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Ganz selbstverständlich gehen wir davon aus, autonom zu sein. Und wir denken, dass ein Leben, in dem wir wichtige Dinge gegen unseren Willen tun müssten, kein gelungenes sein kann. Wahr ist aber auch: Zahlreiche Aspekte unseres Lebens sind gar nicht frei gewählt. Das gilt für viele soziale Beziehungen ebenso wie für so manche Situation, in die wir einfach hineingeraten sind. Die Alltagserfahrung lehrt uns, dass Selbstbestimmung zwar durchaus gelingen kann, aber eben auch häufig scheitert.

 Beate Rössler erkundet die Spannung zwischen unserem normativen Selbstverständnis und den Erfahrungen, die wir machen, wenn wir versuchen, ein autonomes Leben zu führen.

 Aus verschiedenen Perspektiven und im Rückgriff auf literarische Texte, zum Beispiel von Siri Hustvedt und Jane Austen, und Tagebücher, unter anderem von Franz Kafka und Max Frisch, beleuchtet sie die dabei auftretenden Widerstände und Ambivalenzen, untersucht die Rolle von Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung und arbeitet die sozialen und politischen Bedingungen für Autonomie heraus. Deren Zusammenhang mit dem gelungenen Leben ist der eigentliche Fluchtpunkt dieser eindrucksvollen Verteidigung der Autonomie gegen überzogene Erwartungen, aber vor allem gegen überbordende Skepsis.

 

Beate Rössler, geboren 1958, ist Professorin für Philosophie an der Universität Amsterdam und leitet dort die Fachgruppe »Philosophy and Public Affairs«.

Zuletzt erschienen: Der Wert des Privaten (stw 1530) und Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen (hg. zusammen mit Axel Honneth, stw 1756)

 

 

Beate Rössler

Autonomie

Ein Versuch über das gelungene Leben

Suhrkamp

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

© Beate Rössler

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-75112-1

www.suhrkamp.de

 

 





Für Rebecca





Me wherever my life is lived, O to be self-balanced for contingencies

(Walt Whitman)

Inhalt

Vorwort

Einführung: Autonomie im täglichen Leben

 

1 Was ist Autonomie? Eine begriffliche Annäherung

1. Bemerkungen zur Geschichte des Begriffs

2. Negative Freiheit, positive Freiheit, Autonomie

3. Bedingungen individueller Autonomie

4. Autonomie und vernünftige Pläne

 

2 Ambivalenzen

1. Verschiedene Formen der Ambivalenz

2. Ambivalenz als Krankheit des Willens

3. Ist der ambivalente Wille der gesunde Wille?

4. Das ambivalente Selbst

5. Ambivalenzkonflikte als Identitätskonflikte

6. Autonomie und die Akzeptanz von Konflikten

 

3 Autonomie und der Sinn des Lebens

1. Warum schätzen wir Autonomie?

2. Der zufriedene Sisyphus

3. Liegt in der Wunschbefriedigung der Sinn des Lebens?

4. Der objektive Sinn des Lebens

5. Mills Krise und der subjektive Sinn des Lebens

6. Wann entsteht die Sinnfrage?

 

4 Autonomie, Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung

1. Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung

2. Wie kann ich mich irren über mich selbst? Selbsttäuschung

3. Wie kann Selbsterkenntnis scheitern? Fundamentale epistemische Verunsicherungen

4. Das quantifizierte Selbst

 

5 Autonomie, Selbstthematisierung, Selbstbeobachtung: vom Tagebuch zum Blog

1. Selbstbeobachtung, Selbstkontrolle, Reflexion

2. Warum Tagebücher? Und welche Tagebücher?

3. Autonomie im Tagebuch: Beispiele

4. Blogs und die neuen Technologien der Selbstbeobachtung

5. In welchem Rahmen steht Autonomie?

 

6 Autonom wählen und das gute Leben

1. Die Frage nach dem guten Leben und der Perfektionismus

2. Glück, Autonomie und Sinn

3. Die Bedeutung des Wählens: Bedingungen einer autonomen Entscheidung

4. Wer wählt eigentlich und in welchem Kontext?

5. Entfremdung (und Authentizität)

6. Tugend und Charakter

 

7 Das private Leben

1. Warum Privatheit?

2. Dimensionen des Privaten

3. Informationelle Privatheit, soziale Beziehungen und Autonomie

4. Autonome Personen in Beziehungen (I)

5. Autonomie und häusliche Privatheit: Autonome Personen in Beziehungen (II)

6. Privatheit und die demokratische Gesellschaft

 

8 Soziale Voraussetzungen von Autonomie

1. Was sind soziale Bedingungen?

2. Die soziale Konstitution von Autonomie

3. Autonomie, Ideologien und adaptierte Präferenzen 

4. Gesellschaftliche Optionen und Gerechtigkeit

5. Zwischen Autonomie und Unterdrückung: Grenzfälle

 

9 Die Wirklichkeit von Autonomie

1. Autonomie ist keine Illusion

2. Die Bedeutung sozialer Praktiken

3. Gesellschaftliche Unfreiheit und implizite Vorurteile

4. Hinsichten moralischer Verantwortung

5. Autonomie und das gelungene Leben

 

Literatur

Vorwort

In diesem Buch geht es um Widersprüche oder Spannungen zwischen unserem Selbstverständnis als autonome Personen und den alltäglichen Erfahrungen eines nicht sonderlich selbstbestimmten Lebens. Dabei versteht es sich nicht als wissenschaftliche Abhandlung im strengen Sinn, sondern will auch solchen Leserinnen und Lesern zugänglich sein, die sich für Autonomie und das gelungene Leben interessieren, ohne Philosophie studiert zu haben. Deshalb habe ich versucht, das Buch im Ganzen anders zu schreiben als nur für philosophische Kolleginnen und Kollegen; dies ist mir in einigen Kapiteln leichter gefallen und gewiss besser gelungen als in anderen. Überdies verwende ich häufig ein inklusives »Wir«, das sich in der Hoffnung gründet, tatsächlich für die Personen zu schreiben, die dieses Buch in die Hand nehmen und sich in solch einem Wir wiederfinden könnten.

Mit dem Problem der Autonomie beschäftige ich mich seit vielen Jahren; während dieser Zeit hatte ich häufig Gelegenheit, Vorträge über die Themen dieses Buches zu halten – von den Diskussionen habe ich sehr profitiert und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern danke ich für ihre Kritik und ihre Anregungen. Dank schulde ich jedoch vor allem den Freundinnen und Freunden und den Kolleginnen und Kollegen, die frühere Versionen von Kapiteln gelesen, und denen, die immer wieder geduldig mit mir über die vielfältigen Probleme diskutiert haben: Joel Anderson, Katharina Bauer, Gijs van Donselaar, James Gledhill, Eva Groen-Reijman, Elisabeth Holzleithner, Naomi Kloosterboer, Thomas Nys, Andrew Roberts, Kati Röttger, Holmer Steinfath und Henri Wijsbek. Ihre konstruktiven Kommentare waren mir eine große Hilfe.

Gesondert nennen und gesondert danken will ich Robin Celikates und Stefan Gosepath, die durchgehend ausgesprochen kritische Leser waren. Zusammen mit Catriona Mackenzie und John Christman gehören beide überdies zu unserer Autonomie-Arbeitsgruppe, deren Treffen und Diskussionen jedes Mal sehr lehrreich für mich waren. Auch die langen Gespräche mit Catriona Mackenzie über Autonomie und den Sinn des Lebens – in Amsterdam und Sydney ebenso wie in der australischen Wüste – haben mir immer wieder entscheidend geholfen.

Meinen Brüdern Martin Rössler und Johannes Rössler danke ich für den gewissenhaften Einsatz ihrer jeweiligen Expertise, Elke Rutzenhöfer für ihren Rat ebenso wie für ihre freundschaftliche Loyalität.

Große Teile dieses Buches sind in der philosophischen Bibliothek der Amsterdamer Universität entstanden: Sie bietet vor allem im Sommer einen wunderbar ruhigen Arbeitsplatz, und ich bin Lidie Koeneman zu großem Dank verpflichtet für ihre schnelle Hilfe bei bibliographischen Notfällen. Ganz zu Anfang hat mir Lara von Dehn mit technischen Details geholfen, den weitaus größten Anteil an der Überarbeitung aller Kapitel hat jedoch Johannes Sudau – ich danke ihm sehr für seine Sorgfalt ebenso wie für seine hilfreichen Übersetzungsvorschläge. Schließlich danke ich Eva Gilmer für ihre kritische Lektüre und für ihre zahlreichen Verbesserungsvorschläge und Philipp Hölzing für seine Geduld beim Abschluss des Buches.

 

Amsterdam, im Dezember 2016

Einführung: Autonomie im täglichen Leben

Dass wir autonom sind, davon gehen wir in westlichen, liberalen Gesellschaften im Allgemeinen aus. Wir halten es für eine Selbstverständlichkeit, dass wir das Recht haben, autonome Entscheidungen zu treffen und ein selbstbestimmtes Leben zu leben; und wir glauben, dass wir die Fähigkeiten haben, ein solches Leben zu leben, darüber nachzudenken, was wir tun und wie wir leben wollen, und dies dann auch in die Tat umzusetzen. Das schätzen wir auch: Denn ein Leben, in dem ich existentiell wichtige Dinge gegen meinen Willen, gegen meine eigenen Entscheidungen tun und leben müsste, ein heteronomes Leben in diesem Sinn könnte niemals ein gelungenes, ein gutes Leben sein.

Autonomie ist – insbesondere seit der Philosophie Kants – ein Grundthema der Philosophie: So gibt es in der gegenwärtigen Theorienlandschaft auf der einen Seite normative Theorien, die detaillierte – häufig idealisierte – Bedingungen beschreiben, unter denen ein autonomes Leben möglich ist; und natürlich auch Theorien, die die Problemlosigkeit eines autonomen Lebens behaupten. Doch auf der anderen Seite finden sich fundamentale Zweifel an der Möglichkeit und dem Sinn von Autonomie, etwa in Positionen, die die Undurchführbarkeit des autonomen Lebens zu beweisen suchen, indem sie uns vor Augen führen, wie sehr jeder und jede von uns in nicht gewählten Abhängigkeiten lebt. So ist Autonomie zwar moralisch und rechtlich grundlegend für unsere Gesellschaften; doch was dies genau für unser autonomes Leben bedeutet, bleibt häufig unklar. Das wirft die Frage auf, wie sich ein plausibler Begriff von Autonomie zwischen den detaillierten normativen Theorien und Verteidigern einerseits und den fundamentalen Zweiflern andererseits entwickeln und begründen lässt. Interessant ist dabei nämlich, dass sich beides, der normative Begriff ebenso wie der grundlegende Zweifel, aus der Perspektive der autonomen Person selbst beschreiben lässt – und dann geht es nicht mehr nur um zwei sich gegenüberstehende Theorien, sondern um die Spannung zwischen unserem normativen Selbstverständnis und unseren alltäglichen Erfahrungen.

Obgleich wir also zumeist einfach von der Möglichkeit ausgehen, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, gibt es zahllose Aspekte unseres Lebens und Situationen, die wir gerade nicht gewählt haben, bei denen wir uns fragen, wie es so kommen konnte, bei denen wir das Schicksal oder auch, simpler, unsere Unvorsichtigkeit beschuldigen. Die Möglichkeit, das Gelingen ebenso wie die Unmöglichkeit, das Misslingen von Selbstbestimmung gehört zu unseren alltäglichen Erfahrungen. Die Gründe dafür, warum mit der Idee von Autonomie jene Spannung verbunden ist, sind indes ganz unterschiedlich. Auf der einen Seite lässt sie sich beschreiben als eine zwischen dem individuellen Streben nach Selbstbestimmung und dem Geschehen, das immer schon stattfindet, das einfach passiert und uns vor vollendete Tatsachen zu stellen scheint. Auf der anderen Seite ist diese Spannung spezifischer eine, die unsere Verankerung in soziale Beziehungen betrifft und die daraus erwachsenen Verpflichtungen und Ansprüche anderer, von denen wir uns nicht freimachen können, nicht freimachen wollen, aber die doch häufig subjektiv als ein Misslingen von Autonomie begriffen werden können.[1]

Diesen so skizzierten unterschiedlichen Formen des Widerstreits zwischen der Möglichkeit und der Unmöglichkeit von Selbstbestimmung, zwischen der Idee und dem täglichen Leben will ich in diesem Buch aus verschiedenen Perspektiven nachgehen. Individuelle Selbstbestimmung oder Autonomie ist als normatives Ideal konstitutiv für unser Selbstverständnis ebenso wie für unsere Idee von Recht und Politik; individuelle Selbstbestimmung jedenfalls in dem Sinn, dass wir darüber nachdenken können, was wir wirklich wollen im Leben, dass wir uns reflektierend zu unseren Wünschen und Überzeugungen verhalten können. Dass diese Autonomie häufig im Alltag nicht erreicht werden kann, aus welchen Gründen nicht und in welchen Kontexten nicht, und warum diese Schwierigkeit trotzdem nichts an der Notwendigkeit und Überzeugungskraft von Autonomie ändert, dies sind die Grundthemen dieses Buches.

Man kann diese Spannung zwischen unserem Streben nach Autonomie und unseren alltäglichen Erfahrungen mittels der Literatur verdeutlichen: Denn gerade hier, bei der Phänomenologie unserer Alltagsverstrickungen, können uns literarische Texte bei der Deutung häufig besser helfen als die Philosophie. Die Autorin, die ich hier zunächst zu Rate ziehen will, ist Iris Murdoch, zugleich Schriftstellerin und Philosophin.[2]

 

So ist es nicht. Man schaut nicht einfach hin und wählt etwas und schaut, wo man hingehen könnte, man steckt immer schon bis zum Hals in seinem Leben, oder ich zumindest. Man kann nicht schwimmen in einem Sumpf oder im Treibsand. Erst wenn mir die Dinge passieren, weiß ich, was ich offenbar wollte, nicht davor! Ich begreife es erst, wenn es keinen Weg zurück gibt. Es ist ein Durcheinander, ich verstehe es nicht einmal selbst.[3]

 

Dieser Hilferuf aus dem Chaos des Lebens, dieses Ringen mit der Idee der Bestimmbarkeit des eigenen Lebens ist ein zentrales Thema der Romane Murdochs. Die Wirklichkeit, in der wir immer schon bis zum Halse stecken, ist, so schreibt sie, »grundsätzlich unverständlich«; und an anderer Stelle heißt es: »Die Botschaft lautet: Alles ist zufällig. Es gibt keine tiefen Fundamente. Unser Leben stützt sich auf Chaos und Geröll und alles, was wir versuchen können, ist, gut zu sein.«[4]

Chaos und Geröll bilden den Gegensatz zu Selbstbestimmung und Begründbarkeit: Dies ist zunächst ein Verweis auf die schicksalhaften Zufälle des Lebens, die Murdochs Protagonisten häufig so unheilvoll und verzweifelt in die Unordnung des Lebens stürzen und verwickeln. Diese Zufälligkeiten bringen den Mangel an Planbarkeit des eigenen Lebens zum Ausdruck, werden als überwältigende Macht erfahren, als Umstände, mit denen wir im Laufe unseres Lebens konfrontiert werden oder die wir immer schon einfach hinnehmen müssen. Es ist diese Spannung, die ich oben als erste beschrieben habe, zwischen der Idee der Selbstbestimmung und dem Gefühl, immer schon vor vollendete Tatsachen gestellt zu sein. Dabei hat Murdoch nicht so sehr die Zufälligkeiten von Geburt und Herkunft vor Augen, sondern diejenige sozialer Verstrickungen, mit denen wir im Laufe unseres erwachsenen Lebens konfrontiert werden, in der Form unvorhergesehener, unseliger Ereignisse oder auch in der Form der Konsequenzen unseres eigenen Handelns, die wir so nicht absehen konnten und jedenfalls so nicht wollten und die wir (deshalb) häufig als schicksalhaft erleben.

Betrachten wir, zum Beispiel, Hilary Burde, den Protagonisten in Murdochs Roman A Word Child. Hilary Burde stammt aus sehr kleinen, geradezu armseligen Verhältnissen und hat sich durch seine besondere Sprachbegabung hocharbeiten können: Er wird Student in Oxford, gewinnt jeden nur möglichen Preis, macht ein glänzendes Abschlussexamen und wird Fellow an einem der Colleges. Dann verliebt er sich in die Frau seines Gönners und Doktorvaters, Anne Jopling, die beiden haben eine leidenschaftliche Affäre. Sie endet mit einem Autounfall, an dem Hilary schuld ist und bei dem Anne stirbt. Hilary muss, selbstverständlich, seine Stelle am College aufgeben. Zwanzig Jahre später – Jahre, die er als kleiner Beamter in einer unbedeutenden Londoner Behörde, in einem tristen Leben verbracht hat – trifft er auf seinen damaligen Doktorvater Jopling, der mittlerweile wieder geheiratet hat. Wieder verliebt er sich, vollständig gegen seine eigenen Absichten, in dessen Frau, Kitty. Wieder kommt es zu intimen Begegnungen, wieder endet es mit einem Unglück und mit dem Tod der Frau.

Warum dies für den Kontext des Zweifels an der Planbarkeit des eigenen Lebens interessant ist, beschreibt Murdoch mit den Worten von Hilary Burde in einer Passage:

 

Und doch geschehen Menschen solche Dinge, werden Leben so ruiniert, verdorben und düster und unwiderruflich zerstört, werden falsche Abzweigungen genommen und beharrlich verfolgt, und die, die nur einen Fehler machen, richten auch den Rest zugrunde, aus Wahn oder vielleicht aus Groll.[5]

 

Die Ereignisse, mit denen Burde konfrontiert wird, sind geradezu übertrieben schicksalhaft, scheinen nicht in seiner Hand zu liegen, zeigen Zufälle, die ein bestimmbares, ein selbstbestimmtes Leben deshalb verunmöglichen, weil gänzlich unklar wird, was eigentlich noch autonome, authentische Entscheidungen unter solch katastrophalen Bedingungen sein sollen, was eigentlich Handeln, mit Zielen und Plänen, heißen sollte. »Und doch geschehen Menschen solche Dinge« – Dinge, die uns passieren, bilden gerade das Gegenteil der Aspekte des Lebens, die wir selbst bestimmen.

Doch die Sache mit dem Schicksal, auch das suggeriert Murdoch, ist nicht so einfach. Der Philosoph und Psychoanalytiker Jonathan Lear schreibt: »Das Eigenartige am Schicksal ist, dass es auf keine Seite der Trennung zwischen Ich und Nicht-Ich richtig passt.«[6] Inwieweit diese Ereignisse nicht also auch unserem eigenen Handeln, unseren eigenen schwierigen und komplexen Identitäten geschuldet sind, bleibt auf beunruhigende Weise offen. Der Zwang zur Wiederholung beispielsweise, kann vielleicht doch in höherem Maße, als Hilary Burde dies sieht und gerne sehen würde, seinen eigenen Obsessionen zugeschrieben werden. Nun sind ohnehin diese außergewöhnlichen Zufälle – leidenschaftliche Affären, tragische Unglücke, katastrophische Wiederholungen – nur die eine Seite. Die andere, wichtigere Form von Kontingenz – oder schlechter Planung – ist die ganz gewöhnliche, vertraute, die die Protagonisten auf unterschiedliche und lehrreiche Weise in ihr je persönliches unaufgeregtes Chaos, in ihren jeweiligen persönlichen, ganz normalen Alltag verwickelt und bindet. Und es ist vor allem diese alltägliche Problematik, mit den eigenen Entscheidungen, Absichten, Wahlmöglichkeiten, sozialen Beziehungen und sozialen Verpflichtungen reflektiert und vernünftig umzugehen, die ein skeptisches Licht auf die Reichweite von Selbstbestimmung wirft.

Besonders deutlich wird dieses »fatalistische Gefühl der Hilflosigkeit«, wie Murdoch sagt, bei einem anderen ihrer unglücklichen Protagonisten, nämlich bei John Rainborough, einem mittleren Beamten in einer dubiosen staatlichen Verwaltungsstelle, aus Murdochs Roman Die Flucht vor dem Zauberer.

 

Rainborough saß in seinem Wohnzimmer und versuchte sich durchzuringen, Agnes Casement anzurufen. Er hatte versprochen, sie am Nachmittag anzurufen, aber er schob es immer wieder auf. Jetzt wurde es langsam gleichermaßen notwendig wie unmöglich, dass er es sofort tat; und während er darüber nachdachte und ein Problem metaphysischen Ausmaßes daraus machte, bekam er ein Bild seines ganzen Lebens vorgehalten. Rainborough war jetzt nämlich mit Agnes Casement verlobt. Wie das passiert war, konnte er nicht so recht sagen. Es war aber passiert, dachte er entschlossen, ganz unausweichlich. So viel war sicher. Muss mich meinen Verpflichtungen stellen, dachte Rainborough vage, während sein Blick auf dem Telephon lag. Brauche Ballast. All dieses Umherziehen zu nichts nütze. Muss mich im Leben wurzeln. Kinder und so weiter. Ehe genau was ich brauche. Muss Mut haben, mich festzulegen, ist natürlich schmerzvoll. Aber wirklich das Allerbeste. Dies ist mein Weg, ich hab's die ganze Zeit gewusst.[7]

 

Rainboroughs Reflexionen kommen zu spät: Er steckt schon mitten in einem Durcheinander, von dem ihm nicht völlig klar ist, wie er hineingeraten ist; das fatalistische Gefühl von Hilflosigkeit führt zu Ex-post-Rationalisierungen (»Muss mich im Leben wurzeln. Kinder und so weiter. Ehe genau was ich brauche«), die natürlich nicht sonderlich authentisch sind, weil sie Entscheidungen nur vortäuschen und Wünsche fantasieren, die jedenfalls nicht vollkommen die eigenen sind. Rainborough weiß offensichtlich, dass er sein Leben auch und gerade in diesen sozialen Beziehungen bestimmen, dass er handeln müsste. Aber er tut es nicht. Dafür ist es immer schon zu spät.

Nun könnte man einwenden, dies zeige einfach einen Mangel an Reflexion und Vernunft, also ein schlichtes Versagen der bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Akteure Murdochs. Es seien Personen, die scheitern, weil sie dem ihnen selbst sehr wohl möglichen Standard nicht entsprechen. Dieser Standard von Reflexion und guten Handlungsgründen, von Entschlusskraft und Willensstärke sei keineswegs zu anspruchsvoll, ihm könnten im Prinzip alle durchschnittlich vernünftigen Personen genügen, und täten sie es nicht, sei es ihr Versagen. Es seien Akteure, die sich selbst nicht gut genug kennen, obwohl sie dies könnten, wenn sie sich hinreichend Mühe gäben; die von sich selbst entfremdet, nicht eins mit sich, nicht authentisch seien – obwohl sie dies könnten.

Doch dieser Einwand greift zu kurz, ist jedenfalls nicht die ganze Wahrheit: Denn die lebensnahe Verstricktheit der Protagonisten und Protagonistinnen zeigt, dass die Konfrontation mit den Kontingenzen und sozialen Komplikationen des eigenen Lebens durchaus zu einem berechtigten Zweifel an dessen Bestimmbarkeit führen kann. Es ist gerade die Alltäglichkeit der Akteure und ihres Erlebens, die das Gelingen der Selbstbestimmtheit des Handelns in Frage stellt. Denn wenn es nicht meine Entscheidungen sind, wenn es nicht mein Handeln ist, das mein Leben bestimmt, sondern Zufälle und Unbestimmtheiten, soziale Bindungen und Beziehungen, in die ich immer schon verwickelt bin, dann fällt es schwer, darauf zu vertrauen, dass es die eigenen Gründe und die eigenen Handlungen sein können, die für mein Leben ausschlaggebend sind. Die Abgründe, in die Murdochs Protagonisten häufig stürzen, und auch ihre melancholische Apathie, die mit dem Zweifel am Nutzen, Sinn und der Möglichkeit der Bestimmung des eigenen Lebens einhergeht, all dies macht deutlich, dass der gelebte autonome – oder gerade nicht autonome – Alltag seine ganz eigene Phänomenologie und Plausibilität hat. Schriftsteller oder Schriftstellerinnen können dies zumeist besser beschreiben als selbstgestrickte – manchmal recht unbeholfene – philosophische Beispiele. Auch deshalb werde ich in den folgenden Kapiteln immer wieder auf Beispiele aus der Literatur zurückgreifen.

Trotz all dieser so einleuchtenden Beschreibungen der nicht selbstbestimmten Aspekte des Alltags ist jedoch auch klar, dass gerade die Selbstbestimmung wichtiger Dimensionen des Lebens die leitende Idee ist – nur deshalb kann Murdoch und können wir überhaupt das Misslingen von Selbstbestimmung als solches beschreiben. Nur in ihrem Kontrast zur normativen Idee von Autonomie können Kontingenzen, Verpflichtungen, psychologische Unfähigkeiten und strukturelle Hindernisse als solche beschrieben werden. Autonomie, so will ich argumentieren, hat Wert und Bedeutung für uns, weil sie konstitutiv ist für die Selbst- und für die Weltaneignung. Doch Ambivalenzen, Selbstentfremdung, die Intransparenz des eigenen Selbst, autonomieerschwerende oder -verhindernde Strukturen gehören zu unserem autonom gelebten Alltag – und ebendeshalb sind wir hier mit Spannungen konfrontiert.

Persönliche Autonomie hat jedoch auch eine dezidiert politische Seite: »Ich glaube, das bedeutendste Phänomen, das wir während der Revolutionen beobachten konnten, ist die Wiederentdeckung der persönlichen Autonomie«, erklärt der libanesische Autor Samir Frangieh. Und er sagt weiter:

 

Mit anderen Worten: Die Menschen sind sich bewusst, dass sie die Urheber ihrer eigenen Geschichte werden können. Tatsächlich ist das recht neu in einer Region, in der das Individuum seit Jahrzehnten auf Gruppen reduziert wurde, Gruppen auf Parteien, die sie repräsentieren, und die Parteien, die sie repräsentieren, auf ihre politischen Führer. Als Ergebnis fanden wir uns in einer Situation wieder, in der ganze Länder auf einzelne Personen reduziert wurden. Beispiele sind Assads Syrien und die gesamte arabische Welt, die durch kaum zehn Namen definiert war. Wir sprechen über 500 Millionen Menschen, reduziert auf zehn bis fünfzehn Namen. Genau das ist es, was der Arabische Frühling verändert hat.[8]

 

Es ist diese politische Seite persönlicher Autonomie, die noch immer für Sprengstoff sorgt: als Aufruf zur Veränderung nichtdemokratischer Zustände, aber auch innerhalb liberal-demokratischer Verhältnisse, wenn die Grenzen staatlicher Eingriffe in persönliche Autonomie strukturell gefährdet sind, wenn Rechte nur formale, keine materiale Geltung besitzen, wenn also persönliche Autonomie von staatlichen Eingriffen untergraben zu werden droht. So lassen sich in diesem Kontext staatliche Überwachungen und damit Verletzungen informationeller Privatheit beschreiben, aber auch gesellschaftliche Strukturen, die Autonomie verhindern können, zum Beispiel patriarchale. Hieran wird deutlich, dass politische Bedingungen nicht nur negative Freiheiten sichern, sondern auch positive, und dass erst beides zusammen, die positive wie die negative Freiheit, Autonomie sichern kann. Das Verhältnis von Freiheit und Autonomie wird deshalb noch eine wichtige Rolle spielen.

Was mich in den folgenden Kapiteln interessiert, ist jedoch vor allem die Problematik des alltäglichen Lebens individueller Autonomie, die Seite der individuellen Erfahrung und der individuellen Fähigkeit. Man kann dies die ethische Frage nennen, weil es hier um die Möglichkeiten des autonomen, des gelingenden Lebens geht. Den Begriff der Ethik verwende ich dabei in dem breiten (aristotelischen) Sinne, wie er uns mittlerweile beispielsweise durch Bernard Williams wieder vertraut geworden ist und in dem es nicht nur um Fragen der Moral, sondern allgemein um Fragen des guten Lebens geht. Doch in späteren Kapiteln werde ich auch der sozialen und politischen Seite Rechnung tragen, die zeigt, wie die Idee persönlicher Autonomie durch staatliche oder gesellschaftliche Bedingungen ermöglicht wird und zugleich gefährdet sein kann.

Als Nächstes sollen nun kurz die verschiedenen Perspektiven vorgestellt werden, die in diesem Buch bezogen auf das Problem der Autonomie eingenommen werden. Was genau ist unter Autonomie zu verstehen und in welcher Tradition steht diese Idee? Ich will im ersten Kapitel begrifflichen Fragen nachgehen und erläutern, in welchem Sinn man von Autonomie im Verhältnis zu individueller Freiheit reden sollte, welche Fähigkeiten einer autonomen Person zugeschrieben werden müssen und welches die Grenzfälle solcher Zuschreibungen sind. Autonom, so werden wir auch sehen, ist man immer gemeinsam mit anderen.

Ist autonomes Handeln und autonomes Überlegen notwendigerweise frei von Ambivalenzen? Muss die autonome Person immer »hier stehen und nicht anders können«? Auf die Problematik der ambivalenten Person will ich im zweiten Kapitel eingehen und deutlich machen, dass Ambivalenzen keineswegs immer unsere Autonomie bedrohen, dass sie im Gegenteil selbstverständlicher Teil unseres selbstbestimmten – auch rationalen – Alltags sind.

Im dritten Kapitel werde ich fragen, warum eigentlich Autonomie so wertvoll und wichtig ist. Und ich stelle diese Frage als die nach dem Verhältnis von Autonomie und dem Sinn des Lebens: Ist ein Leben nur dann sinnvoll, wenn es autonom ist? Und kann es sinnvoll – und autonom – sein, ohne glücklich zu sein? Muss es objektiv sinnvoll sein, oder reicht es, wenn es als autonom und subjektiv sinnvoll verstanden werden kann? Auch hier werde ich literarische Beispiele heranziehen, um Spannungen oder Widersprüche besser zu verstehen und um zu zeigen, in welch konstitutiver Weise die Selbstbestimmung und der Sinn des eigenen Lebens zusammengehören.

Wenn eine Person autonom handelt, dann weiß sie, was sie denkt, und sie weiß, was sie will; sie muss sich also selbst kennen, um selbstbestimmt handeln und leben zu können. Aber wie kann man – nach Freud – Selbsttransparenz als Bedingung für Autonomie fordern? Die Frage, welchen Begriff von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis wir angesichts etwa des verbreiteten Phänomens der Selbsttäuschung einer autonomen Person plausibler- und alltäglicherweise zuschreiben können, soll das vierte Kapitel beantworten. Dabei werde ich auch diskutieren, ob die neueren »Self-Tracking-Technologien« tatsächlich einen Beitrag zur Selbsterkenntnis und damit zur Unterstützung von Autonomie leisten können.

Eine andere Perspektive auf die Spannungen in unserem autonom gelebten alltäglichen Leben will ich im fünften Kapitel einnehmen: In der Interpretation von ausgewählten Passagen aus Tagebüchern bis hin zu Blogs werde ich fragen, ob sich der Überlegungsprozess, den ich zuvor als kennzeichnend für Autonomie beschrieben habe, in solchen Aufzeichnungen exemplarisch finden lässt. Wenn man davon ausgeht, dass zumindest das klassische Tagebuch ein paradigmatischer Ort der alltäglichen Konfrontation mit dem je eigenen Leben ist, dann sollte man mit seiner Hilfe zeigen können, was eigentlich Autonomie im Alltag bedeutet. Und schaut man auf Blogs und Vlogs, lässt sich darüber hinaus die Frage stellen, ob sich diese Form der Konfrontation mit der eigenen Selbstbestimmung durch die und mit den neuen Medien verändert hat.

Im sechsten Kapitel steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen Autonomie und dem guten Leben im Mittelpunkt. Lässt sich in der nachkantischen Moralphilosophie überhaupt eine substantielle Theorie des guten Lebens entwickeln? Ist es ethisch zu verteidigen, Maßstäbe zur Beurteilung darüber, ob ein Leben gelungen oder gut ist, anzulegen? Mit Hilfe der Analyse dessen, warum die autonome Wahl so entscheidend für das gute autonome Leben ist, und mit Hilfe des Begriffs der Entfremdung will ich ausloten, ob sich (kritische) Aussagen über das gute Leben machen lassen, ohne zugleich die Autonomie derjenigen in Frage zu stellen, die dieses Leben gewählt haben oder jedenfalls doch leben.

Im siebten Kapitel, zum Verhältnis von Autonomie und Privatheit, soll es um die ethische ebenso wie politische Frage nach der Notwendigkeit des Schutzes individueller Privatheit für die Möglichkeit des autonom gelebten Lebens gehen. Ich möchte den Fragen nachgehen, warum ein freies, autonomes – und gelungenes – Leben angewiesen ist auf den Schutz des Privaten und warum wir uns ein Leben, das nur in der Öffentlichkeit geführt wird, nicht vorstellen können und wollen. Warum wäre eine Gesellschaft erstickend und unfrei, wenn in ihr der Schutz des Privaten nicht mehr respektiert würde?

Im achten Kapitel werden die notwendigen Voraussetzungen von individueller Autonomie noch allgemeiner in den Blick genommen: die politischen und sozialen Verhältnisse, in denen ein autonomes Leben gelebt werden muss. Im Focus steht hier der Zusammenhang zwischen individueller Autonomie und Bedingungen, die mit einer liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung einhergehen. Ich will zeigen, dass es keine notwendige und direkte Verbindung zwischen der Möglichkeit eines autonomen Lebens und diesen liberal-demokratischen Voraussetzungen gibt. Eine wichtige Frage ist dabei, wie sich die Doppelseitigkeit von gesellschaftlichen Bedingungen am besten analysieren lässt, wenn sie Autonomie zugleich ermöglichen und (strukturell) verhindern können. Hier werde ich deshalb auch die Probleme struktureller Unterdrückung und Diskriminierung sowie die Frage diskutieren, ob Personen mit »falschem Bewusstsein« oder »adaptierten Präferenzen« autonom sein können.

Eingangs hatte ich gesagt, dass wir in westlichen, liberalen Gesellschaften selbstverständlich davon ausgehen, autonom zu sein, autonom leben zu können. Im neunten Kapitel, am Ende des Durchgangs durch die vielfältigen Spannungen des autonom gelebten Alltags und die Schwierigkeiten eines gelungenen Lebens, will ich zur Verteidigung meiner Argumente für die Idee von Autonomie das Selbstverständnis eines solchen Begriffs ausbuchstabieren: gegen die Kritik von jenen, die behaupten, dass weder der freie Wille noch persönliche Autonomie – noch moralische Verantwortlichkeit – möglich seien. Ich werde diese Theorien nicht widerlegen, aber ich will zeigen, was der Preis wäre, wenn wir die Möglichkeit von Autonomie abstritten. Da ich in diesem Buch Autonomie durchgehend jedenfalls prinzipiell für möglich halte, ist es sinnvoll, mit dem Versuch zu schließen, auch gegenüber dieser fundamentalen Skepsis noch einmal die Wirklichkeit von Autonomie zu verteidigen.

Die unterschiedlichen Themen der Kapitel erfordern jeweils unterschiedliche Herangehensweisen – manche Themen müssen auf dem Hintergrund neuerer, manchmal recht komplizierter Debatten in der Philosophie diskutiert werden, für andere gilt dies weniger, etwa wenn man danach fragt, wie Autonomie in Tagebüchern interpretiert werden kann. Das Schreiben über das autonome Leben ist zugleich ein Schreiben über die Möglichkeiten des gelungenen Lebens: Das ist meine These und ich werde sie in den verschiedenen Kapiteln mal explizit, zumeist aber eher implizit zu begründen suchen. Autonomie wird dabei bestimmt als notwendige Bedingung des gelungenen Lebens, nicht jedoch als hinreichende. Und ich beginne nicht mit dem Entwurf einer genauen Theorie von Autonomie oder einer Theorie des gelungenen Lebens, die ich dann auf alltägliche Situationen anwende, um zu schauen, ob wir hier tatsächlich autonom sind. Ich schlage den umgekehrten Weg ein, indem ich mir – nach einer recht allgemeinen Begriffsklärung – verschiedene Probleme und Kontexte von Autonomie, auch verschiedene Möglichkeiten ihres Scheiterns ansehe. Gewissermaßen unter der Hand entwickelt sich dann tatsächlich eine Theorie persönlicher Autonomie, und ich möchte schließen mit einer Bemerkung zur Terminologie: Ich werde nämlich von gelungenem Leben nur dann sprechen, wenn es autonom ist und darüber hinaus sinnvoll und glücklich.[9] Zwar wird in der philosophischen Literatur vor allem über das gute Leben – und die Suche nach dem guten als dem glücklichen Leben – gesprochen, aber diesen Sprachgebrauch möchte ich nicht übernehmen, weil das gute Leben (in der Literatur) auch eines sein kann, das nicht selbstbestimmt ist. Deshalb ist es mir wichtig, diese mögliche Differenz zwischen dem guten und dem gelungenen Leben deutlich zu machen. Um die Sache noch ein bisschen komplizierter zu machen: Ein Leben kann sinnvoll sein, aber nicht glücklich, denn Sinn haben wir mehr in den eigenen Händen als das Glück. Und kleine Kinder zum Beispiel können ein gutes, ein glückliches Leben haben, das jedoch nicht selbstbestimmt und, da noch nicht reflektiert, auch nicht sinnvoll ist (natürlich schon für andere). Dies wird alles im Laufe der folgenden Kapitel deutlich werden.

Ich entwickle diese Theorie, wie gesagt, nach und nach – aber nicht mit dem Ziel, mit dieser in der Hand, wie mit einem Ratgeber, die genauen Bedingungen eines gelungenen Lebens angeben zu können. Was mich vielmehr in diesem Buch interessiert, ist die Spannung zwischen unserem Selbstverständnis als autonome Personen und der Erfahrung, dass diese Selbstbestimmung häufig, aus ganz unterschiedlichen Gründen und in ganz unterschiedlichen Hinsichten, nicht gelingt. Und mich interessiert, was beides, die Autonomie ebenso wie die Spannung, für das Gelingen unseres Lebens bedeutet.



[1] Es geht mir hier jedoch nicht um das mutmaßlich bei Kant zu findende Paradox der Autonomie, das behauptet, das Ideal selbst ließe sich gar nicht erst widerspruchsfrei artikulieren; ich komme hierauf zurück; vgl. etwa die Beiträge in Khurana, Paradoxien der Autonomie; vgl. kritisch gegenüber diesem angenommenen Paradox Kleingeld/Willaschek, »Kantian Autonomy without Self-Legislation of the Moral Law«.

[2] Viel gelernt habe ich von Antonia Byatts Buch über die Romane Iris Murdochs, Degrees of Freedom.

[3] Murdoch, Nuns and Soldiers, S. 367. Wenn keine deutschsprachigen Quellen angegeben werden, stammen sämtliche Übersetzungen in diesem Buch von mir, B. ‌R.

[4] Linda Wertheimer, »All Things Considered«.

[5] Murdoch, A Word Child, S. 221 (»Yet such things happen to men, lives are thus ruined, thus tainted and darkened and irrevocably spoilt, wrong turnings are taken and persisted in, and those who make one mistake wreck all the rest out of frenzy, even out of pique.«); vgl. auch S. 126.

[6] Lear, »The Freudian Sabbath«, S. 235.

[7] Murdoch, Die Flucht vor dem Zauberer, S. 339.

[8] Frangieh, »The Arab Revolts and the Rise of Personal Autonomy«; vgl. Christman, »Introduction«.

[9] Vgl. anders Wolf, Meaning in Life, S. 3, die begrifflich trennt zwischen dem sinnvollen, dem glücklichen und dem moralischen Leben, eine Unterscheidung, auf die ich im Folgenden mehrfach zurückkommen werde; vgl. anders auch Seel, Versuch über die Form des Glücks, S. 65-69; und Seel, Sich bestimmen lassen, S. 196-212.