Über Victoria Fox

Victoria Fox, Jahrgang 1983, wuchs in Northamptonshire auf. Sie studierte an der Sussex University und unternahm dort ihre ersten Schreibversuche. Sie arbeitete als Lektorin, bevor sie sich selbst ganz dem Schreiben widmete.

Juliane Pahnke, Jahrgang 1979, studierte nach einer Ausbildung im Buchhandel ein paar Semester Geschichte und Antike Kulturen, ehe sie sich ganz dem Schreiben und Übersetzen widmete. Sie lebt mit ihrem Mann in Westfalen.

Informationen zum Buch

Zwei Frauen. Ein Geheimnis um ein Kind. Ein tragisches Unglück.

Lucy steht in London vor den Scherben ihres Lebens. Als ihr eine Stelle als Haushälterin in der Toskana angeboten wird, sagt sie zu. Angekommen auf dem Castillo Barbarossa, merkt sie schon bald, dass ein düsteres Geheimnis über dem Anwesen liegt. Rätsel ranken sich um die Hausherrin Vivien, die einst eine berühmte Schauspielerin war, ehe sie sich plötzlich aus der Öffentlichkeit zurückzog. Als Lucy das alte Tagebuch von Vivien findet, stößt sie auf ein tragisches Unglück und jahrzehntealte Geheimnisse.

Ein spannendes Familiendrama vor der großartigen Kulisse der Toskana

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Victoria Fox

Der
Mitternachtsgarten

Roman

Aus dem Englischen
von Juliane Pahnke

Inhaltsübersicht

Über Victoria Fox

Informationen zum Buch

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Prolog

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Teil 2

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Epilog

Danksagung

Impressum

Prolog

Italien, Sommer 2016

Es war immer derselbe Traum, und jedes Mal sah sie ihn kommen. Sie wusste, wo er begann. Ein helles Licht, das aus der Dunkelheit heraus schneller wurde. Ein klarer Gedanke, ein Bild, das realer war als alle, die sie in den wachen Stunden heraufbeschwören konnte. Sie fürchtete sich davor, hinzusehen, aber noch mehr fürchtete sie, zu widerstehen. So trat sie in das Licht, die Arme ausgebreitet und kraftlos. Sie wusste, das war ein Trick, doch plötzlich war sie da, glückselig, vergessend, ihre Lippen auf seiner Stirn, seine weiche Haut und sein Geruch; sie konnte es auch jetzt wahrnehmen, nach so vielen Jahren und auf der anderen Seite des Bewusstseins. Sein Haar, die Wärme seines Körpers, das alles war in den Tiefen ihres Inneren verschlossen, immer noch unversehrt trotz der Stürme, die hier getobt hatten.

Sie wusste, wo der Traum aufhörte. Er hätte nichts sagen dürfen; er hätte nicht fragen dürfen.

Verlass mich nicht. Komm mit mir. Ich warte.

Ich warte … Ich erwische dich. Wir werden wieder zusammen sein.

Das Wasser, still und kühl und silbrig und schweigend. Einladend. Komm mit mir …

Ich warte.

Die Frau wacht mit einem Ruck auf. Ihr Bettzeug ist zerwühlt und feucht von ihrem Schweiß, ihr Herz hämmert, und ihre Kehle ist trocken. Es dauert einen Moment, bis sie auftaucht, das Gewicht des Wassers rings um sie drückt sie nieder. Die Luft in ihren Lungen wird knapp.

Adalina, ihre Pflegerin, kommt herein und öffnet die Fensterläden, um den Tag willkommen zu heißen.

»So ist’s besser, Signora. Wie haben Sie geschlafen?«

Sie stellt das Frühstückstablett ab, schüttelt die Kissen auf und zieht das Laken glatt. Und dann ist da der Regenbogen aus Tabletten, eine Schachtel mit Medikamenten, die wie Süßigkeiten aussehen. Als würden die bunten Farben es besser machen. Als würde sie die Pillen dann freiwillig nehmen.

Die Frau hustet; es klingt, als würde sie etwas Festes hochwürgen, einen Ball aus Draht.

Auf ihrem Taschentuch ist Blut: ein paar helle Spritzer, das schlimmste Zeichen von allen. Es wird nicht mehr lange dauern. Sie faltet das Taschentuch in ihrer geballten Faust. Adalina tut so, als hätte sie nichts gesehen.

»Ich …« Der Verstand der Frau ist wie gelähmt. Ihre Zunge ist geschwollen, fühlt sich in ihrem Mund an wie ein Fremdkörper. Als hätte sie einen Sumpf leer getrunken.

»Öffne das Fenster«, sagt sie.

Eine kurze Handbewegung, dann strömt frische Luft herein. Sie kann die Spitzen der Zypressen sehen. Zwölf Finger, die in den Himmel zeigen. Sie hat früher gern gedacht, er sei da oben, sie hatte vergeblich an Trost geglaubt, aber das ist vorbei. Er ist nicht im Himmel. Er ist nicht in den Wolken. Er ist ja nicht mal in der Erde. Er ist in ihr. Er ruft sie. Er braucht sie.

Luft. Wärme. Vogelgesang. Sie nimmt den Duft ihres blühenden Gartens wahr, kann sich die Rosen auf den Spalierbögen vorstellen, die pink zu blühen anfangen, und den Lavendel und den Schnittlauch, die vor den hohen Kalkwänden verstreut gepflanzt sind und in Lilatöne und leuchtendes Weiß ausbrechen. Wie leicht es der Außenwelt fällt, hier hereinzukriechen. Wie leicht es ihr fällt, diese Schwelle zu überschreiten, so schnell und fließend wie Regen. Wie leicht sie doch selbst in der Lage sein müsste, dasselbe zu tun. Ein Schritt, einen Fuß vor den anderen, das wäre alles. Das sagten zumindest die Ärzte. So geht es ihr auch mit dem unerlaubten Betreten jener Räume, jener Flügel, die seit Jahrzehnten in ihrem Staub verschlossen waren. Jetzt ist es ihr unerträglich.

»So ein schönes Haus«, flüsterten sie im Dorf, in der Stadt und wohl auch jenseits des Ozeans. »Wie tragisch, dass sie ist, wie sie ist. Trotzdem, ich vermute, man kann es verstehen, nach … du weißt schon …«

»Das Mädchen kommt gegen Mittag«, sagt Adalina, kippt die Tabletten in einen Plastikbehälter und gießt zugleich den Tee ein, als wäre das eine genauso gewöhnlich wie das andere. »Ich habe mich beim Flughafen erkundigt, und es gibt keine Verspätungen. Können Sie sie begrüßen? Sie möchte Sie bestimmt gerne kennenlernen.«

Die Frau wendet den Blick ab. Sie beobachtet ihre bleichen Hände, die wie die einer Leiche auf der Bettdecke liegen, das blutbefleckte Taschentuch unter den geschlossenen Fingern versteckt; ein schrecklicher Schlüssel zu einem schrecklichen Geheimnis. Ihre Handgelenke sind spröde, die Fingernägel kurz. Sie bemerkt, wie alt sie doch aussehen.

Wann bin ich so alt geworden?

Sie schüttelt den Kopf. »Ich sollte im Bett bleiben«, sagt sie. Wie jeden anderen Tag auch. Dieses Haus hat zu viele Ecken, zu viele Geheimnisse, die sich mit den Schatten und dem Schweigen zusammentun. »Und ich möchte nicht gestört werden. Du kannst das Mädchen einweisen, daran habe ich keinen Zweifel.«

»Selbstverständlich, Signora.«

Sie schluckt die Tabletten; Adalina verschwindet, ihr Gesicht ist eine Maske der Diskretion. Ihre Pflegerin hat nie ihre Gefühle ausgesprochen, aber das braucht sie auch nicht. Soll sie doch enttäuscht sein. Soll sie denken: »Sie sollte sich wirklich die Mühe machen. Das Mädchen hat eine lange Reise hinter sich.« Soll sie glauben, was sie will. Nur sie selbst versteht, wie unmöglich es ihr ist, das Mädchen zu begrüßen.

Außerdem will sie sie nicht hier haben. Sie hatte sie nie gewollt. Die Aushilfen wissen zu viel, sie stellen zu viele Fragen; es ist ihre Art, überall herumzuschnüffeln.

Aber welche Wahl hat sie schon? Adalina schafft es nicht. Das Castillo ist riesig. Sie schafft es nicht allein.

Dieses Mal wird sie die Wahrheit für sich behalten. Niemand wird sie erfahren.

Sie schließt die Augen und wird schläfrig. Ihre Pillen beginnen zu wirken. An der Schwelle zum Schlaf hört sie wieder seine Stimme. Er ruft sie vom Wasser, wo die orangene Sonne versinkt.

Komm mit mir. Ich fange dich. Ich warte.

Sie fällt, die Arme weit ausgebreitet.

Teil 1

Kapitel 1

London, ein Monat zuvor

Sie sagen, man kann nie wieder so lieben wie beim ersten Mal. Vielleicht verändert das Herz danach seine Form und kann nicht in die ursprüngliche zurückkehren. Vielleicht liegt es an dem Höhenflug, der so neu und eigenartig ist, dass man ihn intensiver spürt. Oder vielleicht ist es die Seele, die danach weiser wird. Sie lernt, dass die Liebe die Risiken nicht wert ist, die man für sie eingeht, und wenn sie das gelernt hat, schützt sie sich für die Zukunft.

Darin liegt ein gewisser Trost, denke ich, während ich mich durch das Gedränge in der Underground schiebe – Pendler während der Stoßzeit mit den Ohrstöpseln ihrer Smartphones in den Ohren; Touristen, die auf Karten schauen und an den Entwertern stecken bleiben; Paare, die sich auf der Rolltreppe küssen – in diese Sicherheit, dass ich, egal was passiert und wo ich ende, nie wieder das durchmachen muss, was ich gerade durchgestanden habe. Wir werden von der Northern Line hinauf in die frische Luft geführt, wo das Lärmen und Summen der Stadt in einer Myriade aus Licht und Farben vorbeiströmt. Ich passiere eine Gruppe Mädchen, die unterwegs sind in die Nacht; sie müssen in meinem Alter sein, schätze ich, Ende zwanzig, doch die Kluft zwischen uns ist riesig. Ich sehe sie an, als würde ich sie durch ein Fenster beobachten, und erinnere mich daran, dass ich früher wie sie war, albern, leichtfertig, naiv. Wie es sich damals anfühlte, am Rand der Welt zu stehen und noch keine Fehler gemacht zu haben – zumindest keine so unwiderruflichen wie ich.

Ich liebe die Anonymität an London. So viele Menschen und so viele Leben, und ironischerweise bin ich hergekommen, weil ich wahrgenommen werden wollte, weil ich jemand werden wollte. Doch was ich bekam, als ich im Mittelpunkt stand, war Unsichtbarkeit. Ich werde die Anonymität vermissen, wenn sie es herausfinden. Ich werde auf sie zurückblicken wie auf etwas, das ich nie wieder erlangen werde, wenn es einmal verloren ist.

Ich erwische den Bus und starre aus dem Fenster auf die sich rasch verdunkelnden Straßen. Gegenüber des Gangs liest ein Mann mit Brille die Metro, auf deren Titelseite die Schlagzeile prangt: MÖRDER GEFASST – POLIZEI ERWISCHT KOFFERRAUMKILLER. Ich erschaudere. Wird mir auch so eine Schlagzeile gelten, eines nahen Tages? Was werden sie über mich berichten? Ich sehe meinen Namen, Lucy Whittaker, in der runden, freundlichen Handschrift, mit der ich früher als Kind meine Hausaufgaben anfertigte und Dankesbriefe und Geburtstagskarten an meine Freunde schrieb, dann in letzter Zeit die getippten Überschriften meiner Bewerbungen, und wie dieser Name auf einmal bedrohlich wirkt, ein Name, vor dem man zurückschreckt. Leute, die ich kenne, werden sagen: »Aber nicht die Lucy Whittaker? Sie ist doch so ruhig, so schüchtern, sie würde so etwas niemals tun …«

Aber ich habe es getan, denke ich. Genau so etwas habe ich getan.

Wir erreichen meine Haltestelle, und ich trete in den Abend hinaus und ziehe den Mantel enger um mich, als der Wind auffrischt. Den Kopf halte ich gesenkt, und die Plastikkiste klemme ich mir unter den Arm.

Mein Handy piept. Einen dummen Moment lang glaube ich, er wäre es, und ich verabscheue mich dafür, wie hastig ich die Hand in meine Jackentasche schiebe. Sie zittert, und die Hoffnung sinkt, als ich meinen Irrtum erkenne. Es ist Bill, meine Mitbewohnerin. Sie heißt Belinda, aber den Namen mochte sie nie.

Wann bist du zu Hause? Ich habe Wein! XXX

Ich bin fast da, darum brauche ich darauf nicht zu antworten. Meine Schritte werden langsamer. Wie immer, wenn ich meine Nachrichten öffne, geht mein Blick zu seinem Chat mit unseren nächtelangen Gesprächen, betörend und aufregend ließen sie mein Herz jedes Mal tanzen, wenn der Bildschirm nachts um zwei aufleuchtete. Ich sollte sie löschen, doch ich kann nicht. Es ist, als würde ich damit jeden Beweis, dass es tatsächlich passiert ist, auslöschen. Dass es vor den schlimmen Ereignissen auch etwas Gutes gegeben hatte. Denn das hatte es. Für das, was passiert ist, gab es einen Grund …

Sei keine Idiotin. Es gibt keinen Grund. Nichts rechtfertigt, was du getan hast.

Und natürlich würde er sich nicht mit mir in Verbindung setzen. Er würde sich nie wieder melden. Es ist vorbei.

Ich biege in unsere Straße ein. Als ich die Haustür aufschließe, sehe ich, dass Bill immer noch nicht auf die Idee gekommen ist, die Post zu sortieren. Ich sammle die verstreut herumliegenden Umschläge vom Boden auf und ordne sie den einzelnen Wohnungen zu, bevor ich unsere mit nach oben nehme. Bill hat bei vielen Dingen, die das Zusammenleben mit anderen betreffen, noch nicht den Bogen raus, habe ich bemerkt, sei es nun das Auffüllen des Toilettenpapiers oder das Rausstellen der Mülltonnen. Mir ist das auch gar nicht so wichtig. Sie ist meine beste Freundin, seit wir laufen können; sie hat das alles mit mir zusammen durchgestanden und ist immer noch an meiner Seite. Sie ist die Einzige, die die schlimme Wahrheit kennt, und selbst dann hat sie mich nicht alleingelassen, obwohl ich das wirklich verstanden hätte. Sie hätte gehen sollen. Darum ist mir das mit den Mülltonnen egal.

»Wie war’s?« Sie wartet schon, als ich reinkomme. Die Drinks hat sie bereits eingegossen und den Fernseher eingeschaltet, es läuft der Aufguss einer Talentshow, und sie schaltet den Ton aus, als ich meine Schultern hebe.

»Wie erwartet.« Ich stelle die Kiste ab und überlege, wie schon vorhin im Büro, wie man fünf Jahre Arbeit in nur fünf Minuten einpacken kann. Ein paar alte Karteikarten, mein Tischkalender, ein Kühlschrankmagnet in Form einer Sangriaflasche aus Portugal, den ein Kunde mir geschickt hat.

»Ohne großes Trara?« Bill umarmt mich und drückt mich an sich. Mir steigen Tränen in die Augen, die ich wegblinzle. »Es ist deine eigene Schuld«, hatte Natasha, seine Stellvertreterin, gezischt, als ich Richtung Ausgang von Calloway & Cooper schlich und versuchte, das Starren zu ignorieren, das mir folgte, gleichermaßen fasziniert und entsetzt. Wie der sich stauende Verkehr, der an einem Auffahrunfall vorbeizieht.

Natasha hatte es vom ersten Tag auf mich abgesehen. Meine Theorie? Sie ist in ihn verliebt. Als seine kaufmännische Leiterin wurde sie von allen als seine Stellvertreterin akzeptiert. Aber dann kam ich, verdrängte sie als seine persönliche Assistentin. Ich war ihm am nächsten, und ich weiß, dass sie sich damals auch für die Stelle beworben hatte. Holly aus der Buchhaltung hat es mir erzählt. Aber Natasha bekam den Job nicht. Sondern ich. Und ich glaube, sie konnte die Tatsache nicht verwinden, dass es, und sei es nur für einen Sekundenbruchteil kurz vor dem Ende, bevor alles so entsetzlich schiefging, so aussah, als ob er meine Gefühle erwidert haben könnte. Als alles in die Luft flog, war es für sie wie alle Weihnachtsfeste auf einmal. Natasha freute sich, mich gehen zu sehen, und konnte ihr Glück angesichts der Umstände, die mich dazu trieben, nicht fassen.

Ich versuche zu lachen, aber es bleibt mir im Hals stecken. »Ohne großes Trara«, bestätige ich, greife nach dem Wein und stürze ihn auf einmal herunter. Bill schenkt mir nach. Ich will an einer Zigarette ziehen, aber ich versuche gerade, mit dem Rauchen aufzuhören. Großartiger Zeitpunkt, Lucy, denke ich. Wen kümmert es jetzt noch, ob ich lebe oder sterbe? Aber das klingt zu melodramatisch, und ich gehe mir mit diesem Gedanken selbst auf die Nerven.

Stattdessen konzentriere ich mich auf den Alkohol. Wenn ich weitertrinke, werde ich mich betäubt fühlen, dann spüre ich nichts mehr. Ich spüre nicht mehr seine Hand auf meiner Wange, seinen Kuss auf meinem Mund, meinem Hals …

»Komm schon«, sagt Bill und lächelt unsicher. »Es ist vorbei.«

»Ist es das?«

»Du musst diese Leute nie wiedersehen. Du musst ihn nie wiedersehen.«

Das ist etwas, das Bill nicht versteht, und ich finde keine Worte, es ihr zu erklären: Ich muss ihn wiedersehen. Selbst nach allem, was passiert ist, selbst wenn ich so weit und so schnell wie möglich vor ihm weglaufen sollte, bin ich immer noch so süchtig nach ihm wie am ersten Tag. Dabei ist das mehr als unangemessen. Ich habe gelesen, dass die Beerdigung heute Morgen stattfand, auf einem Friedhof südlich des Flusses, und ich kann nicht aufhören, an ihn zu denken, wie er starr vor Trauer den Blick seiner wunderschönen grauen Augen auf den Boden heftet und der kalte Nieselregen auf die Schultern seines Mantels fällt. Des Mantels, in dem ich mir einst in einer kalten Nacht auf der Tower Bridge die Hände gewärmt hatte, während er meine Nasenspitze küsste. Wie sehr ich mich danach sehne, jetzt die Arme um ihn zu legen und ihm zu sagen, dass es mir leidtut und dass ich ihn vermisse. Dabei sollten meine Schuldgefühle mich eigentlich zerreißen, zusammen mit Scham und Schmach und all den anderen Empfindungen. Und ich spüre sie ja auch, jeden Tag spüre ich sie, aber zugleich kann ich nicht die Energie vergessen, die von uns ausging, wenn wir zusammen waren. Wir sind nicht Teil dieses Chaos, dieser Traurigkeit, dieser Verwirrung.

»… könntest wenigstens darüber nachdenken, weißt du? Wenn du willst.«

Bill sieht mich liebevoll an und wartet auf eine Antwort.

»Was? Ich war meilenweit weg.«

»Der Freund von Freddys Schwester«, sagt sie wohl zum zweiten Mal. »Er ist gerade aus Italien zurückgekommen. Du weißt schon, der Sprachkurs in Florenz, den er belegt hat?«, erinnert Bill mich, und ich nicke, damit sie endlich Ruhe gibt, obwohl ich keine Ahnung habe, wovon sie spricht. (So vieles in den letzten zwölf Monaten ist einfach im Chaos versunken; ich kann mich nicht genau erinnern, wer Freddy ist – jemand, mit dem Bill zusammenarbeitet?)

»Während er dort war«, fährt sie fort, »hat er sich mit diesem Mädchen angefreundet, das an den Wochenenden in einem Haus arbeitet. Ich sage Haus, es ist aber wohl eher ein Anwesen. Tatsächlich hat Freddy gesagt, es sei ein riesiges Grundstück, und dort lebe wohl jemand Berühmtes, doch diese Freundin habe diejenige nie getroffen. Egal, jedenfalls lebt diese Frau sehr zurückgezogen und geht nie aus.« Bill lässt sich aufs Sofa plumpsen. »Klingt faszinierend, oder? Wie ein Romananfang.« Sie findet etwas unter dem Polster und hebt es hoch. »Hey, guck mal! Ich habe fünfzig Pence gefunden.«

Ich runzle die Stirn. »Was hat das mit mir zu tun?«

Bill schlägt die Beine übereinander. »Das Mädchen wurde entlassen, und sie suchen nach Ersatz. Alles streng geheim … offensichtlich schalten sie nie eine Anzeige. Die Frau klingt etwas verrückt, aber wie schwer kann das schon sein? Ein paar Regale abstauben, den Boden wischen«, sie verzieht das Gesicht, und ich frage mich, ob ihr Wissen über das Führen eines Haushalts über Aschenputtel hinausgeht, »und schon kann man sich zusammen mit einem heißen Italiener, den man in der Stadt kennengelernt hat, in der Sonne aalen. Ich würde es ja selber machen, wenn ich nicht Montag wieder zur Arbeit müsste.«

Ich bin misstrauisch. »Was schlägst du vor?«

»Denk einfach drüber nach, Lucy.« Ihre Stimme wird weich, und sie beugt sich vor. »Seit diese Sache passiert ist, warst du verzweifelt und wolltest nur noch weg. Du hast gar nicht mehr aufgehört darüber zu reden, dass du nicht länger hierbleiben kannst. Sieh mal, ich will dir was zeigen.« Mit diesen Worten steht sie auf und zieht mich zum Spiegel im Flur. »Beschreib mir, was du siehst«, sagt sie. »Ehrlich.«

Es hilft nicht gerade, dass überall an der Wand Fotos von früheren Tagen hängen. Abende mit Bill, Urlaube mit Freunden, der Bungeesprung, den ich an meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag gemacht habe, nachdem ich endlich von zu Hause ausgebrochen war und dabei war, meine eigene Zukunft zu gestalten. So sehe ich es, dieses heraufziehende Satzzeichen in der Geschichte meines Lebens, das die Jahre davor von den einsamen Tagen danach trennt, die langsam zu Wochen wurden. Ich war damals ein anderes Mädchen: fröhlich, hoffnungsvoll, glücklich, lebendig. Was sehe ich jetzt? Einen dumpfen Schmerz in meinen Augen, meine Haut fahl von den Nächten, die ich mit Grübeln und Nachdenken und dem Hin und Her der vielen Was-wäre-Wenns verbrachte, hohle Wangen und Traurigkeit. Vor allem Traurigkeit.

»Ich will das nicht machen«, sage ich und mache mich mit einem Schulterzucken von ihr los.

»Das bist nicht du, Lucy. Du bist nicht du selbst.«

»Was erwartest du denn?« Ich weiß, dass es angriffslustig klingt. Und eigentlich will ich gar nicht streiten, aber ich kann nicht anders. Ich muss jemanden anschreien, ich muss wüten, denn ich bin es leid, nur auf mich selbst wütend zu sein. »Ihre Beerdigung war heute, hast du das gewusst? Und ich soll alles hinter mir lassen, das Chaos, das ich verursacht habe, und mich in einen Urlaub nach Italien verziehen?«

»Es ist kein Urlaub«, sagt Bill. »Es ist ein Job. Und wenn wir ehrlich sind, brauchst du einen.«

»Ich kriege das schon hin.«

»Was ist mit der Presse?« Das bringt mich zum Schweigen. »Was ist, wenn sie deine Nummer rauskriegen oder wenn sie vor deiner Tür stehen und du Angst hast, nach draußen zu gehen? Glaubst du denn, er wird dich dann noch verteidigen? Es ist ihm egal, Lucy; du interessierst ihn einen Scheiß. Er wird die ganze Schuld auf dich schieben, und wie wird das dann aussehen?«

»Sag nicht solche Dinge über ihn.«

»Schön, dann lassen wir das. Du weißt, wie ich das sehe. Mein Punkt ist folgender: Das ist deine Chance. Siehst du nicht, dass es zeitlich perfekt passt? Du kannst die Sache hier erst mal hinter dir lassen und zurückkommen, sobald sich alles wieder beruhigt hat.«

»Wie soll sich das denn wieder beruhigen?«

»Das wird es. Alles geht irgendwann vorbei.«

Ich schnaube. Aber ich stehe mit dem Rücken zu ihr, deshalb kann sie mein Gesicht nicht sehen.

»Was wäre denn die Alternative?«, fragt Bill.

Ich denke darüber nach. Mich der Welt und meiner Familie stellen, mein Gesicht quer auf den Titelseiten aller Zeitungen im Land, Zitate, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden und jemanden zeigen, der ich nicht bin.

Würde er dann sein Schweigen brechen? Würde er mir helfen? Würde er an meiner Seite stehen? Bills Worte schmerzen. Es ist ihm egal, du interessierst ihn einen Scheiß.

Ihre Frage bleibt unbeantwortet. Ich kann mich nur zu ihr umdrehen; meine Streitlust ist erloschen. »Es tut mir leid«, sage ich und meine es auch so. Sie schüttelt den Kopf, als müsste ich das nicht sagen. »Ich …« Etwas wallt in meiner Brust auf, es droht überzulaufen, und meine Stimme klingt komisch. »Ich schaffe das einfach nicht.«

»Ich weiß.« Bill umarmt mich. »Bitte versprich mir, dass du darüber nachdenkst.«

An diesem Abend im Bett denke ich darüber nach. Ich liege wach und rede mir ein, dass ich nicht darauf warte, dass mein Handy in der Dunkelheit aufleuchtet. Ich lausche dem vorbeirauschenden Geräusch des Verkehrs, das nach und nach leiser wird, bis ich gegen zwei Uhr endlich einschlafe. Zum ersten Mal seit Monaten ist nicht er das Letzte, woran ich denke. Ich stelle mir ein Haus vor, umgeben von Zypressen, das versteckt zwischen den italienischen Hügeln liegt. Als ich im Traum versinke, stehe ich in einem zugewachsenen Rosengarten. Etwas Unbekanntes ruft mich, ein Schatten, der im Sonnenlicht aufblitzt und verschwindet.

Ich erreiche einen Springbrunnen, die Wasseroberfläche ruhig und silbrig glitzernd. Ich blicke in das Becken auf mein Spiegelbild.

Es dauert einen Moment, bis ich mich erkenne. Einen Herzschlag lang bin nicht ich es, die ich da sehe.

Kapitel 2

Italien

Drei Wochen später erreicht mein Zug Florenz. Es ging alles ganz schnell – das sei die beste Methode, erklärte Bill mir, um so meine Art zu überlisten, die immer alles überdenken will –, und zu Hause in London hatte ich kaum Zeit, meine Entscheidung zu treffen, ein kurzes Telefoninterview mit der Besitzerin des Hauses zu führen, meinen Reisepass zu verlängern und meine Papiere zu ordnen, bevor Bill meinen Koffer oben vom Schrank holte und mich ermutigte, ihn zu packen. Ich vermute, sie hatte recht – wenn ich erst anfing nachzudenken, hätte ich zu viele Möglichkeiten, um doch noch zu zögern, mich auszuklinken oder zu erklären, dass es nicht meine Art ist, etwas so Waghalsiges und schlecht Durchdachtes zu machen. Aber was war schon meine Art? Was machte Lucy Whittaker aus? Ich hatte es vergessen. Ich hatte sie verloren –, und ich würde sie nicht wiederfinden, wenn ich weiter in unserer Wohnung in Holborn herumhing, ohne Job und in der Vergangenheit gefangen.

»Geh.« Bill hielt mich an den Schultern fest, als sie sich verabschiedete. »Denk nicht an das, was hier passiert. Sei glücklich, Lucy. Lass los. Verlieb dich in Italien.«

Mein erster Eindruck von der Stadt ist nicht besonders gut; am Bahnhof Firenze Santa Maria Novella ist es heiß und überlaufen, und ich handle mir eine Welle misstrauische Blicke ein, als ich mich hinknie und in meiner Tasche wühle, weil eine Flasche Shampoo auf dem Flug nach Pisa zwischen meinen Sachen ausgelaufen ist. Als ich versuche, den Busfahrplan zu lesen, um herauszufinden, wie ich ins Zentrum komme, stolpert ein Mann von hinten gegen mich, entschuldigt sich mit den Worten »Mi scusi, Signora …« –, und Sekunden später bemerke ich, dass fünfzig Euros aus der Gesäßtasche meiner Jeans fehlen. Aber als ich die Straßen erreiche, die ich wiedererkenne, und als ich die bronzene, stolze Kuppel des Duomo mit dem schmucken Campanile davor sehe, wo der Marmor im Sonnenlicht rosa und weiß schimmert, vergesse ich meine schlechte Stimmung für einen Moment und erliege dem Zauber von Florenz. Einheimische brausen auf ihren Vespas vorbei und wirbeln auf dem Kopfsteinpflaster Staub auf, Pizzerien öffnen ihre Türen für die Mittagsgäste, und auf den Terrassen, die heiß wie ein Backofen sind, werden weiß-rot karierte Tischtücher verteilt; Kellner rauchen gemütlich eine Zigarette, bevor sie die Gäste bedienen. Touristen schlendern mit Sonnenhüten vorbei und essen pinkes Eis aus Hörnchen; ein Hund trinkt aus einem Rohr an der Via del Corso. Wir sagten immer, wir würden gemeinsam herkommen, eines Tages – er und ich. Er versprach mir, wir würden mit einem Boot auf dem Arno fahren, würden Spaghetti essen und Wein trinken; wir würden durch die Uffizien schlendern und am Nachmittag im Boboli-Garten einschlafen. »Vergiss Paris – Florenz ist die romantischste Stadt der Welt.«

Der Bus hält, und ich muss mich bewegen, als könnte ich mit räumlicher Entfernung die Erinnerungen wegschieben. Als könnte ich ihn auf dem leeren Sitz neben mir zurücklassen.

Es dauert nicht lange, bis ich in den Bus nach Fiesole umsteigen kann. Ich bin inzwischen bereit, dorthin zu fahren, das Haus und seine Bewohner kennenzulernen. Dort kann ich meine Stunden mit Aufgaben füllen, die nichts mit ihm oder meinem Leben zu Hause zu tun haben. Mein Vater wollte wissen, was um alles in der Welt ich hier suche. »Italien?«, fragte er. »Warum? Was ist mit deiner Arbeit? Du wurdest gefeuert, Lucy? Wie kam’s?«

Meine Schwestern reagierten genauso. Sophie rief von einem Modeshooting an und erklärte mir, ich würde den besten Job hinschmeißen, den ich jemals haben würde. Helen schrieb mir aus dem Luxus ihres direkt an der Themse gelegenen Apartments und prahlte mit ihrem Anwaltsverlobten, der in seiner Kanzlei zum Partner aufgestiegen war, und schrieb in einem Nachsatz, dass meine »kleine Auszeit« in Florenz bestimmt spaßig werde, aber wieso ich denn nicht mit einem Freund hinfahre? Und Tilda? Von ihr habe ich seit Wochen nichts gehört. Sie ist mit einem Surfer namens Marc zum Tauchen auf Barbados. Im Unterschied zu den anderen hat Tilda keine Universität besucht. Das war vermutlich mein größter Kampf, denn als die Älteste hatte ich mein Leben weitergeführt, während ich zugleich den Platz unserer Mutter einnahm. Endlose Monate, in denen Tildas Leben zum Stillstand kam und in denen ich versuchte, sie davon zu überzeugen, dass ich es besser wusste, obwohl ich das vielleicht gar nicht tat.

Der Altersunterschied zwischen uns ist nicht so groß, darüber würde eine normale Familie nicht mal nachdenken. Aber für uns bedeutete er viel. Er kennzeichnete mich als Erwachsene, obwohl ich dafür noch zu jung war, und meine Schwestern waren noch Kinder, obwohl sie zu dem Zeitpunkt schon weiter hätten sein können. Dass ich half, sie großzuziehen, kam mir ganz natürlich vor. Keine bewusste Entscheidung, sondern eine, die mir aufgezwungen wurde, die ich aber nie bereute. Mein Vater schaffte es nicht allein, und meine Schwestern waren zu jung, um zu verstehen, was es hieß, ohne ihre Mutter aufzuwachsen. Mir brach es das Herz, dass sie nie sehen würde, wie ihre Töchter ihre Abschlüsse machten, ihren ersten Freund kennenlernten, jene intensiven Bündnisse bildeten und zerbrechen ließen, zu denen nur Mädchen im Teenageralter fähig sind. Sie würde auch nie erleben, wie sie sich verlobten, heirateten und selbst Kinder bekamen –, und natürlich trifft vieles davon auch auf mich zu, obwohl ich daran nie einen Gedanken verschwendete. Ich bin stolz auf die Rolle, die ich eingenommen habe, doch manchmal frage ich mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn ich die Chance gehabt hätte, ganz unbeschwert meine Teenagerzeit zu erleben und ein normales Mädchen zu sein. Vielleicht wären meine erste Liebe und die ersten Fehler dann nicht so verheerend gewesen wie jene, die mich nun hierhergebracht haben.

Während die toskanische Landschaft vorbeigleitet und sich hinter Florenz die Straße zwischen flammenförmigen Zypressenbäumen und goldenen Feldern hindurchschlängelt, die von aufgeheizten Villen durchsetzt sind, überlege ich, ob ich gerade nicht dasselbe tue wie damals nach Mamas Tod. Ich laufe weg, ohne mich von der Stelle zu bewegen. Errichte eine Mauer aus Aufgaben, konkreten Zielen, Dingen, mit denen ich mir die Hände schmutzig machen kann, um nichts mehr zu spüren.

Keine meiner Schwestern weiß, was passiert ist. Das ist nicht ihre Schuld – ich habe es ihnen nicht erzählt. Ich habe meiner Familie nie etwas über mein Leben erzählt, und je persönlicher mich etwas betrifft, umso wertvoller ist es und umso weniger bin ich bereit, es zu teilen. Weil ich immer die Verlässliche, Verantwortungsbewusste gewesen bin, und weil ich immer auf mich selbst aufgepasst habe. Ich habe sie nie gebraucht, damit sie mich trösten oder beruhigen. Nicht so, wie sie mich brauchten.

Sie werden es schon bald herausfinden. Alle werden es bald erfahren.

Und was dann?

Die Frage hallt in meinem Kopf wider. Ich kann sie nicht beantworten, weil es keine Antwort darauf gibt.

»Piazza Mino«, ruft der Fahrer, als der Bus mit einem Ruck zum Stehen kommt. Ich schleppe meine Tasche. Hier draußen habe ich kein GPS-Signal und muss auf die Karte schauen, die ich vor meiner Abreise ausgedruckt habe. Dann laufe ich los.

Der Weg ist sengend heiß. Meine Muskeln brennen, während ich bergauf laufe und die grelle Sonne auf die Rückseite meiner Beine niederbrennt. Ich genieße es, wie mir die Luft in den Lungen knapp wird, wie sich der Schweiß auf meiner Oberlippe sammelt. Es erinnert mich daran, dass ich immer noch atme.

Dreißig Minuten später ist mir heiß, und ich bin durstig. Ich habe das Dorf längst hinter mir gelassen und befinde mich in einer ockerfarbenen Landschaft mit Mais- und Getreidefeldern, die sich auf beiden Seiten weit erstrecken, während ich mich staubige Straßen hochkämpfe und in den seltenen Schattenflecken der Olivenhaine Schutz suche. Die silbrigen Blätter formen ein flackerndes Schattenspiel, unter dem ich mich eine Weile ausruhe, ich trinke aus meiner Flasche und beginne mir langsam Sorgen zu machen, ich könnte das Haus nie finden.

Dann nehme ich plötzlich den Duft von Mandeln, den schwachen Hauch von blauschwarzen Weintrauben und die Frische von Zitronen wahr und erspähe hinter dem Hügel eine Ansammlung von Bäumen, die sich erstrecken, so weit das Auge reicht. An jedem Baum hängen üppig viele gelbe Früchte. Ich kneife in der Sonne die Augen zu und trete an die Mauer. Am Horizont erkenne ich ein Gebäude, das in der duftenden Hitze verschwimmt. Es ist riesig, die Fassade hat die Farbe von überreifen Pfirsichen, und es hat ein ausuferndes, vom Zahn der Zeit angeknabbertes Terrakottadach. Es hat Türmchen und die schwarzen Umrisse von Bogenfenstern.

Ich schaue auf die Karte. Das ist es. Das Castillo Barbarossa. Die Straße, auf der ich unterwegs bin, führt in einem weiten Bogen um das Anwesen. Dann treffe ich eine Entscheidung, wuchte zuerst meine Tasche über die Mauer und gehe direkt Richtung Anwesen. Der Größe des Castillos nach zu urteilen, gehört auch dieser Hain dazu und noch einige Hektar mehr. Ich wähle meinen Weg zwischen den Zitronenbäumen. Die Früchte machen mich durstig. Ich stelle mir vor, wie die Besitzerin des Hauses mich mit einem Glas mit einem erfrischenden Getränk begrüßt, doch dann erinnere ich mich an das, was Bill mir erzählt hat, und an die Frau, mit der ich telefoniert habe – das merkwürdige, gestelzte Vorstellungsgespräch, das beunruhigend kurz und detailarm war, als hätte sie überhaupt nicht mit mir sprechen wollen und es nur unter Zwang getan. Ich war erleichtert, als ich merkte, dass sie keine Italienerin war, denn ich musste die Sprache während meines Aufenthalts erst lernen. Sie sprach mit einem leichten amerikanischen Akzent, der durch die Jahre in Europa verwaschen war und in dem die scharfe Affektiertheit von Macht und Reichtum mitschwang. Danach redete ich mir ein, die Verbindung sei einfach mies gewesen. Es wäre bestimmt leichter, wenn wir uns persönlich trafen. Die anschließende Zusage war der Beweis, dass ich mich bewährt hatte. Es gab keinen Grund, an mir zu zweifeln.

Als ich mich dem Haus nähere, in dessen riesigen Schatten ich mich winzig fühle, verschwindet die Sonne hinter einer Wolke. Das Anwesen sieht alt aus und merkwürdigerweise auch unbewohnt. Die Holzläden vor den Fenstern sind verriegelt, in den cremefarbenen Außenwänden sind mehr Risse und Spuren des Verfalls, als es aus der Ferne den Anschein hatte. Ein grünes Efeugewächs rankt wie eine Hautkrankheit an einer Seite des Gebäudes hoch. Ich runzle die Stirn und schaue noch einmal auf die Karte, dann falte ich sie zusammen und stecke sie ein.

Breite Steinstufen führen von der Haustür herab und gehen in eine gekieste Terrasse über, die in eine zweite, eine dritte und vierte übergeht, von denen jede groß und einst begrünt war, aber inzwischen seit Jahrzehnten vernachlässigt wurde. Die ovalen Pflanztöpfe bröckeln bereits, und in ihnen verkümmert nur totes, gekrümmtes Zeug. In der Mitte ist ein Springbrunnen, der schon lange nicht mehr funktioniert. Eine Steingestalt steigt aus dem Becken auf, die ich aus der Entfernung nicht erkennen kann. Ich habe das Gefühl, diesen Springbrunnen schon mal gesehen zu haben, obwohl das unmöglich ist. Ich biege in die Auffahrt ein, und als ich an dem Brunnen vorbeigehe, vermeide ich, hinzusehen. Stattdessen gehe ich zur Tür und hebe meine Hand.

Kapitel 3

Die Frau hört die Türklingel. Sie haben dieser Tage so wenige Besucher, dass das Geräusch sie bis ins Mark erschüttert. Sie hat nicht geschlafen, doch wach war sie auch nicht; irgendwo dazwischen.

Entfernte Stimmen. Eine gehört zu Adalina; die andere zu einer Fremden.

Die Frau setzt sich auf. Unwohlsein rast von ihren Zehen bis in den Bauch, wo es sich einnistet. Sie starrt die Wände an, lauscht auf ein verräterisches Knacken der Dielen und fragt sich, wie lange es dauert, bis Adalina ihre Abwesenheit erklärt. Wie wird sie es sagen? Wie viel wird sie preisgeben? Die Frau hat eine klare Vorstellung, welche Geschichte erzählt werden soll, aber wie diese Geschichte hinter verschlossenen Türen, in den versteckten Korridoren und mit gedämpften Stimmen in den alten Dienstbotenquartieren verändert wird, ist etwas völlig anderes. Sie ist keine Idiotin.

Es kostet sie einige Mühe, ihre Beine aus dem Bett zu hieven, doch der Boden unter ihren nackten Fußsohlen fühlt sich angenehm an. Manchmal stellt sie sich die Materialien des Hauses vor, das massive Holz, der harte Marmor und der kühle Stein, die jeden Gedanken und jedes Gefühl absorbieren, die ihr Körper hervorbringt. Wenn sie die Vorhänge zusammendrückt, werden Tränen hervorquellen, als würde man ein Stück Stoff auswringen. Wenn sie über die Stufen kratzt, steigen die Geheimnisse in einem dünnen Rauchfaden auf.

Sie geht zur Tür und überprüft, ob sie geschlossen ist. Am Fenster schiebt sie die Lamellen des Fensterladens auseinander und sucht in der Auffahrt nach Hinweisen auf das Mädchen, das ihr Haus betreten hat. Es gibt keine. Nur die Olivenhaine, die sich bis zum Horizont ausbreiten, und darüber den weiten, leeren Himmel.

Ihr Spiegelbild im Glas ist transparent. Eine durchsichtige Frau. Dieser Trick verzeiht einiges, denn er lässt sie jung wirken. Keine Schatten, keine Fältchen – keine Hinweise auf die schmerzhaften Jahre, die ihr Gesicht gezeichnet haben. Sie kann sich nur selten an die Person erinnern, die sie einmal war; es fühlt sich an, als würde sie in das Leben einer anderen blicken, das keine wie auch immer geartete Verbindung zu ihrem eigenen hat. Es fühlt sich merkwürdig an, so an das andere Ich zu denken. Sie sieht die Fotografien und die Filme; sie liest die Artikel, die man damals über sie in Magazinen schrieb; das strahlende Lächeln, die lackierten Wellen der blonden Haare, der glänzende, himbeerrote Lippenstift … Sie war so schön. Das konnte niemand bestreiten. Sie war bezaubernd. Sie war gewitzt. Sie war brillant. Jeder wollte mit ihr bekannt sein.

Wie schnell die Welt doch vergaß. Wie rasch eine Tragödie Aussatz über jeden brachte, der damit in Zusammenhang stand. Sie sollte dankbar für ihre eigene Unsichtbarkeit sein. An den meisten Tagen war sie das auch, aber an anderen dachte sie an die Frau, die sie aufgegeben hatte, und an den Unterschied zwischen ihrem damaligen und dem heutigen Leben, der so überwältigend war, so schmerzhaft und heftig, dass es ihr den Atem raubte. Ihr verschwundenes Ich hätte die Tür weit aufgestoßen und wäre der Besucherin entgegengeeilt, um sie zu begrüßen. Sie hätte sie mit ihrer Schönheit und ihrem Ansehen eingeschüchtert und es genossen, welche Wirkung sie auf andere hatte. Keine Frau vermochte sie auszustechen. Aber das war eine andere Welt. Sie hat seitdem eine Menge gelernt.

Die Lamellen schließen sich blitzschnell. Ein kurzer Blick auf den Springbrunnen genügt. Adalina kann nicht verstehen, warum sie nicht in andere Räume zieht. Sie könnte dann sicherlich besser schlafen, und die Alpträume würden sie in Ruhe lassen. Doch sie kann nicht. Stattdessen lehnt sie die Stirn gegen die Wand, und ein Kälteschauer rinnt durch ihren Körper. Sie kämpft gegen den Bluthusten an, der in ihrem Hals rasselt, kämpft mit aller Kraft, doch schließlich bricht er sich doch Bahn. Eine Warnung. Eine Kerze, die langsam bis zu ihrem Erlöschen herunterbrennt. Ein Streifen Sonnenlicht fällt zwischen den Lamellen hindurch auf den Boden, wo es sich sammelt, und inmitten des Lichts dreht sich ohne Ziel ein schwarzer Käfer, immer im Kreis, er hat ein Ziel und gelangt doch nie dorthin.

Sie war einst auch weggegangen. Es ist viele Jahre her, wie ein anderes Leben. Damals war sie ein junges Mädchen, sie balancierte über dem Abgrund … Sie hatte damals noch alles vor sich, ihre Landkarte war noch leer.

Kapitel 4

Vivien, Amerika, 1972

Es war April, der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnung. In der kleinen Kapelle in Claremont in South Carolina standen Vivien Lockhart und ihre Mutter Seite an Seite, wobei Vivien darauf achtete, nicht in sich zusammenzufallen oder ihre Schultern nach vorne kippen zu lassen, weil ihr Vater sie dafür immer schalt, und ehe er sie schalt, wäre sie lieber tot. Ihr weißes Baumwollkleid klebte unbequem um ihre Taille, und sie hätte es sich am liebsten runtergerissen und wäre nur in den Unterröcken den Gang hinunter und hinaus in die frische Luft gelaufen, wo die anderen Teenager in den Fluss sprangen und auf dem Gras ein Sonnenbad nahmen, auf Bäume kletterten und Jungs küssten. Aber stattdessen blieb sie, wo sie war, obwohl jeder Teil von ihr sich nach etwas anderem sehnte, und sie tat so, als würde sie beten und keine dieser Gedanken hegen.

Schließlich wurde die Stille durchbrochen. Sowohl Vivien als auch ihre Mutter richteten sich auf, wie sie es auch zu Hause immer taten, wo, sobald der Mann des Hauses den Mund öffnete, alles andere aufhörte zu existieren. Er verlangte, gehört zu werden, am meisten dann, wenn er über Gott redete. Seine Gemeinde hing an seinen Lippen. Vivien dachte daran, wie er an diesem Morgen am Frühstückstisch gesessen und sich Tropfen der fettigen Milch vom Schnauzbart gewischt hatte, wie er die Zeitung hervorgezogen und ihnen erklärt hatte, dass die Schwarzen sogar mit Mord davonkämen.

»Und was hat der Herr gesagt, als der Blinde zu Ihm kam und Ihn bat, wieder sehen zu können?« Gilbert Lockhart machte eine Pause, die Stirn war vor Aufregung mit Schweiß benetzt. Er beugte sich vor, streckte einen klauenartigen Finger aus wie ein Aasgeier, der von einem Ast starrte. »Er sagte in all seiner Größe und Allmacht: Ich gewähre dir ewige Sicht!«

Die Versammlung brach in frenetischen Applaus aus. Selbst die prüde Mrs. Brigham in ihrem viel zu engen Kleid und mit einem Hut, der an eine Obstschale erinnerte, erbebte vor Euphorie.

»Und was sagte der Herr, als der Taube zu Ihm kam?«

Dieses Mal landeten die scharfen Augen des Geistlichen auf seiner Frau.

»Ich gewähre dir ewiges Gehör«, antwortete Millicent gehorsam. Die Menge brandete auf, ihre Stimmung erreichte den Siedepunkt. Gilbert zwang seine Frau und seine Tochter, ihr Skript vor jedem Gottesdienst zu proben. Er würde sie schlagen, wenn sie ein Wort ausließen oder eine Zeile vergaßen, dumme Weiber, für nichts taugen sie und haben keinen vernünftigen Gedanken im Kopf. Vivien fragte sich, ob er selbst diesen Lügen glaubte. Sie wusste nicht, was schlimmer wäre – dass er wahnsinnig genug war, es zu glauben, oder dass er sich bewusst war, dass er eine boshafte Geschichte für wahr erklärte.

Vivien wusste, was als Nächstes kam, obwohl sie jedes Mal wünschte, es wäre nicht so.

»In der Tat«, rief Gilbert, »sollst du für immer hören!«

Vivien schloss sich dem dankbaren Jubel an und hoffte, das würde ihm für heute genügen, denn ihr Mund wurde allein bei dem Gedanken trocken, sie müsste etwas sagen. Doch dann wandte er sich an sie, und damit richtete sich auch die Aufmerksamkeit seiner Schäfchen auf sie, denn in ihrem lilienweißen Kleid und mit dem ordentlich gelockten blonden Haaren war die sechzehn Jahre alte Vivien das einzige Kind des beliebtesten Mannes in ihrer Gemeinde. Jedes Wort, das über ihre Lippen kam, war wie Nektar.

»Und was«, sagte Gilbert langsam, »gewährte der Herr in all seiner Weisheit und Gnade dem Mann, der um sein Leben fürchtete?«

Sie kannte die Antwort. Das Problem war, sie glaubte nicht daran. Wie konnte sie etwas sagen, an das sie selbst nicht glaubte? Millicent stieß ihr den Ellenbogen in die Seite.

»Ich weiß es nicht, Daddy«, sagte Vivien kleinlaut.

Gilbert gab sich Mühe, ruhig zu bleiben. Sie erkannte das an der leicht pulsierenden Ader an seiner Schläfe. Sag es einfach. Sag, was er hören will.

Über dem Kopf ihres Vaters starrte Jesus vom Kreuz auf sie herab, die Füße mit einem Bolzen festgenagelt, eine blutige Krone aus Dornen um den Kopf. Die blutrote Schnittwunde an seiner Flanke schien fürchterlich zu grinsen. Seine Brust war eingefallen, die Rippen sichtbar. Er starb für deine Sünden. Worte, die Vivien jeden Tag ihres Lebens gehört hatte, und sie verstand sie jetzt genauso wenig wie damals, als sie sie das erste Mal hörte. Vivien hatte nie gesündigt – zumindest nie so ernsthaft, dass man einen Mann dafür zum Tode verdammen könnte. Dass sie Mutter erzählt hatte, der Hund von nebenan habe statt ihr die mit Vanillecreme gefüllten Muffins gegessen, zählte wohl nicht.

»Doch, das weißt du«, sagte ihr Vater.

Sag es. Du weißt, was sonst passiert. Ihre Mutter wusste es auch. Millicent war neben ihr steif wie ein Brett, den Kopf hielt sie gesenkt. Warum stand sie nie für sich selbst ein – oder für ihre Tochter? Wie damals, als Vivien eines Abends fragte, ob sie mit den Chauncey-Kindern auf der Schaukel am See spielen durfte, oder als sie zum Geburtstag von Bridget Morrow eingeladen wurde und die Idee hatte, sich als ihr Lieblingsfilmstar zu verkleiden. Oder als sie nach dem Mittagessen barfuß über die Prärie laufen und die wilden Ponys jagen wollte, die dort grasten. Jedes Mal verschränkte ihre Mutter die Arme und erklärte spröde: »Das wird deinem Vater nicht gefallen.« Und das war das Ende der Diskussion.

Gab es denn überhaupt etwas, was ihrem Vater gefiel? Abgesehen von Gott fiel ihr nichts ein. Mochte er sie überhaupt?

»Er sagte«, gab Gilbert mit angespannter Stimme nach, wobei die Drohung nur für seine Familie herauszuhören war, »ich werde dir die Angst nehmen und dir ewigen Frieden gewähren!«

Die Kirchenbänke brachen erneut in Lobpreisungen aus.

Doch heute Abend würde es für seine Tochter keinen Frieden geben.

Gilbert Lockhart war ein hervorragender Geistlicher. Seine Schüler verherrlichten ihn. Vivien beobachtete ihn jeden Sonntag vor der Kirche, wie er Hände schüttelte und Segnungen verteilte, und sie fragte sich, wohin dieser freundliche, fürsorgliche und geduldige Mann in dem Moment verschwand, als sie auf die heimische Veranda traten.

Heute wollte sie das gar nicht herausfinden. Sobald sie wieder im Haus waren, rannte sie nach oben in ihr Schlafzimmer. Ihr Vater war wütend. Wahnsinnig wütend. Sie hatte es auf der Fahrt nach Hause in seinen Augen gesehen, während der perlgraue Cadillac über den Feldweg polterte. Jedes Mal, wenn er sie im Rückspiegel beobachtete, sah sie es – ein kalter, drohender Blick, der ihr sagte: Warte, bis wir zu Hause sind.

Sie wünschte, sie hätte ein Schloss an ihrer Tür. Stattdessen rammte Vivien einen Stuhl unter den Knauf und drückte ihr Ohr gegen das Holz. Noch keine Schritte. Sie konzentrierte sich darauf, ihren Herzschlag zu verlangsamen, denn in ihrem Zimmer war sie sicher. Niemand würde sie hier kriegen.

Unten konnte sie seine donnernde Stimme hören und die ihrer Mutter, die leise und demütig antwortete und zu vermitteln versuchte. Es war der schwache Versuch von Millicent, seinen Zorn zu besänftigen, aber sobald er sie schlug, würde sie der Kampfgeist verlassen wie bei einer ausgepusteten Kerze. Vivien ballte die Fäuste. Sie hatte schon in der Kirche gewusst, dass es so enden würde, doch selbst wenn sie zurückgehen und es anders machen könnte, würde sie das nicht tun.