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DANKSAGUNG

Wie immer bin ich vor allem meiner Familie zu Dank verpflichtet: Geraldine mit ihrem unerschütterlichen Optimismus und ihrer positiven Einstellung; Jack, der mich immer wieder ermahnt, mich meinen Ängsten zu stellen und meine Träume Realität werden zu lassen; und Holly, die meine Inspiration, mein Fels in der Brandung und mein Licht an dunklen Tagen ist. Außerdem danke ich den zahlreichen Lesern, die sich an mich gewandt und mich auf vielfältige Weise unterstützt haben. Ohne sie wäre ich entmutigt meinen Zweifeln erlegen und hätte dieses Buch wahrscheinlich nie beendet. Ich hoffe, es gefällt euch allen.

„Handle, um Angst zu bekämpfen.
Durch Warten, Hinauszögern und Verschieben wird Angst nur noch gesteigert.“

David Joseph Schwartz

WAS IST MINECRAFT?

Minecraft ist ein Sandbox-Spiel, in dem erstaunliche Dinge aus texturierten Blöcken aus unterschiedlichsten Materialien wie Stein, Erde, Sand, Sandstein usw. gebaut werden können. Die normalen physikalischen Regeln kommen dabei nicht zum Tragen, da man im Kreativmodus Bauwerke errichten kann, die der Schwerkraft trotzen und keine sichtbaren Stützen besitzen.

Die kreativen Möglichkeiten, die dieses Programm den Benutzern bietet, sind schlichtweg unglaublich, und es werden ganze Städte, komplette Zivilisationen und sogar Wolkenstädte errichtet. Das eigentliche Spiel wird hingegen im Überlebensmodus gespielt. Bei dieser Einstellung werden die Benutzer in eine blockartige Welt hineingeworfen und besitzen nichts als die Kleidung, die sie am Leib tragen. Da der Anbruch der Nacht bevorsteht, sammeln sie sofort Ressourcen: Holz, Stein, Eisen usw., um Werkzeuge und Waffen herstellen und sich damit gegen die Monster verteidigen zu können, die mit Einbruch der Dunkelheit hervorkommen.

Um Ressourcen zu erlangen, muss der Spieler Minen graben und tief in die Welt von Minecraft vordringen, in der Hoffnung, Kohle und Eisen zu finden, die beide überlebensnotwendig sind. Beim Graben stößt er auf Höhlen, mit Lava gefüllte Kammern und möglicherweise auch auf eine der wenigen verlassenen Minen oder einen Dungeon, in dem sich Schätze finden lassen. Doch viele der Wege und Kammern sind von Monstern (Zombies, Skeletten und Spinnen) bevölkert, die nur darauf warten, sich auf Unachtsame zu stürzen.

Das Land mag voller Monster sein, aber der Benutzer ist nicht allein. Es gibt riesige Server mit Hunderten von Spielern, die sich alle den Platz und die Ressourcen mit anderen Kreaturen in Minecraft teilen. Die Oberwelt ist voller Dörfer, die von NPCs (non-player characters) bevölkert sind. Diese laufen in ihrer Siedlung herum und machen, was immer Dorfbewohner so treiben, und sie haben Schatztruhen, manche groß, andere unbedeutend, in ihren Behausungen versteckt. Benutzer können mit diesen NPCs reden und Gegenstände tauschen, um an Edelsteine oder Material für Tränke zu gelangen. Manchmal lässt sich auf diese Weise sogar ein Bogen oder ein Schwert finden.

Dieses Spiel ist eine beeindruckende Plattform, auf der die Benutzer Maschinen (die von Redstone angetrieben werden, wobei die einzelnen Blöcke wie elektrische Schaltkreise funktionieren), einzigartige Spiele, eigene Karten und PvP-Bereiche (Player vs. Player) erschaffen können. Minecraft ist ein Spiel voller beeindruckender Kreativität, packender Schlachten und schrecklicher Kreaturen. In dieser wundervollen Welt kann man Abenteuer erleben und seiner Kreativität gleichzeitig freien Lauf lassen. Viel Spaß dabei!

ÜBER DEN AUTOR

Ich liebe es, zusammen mit meinem Sohn Minecraft zu spielen. Doch der Weg dorthin war nicht leicht, und er musste mich förmlich dazu zwingen. Aber jetzt ... Jetzt liebe ich dieses Spiel.

Er hatte ein Video über Minecraft auf YouTube gesehen und musste das Spiel natürlich sofort haben. Im Verlauf des folgenden Monats rief er meiner Frau und mir immer wieder ins Gedächtnis, dass Minecraft super ist und er einfach nicht ohne dieses Spiel leben kann.

Daher gaben wir letzten Endes nach und haben es gekauft. Ich half ihm dabei, es zu installieren, sich den Benutzernamen Gameknight999 zuzulegen und das Erscheinungsbild seines Charakters anzupassen. Dann begann er zu spielen. Zuerst war er allein unterwegs, aber später rief er uns immer wieder in unser Arbeitszimmer, um uns zu zeigen, was er erschaffen hatte ... und das war sehr beeindruckend. Er hatte eine riesige Burg gebaut, danach einen Hindernisparcours mit beweglichen Teilen und schließlich ein unterirdisches Dorf ... Das warf uns vom Hocker. Als Ingenieur fasziniert mich alles, was mir die Möglichkeit gibt, etwas zu bauen, und so setzte ich mich zu meinem Sohn und ließ mir von ihm beibringen, wie man Minecraft spielt. Im Nullkommanichts hatte ich eine Lizenz erworben, mir den Benutzernamen Monkeypants271 zugelegt, und schon wagten wir uns gemeinsam ins digitale Reich, bauten Türme, kämpften gegen Zombies und flohen vor Creepern.

Ihm machte es derart großen Spaß, Minecraft zu spielen, dass wir ihm zu Weihnachten einen eigenen Server geschenkt haben. Auf diesem Server erbaute er monatelang Dinge: Burgen, Brücken, Unterwasserstädte, Fabriken, alles, was seine Fantasie hergab. Danach holte er seine Schulfreunde hinzu, und sie errichteten wahrhaft gigantische Bauwerke. Natürlich habe ich auch dabei mitgeholfen, da ich einerseits alles im Auge behalten wollte, andererseits aber auch ein Geek bin und das Spiel mochte. Ich war überwältigt davon, wie stolz er auf seine Schöpfungen war. Er stellte Videos davon auf YouTube. Doch eines Tages gelang es einigen anderen Spielern, sich Zugang zu diesem Server zu verschaffen; möglicherweise hatten mein Sohn oder einer seiner Freunde die IP-Adresse weitergegeben. Diese Spieler zerstörten alles, bis nichts als ein Krater übrigblieb. Sie machten alles dem Erdboden gleich und vernichteten die Arbeit von Monaten. Als sich mein Sohn das nächste Mal einloggte und die Zerstörung sah, war er todtraurig. Noch schlimmer wurde das Ganze dadurch, dass die Griefer auch noch ein Video ihrer Tat auf YouTube stellten.

Das war der ultimative „richtige Augenblick“, um mit ihm über Cyber-Mobbing zu sprechen. Ich habe versucht, die Fragen meines Sohnes zu beantworten, ihm zu erklären, warum jemand so etwas tut und was für ein Mensch Freude daran haben kann, das Werk eines anderen zu vernichten. Doch so richtig wollte mir das nicht gelingen. Da kam mir die Idee, meinem Sohn die Sache mithilfe von Minecraft, seiner Lieblingsbeschäftigung, näherzubringen. Ich schrieb das erste Buch der Gameknight999-Reihe, „Kampf um die Oberwelt“, das Kinder zum einen über Cyber-Mobbing und die Wirkung auf andere aufklärt und zum anderen die Bedeutung von Freundschaft betont. Dabei nutzte ich Minecraft als Leinwand, auf die ich die Lektion niederschrieb.

Mein Sohn und ich spielen noch immer zusammen Minecraft, und wir haben Gebäude gebaut, die in „Kampf um den Nether“ vorkommen. Ich danke allen, die sich über meine Webseite www.markcheverton.com per E-Mail an mich gewandt haben, und habe mich sehr über die vielen freundlichen Kommentare von Kindern und ihren Eltern gefreut. Eigentlich versuche ich, jede Mail zu beantworten, und falls ich eine übersehen habe, bedauere ich das sehr.

Haltet auf den Servern Ausschau nach Gameknight999 und Monkeypants271. Lest viel, seid nett und nehmt euch vor Creepern in Acht.

Mark Cheverton

KAPITEL 1

GAMEKNIGHT999

Er raste eine Art Gleis entlang, metallische Schienen, die sich in der Dunkelheit verloren. Das rhythmische Klappern der Räder erklang in einem gleichmäßigen Tempo – Ka-tschunk, Ka-tschunk, Ka-tschunk – und hallte durch den Tunnel, von dessen Wänden es wie ein Trommelschlag widerhallte. Als er sich umschaute, erkannte er die niedrigen grauen Seiten des eckigen Fahrzeugs, und all das zusammen verriet ihm, dass er in einer Lore saß. In dem engen Metallwagen kam er sich vor wie ein Riese, aber die kalten Steinwände, an denen er vorbeisauste, gaben ihm das Gefühl, klein und unbedeutend zu sein.

Gameknight999 hatte Angst.

Er war von Unsicherheit und Furcht erfüllt. Er wusste nicht, wo er war, was er in dieser Lore machte oder wohin er damit fuhr. Alles, was er wusste, war, dass er seinem Ziel mit hoher Geschwindigkeit näherkam.

Dann öffnete sich der Tunnel und er gelangte in eine riesige Höhle – nein, es war eine gigantische Felsspalte, die den Blick auf den blauen Himmel freigab. An den steilen Wänden waren Zombies, Spinnen und Creeper zu erkennen, die von einer Stelle zur nächsten sprangen, wobei die Ungeschickteren in den Tod stürzten. Als Gameknight nach unten schaute, sah er, dass auf dem Boden Monster aus der Oberwelt herumliefen, die aussahen, als suchten sie nach etwas – oder jemandem – zum Verschlingen. Viele von ihnen blickten zu ihm auf, und ihre gierigen, brennenden Blicke gingen ihm durch Mark und Bein. Sie wollten ihn nur deshalb vernichten, weil er lebendig war. Gameknight erschauderte und war froh, als er die Felsspalte hinter sich ließ und in den nächsten Tunnel fuhr.

Er drehte sich um und sah die metallischen Schienen hinter sich in der Dunkelheit verschwinden. Die Holzstreben waren nur noch verschwommen zu erkennen. Doch dann bemerkte er, dass der Wagen langsamer wurde und das Klackern nachließ und schließlich verstummte, als die Lore mitten im Tunnel stehen blieb. Gameknight hatte das Gefühl, dass er aussteigen sollte, und kletterte vor Angst am ganzen Körper zitternd aus seinem Gefährt. Er schaute sich um. Die Eisengleise, die auf dem grauen Stein gut zu erkennen waren, erstreckten sich endlos weit in beide Richtungen. Sie schienen nach und nach zu verblassen und unschärfer zu werden, bis sie sich schließlich ganz in der Ferne verloren. Auch die Felswände, die dicht neben den Schienen aufragten, verschwammen vor seinen Augen. Aus hartem Granit wurde ein herumwirbelnder grauer Nebel. Der kalte, feuchte Dunst umgab ihn und wickelte sich wie ein schwerer, nasser Stofffetzen um seinen Körper. Etwas an dieser unscharfen, seltsamen Wolke ängstigte ihn, und er hatte das Gefühl, dass sich darin etwas Gefährliches und Bedrohliches verbarg.

Dann fing das klagende Jaulen an.

Das Stöhnen hörte sich unfassbar traurig an und schien ihm jegliche Hoffnung zu rauben. Es klang verloren und klagend, gleichzeitig aber auch hasserfüllt und voller Wut auf jeden, der noch immer an ein gutes Leben glauben wollte. Das Jammern richtete sich gegen die Kreaturen des Lichts, die sich ihres Lebens freuten und es nicht nur als eine Lektion über Qual und Verzweiflung empfanden. Es richtete sich eindeutig gegen ihn.

Das Jaulen kam von einem Zombie ... Nein, von sehr vielen. Gameknight fing an zu zittern, da ihn dieses beklemmende Jaulen in Angst und Schrecken versetzte.

Auf einmal streckten sich grüne Klauen aus der Dunkelheit nach ihm aus, und das schaurige Stöhnen erfüllte erneut die Luft, während rasiermesserscharfe Krallen nur wenige Zentimeter an ihm vorbeischlugen. Gameknight999 war starr vor Entsetzen und konnte sich nicht bewegen, während der verwesende Zombie näher kam, sich im Nebel langsam materialisierte und der widerliche Gestank seines verrottenden Fleisches Gameknights Sinne bestürmte und seine Furcht noch weiter steigerte. Als er an sich herabblickte, stellte er fest, dass er ein Eisenschwert in den Händen hielt und seine Arme und seine Brust durch Eisen geschützt waren. Er trug eine Rüstung und besaß eine Waffe, also konnte er sich auch wehren. Nur mit Mühe gelang es Gameknight, all seinen Mut zusammenzunehmen, den Arm zu heben und das Monster zu besiegen, doch seine Gedanken waren weiterhin von Furcht beherrscht. Erinnerungen an klauenbewehrte Zombiehände und Spinnenfänge, die auf ihn einschlugen, waberten durch seinen Kopf ... und an den Schmerz in dem Augenblick, in dem das TNT auf dem letzten Server detoniert war. Diese letzte Minecraft-Welt hatte durch seine selbstlose, heldenhafte Tat gerettet werden können – und er konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor so gehandelt zu haben. Aber sie hatte ihn sein Selbstvertrauen und seinen Mut gekostet, und nun befand er sich in ständiger Panik. Monster jagten ihm, dem großen Gameknight999, schreckliche Angst ein – dabei begriff er selbst nicht, wie das überhaupt möglich war.

Er entfernte sich von dem Zombie, drehte sich um und wollte wegrennen. Auch wenn ihm bewusst war, dass er nur träumte, fühlten sich das Entsetzen und die Panik sehr real an. Beim Umdrehen stellte er fest, dass er zahlreichen haarigen schwarzen Beinen gegenüberstand, die allesamt mit dunklen, geschwungenen, gefährlich aussehenden Klauen besetzt waren: Vor ihm stand mindestens ein Dutzend Riesenspinnen. Sie drängten sich aneinander und bildeten eine undurchdringliche Mauer, während sie ihn mit hasserfüllten Augen anstarrten.

„Gegen so viele kann ich nicht kämpfen“, sagte Gameknight zu niemand Besonderem.

Er erschauderte.

Da kam plötzlich ein Rattern aus der Dunkelheit, das Geräusch lockerer Knochen, die gegeneinander klapperten. Er wusste genau, was das bedeutete: Skelette! Die blassweißen Gestalten tauchten nach und nach aus dem herumwirbelnden Nebel auf und versperrten ihm den Fluchtweg zu seiner Rechten. Jedes der knochigen Monster hielt einen Bogen schussbereit in den Händen, und die Spitzen der bereits angelegten Pfeile zeigten auf ihn.

Gameknight zitterte immer heftiger.

Wie sollte er sich gegen all diese Monster wehren? Er war nicht mehr tapfer, sein Mut schien vom TNT zerrissen worden zu sein – nein, zerfetzt von all diesen Klauen und Fängen auf dem letzten Server. Gameknight war jetzt nur noch eine leere Hülle, die von nichts als Angst erfüllt war.

Er drehte sich nach links und entfernte sich langsam von den drei Gruppen, da er hoffte, kampflos entkommen zu können. Doch sobald er sich in Bewegung gesetzt hatte, erklang ein schrilles Kichern. Es hörte sich irgendwie manisch an, als würde derjenige über das Leid einer anderen Kreatur lachen, sich darüber freuen, dass sich jemand quälte. Das furchtbare Geräusch schien ihm bis in die Seele zu dringen und dafür zu sorgen, dass seine Panik auch noch die letzte Kontrolle, die er über seinen Verstand hatte, in Luft auflöste. Dann trat derjenige, der das Kichern ausgestoßen hatte, aus der Dunkelheit. Es war eine schattenhafte Gestalt in der Farbe getrockneten Blutes, einem sehr, sehr dunklen Rot, mit langen, dünnen, herabhängenden Armen, die fast bis auf den Boden reichten, und dürren Beinen, die einen ebenso dunklen Torso stützten.

Vor ihm stand Erebus, der König der Endermen auf dem letzten Minecraft-Server, dem Server, den Gameknight gerettet hatte. Dieses Wesen war sein persönlicher Albtraum, die brutalste und bösartigste Kreatur, die er sich überhaupt vorstellen konnte.

Gameknight drehte sich zu dem Monster um. Wie immer loderten Erebus‘ Augen grellweiß, und darin schimmerte sein Hass auf alle lebendigen Wesen. Seine Gier nach Zerstörung bildete eine Art finsteres Kraftfeld um ihn herum. Gameknight machte einen Schritt nach hinten. Das Wesen war halb durchsichtig, als wäre es noch nicht ganz da. Gameknight konnte die Monster hinter dem Enderman durch dessen durchscheinenden Körper erkennen.

„So sehen wir uns also wieder, Benutzer-der-kein-Benutzer-ist“, keckerte Erebus mit seiner hohen, kreischenden Stimme.

Gameknight bekam eine Gänsehaut.

„Das ist nur ein Traum, das ist alles nicht real“, murmelte er immer wieder.

Erebus stieß sein schrilles Lachen aus, bei dem es Gameknight eiskalt den Rücken herunterlief, und schien sich kurz zu materialisieren, nur um im nächsten Moment schon wieder durchsichtig zu sein.

„Du träumst tatsächlich“, kreischte Erebus, dessen Stimme Gameknight an das Geräusch aneinanderschabender Glassplitter erinnerte und ihm Zahnschmerzen bereitete. „Aber das bedeutet noch lange nicht, dass das alles nicht auch real ist, du Narr. Du weißt noch immer nicht das Geringste über Minecraft und die Serverebenen, auf denen es existiert.“ Wieder lachte er auf. „Deine Unwissenheit wird irgendwann dein Untergang sein.“

„Nein, du bist nicht real“, widersprach Gameknight ihm fast flehentlich. „Das kann nicht sein. Ich ... Ich habe dich auf dem letzten Server getötet ... Du kannst nicht hier sein.“

„Rede dir das nur weiterhin ein, Benutzer-der-kein-Benutzer-ist, und wenn ich dich auf diesem nächsten Server finde, werde ich dich daran erinnern, wie wenig real ich bin ... während ich dich vernichte!“

Erebus keckerte noch einmal, und das Lachen fühlte sich für Gameknight an, als wäre sein Kopf eine Glasvase, auf die man mit einem Hammer einschlug: Sein Lebenswille wurde fast völlig zertrümmert.

„Ich ... w-werde ... g-gegen dich k-kämpfen, wie auf dem letzten Server“, stammelte Gameknight, doch die Worte klangen selbst für ihn wenig überzeugend.

„Ha ... Dass ich nicht lache!“, kreischte Erebus mit seiner schrillen, durchdringenden Stimme. „Ich kann die Feigheit in dir erkennen, die wie ein bösartiger Tumor immer größer wird. Deine ganze Tapferkeit ist offenbar auf dem letzten Server zurückgeblieben. Du bist nur noch eine leere Hülle, ein Sarg, der auf eine kalte Leiche wartet. Schon bald wirst du mir gehören!“

Der Enderman trat vor, und obwohl sein Körper weiterhin durchsichtig war, wirkte er so bedrohlich wie eh und je. Gameknight blickte schnell zu Boden, da er die Kreatur nicht provozieren wollte, indem er sie direkt ansah. Das dunkle Monster ragte über ihm auf und schien im Näherkommen immer größer zu werden, bis Gameknight sich vorkam wie eine winzige Mücke, die vor einem Riesen stand.

„Ich kann tief in deinem Inneren erkennen, dass du längst besiegt bist, Benutzer-der-kein-Benutzer-ist. Ich habe bereits gewonnen, da deine Feigheit den Ausgang unseres Kampfes entscheiden wird.“ Erebus hielt inne und sah Gameknight999 direkt mit seinen von Bosheit erfüllten Augen an. „Du magst mich auf dem letzten Server besiegt haben, aber es ist mir dennoch gelungen, diese Serverebene zu erreichen. Und wenn ich diese Welt zerstört habe, dringe ich zur Quelle vor. Auch dort wird man meinen Zorn zu spüren bekommen, bis alles Lebendige um Gnade fleht, die jedoch niemals kommen wird. Warte auf meine Ankunft und verzweifle!“

Mit einer Handbewegung gab Erebus den anderen Monstern rings um ihn herum ein Zeichen, und sie rückten vor. Verwesende, klauenbewehrte grüne Hände streckten sich nach Gameknight aus und rissen an seinem Fleisch, während einhundert Pfeile in seinen Körper eindrangen. Sofort schnellten giftige Spinnenfänge vor, bis Gameknight nichts als Schmerz mehr spüren konnte. Langsam versank die Welt um ihn herum in Dunkelheit. Die Augen des Enderman waren das Letzte, was er sah – und darin schimmerte überwältigender, ungezügelter Hass.

Dann endlich umgab ihn die kalte, schwarze Leere seines Unterbewusstseins, als der Traum verblasste. Doch der Schmerz und die Angst wollten einfach nicht verschwinden und lagen Gameknight schwer auf der Seele.

KAPITEL 2

EINE NEUE WELT

Nach und nach wurde er sich der Realität bewusst. Die eckigen Umrisse der Höhle, die sie rasch gebaut hatten, nahmen wieder Form an. Fackeln erhellten das Innere des Unterschlupfs, und in ihrem flackernden Licht waren Wände aus Stein und Erde zu erkennen, ebenso wie sein Gefährte Crafter, der neben ihm saß. Crafter war ein Junge mit schulterlangem blondem Haar und strahlend blauen Augen, die seltsamerweise immer so aussahen, als würde er mehr wissen, als sein Alter vermuten ließ. Doch er hatte ja auch viele Jahre als der Crafter seines Dorfes auf dem vorherigen Minecraft-Server gelebt, den sie mit ihren unglaublichen TNT-Explosionen gerettet hatten.

In jedem Dorf gab es einen Crafter; er war gewissermaßen der Dorfälteste und hatte die Aufgabe, stets zu wissen, was in Minecraft gebraucht wurde. All diese Gegenstände wurden dann von unzähligen Dorfbewohnern bzw. NPCs gebaut, die auf allen Servern zu finden waren.

Die NPCs arbeiteten tief unter der Erde und schickten die von ihnen angefertigten Waren über ein komplexes Schienennetzwerk durch die digitale Welt von Minecraft, um die Gegenstände per Lore an die Orte zu befördern, an denen sie gebraucht wurden. Auf diese Weise konnten die Benutzer immer wieder Dinge finden: hier eine Truhe, dort eine Waffe ... Der Crafter des Dorfes war dafür verantwortlich, dass der Mechanismus von Minecraft nicht ins Stocken geriet. Gameknights Freund Crafter war der älteste Dorfcrafter auf seinem Server gewesen – vielleicht sogar der älteste NPC auf allen Servern innerhalb des Minecraft-Universums.

Aber in dieser aus unterschiedlichen Blöcken bestehenden Welt war nicht alles so, wie es den Anschein machte. Gameknight spielte schon seit sehr langer Zeit und zu jeder sich bietenden Gelegenheit Minecraft, aber er war – wie jeder andere Benutzer auch – davon ausgegangen, dass diese Welt nur ein Spiel wäre, Programmzeilen, die auf irgendeinem Computer ausgeführt wurden. Inzwischen kannte er die erschreckende Wahrheit, die ihn zutiefst erschüttert hatte: Die Kreaturen im Spiel und die NPCs waren lebendig! Sie hatten Hoffnungen, Ängste und Träume und empfanden Glück und Freude ebenso wie Verzweiflung über den Verlust einer geliebten Person. Gameknight hatte die Wahrheit über diese digitale Welt erfahren, nachdem er versehentlich die neueste Erfindung seines Vaters, einen Digitalisierungsstrahl, aktiviert hatte. Auf diese Weise war er von einem grellweißen Lichtstrahl erfasst worden, der jede Facette seines Wesens gescannt und in das Programm integriert hatte, das in diesem Moment auf dem Computer lief – und das war Minecraft gewesen. Gameknight war in diese digitale Welt versetzt worden, und jetzt musste er kämpfen, und das nicht nur um sein eigenes Überleben, sondern auch um das aller lebendigen Kreaturen, sowohl der physikalischen als auch der digitalen.

Ein gewaltiger Krieg tobte auf den Servern von Minecraft, bei dem die Zombies, Spinnen und Creeper versuchten, alle Dorfbewohner zu vernichten und ihnen ihre Lebenskraft in Form ihrer Erfahrungskugeln zu nehmen. Wenn eine Kreatur genug davon angesammelt hatte, wurde sie auf den nächsten Server transportiert, sodass sie in den digitalen Existenzebenen immer höher und höher wanderte, bis sie schließlich die Quelle erreichte. Die Prophezeiung, die allen Kreaturen in Minecraft bekannt war, besagte, dass durch die Zerstörung der Quelle das Tor des Lichts geöffnet wurde, durch das alle Monster in die physikalische Welt gelangen konnten, wo sie alles Lebendige zerstören wollten. Gameknight hatte diesen Übergang unabsichtlich geschaffen, indem er den Digitalisierer seines Vaters aktiviert hatte, und jetzt konnte auch seine eigene Welt zerstört werden. Daher war Gameknight999 oder der Benutzer-der-kein-Benutzer-ist, wie er in der Prophezeiung hieß, nun der Einzige, der diesen Weg wieder verschließen konnte.

Nachdem sie Erebus, den König der Endermen, vernichtet und die Monsterhorde auf dem letzten Server aufgehalten hatten, waren sowohl Crafter als auch Gameknight auf diese nächste Serverebene versetzt worden, die der Quelle näher war als der letzte Server. Gameknight hatte geglaubt, dass sie jetzt in Sicherheit wären, doch nach seinem Traum von eben keimten Zweifel in ihm auf. Er konnte spüren, dass der Kampf um Minecraft hier auf diesem Server ebenso tobte, und sein Traum von Erebus hatte es bewiesen. Sollte er Crafter erzählen, dass Erebus im Traum mit ihm gesprochen und ihm und diesem Server gedroht hatte, oder war das nur ein dummer Albtraum gewesen, der zwar beängstigend war, aber nichts zu bedeuten hatte?

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Crafter, dessen blondes Haar matt und zerzaust aussah, nachdem er die ganze Nacht auf dem harten Boden gelegen hatte.

Gameknight hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass Crafter jetzt ein kleiner Junge war. Auf dem letzten Server war er ein grauhaariger alter Mann gewesen, doch nach dem Übergang auf den neuen Server war er in Form des Jungen, der jetzt in der Höhle saß, respawnt.

Manchmal macht Minecraft, was es will, ob es einem nun gefällt oder nicht, dachte er.

„Ja, es geht mir gut. Ich habe nur nicht so gut geschlafen“, antwortete er aufrichtig.

Gameknight stand auf, zog seine Schaufel hervor und drehte sich zu der Wand um. Als er auf die Schaufel herabblickte, wurde ihm bewusst, was sie für ein Glück gehabt hatten, in dem verlassenen Dorf auf all diese Werkzeuge zu stoßen – auch wenn er sich noch immer fragte, wohin all die Dorfbewohner verschwunden waren. Das Dorf war halb zerstört gewesen, und viele Gebäude waren völlig verbrannt.

Wodurch wurde dieses Dorf zerstört ... und wohin sind alle verschwunden?

Gameknight zerbrach sich deswegen noch immer den Kopf. Ein Crafter hätte sein Dorf niemals aufgegeben ... Es sei denn, er wäre ... Nein, daran wollte er lieber gar nicht erst denken. Er schüttelte den Kopf, verdrängte die verstörenden Gedanken und drehte sich zu seinem Freund um.

„Ist es schon Morgen?“, wollte er wissen.

„Ja“, erwiderte Crafter und nickte. „Wir können uns wieder ausgraben.“

Es war in Minecraft immer wichtig zu wissen, ob es Tag oder Nacht war. Zombies, Riesenspinnen, Schleime, Creeper und die schrecklichen Endermen tauchten erst nach Sonnenuntergang auf und jagten die Unvorsichtigen. Die größten Überlebenschancen hatte man, wenn man ein Haus besaß, in dem man sich verstecken konnte, oder wenn man ein Loch grub, in dem man sich nachts einschloss. Genau das hatten sie die letzten Wochen gemacht: Sie waren tagsüber gereist und hatten nach Dorfbewohnern Ausschau gehalten, um sich nachts in Höhlen zu verbergen.

Sie mussten Dorfbewohner finden, um eine Armee aufzustellen und das zu besiegen, was immer diesen Server bedrohte. Die letzte Schlacht um Minecraft rückte näher, und das Einzige, was zwischen den Monstern und jeglichen elektronischen Leben auf allen Servern stand, waren Crafter und Gameknight999 ... doch allein konnten sie das nicht schaffen. Sie brauchten Dorfbewohner zur Unterstützung, und zwar sehr, sehr viele.

Bisher hatten sie drei NPC-Dörfer entdeckt, die jedoch alle verlassen und teilweise zerstört gewesen waren. Nicht ein Dorfbewohner war zurückgeblieben. Die Stille zwischen den Gebäuden war ohrenbetäubend gewesen. Gameknight konnte sich gut vorstellen, dass dort ein furchtbarer Kampf stattgefunden hatte, durch den die NPCs aus ihren Häusern vertrieben worden waren ... wenn sie nicht noch etwas Schlimmeres erlebt hatten. Ist das Erebus gewesen? Falls der König der Endermen hier tatsächlich sein Unwesen trieb, dann hätte Gameknight das eigentlich spüren müssen. Nein, das war das Werk eines anderen. Möglicherweise handelte es sich um eine neue Kreatur, die sogar noch schlimmer war als dieser dunkelrote Albtraum.

Aber Gameknight zwang sich, nur an das Hier und Jetzt zu denken, und trieb seine Schaufel in die aus Erdblöcken bestehende Wand. Rasch lockerte er einige Blöcke, die sogleich zu Boden fielen. Dort schwebten die braunen Würfel kurz, um dann irgendwie in sein Inventar zu gelangen – er wusste noch immer nicht genau, wie das eigentlich funktionierte. Er schlug mit seinem Steinwerkzeug fest zu und hatte schnell eine Öffnung geschaffen, durch die das goldene Sonnenlicht in ihren kleinen Unterschlupf hereindrang.

Während er ins Freie trat, steckte er schnell die Schaufel weg und zog sein Holzschwert, um sich dann nach Gefahren umzusehen. Einige Kühe grasten in der Nähe, und ihr leises Muhen hallte zu ihm herüber. Gameknight ging auf die Kühe zu, als Crafter gerade ihr Versteck verließ. Sie brauchten bald neue Nahrung, denn ihr Vorrat an Brot und Melonen schmolz dahin, und Kühe eigneten sich bestens als Nahrungslieferanten. Eigentlich wollte er die Kühe nicht angreifen, wenn es nicht unbedingt erforderlich war. Er drehte sich um und schaute seinen Gefährten an. Es wäre ihm lieber gewesen, Crafter diese Aufgabe zu überlassen, aber der Junge hatte wie alle Dorfbewohner die Arme vor der Brust verschränkt und die Hände in den Ärmeln verborgen, sodass er kein Werkzeug und keine Waffe benutzen konnte. Solange sie kein Holz gefunden und keine Werkbank hergestellt hatten, konnte Gameknight Crafters Arme auch nicht befreien. Das bedeutete, dass er das Töten übernehmen musste, doch dazu war er nicht bereit ... noch nicht zumindest.

Kopfschüttelnd wandte er sich von der Kuh ab und seinem Freund zu.

„Lass uns noch einen Tag warten, bevor wir ein Tier töten“, schlug er vor.

Crafter nickte. Noch hielt sich ihr Hunger in Grenzen, aber das würde sich bald ändern.

„Dann gehen wir eben weiter“, meinte der Junge und drehte sich zu der fernen Bergkette um. Die Landschaft vor ihnen bestand aus sanften, grasbedeckten Hügeln, auf denen hin und wieder gelbe, rote oder blaue Blumen zu erkennen waren. „Ich glaube, ich kann in dieser Richtung etwas spüren. Es sind die Klänge des Minecraft-Mechanismus, die Musik von Minecraft, wie wir es nennen, und sie scheint mich dorthin zu rufen.“

„Das sagst du jetzt schon seit Tagen.“

„Ich weiß, aber irgendetwas kommt mir an dieser Welt komisch vor. Etwas stimmt nicht ... Es ist, als wäre etwas aus dem Gleichgewicht geraten. Der Missklang in der Musik von Minecraft kommt irgendwo aus der Gegend.“

„Okay, dann geh voran.“

Crafter hielt schnellen Schrittes auf die hoch aufragenden Berge zu und summte im Gehen ein lustiges Liedchen. Gameknight lief hinter ihm her und schaute immer wieder nach links und rechts, um nicht überrascht zu werden. Sie hielten sich in einem Ebenen-Biom auf, und es waren nirgendwo Bäume zu entdecken. Daher drohte ihnen wahrscheinlich nur von Riesenspinnen oder Creepern Gefahr, doch aufgrund des flachen Terrains würden sie die Monster schon aus weiter Ferne sehen können, sodass die Gefahr minimal blieb. Aber er hatte trotzdem Angst. Die schreckliche Schlacht, durch die der letzte Server gerettet worden war, hatte dem Benutzer-der-kein-Benutzer-ist jeglichen Mut genommen. Die Erinnerung an die Klauen und Zähne, die an ihm gezerrt hatten, an den überwältigenden Schmerz und die ungezügelte Panik suchte ihn noch immer in jedem wachen Augenblick und nun anscheinend auch in seinen Träumen heim.

„Ich wünschte, hier stünden Bäume. Wir brauchen Holz“, murmelte Gameknight.

„Meine Großtante hat mir mal davon erzählt, wie sie ein Land ohne Bäume entdeckt hat“, berichtete Crafter. Gameknight wusste schon jetzt, dass dies wieder eine von Crafters unzähligen Geschichten werden würde, und verdrehte die Augen. Der alte NPC im Körper des Jungen liebte es, Geschichten zu erzählen. „Sie und ihre Freundin wollten Abenteuer erleben. Also segelten sie in einem Boot los, weil sie herausfinden wollten, was sich auf der anderen Seite des großen Meeres befand.“

„Das hört sich aber nicht besonders klug an.“

„Das war es vermutlich auch nicht, aber sie war schon immer dafür bekannt, Dummheiten zu machen, die sich später als großartige Entdeckungen entpuppten. Jedenfalls stiegen sie in dieses Boot und segelten von ihrem Dorf aus los. Sie waren tagelang unterwegs, erlebten stürmische Nächte und sengend heiße Tage, bis sie schließlich auf ein neues Land stießen. Meine Großtante – sie hieß übrigens Milker, aber ich habe sie immer Milky genannt – hat mir erzählt, dass es ein Land voller Riesenpilze war ... gigantischen roten Gewächsen mit weißen Punkten. Sie glaubte, dass dieser Ort vielleicht eine Art Testbereich des Schöpfers gewesen ist, in dem er mit irgendeinem neuen Serverupdate herumexperimentiert hat.“

„Des Schöpfers ... Meinst du etwa Notch?“

„Ja, natürlich. Notch, den Schöpfer von Minecraft“, entgegnete Crafter, als wäre das selbstverständlich.

Gameknight blieb kurz stehen und schaute sich um, doch er konnte keine Gefahren erkennen. Sie waren allein, und ringsherum gab es nichts als Kühe und Schweine. Zufrieden gingen die beiden weiter.

„Ihren Worten zufolge war es ein unglaubliches Land. Aber sie war auch froh, dass sie wieder gehen konnte.“

„Hat sie wegen dieses Abenteuers Ärger bekommen?“, wollte Gameknight wissen.

„Aber sicher. Soweit ich weiß, bekam sie immer wieder Ärger, weil sie derartige Dinge unternommen hat.“

„Hatte sie denn keine Angst davor, all diese neuen, verrückten Sachen zu machen?“, hakte Gameknight nach und spürte, wie sich seine Angst immer deutlicher bemerkbar machte.

„Komisch, dass du das fragst, Gameknight, denn vor langer Zeit, als Milky die älteste Person war, die ich kannte, hat sie mir etwas gesagt, das ich nie wieder vergessen habe. Sie sagte: ‚Vergiss nicht, mein Junge, dass neue Dinge nur beängstigend sind, weil du sie noch nicht kennst. Wenn du das Neue endlich gemacht hast, dann verfliegt deine Furcht davor wie der Morgennebel, weil das Neue jetzt zu etwas Altem geworden ist. Konzentriere dich darauf, wie es sein wird, wenn du es hinter dir hast, und das Neue wird im Handumdrehen etwas Altes sein.‘ Am nächsten Tag ist sie gestorben. Das waren die letzten Worte, die sie je zu mir gesagt hat.“

Crafter blieb kurz stehen und hob langsam eine Hand in die Luft. Gameknight wollte seinen Augen nicht trauen: Seine Hände ... waren nicht mehr verbunden! Bevor der Benutzer-der-kein-Benutzer-ist etwas sagen konnte, hob Crafter die Hand noch etwas höher, spreizte die Finger und ballte dann die Faust. Er senkte leicht den Kopf, ließ die Hand sinken, und schon waren seine Arme erneut vor der Brust verschränkt.

„Deine Arme ...“

„Die Ehrung der Toten“, erläuterte Crafter. „Das ist das Einzige, was NPCs mit ihren Armen machen dürfen ... Wir dürfen unsere Lieben ehren, die wir im Laufe der Jahre verloren haben.“

Gameknight sah seinen Freund an und konnte die Traurigkeit in dessen Augen erkennen, als dieser an seine Milky dachte. Doch dann schaute Crafter ihn an und schenkte ihm sein typisches lebensbejahendes Lächeln. Der junge NPC summte wieder vor sich hin, und die Melodie heiterte die beiden auf. Sie liefen über die Grasebene und hielten am Horizont Ausschau nach dem, was sie so verzweifelt suchten: einem Dorf mit NPCs.

Sie wurden immer schneller, und Gameknight konnte spüren, wie sich die eckige Sonne langsam vom Horizont entfernte und über den Himmel wanderte. Ihr Licht sorgte dafür, dass ihm warm wurde und er sich lebendiger fühlte, während die Landschaft um ihn herum zu leuchten schien. Er liebte den Morgen, vor allem, weil die Nacht dann noch weit entfernt war. Bei dem Gedanken daran, dass die Sonne sich immer mehr dem Horizont nähern und untergehen würde, erschauderte er vor Furcht und bekam eine Gänsehaut an den Armen.

Das ist doch lächerlich, schalt er sich. Es ist gerade mal Vormittag und ich fürchte mich schon vor dem nächsten Sonnenuntergang. Er schüttelte den Kopf und versuchte, seine irrationale Panik zu vertreiben.

„Geht es dir gut, Gameknight?“, fragte sein junger Begleiter.

„Ja, ich habe nur nachgedacht“, flunkerte er.

„Das hat für mich aber anders ausgesehen“, erwiderte Crafter. „Wir müssen auf diesem Server unbedingt als Team zusammenarbeiten, denn die Gefahren, die uns hier erwarten, werden bestimmt weitaus schlimmer sein als die auf dem letzten Server.“ Er machte eine kurze Sprechpause und schaute seinen Freund im Laufen an. „Möchtest du mir irgendetwas sagen?“

Gameknight zögerte. Er hätte Crafter so gern von seinen Sorgen erzählt, in der Hoffnung darauf, dass seine Ängste nachließen, sobald er darüber sprach, aber er wusste auch, dass er damit nichts bewirken würde, außer erbärmlich und schwach zu wirken.

Was soll es schon bringen, wenn ich ihm von meinen Ängsten erzähle?

Stattdessen seufzte er nur.

„Nein, ich habe nur an meine Eltern und meine Schwester gedacht“, meinte er, und das war nicht einmal gelogen. „Hoffentlich geht es ihnen gut und das bleibt auch so ... wenn du verstehst, was ich meine.“

„Du hoffst, dass wir diesen Krieg aufhalten und verhindern können, dass die Monster in deine Welt vordringen.“

„Ganz genau.“

„Tja, Benutzer-der-kein-Benutzer-ist, ich würde mal behaupten, dass wir das alle hoffen. Wenn die Monster erst in die physikalische Welt eindringen, bedeutet das auch, dass die Lebenden auf allen Minecraft-Servern – und zwar auf sämtlichen Existenzebenen – vernichtet wurden. Und das will doch wohl niemand“, fügte Crafter in scherzhaftem Tonfall hinzu.

Gameknight grinste.

„Außer Erebus“, ergänzte er leise.

„Was?“, fragte Crafter, der mit seinen strahlend blauen Augen bis in Gameknights Seele zu blicken schien.

„Ach ... nichts.“

Er wandte sich schnell von seinem Freund ab, damit ihm dieser die Lüge nicht ansehen konnte, schaute nach vorn und lief weiter. Sie erklommen gerade einen sanften Hügel und mussten hin und wieder springen, um nach oben zu gelangen. Gameknight zog sein Schwert, da er nicht sehen konnte, was sich hinter der Hügelspitze befand, und in seiner Fantasie dort unbekannte Gefahren lauerten.

Oben auf dem Hügel angekommen blieb er kurz stehen, um Luft zu schnappen. Er drehte sich um die eigene Achse, sah sich um und hielt Ausschau nach etwas, das ihnen nützlich sein könnte: ein Baum, ein Dorf, andere Benutzer ... irgendetwas. Doch da war nichts. Das Land war karg und er konnte nur Kühe, Schweine und Schafe erkennen, die das Gras fraßen, das es in diesem Biom im Überfluss zu geben schien. Aber da waren auch zwei Flecken auf einem Hügel weit entfernt im Norden.

„Siehst du das?“, wollte er wissen und deutete mit seinem Holzschwert in seine Blickrichtung.

Crafter drehte sich um.

„Ich bin mir nicht sicher“, meinte der Junge, „aber das könnten entweder zwei Dorfbewohner oder zwei Benutzer sein.“

„Es ist ja eigentlich auch egal. Sie wären auf jeden Fall eine willkommene Ergänzung unserer Gruppe, ob es nun Dorfbewohner oder Benutzer sind.“

„Was denkst du?“, fragte Crafter.

„Ich denke, dass wir Hilfe und Informationen brauchen. Wir können noch ewig in diesem Biom rumrennen, ohne auf ein Dorf zu stoßen. Vielleicht wissen die beiden ja, wo eins ist. Ich denke, wir sollten mit ihnen reden.“

„Okay, dann mal los.“

Die beiden drehten sich um und liefen auf die Flecken am Horizont zu. Während sie zwischen den Hügeln hindurchrannten, verloren sie die Flecken immer wieder aus den Augen und konnten sie nur erkennen, wenn sich beide Gruppen auf einer Hügelspitze befanden. Das machte Gameknight nervös. Er wollte sich die beiden lieber erst einmal genauer ansehen, bevor sie ihnen zu nah waren, doch das schien unmöglich zu sein.

Wollen sie etwa nicht gesehen werden?, dachte Gameknight, der immer unsicherer wurde und in dem erste Anzeichen von Angst aufkeimten.

Er warf Crafter einen Seitenblick zu und fragte sich, was sein alter Freund wohl dachte, behielt seine Furcht jedoch für sich. Wahrscheinlich machte er sich ohnehin grundlos Gedanken und es waren nur zwei Dorfbewohner, die auf der Jagd waren.

Nachdem sie den nächsten Hügel hinaufgerannt waren, blieb er stehen und hielt Crafter am Arm fest, um ihn aufzuhalten.

„Was ist?“, fragte der alte NPC, der noch immer in die Richtung blickte, in die sie gelaufen waren.

„Ich habe ein ganz ungutes Gefühl, Crafter. Lass uns hier warten und die Sache erst einmal beobachten.“

Und so standen die beiden reglos da und schauten zu dem Hügel hinüber, den die anderen bald erreichen mussten. Doch auf einmal rannten zwei große schwarze Gestalten über einen Hügel in der Nähe, und Gameknights Blut schien zu gefrieren, als er zwei Spinnen erblickte.

„Hast du sie gesehen?“, fragte er Crafter.

„Ja, und sie uns bestimmt auch“, erwiderte dieser mit angespannter Stimme. „Wir müssen weglaufen ... SOFORT!“

Sie rannten den Hügel wieder hinunter, den sie gerade erst erklommen hatten. Als sie unten angekommen waren, wandte sich Gameknight nach rechts und lief im Schutz der Hügelausläufer weiter.

„Was machst du denn?“, schimpfte Crafter. „Wir müssen hier weg und dürfen nicht zur Seite laufen.“

„Nein, wir sollten etwas machen, das sie nicht von uns erwarten, und das ist, diesen Weg hier zu nehmen. Komm mit.“

Crafter knurrte, folgte ihm aber und rannte, so schnell ihn seine kurzen Beine tragen wollten. Gameknight bahnte sich den Weg im Schutz des Hügels entlang und führte seinen Freund von den Spinnen weg, wobei er so lange, wie es nur möglich war, versteckt blieb. Im Laufen schauten sie immer wieder über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass die haarigen schwarzen Monster nicht doch hinter ihnen auftauchten. Indem sie so versteckt blieben, konnten sie die Spinnen für eine Weile verwirren, aber sobald sie entdeckt wurden, fing das eigentliche Rennen an. Nach wenigen Minuten endete der Hügel und sie mussten einen weiteren Hügel hinauflaufen. Oben angekommen schaute sich Gameknight um.

Oh nein!

Die Spinnen kamen direkt auf sie zu und hatten die Distanz zwischen ihnen verringert. Jetzt waren die Monster noch etwa siebzig Blöcke von ihnen entfernt, und sie kamen immer näher. In Minecraft waren Spinnen schneller als Zweibeiner, daher würden sie sie über kurz oder lang eingeholt haben.

„LAUF!“, schrie Gameknight und sprintete los.

Er nahm all seine Kraft und seinen Mut zusammen und rannte auf die Ebene, weg von den Monstern. Als er sich umschaute, stellte er fest, dass die beiden Bestien weiterhin hinter ihnen her waren und ihre vielen Augen rot leuchteten. Ein aufgeregtes Klackern war zu hören ... Die Spinnen kamen immer näher und klapperten vor lauter Vorfreude mit ihren Beißwerkzeugen.

„Ist alles okay?“, fragte Gameknight seinen Gefährten.

„Ja, aber ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte.“

Gameknight sah erneut zu den Spinnen hinüber und stellte fest, dass sie jetzt nur noch fünfzig Blöcke entfernt waren. Das Sonnenlicht spiegelte sich auf ihren Klauen, die dadurch aussahen, als würden sie funkeln. Er erinnerte sich an seinen Traum und all die Spinnenklauen, die aus dem Nebel nach ihm geschlagen hatten. Erschaudernd rannte er weiter.

Sie liefen von einem niedrigen Hügel hinunter in ein schmales Tal, als er plötzlich etwas entdeckte, das sie dringend gebrauchen konnten: einen Baum.

„Crafter, der Baum.“

„Ich sehe ihn“, erwiderte der junge NPC. „Was hast du damit vor?“

„Wir müssen deine Hände befreien ... Allein kann ich die beiden Monster nicht abwehren. Halte dich bereit.“

Sobald sie beim Baum angekommen waren, zog Gameknight seine Spitzhacke hervor und hieb auf den Baumstamm ein. Nach vier Schlägen fiel ein Stück ab und er hatte einen Holzblock im Inventar. Vier weitere Schläge und der zweite Holzblock erschien. Sofort ließ er die Spitzhacke sinken und machte aus den Holzblöcken Holzbretter, um daraus eine Werkbank zu erschaffen. Er stellte die Werkbank auf den Boden und sah zum Hügel hinüber ... Noch waren die Spinnen nicht zu sehen, aber er spürte, dass sie näherkamen, und sein Mut schwand.

Er bedeutete Crafter näherzukommen, und der NPC stellte sich vor die Bank. Seine Arme waren weiterhin vor der Brust verschränkt und die Hände in den Ärmeln verborgen. So sahen alle Dorfbewohner aus, wenn sie nicht gerade Dinge herstellten – Craften nannte man das in Minecraft. Nur der Crafter eines Dorfes hatte freie Hände, aber da Crafter auf diesem Server kein Dorf hatte, war er nichts weiter als ein gewöhnlicher NPC.

Als er der Werkbank nahe genug war, konnte Crafter plötzlich die Arme bewegen, und er fing an zu arbeiten, wobei er die Hände rasend schnell bewegte. Während er das tat, hieb Gameknight auf die Werkbank ein und zertrümmerte sie mit seiner Spitzhacke. Die eckige Bank bebte unter den Schlägen, und Splitter flogen in alle Richtungen. Dann, als sie zerbarst, blieben Crafters Hände frei. Das hatten sie auf dem letzten Server herausgefunden: Wenn man die Werkbank zertrümmerte, an der ein NPC arbeitete, blieben seine Hände getrennt und er konnte sie beispielsweise dazu benutzen, einen Schwertgriff festzuhalten. Dieses Geheimnis hatte es Gameknight und Crafter ermöglicht, die Mobs auf dem letzten Server zu besiegen, und er war davon überzeugt, dass es ihnen auch in dieser Welt weiterhelfen würde.

„Gib mir schnell das Holz“, sagte Crafter und machte sich erneut ans Werk.

Gameknight warf seinem Freund etwas Holz zu und schaute ein weiteres Mal zum Hügel hinüber. Er konnte spüren, dass die Spinnen näherkamen. Seine Haut kribbelte, während die Erinnerungen daran, wie ihn gekrümmte Klauen zerfetzten, in ihm aufstiegen.

Ich muss hier weg, dachte er. Ich muss verschwinden.

„Ich werde ein Schwert herstellen“, sagte Crafter. „Es dauert nur eine Minute, und dann kann ich ...“

Crafter stockte, als er bemerkte, dass Gameknight den Hügel wieder hinaufrannte.

„Was machst du denn, Gameknight? Willst du den Spinnen entgegenlaufen ...“

Crafter klappte den Mund wieder zu, als der Benutzer-der-kein-Benutzer-ist seinem Freund über die Schulter hinweg einen Blick voller Angst und Panik zuwarf. Die Erinnerung an all diese Spinnen, die ihn auf dem letzten Server angegriffen hatten, an ihre schwarzen Klauen, die ihn verletzten, die aufblitzenden Fänge, die sich in sein Fleisch bohrten ... Es war, als würde es ein weiteres Mal geschehen. Und jetzt waren zwei Spinnen auf dem Weg, um das Werk zu vollenden.

Ich muss hier weg ... Sie kommen ... Sie kommen!

Gameknight lief den Hügel hinauf und blieb dann stehen. Er konnte sehen, dass die Spinnen schnell näherkamen. Sie waren jetzt nur noch zwanzig Blöcke entfernt. Er rannte nach links und von den tödlichen Spinnen weg. Am liebsten hätte er zu seinem Freund hinübergeschaut, aber seine Scham und seine Schuldgefühle bewirkten, dass er stur geradeaus blickte.

Ich habe solche Angst. Ich werde ihm nicht helfen können. Ich werde nur im Weg sein und alles noch schlimmer machen. Diese Worte klangen in Gameknights Verstand und in seiner Seele so hohl und leer, aber er lief dennoch weiter.

Während er sprintete, hörte er das tödliche Klicken in seinem Rücken. Als er im Laufen den Kopf drehte, stellte er fest, dass die beiden Spinnen ihm folgten und aufholten. Jetzt trennten sie nur noch zehn Blöcke. Er konnte erkennen, wie ihre vielen roten Augen leuchteten.

Angst breitete sich in ihm aus und schien jedes seiner Nervenenden zu Eis erstarren zu lassen.

Sie sind beide hinter mir her ... Oh nein!, dachte er. Aber dann ist wenigstens Crafter in Sicherheit ... hoffentlich.

Er schaute über die Schulter und sah, wie die Spinnen mit den Beißwerkzeugen klapperten, als könnten sie es kaum erwarten, ihre nächste Mahlzeit in die Klauen zu bekommen – ihn! Die Erkenntnis, dass er sich bald umdrehen und kämpfen musste, ließ ihn vor Angst zittern.

Gameknight sprintete, so schnell er konnte, und sah sich wieder um. Die Spinnen liefen nebeneinander her. Würde er sich jetzt umdrehen, um zu kämpfen, bekäme er es mit beiden gleichzeitig zu tun. Das konnte er nicht überleben. Also rannte er stattdessen nach links, sodass die Spinnen zwar näherkamen, aber auch hintereinander herlaufen mussten. Unvermittelt drehte er sich um, zog mit einer flüssigen Bewegung sein Schwert, hielt es vor sich und wartete auf die erste Spinne.