2Menschenwürde wird oft als »absoluter Wert« bezeichnet, als »unantastbar« oder »unverfügbar«. Während die einen sie für eine zentrale Idee der Moral halten, weisen andere sie zurück: Weil nichts »absolut« und »unverfügbar« sei, könne es auch keine Menschenwürde geben. In diesem Band wird neben diesen Positionen erstmals eine dritte ausführlich diskutiert. Ihr zufolge ist die Menschenwürde bezüglich Genese und Geltung zwar zumindest zum Teil kontingent, was jedoch nicht zu ihrer Verabschiedung führen muss. Nötig scheint vielmehr eine Deutung, die den Dimensionen dieser Kontingenz Rechnung trägt. Mit Beiträgen von u. a. Rüdiger Bittner, Christian Neuhäuser, Peter Schaber und Ralf Stoecker.

Mario Brandhorst ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen.

Eva Weber-Guskar ist Privatdozentin an der Georg-August-Universität Göttingen.

3Menschenwürde

Eine philosophische Debatte
über Dimensionen ihrer Kontingenz

Herausgegeben von
Mario Brandhorst
und Eva Weber-Guskar

Suhrkamp

5Inhalt

Mario Brandhorst und Eva Weber-Guskar
Einleitung

1. Ein absoluter Wert?

2. Menschenwürde in Moral und Recht

3. Die begriffliche Struktur

4. Kontingenz

5. Genese und Geltung

6. Vier Dimensionen

7. Die Beiträge

1 Peter Schaber
Würde als Status

1. Normative Kompetenzen

2. Unrecht und Würdeverletzung

3. Normative Kompetenzen und Erniedrigung

4. Normative Kompetenzen und Autonomie

5. Grenzen der normativen Kompetenz und Würde

6. Schluss

2 Marie Göbel und Marcus Düwell
Die »Notwendigkeit« der Menschenwürde

Einleitung

1. Menschenwürde und Notwendigkeit

1.1 Warum überhaupt: Notwendigkeit von Menschenwürde?

1.2 Was bedeutet hier »Notwendigkeit«?

2. Drei Begründungsstrategien

2.1 Dialektische Notwendigkeit des Würde-Prinzips

2.2 Menschenwürde aus diskursethischer Perspektive

2.3 Notwendigkeit der Menschenwürde im Horizont der Moderne

3. Systematische Schlussfolgerungen und Ausblick

3 Rüdiger Bittner
Abschied von der Menschenwürde

1. Würde

2. Würde des Menschen

3. Ein Streit der Fakultäten

4. Die objektive Wertordnung des Grundgesetzes

5. Bedauern beim Abschied

6. Ein moralischer Verlust?

4 Mario Brandhorst
Zur Geschichtlichkeit menschlicher Würde

1. Nietzsches Herausforderung

2. Der Tragödienheld des Daseins

3. Sprache, die für dich dichtet und denkt

4. Vorspiel in der Antike

5. Verwandlung im Christentum

6. Die Würde der Person

7. Umbrüche in der Moderne

8. Die Würde des Gesetzes

9. Die Würde des Subjekts

10. Wo stehen wir?

11. Der Blick zurück

12. Würde und praktische Identität

13. Die religiöse Betrachtung der Welt

14. Die Wirklichkeit der Menschenwürde

15. Perspektiven

5 Oliver Sensen
Kants erhabene Würde

1. Kants Wert-Begriff

2. Kants Würde-Begriff

3. Notwendigkeit und Kontingenz

Schlussanmerkung

6 Stefanie Buchenau
Bestimmung und Perfektibilität: Menschenwürde in der Aufklärung

1. Das »theoretische« Betrachtermodell. Würde als Erhebung, Vervollkommnung und nicht nur religiöse Form von Transzendenz

1.1. Vervollkommnung, Gottebenbildlichkeit und Humanität

1.2. Kollektive Vervollkommnung: Freiheit, Gleichheit, Einheit

2. Das »praktische« Akteursmodell

2.1. Würde und Autonomie

2.2. Würde und Rechte

Schluss

7 Eva Weber-Guskar
Menschenwürde: Kontingente Haltungstatt absoluter Wert

1. Würde als kontingente Verfassung statt Würde als absoluter Wert

2. Würde als Haltung – ein kontingentes Gut

2.1 Würde als Übereinstimmung mit sich

2.2 Würde als Übereinstimmung mit dem eigenen Selbstbild

2.2.1 Selbstbilder

2.2.2 Selbstbildern entsprechen oder sie verfehlen

2.3 Konsequenzen für den Würdebegriff

2.3.1 Graduation

2.3.2 Mitverantwortlichkeit

3. Ausblick: Absoluter Würdeschutz?

8 Almut Kristine von Wedelstaedt
Menschenwürde als Lebensform

1. Würde bei Bieri

2. Lebensformen bei Bieri

3. Konflikte in Lebensformen nach Bieri

4. Lebensformen bei Wittgenstein

5. Eine gemeinsame menschliche Lebensform

6. Menschenwürde

7. Die Würde aller Menschen

8. Begründung

9. Mit praktischer Notwendigkeit

10. Einwände

9 Holmer Steinfath
Menschenwürde zwischen universalistischer Moral und spezifischem Lebensideal

1. Zwei Verständnisse von Menschenwürde

2. Menschenwürde als Status

3. Menschenwürde als herausgehobener intrinsischer Wert

4. Menschenwürde als spezifisches Lebensideal

5. Die ›Dialektik‹ zwischen Menschenwürde als universellem Anspruch und spezifischem Ideal

10 Franz Josef Wetz
Daseinskontingenz als Gefährdung der Menschenwürde

1. Wesensnatur und Wesenswürde

2. Erste Wesenskrise

3. Zweite Wesenskrise

4. Wesenlose Natur- und Kulturphilosophie

5. Keine Entlastung von der Sorge um sich

6. Gestaltungswürde statt Wesenswürde

7. Selbstverständliche Selbstachtung

8. Legitimität der Selbstachtung

9. Wesenlose Würde

11 Christian Neuhäuser
Personen, Persönlichkeiten und ihre Würde

1. Menschenwürde und kontingente Würden

2. Würde der Person und Würde der Persönlichkeit

3. Würde als Rechtsstatus und Würde als sozialer Status

12 Ralf Stoecker
In Würde altern

1. Zwei Lehren aus Brechts Geschichte

2. Die verletzliche Würde

3. Menschenwürde und kontingente Würde

4. Bedrohung der kontingenten Würde im Alter

5. Alter als eigene Lebensphase

6. Gibt es Grenzen der Menschenwürde?

7. Existentielle Würde

8. Epilog

Über die Autorinnen und Autoren

Fußnoten

7Mario Brandhorst und Eva Weber-Guskar

Einleitung

1. Ein absoluter Wert?

Die Menschenwürde wird oft als ein »absoluter Wert« bezeichnet. Häufig sagt man auch, die Menschenwürde sei »notwendig«, »unbedingt«, »unantastbar« oder »nicht verhandelbar«. Solche Ausdrücke finden sich nicht nur in der philosophischen Literatur im engeren Sinn, sondern auch im weiten Feld der Politik, des Rechts und der Rechtsprechung. Eine verbreitete Grundannahme lautet etwa: Menschenwürde ist in dem Sinn absolut, dass sie allen Menschen gleichermaßen zukommt, dass sie unter keinen Umständen verletzt werden darf und dass ihre Geltung, auf keinen historischen oder geographischen Ort eingeschränkt, sich der Verfügung des Menschen entzieht. In einem Wort: Menschenwürde ist unverfügbar. [1]

Wenn dieses Bild zu verteidigen ist, gibt es dem Begriff einen besonderen Status im Repertoire unserer moralischen Begriffe. Doch es ruft auch die Skeptiker auf den Plan: Während die einen die menschliche Würde in diesem Sinn als gegeben ansehen, weisen die anderen diesen Begriff entweder ganz zurück oder deuten ihn grundsätzlich anders. Während Verteidiger dieser Beschreibung die Würde deshalb für fundamental und einzigartig halten, weil sie sich jeder Verfügung des Menschen entzieht, drehen die Gegner das Argument um: Weil die menschliche Würde unverfügbar sein soll, kann es sie in Wirklichkeit gar nicht geben – denn nichts ist in diesem Sinn unverfügbar.

Absolutheit ist das Merkmal, um das es in diesem Streit vorrangig geht. Während dieses Merkmal für die einen die Stärke des Begriffs darstellt, ist es für die anderen seine Schwäche. Viele Kritiker bestreiten, dass es etwas derart Absolutes geben könnte, und be8haupten, mit der Kontingenz der Menschenwürde werde zugleich die Hinfälligkeit der Idee insgesamt bewiesen.

Dieser Diskussion ist dieser Band gewidmet. Dabei wird jedoch auch einer dritten Position erstmals ausführlich Platz eingeräumt: Das ist eine Position, die zwischen den beiden genannten vermittelt. Sie besagt: Die Einsicht, dass Menschenwürde zumindest teilweise kontingent ist, was ihre Genese und womöglich auch ihre Geltung betrifft, muss keineswegs zu ihrer Verabschiedung führen. Vielmehr bedarf der Begriff in unserer Epoche nur einer neuen Deutung und Begründung.

Im Folgenden skizzieren wir genauer die verschiedenen Dimensionen vermeintlicher Absolutheit von Menschenwürde. Dabei wird deutlich, von welchen Seiten sie infrage gestellt werden kann, und in welcher Richtung möglicherweise eine Versöhnung von Menschenwürde und Kontingenz denkbar ist.

2. Menschenwürde in Moral und Recht

Im Grundgesetz wird mit Artikel 1 nicht nur an prominenter Stelle Schutz und Achtung für die Menschenwürde eingefordert, sondern auch ein Katalog von unveräußerlichen Rechten an der Menschenwürde festgemacht. Ähnliche Appelle an die Menschenwürde finden sich seit 1945 in vielen nationalen und internationalen Dokumenten, Gesetzen und Verträgen.

Im Artikel 1 des Grundgesetzes steht gleich zu Beginn: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«[2] Dem folgt Absatz 2: »Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.«[3] Das »darum« im zweiten Absatz bezieht sich eindeutig auf die »Würde des Menschen« im ersten. Viele meinen, dies sei so zu lesen, dass die Würde des Menschen Grundlage der Verpflich9tung des Staates ist, Grundrechte zu respektieren.[4] Wir müssten also lesen: Weil jeder Mensch eine Würde besitzt, hat jeder Mensch bestimmte Rechte, die der Staat zu achten und zu schützen hat. Anders als konkrete Rechte, die dem Menschen in den folgenden Artikeln zugesprochen werden, gelte diese Forderung nach Achtung für die Menschenwürde absolut. Das bedeutet hier: Sie gilt, ohne zeitlich, räumlich oder anderweitig von begrenzter Gültigkeit zu sein. Sie kann auch nicht durch andere Bestimmungen und Normen eingeschränkt, umgangen oder aufgehoben werden.

Absolut, notwendig und insofern auch nicht kontingent wird die Menschenwürde auch in der von Kant geprägten Tradition der Moralphilosophie gedeutet.[5] Artikel 1 des Grundgesetzes steht in dieser Tradition, die 1785 mit Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten beginnt. Kant spricht dort in einprägsamen Worten von der Idee »der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt«.[6] Würde soll dabei dasjenige besitzen, was »über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet«.[7] Würde ist insofern absolut, denn sie kann durch kein anderes Gut aufgewogen werden. Sie kann auch nicht mit Würde selbst verrechnet werden: Man darf nicht die Würde eines Menschen verletzen, weil andernfalls die Würde von 100 anderen Menschen verletzt werden wird.

Selbstverständlich haben viele Dinge einen Wert, was auch Kant natürlich nicht bestreitet. Doch anders als diese hat ihm zufolge die Gesetzgebung durch die Moral eine Würde, die Kant in der Passage auch als »unbedingten, unvergleichbaren Wert« bezeichnet. Auch insofern ist die Würde also absolut: Sie hat keine Bedingung, hängt von nichts anderem ab. Eine Missachtung oder Verletzung der Würde kann durch nichts ausgeglichen und gerechtfertigt werden.

Kant schließt nun von der Würde des Gesetzes auf die Würde dessen, der die Gesetze gibt: »Autonomie ist also der Grund der 10Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.«[8] Ein autonomes, selbstgesetzgebendes Wesen wie der Mensch besitzt aus diesem Grund einen besonderen Rang, der unveräußerlich, notwendig und insofern auch nicht kontingent ist. Dieser Rang erhebt den Menschen über die »bloße« Natur, in der es keine autonomen Wesen gibt und geben kann. Der Mensch hat dagegen das Recht, sich als ein freies, sich selbst das Moralgesetz gebendes Wesen zu betrachten. Darin liegt der »absolute Wert« des Menschen, für den nicht eine beliebige Form der Wertschätzung, sondern Achtung angemessen ist.[9] Vernünftige Wesen sind nicht ein Mittel zu anderen Zwecken, sondern ein »Zweck an sich selbst«.[10] Die Wirkmächtigkeit dieser Formel ist nicht zu unterschätzen.

Das deutsche Grundgesetz und die Schriften Kants sind nicht einfach zwei beliebige Beispiele, die verdeutlichen, was gemeint sein kann, wenn die Würde des Menschen als »notwendig« und »absolut« bezeichnet wird. Neben christlichen Texten gehören sie zu den Hauptbezugspunkten für die verbreitete Annahme der Absolutheit der menschlichen Würde.

3. Die begriffliche Struktur

Genauer besehen stehen hinter der allgemeinen Annahme drei verschiedene Überzeugungen über miteinander verflochtene Merkmale der Menschenwürde: ihre Unabhängigkeit, Unverlierbarkeit und Unverrechenbarkeit. Das kann man gut darstellen, indem man zunächst die Struktur der Idee der Würde allgemein analysiert. Auf dieser Grundlage lässt sich dann ein Verständnis von Menschenwürde erläutern. Ein mögliches Verständnis von »Würde« bezeichnet:

a)

eine besondere Stellung oder einen besonderen Wert,

b)

welche(r) zum einen mit der Aufgabe verbunden ist, sich selbst so zu verhalten, dass man (a) gerecht wird,

c)

sodass man sich in einer bestimmten Verfassung befindet,

d)

und welche(r) zum anderen mit dem Anspruch verbunden ist, von anderen auf bestimmte Weise behandelt zu werden,

e)

11nämlich so, dass einem die Verfassung (c) nicht verunmöglicht wird.

Gegenwärtig versteht man, in der Regel unter Berufung auf Kant, Menschenwürde meist als eine Kombination des ersten und des vierten Elements (also a und d): das heißt als eine Eigenschaft eines jeden Menschen, die mit dem Anspruch auf eine bestimmte Behandlung verbunden ist (beziehungsweise diesen in der Regel sogar begründet).

Konzeptionen, die auch für die Menschenwürde alle fünf Stellen dieses Würdebegriffs besetzen, sind derzeit in den Hintergrund gerückt. Dabei finden diese sich in der Geschichte des Begriffs häufig, gleich zu Beginn in der Antike bei Marcus Tullius Cicero, wie in verschiedenen Versionen in theologischen Erläuterungen über die Jahrhunderte hinweg. Danach fasst man unter Menschenwürde zunächst eine Eigenschaft eines Menschen, die auch mit dem Anspruch auf ein bestimmtes Verhalten des Würdeträgers selbst verbunden ist. Menschenwürde zielt demzufolge nicht nur auf eine bestimmte Behandlung durch andere. Vielmehr führt erst die Erfüllung von beiden Ansprüchen dazu, dass Menschen in Würde leben – sodass unter Würde zugleich ein bestimmter Zustand oder eine Verfassung von Menschen verstanden wird.

Unabhängig von der Frage, welcher dieser Deutungen der Menschenwürde wir den Vorzug geben, lassen sich nun drei Dimensionen der Absolutheit hervorheben, über die einzeln und im Zusammenhang diskutiert werden kann.

Erstens kann die Geltung der Idee für absolut gehalten werden. Damit wäre eine Form von Objektivität verbunden, weil die Geltung der Idee und der aus ihr abgeleiteten Normen dann von der menschlichen Willkür, menschlichem Entscheiden oder Handeln völlig unabhängig wäre. Der Gedanke lautet: Die Menschenwürde bedarf nicht der Affirmation oder Autorisierung durch Menschen. Sie kann auch nicht in dieser Weise gültig »werden« oder ihre Gültigkeit »verlieren«. Menschen können sie verletzen oder ignorieren, aber das betrifft nicht die Geltung dieser Idee. Sie hat Autorität über das menschliche Denken und Handeln, und sie hat diese Autorität unabhängig von konkreten Individuen, Kulturen, Traditionen und Gesetzen, die sich umgekehrt an ihren Normen messen lassen müssen. Ihre Geltung darf aus diesem Grund auch nicht mit 12der Geltung einer Konvention, eines positiven Rechts oder eines zwischen Parteien geschlossenen Vertrages verwechselt werden. Das ist ein Sinn von Absolutheit, der die Unabhängigkeit der Menschenwürde von menschlichem Denken und Handeln betont.

Zweitens können die Kriterien der Zuschreibung dieser Idee für absolut gehalten werden, was auch unter das Stichwort der Unverlierbarkeit fällt. Kein Mensch kann die menschliche Würde verlieren, wenn man sie als einen Status oder Wert versteht. Sie kommt jedem Menschen zu, insofern er Mensch ist. Der besagte Status oder Wert kommt aber nicht nur allen Menschen zu; er kommt allen Menschen auch in gleichem Maße zu. Dieses gleiche Maß ist zugleich das höchste, und die Menschenwürde ist aus diesem Grund weder zu steigern noch zu vermindern. (Hier kann man auch von Absolutheit als Vollkommenheit sprechen.) Deshalb ist die Frage, ob der Mensch seine Würde einbüßen oder verlieren kann, in gewissem Sinn gegenstandslos: Niemand kann ihm das nehmen, was seinen Anspruch auf Respekt und Achtung als Mensch ausmacht.

In einem anderen Sinn kann man aber die Würde von Menschen verletzen, und in diesem Sinn ist Menschenwürde auch nicht unantastbar. Sie kann nicht angetastet werden, insofern sie unverlierbar ist. Sie darf nicht angetastet werden, insofern das Gebot der Achtung ausnahmslos gilt; aber das setzt gerade voraus, dass man es missachten oder achten kann. Missachtet wird die Würde etwa, indem jemand einen anderen Menschen als bloßes Mittel zu eigenen Zwecken und nicht als ein Wesen mit eigenen Zwecken behandelt. Wer den geforderten Respekt nicht gewährt, macht es dem Betroffenen unmöglich, sich so zu verhalten und so zu leben, wie es seinem Status oder Wert entsprechen würde. Genau dagegen ist der Anspruch gerichtet, die menschliche Würde immer und uneingeschränkt zu achten.

Das ist die dritte Dimension der Absolutheit, die sich auf die normativen Folgen der Idee bezieht. So wenig wie der Status oder Wert Grade oder Stufen kennt, so wenig kennt die Forderung, Menschen aufgrund ihrer Würde zu achten, Grade oder Stufen, die uns mal mehr und mal weniger Spielraum bei der Erfüllung der Forderung ließen. Anders formuliert heißt das auch: Die Normen der menschlichen Würde dürfen nicht zugunsten anderer, vermeintlich höherer Werte und Ziele geopfert, umgangen, ausgesetzt oder eingeschränkt werden. Sie sind über die Güterabwägung erha13ben, die den moralischen Alltag bestimmt. Das macht ihre Unverrechenbarkeit aus: Menschenwürde kann von keinem anderen Wert oder Ziel übertroffen oder abgewandelt werden.

4. Kontingenz

So hohe Ansprüche laden zu kritischen Rückfragen ein. Ganz allgemein wird man fragen, ob menschliche Würde das ist und sein kann, was sie nach solchen Beschreibungen angeblich ist oder sein sollte. Ist die Idee der menschlichen Würde klar und deutlich genug, um solche Thesen zu stützen? Sind die Ansprüche und die Erwartungen, die man dort an die menschliche Würde richtet, wo man sie so versteht, wirklich einzulösen? Brauchen wir überhaupt eine Idee der menschlichen Würde, um das zu fordern oder zu verurteilen, was wir fordern oder verurteilen wollen? Was besagt die Forderung nach Achtung für die Menschenwürde eigentlich, wenn wir sie nüchtern betrachten und prüfen? Was genau ist Menschenwürde wirklich? Worauf gründet sich ihr Anspruch auf Verbindlichkeit? Und welche Reichweite hat er?

Diesen Fragen gehen die Autoren dieses Bandes nach, indem sie ein Merkmal der menschlichen Würde thematisieren, das zu ihrem vermeintlichen Anspruch auf Absolutheit in einer spürbaren Spannung steht: ihre Kontingenz. Die Literatur zur Idee der menschlichen Würde ist kaum zu überblicken; doch es fällt auf, dass Kontingenz darin fast nie zum Thema wird. Es ist also ein Merkmal der Würde, über das sich auch Moralphilosophen nur selten Rechenschaft geben. Das weckt den Verdacht, dass sie Probleme verdrängen und Fragen ausweichen, die den Zusammenhang von Kontingenz und Würde betreffen. Diesen Fragen sollten wir uns stellen.

Ein offensichtliches, aber auch schwierig zu fassendes Problem betrifft das Verhältnis zwischen der Deutung der menschlichen Würde, wie sie uns vertraut ist, und ihrem ideengeschichtlichen Ursprung. Der Blick in die Geschichte der Idee kann uns in mehr als einer Weise von dieser Idee entfremden. Hier droht zwar stets ein Schluss von der Genese einer Idee auf ihre Geltung, der nicht unmittelbar zulässig ist; doch es wäre ebenso verfehlt, nun umgekehrt schließen zu wollen, dass Fragen der Genese und solche der 14Geltung unverbunden wären. Es gibt auf verschiedenen Ebenen Verbindungen zwischen der Idee der Menschenwürde und ihrer Geschichte, die einige schwierige Fragen aufwerfen. Was bleibt von der Idee, wenn wir von ihr subtrahieren, was heute nicht mehr glaubwürdig ist? Welche Begründung kommt heute noch für die Normen infrage, die im Namen der menschlichen Würde geltend gemacht werden sollen? Hat die Idee der menschlichen Würde selbst eine Begründung? Und welche könnte das sein?

5. Genese und Geltung

Es wäre sicher eine Überraschung, wenn die Idee der menschlichen Würde nicht in verschiedenen Hinsichten von Kontingenz geprägt sein würde. Sie hat eine Form und einen Ort im menschlichen Leben, und beides hat sie im Lauf der Jahrhunderte erst erhalten. Sicher ist: Wie jede Idee, die historisch gewachsen ist, unterliegt sie historischem Wandel.

Wenn das so ist, haben Kräfte auf sie gewirkt, die ihrerseits einem historischen Wandel ausgesetzt sind, und diese Kräfte werden selbstverständlich weiter auf sie wirken. Das untergräbt nicht unmittelbar die Geltung dieser Idee. Es stellt auch nicht unmittelbar ihren Nutzen oder Stellenwert infrage. Aber es wirft doch die Frage auf, worauf sich der Geltungsanspruch stützt, den die Idee für sich zu beanspruchen scheint. Außerdem stellt sich die weitere Frage, was genau ihr Nutzen und ihr Stellenwert noch ist, wenn der deskriptive Gehalt der Idee in der Moderne so stark zusammengeschmolzen ist, wie es im Fall der Idee der menschlichen Würde der Fall zu sein scheint. Sicherlich hat sie sich von den theologischen und kosmologischen Annahmen gelöst, die sie einmal trugen. Zugleich hat sie in den letzten Jahrzehnten eine moralische, rechtliche und politische Brisanz entwickelt, die ihr anfangs nicht zu eigen war.

Der Grund, weshalb eine Idee wie die der menschlichen Würde nicht einfach durch die Einsicht in die Kontingenz ihres Ursprungs entkräftet werden kann, liegt im Unterschied zwischen »Genese« und »Geltung«. Die Wege, auf denen man zur moralischen Einsicht bezüglich der Geltung der Normen der Menschenwürde gelangt, mögen undurchsichtig und verschlungen sein; doch das zeigt 15für sich genommen noch nicht, dass diese Normen nicht gelten. Es zeigt auch nicht, dass keine moralische Einsicht erlangt worden ist. Selbst wenn die Geschichte eine von Irrtum und Anmaßung ist, kann es immer noch Erkenntnisfortschritt geben.

Nehmen wir zum Beispiel an, dass mich jemand fragt, ob es in diesem Moment in Manhattan regnet. Ich habe keinen Anhaltspunkt für eine Antwort und rate. Selbstverständlich kann das, was ich rate, dessen ungeachtet, dass ich rate, richtig sein. Aus der Genese folgt auch hier zunächst nichts für die Geltung. In diesem Fall betrifft die Frage der Geltung die Wahrheit der Aussage über Manhattan, die nicht dadurch in Zweifel gezogen wird, dass ich rate. Aus einer solchen wahren Überzeugung kann durch die geeigneten Methoden auch Erkenntnis werden. Allerdings würden wir angesichts von solchen Beispielen nicht sagen wollen, dass ich irgendeinen Grund dafür hatte, eher das eine als das andere zu sagen – ich habe schließlich schlicht geraten. Und wir würden auch nicht sagen wollen, dass ich wusste oder auch begründet glaubte, dass es in Manhattan regnet, selbst wenn es tatsächlich in Manhattan regnete, als ich sagte, dass es in Manhattan regnet, und es auch geglaubt haben mag. Denn: Ich hatte keinerlei Verbindung oder Zugang zu dieser Wahrheit im Moment meiner Aussage. Diese Wahrheit selbst und unser möglicher Zugang zu ihr werfen in diesem Fall keine weiteren schwierigen Fragen mehr auf, aber das mag nicht immer so sein.

Wenn diese Gefahr überall droht, wo wir keine sichere Verbindung zu dem haben, was über die Wahrheit unserer Aussagen und Überzeugungen bestimmt, dann läuft all das, was wir in diesen Bereichen für Wissen, für begründet, für eine vernünftige Auffassung hielten, Gefahr, als Irrtum oder Ideologie entlarvt zu werden. Auch wenn eine Aussage oder Überzeugung nicht falsch ist, mag sie nur zufällig wahr sein. Wir haben damit keinen Anhaltspunkt mehr, sie für wahr und nicht für falsch zu halten.

Oft sind auch Zweifel an der Überzeugung angebracht, die daraus erwachsen, wie die Überzeugung zu der wurde, die sie ist.[11] 16Stehen dahinter Interessen? Besteht die Gefahr der Manipulation? Können Irrtum und Wunschdenken eine entscheidende Rolle beim Erwerb der Überzeugung gespielt haben? Einsicht in solche Zusammenhänge kann dazu führen, dass die Überzeugung an Überzeugungskraft einbüßt. Sie kann sich so von einer Überzeugung zu einer bloßen Hypothese wandeln. Schließlich wird sie zum Gedanken einer Möglichkeit von vielen.

Auch wenn die Kontingenz der Geschichte, die uns erklärt, wie eine Ansicht oder Überzeugung sich geformt und etabliert hat, nicht zeigt, dass die Ansicht oder Überzeugung falsch ist, entsteht also ein Druck, sich der Wahrheit oder der Vernünftigkeit der Ansicht oder Überzeugung zu vergewissern. Das ist beim Beispiel der Frage, ob es in Manhattan regnet, selbstverständlich und nicht weiter schwer: Wir wissen recht genau, was der Fall sein muss, damit diese Aussage wahr oder falsch ist, und wir wissen auch, wie wir es herausfinden können. Es kommen keine Zweifel an Wahrheit und Methode auf, und deshalb ist es vergleichsweise einfach, sich der Wahrheit oder Falschheit dieser Aussage zu vergewissern. Wenn die Methoden der Überprüfung vernünftige sind, ist auch die Überzeugung, dass es in Manhattan regnet, selbst vernünftig.

So weit, so gut – es ist nur alles andere als klar, wie sich dieses Bild auf die Moral übertragen lässt. Es ist insbesondere nicht klar, um welche Art von »Wahrheit« es sich handeln könnte, wenn es um die Forderung nach Achtung für die Menschenwürde geht. Ebenso ist völlig unklar, wie wir uns der »Wahrheit« vergewissern sollten, wenn es sie denn gibt. Wir haben es also mit zwei Fragen zu tun, die zusammenhängen: Gibt es in Bezug auf die Menschenwürde überhaupt so etwas wie »die Wahrheit« zu entdecken? Und wenn es eine solche Wahrheit gibt, wie ist sie zu erkennen? Beides ist nicht leicht zu erklären. Die Geschichte der Idee zeigt uns einen Wechsel von moralischen Haltungen und Überzeugungen, deren verschiedene Formen wir von unserem eigenen Standpunkt 17aus beschreiben und bewerten können. Aber dieser Standpunkt ist selbst ein Produkt der Geschichte. Er ist zudem das Produkt der Geschichte, die uns selbst umfasst und die diesen Standpunkt zu unserem Standpunkt gemacht hat. Gibt es hier eine »moralische Wirklichkeit« oder »Erkenntnis« in einem substantiellen Sinn? Es ist nicht leicht zu sagen, wie sich das erklären und begründen ließe.

So droht auch der Gedanke einer Wahrheit, die hier zu entdecken wäre, ins Wanken zu geraten. Damit aber scheint die Idee der Menschenwürde selbst Schaden zu nehmen. Es bleibt nicht dabei, dass es in der Geschichte dieser Idee anders hätte kommen können, als es tatsächlich gekommen ist. Es bleibt auch nicht dabei, dass es zu dieser Idee Alternativen gibt und gegeben hat, die uns nicht als Alternativen für uns erscheinen. Es stellt sich die Frage, ob sich die Idee, die wir haben, an einem neutralen Maßstab als vernünftig und richtig ausweisen lässt.