bett verteilt hatte. Screen Stars, Photoplay, Silver Screen, Picturegoer; beim Hochklettern hatte sie den Stoß mit einem Bindfaden zusammengebunden, jetzt überlegte sie, ob sie für den Rückweg vielleicht eins von Junes vielen Haarbändern nehmen konnte — vielleicht das waldmeistergrüne, das June sowieso nicht trug. Von draußen drangen das Tuckern eines alten Motors, das Maunzen einer Katze und das ewige Grillenkonzert über der heißen Ebene des Mittleren Westens herein. Es waren Sommerferien. Für June war es das letzte Schuljahr gewesen, sie war achtzehn, Lindie vierzehn, und June würde in diesem Sommer heiraten.

In letzter Zeit hatte June nur noch weiß fließenden Chiffon, Ansteckblumen, Cordon Bleu und eine hohe, mehrstöckige Torte mit Sahnehäubchen im Sinn. Ihr Verlobter Artie mochte seit sieben Monaten nicht mehr in St. Jude gewesen sein, und die Gespräche, die sie mit ihm geführt hatte, konnte sie an einer Hand abzählen — doch das alles war hinter dem Versprechen der großartigen Hochzeit zurückgetreten, die ihre Mutter, Cheryl Ann, und Arties Bruder Clyde seit dem Oktobertag planten, an dem Artie June einen schmalen Goldring an den Finger gesteckt und einen Diamantring versprochen hatte.

June hatte hervorragende Noten in Geometrie gehabt, sie mochte Symmetrien und Gleichungen. Durch die Hochzeit käme alles wieder ins Lot, was in Schieflage geraten war: der Tod ihres Vaters Marvin im Koreakrieg, der Verlust ihres Hauses im eleganten Goldenen Viertel in der Nachbarstadt Lima, nachdem Marvins Spielschulden ans Licht gekommen waren, Junes und Cheryl Anns Fall aus der besseren Gesellschaft Limas auf den Ackerboden des verschlafenen St. Jude. Ein entfernter Verwandter hatte sie aufgenommen: Lemon Gray Neely, Junes angeheirateter Großonkel. Er hatte die beiden Frauen in den Eckschlafzimmern von Two Oaks untergebracht.

June fragte sich, ob Onkel Lem (ihre Mutter wollte, dass sie ihn so nannte), die Farbe Gelb vielleicht wegen seines Namens — Lemon — besonders gern mochte und er das Haus deswegen aus gelbem Backstein hatte erbauen lassen. Gerüchten zufolge war er immer schon exzentrisch gewesen, auch bevor er durch einen Schlaganfall die Sprache verloren hatte. June war dankbar, dass der alte Onkel ihnen geholfen hatte, natürlich. Aber Two Oaks war das einzige Herrenhaus in St. Jude, und June, früher eins unter vielen Mädchen aus imposanten Elternhäusern, nun eine Außenseiterin. Sie war mitten in der zehnten Klasse auf die Memorial Highschool gekommen, als alle schon Freundinnen hatten; und sie waren nicht mehr wohlhabend, sondern lebten von der Großzügigkeit ihres reichen Onkels, auch wenn ihre Mutter den Unterschied häufiger zu vergessen schien.

»Zieh das hier an«, sagte June und breitete das mit Erdbeeren bedruckte Sommerkleid auf dem Bett aus, das ihr um die Brust schon seit letztem Jahr nicht mehr passte. June war auch für Lindie dankbar, für die treue Freundschaft der Jüngeren, auch wenn sie von ihr manchmal mit der liebenswerten Lästigkeit eines Moskitos bestürmt wurde. June hatte Lindie zur Brautjungfer auserkoren. Jetzt musste sie die wilde Kleine nur noch zum Tragen des lindgrünen Chiffonkleides bewegen, das sie für die Hochzeit am 3. Juli ausgewählt hatte. Eine Brautjungfer musste ein Kleid tragen, und auch bei Lindie durfte man die Hoffnung nicht aufgeben, auch wenn sie seit über einem Jahr nicht mehr in einem solchen zu sehen gewesen war. Ein einfaches Sommerkleid aus Baumwolle für den großen Tag morgen erschien ihr wie ein angemessener erster Schritt. Den Ausschnitt würden sie ausstopfen und den Saum vielleicht hochstecken müssen, aber alles war besser als Lindies derzeitiger Aufzug, in dem sie wie ein kleiner Schornsteinfeger aussah.

Lindie zog ihre schwarzen Fußsohlen weg, um das Erdbeerkleid nicht schmutzig zu machen. June zeigte auf ihre ungekämmte Kurzhaarfrisur und die fleckige Latzhose und sagte: »Du bist so hübsch, Lindie. Warum willst du dich verstecken?« Lindie war wirklich hübsch, irgendwo unter den Dreckschichten. Sie hatte hohe Wangenknochen und tannengrüne Augen mit goldenen Sprengseln darin, die beim Lachen wie Feuer aufleuchteten. June lächelte nachsichtig, als sie Lindies größte Sorge ansprach: »Probier's doch einfach mal an. Du weißt so gut wie ich, dass du keine Rolle in Erie Canal bekommst, wenn du wie ein Gassenjunge dort aufkreuzt.«

Lindie runzelte die Stirn. June hatte recht. Sie befühlte die feine Baumwolle mit den Fingern und redete sich gut zu, dass die Sache mit dem Kleid nur ein winziges Fliegenschisschen im Vergleich zu dem grandiosen Monat darstellte, der ihr bevorstand. Während June von ihrer Hochzeit träumte, wollte Lindie unbedingt eine Komparsenrolle in Erie Canal ergattern. Es war das unglaublichste Ereignis, das sich jemals in ihrem Heimatort abgespielt hatte: Hollywood kam nach St. Jude, und zwar am nächsten Morgen!

Lastwagen voller Ausrüstung waren bereits in den Ort gerumpelt. Den ganzen Tag lang wurden mit Tüchern verhängte Garderobenständer ratternd in die Memorial High gerollt, und an den Bäumen am Center Square hingen Flugblätter, in denen nach Komparsen gesucht wurde, die in historischen Kostümen bei den Massenszenen des Films mitspielen sollten. Lindie hatte zwar ihren Vater und seine Kompagnons am Vorabend über die unmittelbar bevorstehende Ankunft des Filmstabs reden hören, musste sich aber mit eigenen Augen davon überzeugen. Etwas so Phantastisches konnte einfach nicht wahr sein.

»Morgen früh ziehe ich das Kleid an«, versprach sie. Ein Kleid war nicht mehr nur ein Kleid. Es stand für das Leben, das June und sie erwartete — einmal ganz von den Hollywoodphantasien abgesehen. Ein ruhiges Leben als erwachsene Damen mit Bindengürteln unter Gummischlüpfern, regelmäßigem Bridgespiel, Dinnerpartys und Gesichtspuder, das nach alten Frauen roch. Lindie ließ sich zurück aufs Bett fallen.

»Warum probierst du's nicht jetzt an?«, fragte June fröhlich, drehte sich wieder ihrem Schrank zu und ging noch einmal die anderen dort hängenden Möglichkeiten durch, auch wenn sie genau wusste, dass diese für Lindies Geschmack viel zu viele Rüschen hatten, ganz zu schweigen von zu viel Oberweite. »Wir könnten dir die Haare machen. Du kriegst ein bisschen Rouge auf die Wangen. Nur damit auch alles zusammenpasst.«

Aber Lindie blieb eisern.

»Na gut, dann stehen wir halt ganz früh auf«, sagte June in einem Ton, den sie hoffte, später einmal bei ihren Kindern anwenden zu können. Lindie lächelte sie erleichtert an, und June überlegte, ob sie Lindie fragen sollte, wie sie ihr Haar gern hätte, aber stattdessen strich sie ihrer Freundin einfach über die Schläfe, was deren Herz flattern ließ, und legte sich neben sie.

»Wie die in echt wohl sind?«, fragte Lindie in romantischer Verzückung und betrachtete dabei Jack Montgomery auf dem Titelblatt der Illustrierten an Junes Ellbogen. Früher hatte Jack Montgomery relativ weit unten auf der Liste ihrer Lieblingsfilmstars gestanden, weit unter Cary Grant und Bogie, und bei der Erwähnung von Diane DeSoto hätte sie nur die Nase gerümpft — eine typische Hollywoodschönheit, die bisher noch nie in einer Hauptrolle zu sehen gewesen war. Aber wenn Jack Montgomery und Diane DeSoto nun nach St. Jude kamen (toi, toi, toi), dann waren sie natürlich hundertmal aufregender als jeder andere Filmstar der Welt.

»Glaubst du wirklich, Diane DeSoto wäscht sich das Gesicht mit Milch? Wie groß ist Jack Montgomery eigentlich? Glaubst du, dass sie ein Liebespaar sind? Kommst du auch mit zum Vorsprechen? Bitte, bitte, June, du bewirbst dich doch auch, oder? Wenn ich so aussehen würde wie du, würde ich sofort eine Rolle kriegen!«

»Ach, hör auf.« June wollte kein Interesse an einer Statistenrolle vorheucheln. Und sie würde nicht zulassen, dass Lindie abgewiesen wurde; sie wäre am Boden zerstört. Dabei bräuchte sie sich doch nur wie ein normales Mädchen anzuziehen und mal das Gesicht zu waschen — wieso nur sah sie nicht die Vorteile solch kleiner Verbesserungsmaßnahmen? June überlegte, ob sie stark genug war, die kleine Rebellin eigenhändig in das Kleid zu zwingen, wusste aber, dass Lindie schon aus reiner Bockigkeit die Oberhand behalten würde.

»Ich habe gehört, es werden sogar Sprechrollen vergeben.« Lindie ließ nicht locker. Das hatte sie sich allerdings gerade ausgedacht. »Ich wette, dich würden sie nehmen.«

»Ich kann nicht vorsprechen.« June stand wieder auf, um in den Spiegel zu schauen, eine dumme Angewohnheit, die sie seit Neuestem an den Tag legte, außerdem spülte sie ihre Haare mit Apfelessig, damit sie mehr glänzten.

»Und ob du das kannst.«

»Kann ich nicht, Lindie.« Junes Stimme war fest. »Ich heirate. Das gehört sich nicht.«

Lindie richtete sich auf. »Du heiratest nicht.« June warf ihr im Spiegel einen warnenden Blick zu, und sie sprach weniger forsch weiter. »Ich meine nur, wie willst du heiraten, wenn du keinen Bräutigam hast?« Arthur Danvers war seit Monaten weg — seit Oktober —, und Gott weiß, wo er steckte. Angeblich kümmerte er sich um die Geschäftsinteressen seines Bruders im Süden, aber das wagte Lindie zu bezweifeln. »Und selbst wenn er hier wäre. Willst du dein Leben wirklich mit so einem Käsegesicht verbringen?«

Junes Lippen wurden schmal. Aber Lindie wurde den Gedanken an die steife Art nicht los, mit der Artie Danvers Junes Arm genommen hatte, als sie im Oktober die schicksalshafte Runde um den Center Square gedreht hatten. Er war ein fünfunddreißigjähriger Junggeselle, der vom Geld seines Bruders lebte. Lindies Meinung nach bekam er eine Schönheit wie June nur deswegen ab, weil ihre geldgierige Mutter sie bereitwillig an den höchsten Bieter verschachert hatte. »Artie Danvers ist eine Null! Ein Waschlappen. Eine Schlaftablette.« Sie fuchtelte mit den Armen und versuchte verzweifelt nach den Worten zu greifen, die June endlich die Augen öffnen würden. »Er ist …«

»Hör auf.«

Waren das die Schritte von Junes Mutter draußen auf dem Flur, direkt vor der Tür? Die Mädchen erstarrten, lauschten angestrengt, was mit dem summenden Deckenventilator schwierig war, erwarteten das gefürchtete Klopfen, den Geruch von Pond's Schönheitscreme, Cheryl Anns Erkenntnis, dass June sich eingeschlossen hatte, und die Forderung, die Tür zu öffnen, und zwar ein bisschen plötzlich, Fräulein! Aber es klopfte nicht, und June atmete erleichtert aus. Sie legte sich wieder hin, die braunen Haare umgaben sie auf dem Kissen wie ein Heiligenschein.

Vorsichtig legte sich Lindie neben June. »Ich will damit doch nur sagen, dass du niemanden heiraten kannst, den du nicht liebst.«

»Und woher willst du wissen, dass ich ihn nicht liebe?«

»Das weiß ich halt.«

June lächelte wieder, ein mattes Lächeln, als sei ihr Lindies Zuneigung ein wenig lästig. »Du bist süß.«

Lindie sprach sanfter weiter. »Wir können jetzt sofort abhauen. Auf meinem Fahrrad. Wir fahren raus nach Idlewyld und verstecken uns da, bis uns was Besseres einfällt.« Als sie den Namen ihres Geheimverstecks aussprach, spürte Lindie wieder die Erinnerung an den Frosch in ihren Händen, am Rand des sieben Kilometer entfernten Sees, in der Nacht, in der sie June ganz für sich hatte und davon träumte, es könnte für immer nur sie beide geben.

»Kleiner Bär.« June strich Lindie die Haare hinter die Ohren und rieb ihr die Ohrläppchen. Einmal, zweimal, als solle es Glück bringen, als wolle sie sich, genau wie Lindie, diesen Augenblick einprägen.

Lindie hoffte, dass noch mehr käme. Aber June drehte sich um und schlief ein.

Stell sie dir vor, die beiden aneinandergeschmiegten Mädchen, die in einem Eckschlafzimmer von Two Oaks unter dem Surren des Deckenventilators tief und gleichmäßig atmen. Die Bodendielen knacken und ächzen. Die Schiebetüren knarzen. Lindie legt den Arm über Junes warme Hüfte. Sie hält die Augen so lang wie irgend möglich offen, stellt sich vor, es sei eine windstille Nacht an Bord der Pequod, die anderen Matrosen schliefen und der große weiße Wal zöge tief unter ihr seine Kreise. In ihrer Phantasie verwandelt sich das Tschick-tschick-tschick der Grillen in Ohio in das Rauschen des Meeres, das sie noch nie gehört hat. Ihre Augenlider halten der Dunkelheit nicht länger stand und der Schlaf trägt sie sanft davon.

2. Kapitel

Bevor Cassie richtig wach war, stand sie schon fast an der Schlafzimmertür. Die ganze Welt war ein einziges gellendes Schrillen. Sie ahnte zwar, dass das grauenvolle Geräusch nicht ihrem Kopf entstammte, aber es zerstörte die Ruhe, die eigentlich dort oben eingezogen war. Sie konnte sich schon ausmalen, was als Nächstes kommen würde: stechende Kopfschmerzen, Magendrücken, der plötzliche Drang, auf die Toilette zu rennen, juckende Handflächen, viel zu helles Licht, sogar mit geschlossenen Jalousien und Vorhängen, sogar mit Augenmaske und Kissen über dem Kopf. Sekunden zuvor hatte sie sich noch so gemütlich in den Traum von den beiden Mädchen gekuschelt, die in genau demselben Bett gelegen hatten wie sie. In dem schönen Traum war das Zimmer voller Haarbänder und heller Farben gewesen, angefüllt von einer wohligen Körperwärme, nach der sie sich jetzt, wo sie außer Reichweite war, sofort sehnte.

Das Heute grub ihre Klauen in sie. Das Haus gab ein entsetzliches Protestgeheul von sich. Das Ganze war unerträglich. Blind tastete Cassie auf dem Boden nach Kleidern, fand aber nur ein Küchenhandtuch. Sie merkte, dass sie keine Brille aufhatte — natürlich, damit fing das Problem ja schon mal an, jetzt war sie auch wach genug, um zu merken, dass sie nichts sehen konnte —, fuhr mit der Hand über den Nachttisch und fluchte laut, als sie ihre Brille auf den Boden fallen hörte. Das teuflische Schrillen ließ nicht nach. Sobald sie die Brille aufhatte und das Zimmer in den Fokus rückte, wurde ihr klar, dass nur ein Haus, das so alt war wie Two Oaks, ein solches Geräusch produzieren konnte, als müsse es zähen Schleim hochhusten, der seit Urzeiten in seiner Kehle festsaß, sich räuspern, ächzen und stöhnen. Aber das erklärte natürlich nicht, woher dieses Kreischen stammte und was es bedeutete, und erträglicher wurde es dadurch auch nicht.

Einen flüchtigen Augenblick lang hörte das Getöse auf. Cassie genoss die herrliche Stille, in der das Haus sich genauso verhielt, wie es sollte. Irgendwo an der Straße bellte ein Hund, die Fenster in der Loggia klirrten, als ein Windstoß aus dem Osten an ihnen rüttelte — völlig still war es also nicht, aber friedlich. In Cassies Ohren summte es. Sie sah sich in ihrem hellen Eckzimmer um — der Chenille-Überwurf, den sie im Schlaf von sich gestrampelt hatte, die schmutzstarrenden Volants, die ihre Aussicht wie geschweifte Klammern umrahmten, das Glas Wasser auf dem verkratzten Beistelltisch, das sie erstaunlicherweise nicht umgeworfen hatte. Dann blickte sie an sich hinunter: Nackt war sie, das ja, aber verrückt war sie nicht. Sie war stark genug, angesichts der bösen Welt nicht einfach zusammenzubrechen.

Aber dann war das schrillende Keifen wieder da, tausendmal schlimmer als Fingernagelkratzen auf einer Schultafel. Cassie wickelte sich in die Überdecke und tappte blinzelnd hinaus auf den Flur. Auf dem Flur war das Getöse noch lauter und ging ihr durch Mark und Bein. Sie merkte, wie die letzten Überbleibsel des süßen Traums von ihr abfielen. Ganz kurz überlegte sie, ob sie zurück ins Schlafzimmer gehen und versuchen sollte, seinen letzten goldenen Nachglanz zu erhaschen — zwei Mädchen, oder nicht? Zwei Mädchen, voll überbordender Vorfreude auf die Zukunft — aber sie wusste ja jetzt schon, dass es sinnlos und der Traum vorbei und verloren war. Sie spürte den Lufthauch an ihrer Haut, sie war wieder sie selbst. Und wenn sie noch viel länger hier herumstand, würde sie garantiert taub werden.

Als sie eine Stufe nach der anderen die Treppe hinuntertappte, fiel durch die Buntglasfenster ein grüner Lichtfleck auf ihren kleinen Zeh. Das Haus dröhnte weiter. Im selben Augenblick, in dem ihr klar wurde, dass die Türklingel für das Geplärr verantwortlich war, schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, es könne jemand von der Bank sein. Angst packte sie, als sie an die viele Post dachte, die der blau uniformierte Postbote tagein, tagaus durch den Briefschlitz steckte: allerletzte Mahnungen, Schreiben von der Bank, von der Anwaltskanzlei, welche die Erbschaftssache regelte. Cassie war ja selbst erstaunt über ihr unverantwortliches Verhalten. Die kaputte Heizung, das lecke Dach, das gesprungene Fundament. Es schien tragisch, aber unausweichlich, dass sie nach über hundert Jahren diejenige sein würde, die der Familienvilla den Todesstoß versetzte. Andererseits war sie eine Waise, ihre Großmutter tot, Geschwister hatte sie auch keine — konnte man wirklich ihr die Schuld geben, dass sie mit dieser Situation nicht zurechtkam, wo sie doch von allen verlassen worden war?

Cassie machte die nächsten Schritte ihrem Schicksal entgegen, und ihre Fußknöchel wurden von einem rosigen Lichtmuster überzogen. Die Bank, die Bank. Im November, als sie den Verrechnungsscheck und die Besitzurkunde erhalten hatte, waren ihr vierzehntausend Dollar ausreichend vorgekommen, aber seitdem hatte sie nicht einen einzigen der vielen Fensterumschläge geöffnet, und seit gestern klingelte unentwegt das Telefon. Elender Mist. Es musste die Bank sein.

Als Cassie endlich am Fuß der prunkvollen Eichentreppe ankam, die trotz der Schmutzschicht nach hundert Jahren Bohnerwachs immer noch rutschig war, hatte die Klingel — wobei man so etwas wirklich nicht Klingel nennen konnte, aber ein Wort wie Türschrille gab es nun mal nicht — das Geplärr eingestellt. In den alten Bettüberwurf gewickelt, versuchte Cassie durch die enorme, selbst bei Sonnenschein dunkle Eingangshalle und zur Haustür hinaus zu spähen. Jemand bewegte sich, aber weit weg, und die Gardine vor dem dicken Buntglas verhinderte einen genaueren Blick. Zwischen ihr und der Tür lag ein großer Haufen Briefe, die der Postbote täglich in Einzeldosen lieferte; sein Gesicht hatte sie noch nie gesehen, da sie ihn für gewöhnlich von oben aus dem Fenster beobachtete.

Sie zögerte einen Augenblick. Überlegte, zurück ins Bett zu gehen. Aber dann fing das Telefon an zu klingeln, so penetrant und unnachgiebig wie seit dem vorigen Morgen. Das Eindringen der Außenwelt — erst Türklingel, dann Telefon — warf sie stärker aus der Bahn als alles andere, was sich seit ihrem Umzug nach St. Jude ereignet hatte. Vielleicht wurde das Haus gepfändet. Vielleicht hatte sie nicht genug Steuern gezahlt. Vielleicht, vielleicht, vielleicht — in Cassies Kopf drehte sich alles. Ihre Angst vor diesem Tag schwoll noch an — verschwitzte Handflächen, trockener Mund, rasender Puls — und schlug mit einem Mal in unbändigen Zorn um. Wütend marschierte sie durch das Foyer und kickte die Post aus dem Weg. Scheiß auf die Bank. Scheiß auf alle, die meinten, sie könnten ihr etwas wegnehmen. Großmutter hatte ihr das Haus hinterlassen, sonst niemandem, und Cassie konnte damit tun und lassen, was sie wollte. Sogar bis mittags schlafen, damit sie mehr Zeit für ihre Freundinnen aus dem Traum hatte.

Der Kristalllüster an der Decke klirrte, als sie entschlossenen Schrittes auf die schwere Eichentür zuging, die gerahmten Aquarell-Stillleben bebten. Sie riss die Tür auf.

Der Sommer war da.

Der Tag traf sie wie ein Paukenschlag: zu viel Licht, zu viel Farbe, zu viele Heckenrosen, aus deren Herzen zu viele Insekten tranken. Ein Mann im grauen Anzug eilte gerade über den Gartenweg davon, Smartphone am Ohr. Das entfernte Klimpern eines Windspiels, ein durch die Straße röhrender Traktor, fiedrige Wolken hoch am Himmel wie weiße Spitze über einem blauen Kleid. Selbst jetzt noch, nach einem halben Jahr Abstinenz, war ihr erster Impuls, nach der Kamera zu greifen, an Blendenöffnung, Schärfentiefe und Belichtung zu denken, aus welchem Winkel sie fotografieren, was sich in der Mitte des Bildausschnitts befinden sollte. Es juckte sie in den Fingern, das Wasser lief ihr im Mund zusammen: Das hier war ein gutes Bild, oder zumindest die Gelegenheit dazu. Aber nein — sie unterdrückte das sich regende Verlangen. Sie fotografierte nicht mehr, glaubte nicht mehr daran.

Um sich abzulenken, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den davoneilenden Fremden. Er wirkte irgendwie kompakt. Seine Schulterblätter zeichneten sich unter der schiefergrauen Gabardine ab, als wollten sie Reklame dafür machen, wie ein gutsitzendes Sakko an einem Mann auszusehen hatte. Er war fast am Bürgersteig angelangt.

»Was ist?«, schrie sie ihm hinterher. Sie bereute die Worte, sobald sie ihr aus dem Mund gekommen waren. Sie war immerhin nackt und nur wie ein Säugling in eine Bettdecke gewickelt. Cassandra Danvers war keine Prophetin. Doch als der Mann sich umdrehte, war ihr augenblicklich klar, dass ihr hart erkämpftes Leben in Einsamkeit ein Ende gefunden hatte. Es war der direkte Blick, mit dem er sie ansah — als hätten sie einen Vertrag miteinander, aus dem es so leicht kein Entrinnen gab.

3. Kapitel

Er kam über den Gartenweg zu ihr zurück gesprintet, als hätte sie ihm gerade das Leben gerettet. Cassie war zwar zur Einsiedlerin geworden, aber ihr Gespür für Menschen hatte sie nicht verloren. Dieser junge Mann, der da mit gerunzelter Stirn auf sie zukam, war gestresst. Und ihr altersmäßig viel näher — über dreißig war er auf keinen Fall —, als sein geschäftsmännisches Äußeres von hinten hatte vermuten lassen.

Er kam die knarrenden Treppenstufen hoch und sprach fragend ihren Namen aus. Dann steckte er das Smartphone weg und stürzte über die Veranda auf sie zu. Das Telefon im Arbeitszimmer hörte auf zu klingeln; als es plötzlich still war, schimpften die links der Haustür nistenden Grackeln laut los.

Auf den paar Bodenfliesen, die der Veranda von Two Oaks geblieben waren, tanzte das Sonnenlicht. Mittlerweile waren sie grau und saßen so wacklig in den Fugen wie Diamanten in der Fassung eines geerbten Eherings. Doch selbst nach über hundert Jahren strahlten sie noch hell genug, um das Licht zurückzuwerfen und den näherkommenden Mann in ihren Glanz zu tauchen. Cassie hielt sich schützend eine Hand vor die Augen. Er war es also, der seit dem Vortag ständig anrief, argwöhnte sie. Seit er das Handy weggesteckt hatte, klingelte auch das Haustelefon nicht mehr.

»Ich heiße Nick Emmons.«

Er streckte ihr die Hand hin, doch sein Blick huschte kritisch umher. Sie folgte seinem Blick hinauf zum modernden Querbalken des Vordachs, dann zur blätternden Säule in der Westecke der Veranda. Sie fühlte sich wieder wie im Krankenhaus, als sie die trockene Hand ihrer Großmutter gehalten hatte und die wohlmeinenden Krankenschwestern mit ihren Geräten anschreien wollte: »So ist sie nicht! Ihr kennt sie doch gar nicht!« Der junge Mann sah nichts als ein Wrack vor sich. Cassie blickte ihn aus verengten Augen an und stellte sich vor, wie er durch eines der morschen Dielenbretter brechen würde, auf denen früher einmal Verandafliesen gelegen hatten. Dann würde er bis zur Taille feststecken und käme nicht mehr an die Türklingel. Sie würde ihm das Handy klauen und dem eigensinnigen Haus die Schuld an dem Vorfall geben.

Doch jetzt trug eine Brise seinen Geruch heran, eine Mischung aus Holzfeuer und Speed-Stick-Deo, dem grünen Speed Stick, den Cassies erster Schwarm benutzt hatte — der Schüler, der ihnen in Columbus den Rasen gemäht hatte. Vor ihr stand ein gut riechender, tadellos gekleideter Mann, der nach Cassies ersten erotischen Phantasien duftete, und lächelte sie an. Sie konnte sich unmöglich vormachen, es gefiele ihr nicht, wie gut die blassblaue Krawatte zu seinem grauen Anzug passte, oder wie ihm eine widerspenstige Strähne in die Stirn fiel.

»Was für ein tolles Haus«, sagte er zu ihrer Überraschung, und sie war entzückt.

Aber besser schnell das Pflaster abreißen. »Sind Sie von der Bank?«, fragte Cassie und zog die angenehm weiche Chenille-Decke enger um sich.

»Achtzehnfünfundneunzig? Sechsundneunzig?« Er begutachtete das aus gelben Klinkern gemauerte Halbrund des Portals. »Ist das der ursprüngliche Eingang? So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Ähm«, sagte Cassie und wiederholte ihre Frage nach der Bank, die er einfach nicht beantworten wollte. Er tippte mit der Schuhspitze auf die losen Bodenfliesen und drehte sich, damit er den Blick vom Eingang aus bewundern konnte. Das war vermutlich sein Ford Fiesta dort an der Straße. Begleitet vom Gedudel eines Country-Senders fuhr ein Pick-up vorbei, ein tätowierter Arm war im offenen Fenster zu sehen. Nick bewunderte weiter das Haus, dann drehte er sich zu Cassie um und fragte sie nach ihrem Telefon. Ging sie überhaupt jemals dran? Hatte sie denn kein Handy? Keine E-Mail-Adresse? Wusste sie eigentlich, dass sie praktisch unerreichbar war? Cassie betrachtete diesen Nick Emmons, der im Laufe der letzten paar Minuten zweimal unbewusst sein Smartphone herausgezogen hatte, seine PIN eingab, E-Mail und SMS kontrollierte und es dann zurück an seinen Platz steckte: die Tasche über seinem Herzen. Der Mann konnte offenbar nicht stillhalten.

Cassie musste an Jim denken, obwohl sie sich das augenblicklich verbot. Jim, dem das Telefon immer wieder abgestellt worden war, je nachdem, ob er die Rechnung in dem Monat bezahlen konnte oder nicht. Jim, der resolut geblieben war, als der Rest der Welt auf Handys umstieg und Cassie ihn aufzog, ob er nicht vielleicht auch an der Gegenwart teilhaben wolle. Jim, der sich nicht rasierte und so stramm auf die Fünfzig zuging, dass sie ihn nie zu fragen gewagt hatte, wie alt er genau war, der keinen Anzug besaß und nur duschte, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Doch im Grunde fehlte er Cassie nicht, und sie wusste, dass die Trennung richtig, wenn auch schmerzhaft gewesen war. Aber als sie nun diesen gut gekleideten, wohlriechenden, umtriebigen jungen Mann vor sich sah, stand ihr ungewollt die Matratze auf dem Boden von Jims Atelier vor Augen, die zerwühlten Decken und Jims farbverschmierte Finger, die eine Tonleiter auf ihrem Rücken spielten.

»Und was wollen Sie?«, fragte Cassie forsch und versuchte, den seltsamen Nebel zu durchbrechen, der ihre Urteilskraft zu schwächen schien.

»Oh.« Nick stellte das Lächeln ein. »Richtig.« Er räusperte sich, als wäre er auf diese Frage nicht vorbereitet gewesen. »Könnte ich vielleicht hereinkommen?«

Beiden war klar, dass dieser Satz nicht ausreichte, um ihm Zutritt zum Haus zu verschaffen. Er startete einen zweiten Anlauf. »Ich bin da, wegen einer — Ihrer — Erbschaft.«

War er also doch von der Bank. Cassies Mund verhärtete sich. Für diese Auseinandersetzung hätte sie doch lieber Klamotten am Leib, aber wenn es jetzt sein musste — bitte. Dann eben so. »Das Geld gehört mir. Sie hat es mir hinterlassen. Ich weiß, dass das Haus stark reparaturbedürftig ist, aber es war abbezahlt, was heißt, dass es jetzt mir gehört, und ich sehe vielleicht nicht so aus, als würde ich viel von Geld und Häusern und so weiter verstehen, aber ich weiß, dass Sie es mir nicht einfach wegnehmen können, bevor ich Gelegenheit hatte …«

Er winkte ab, um sie in ihrem Redestrom zu unterbrechen. »Damit habe ich nichts zu tun. Ich bin wegen einem Geldbetrag hier, den Sie gerade, sozusagen gestern, geerbt haben, von jemandem — einem Verwandten?« Jedes Wort schien ein Kampf zu sein, als wisse er nicht, wie er sich ausdrücken sollte, entschied sich dann jedoch für die unverfängliche Variante und nickte bekräftigend. »Jemandem, den Sie möglicherweise gar nicht kennen …« Er blickte über ihre Schulter hinweg in die Dunkelheit der Eingangshalle und zurück zu Cassie. Er wirkte überrascht, als ihre Blicke sich trafen, als habe er sich verbrüht, und neigte den Kopf. »Ich würde wirklich gern hereinkommen.« Er räusperte sich. »Damit ich Ihnen alles erklären kann.« Er gewann seine Selbstsicherheit wieder und streichelte die Messingbeschläge um die Türklingel. Dann sah er Cassie mit unverhohlener Begeisterung in die Augen. »Ich hatte ja keine Ahnung, in was für einem Schloss Sie hier wohnen. Das müsste unter Denkmalschutz gestellt werden!« Sie runzelte die Stirn. »Darf ich … darf ich reinkommen? Es ist wichtig.«

Nein, dachte sie, nein, das darfst du nicht. Hier entscheide ich, was wichtig ist. Aber vielleicht lud ihn das Haus selbst ein, denn Cassie bejahte, bevor sie merkte, was sie da tat. Wenn ein Gentleman bei dir klingelt, dann hörst du dir sein Anliegen bei einer Karaffe eisgekühlter Limonade im vorderen Salon an, so hätte ihre Großmutter das gehandhabt.

»Ich habe nichts an«, sagte Cassie. Nick errötete im selben Augenblick, in dem Cassie seinen Geruch wieder in der Nase hatte. Ganz deutlich nahm sie jetzt eine weitere, neue Geruchsnote, etwas wie Wacholder, an ihm wahr. Sie zog die Bettdecke enger um sich und merkte, wie ihr Gesicht unerwartet heiß wurde. Sie hatte natürlich etwas Angemessenes sagen wollen, etwa: »Gut. Ich bin in fünf Minuten wieder da« — zumindest hätte sie das sagen sollen. Abrupt wandte sie sich ab und ging hinein. Blind watete sie in der dunklen Eingangshalle durch die Schneewehe aus Post und zuckte zusammen, als sie das Knistern von Papier unter ihren nackten Sohlen hörte. Der Berg von Briefen hatte Dimensionen angenommen, die nicht länger vertretbar waren. Jetzt, wo Nick Emmons ihr nach drinnen folgte, sah sie das augenblicklich ein.