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ROLF BIDINGER

DAS LÄCHELN DER TRAUERWEIDE

Roman


"Komik ist die Erotik des Alters" Bisher erschienen als Printausgabe und ebooks: - (K)ein Bestseller Roman Laubingers letzter Fall Roman Die Taube, die nicht hören wollte Satirische Geschichten Zuckersüß & Bittermandel Erzählungen Das Lächeln der Trauerweide Roman Satirische Weihnachten Satiren überall wo es Bücher gibt!


BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Ein Vorwort, was ein Nachwort fast unmöglich macht!

Verehrte Leserinnen und Leser!

 

Bevor sie sich nun an die Lektüre dieses Buches machen, erlauben sie mir einige erklärende Hinweise. Sie kennen mich nicht und ich werde sie höchstwahrscheinlich auch nicht mehr kennenlernen. Viele meiner Kollegen bieten ja die Möglichkeit, während einer Lesereise, um ihr Buch zu promoten, sich dem Publikum persönlich zu zeigen. Manche lassen sich sogar anfassen.

Andere geben auch gerne Autogramme und locken unter dem Vorwand, keinen Stift einstecken zu haben, besonders weibliche Leserinnen, die das Verfallsdatum noch nicht überschritten haben, zu sich ins Hotelzimmer ein. Nicht selten kommt es dort zu unsittlichen Tätigkeiten, die die Leserinnen nicht mehr und die Autoren sehr schnell vergessen.

Autoren sind von hause aus sehr einsame Menschen und suchen stets nach Anerkennung und Aufmerksamkeit. Sie leben nur in ihrer Phantasie und beschreiben Dinge, auch unzüchtiger Art, die fern ihrer eigenen Realität sind. Das ist ihr Dilemma! Ihre sexuellen Verwerfungen, die tief in ihnen schlummern, erleben nie das Tageslicht ihrer Realität.

Darum projizieren sie ihre Gelüste auf den jeweiligen Helden ihrer Bücher.

Ein guter Autor schickt seinen Helden von einem Höhepunkt zum nächsten. Schlechte Autoren haben nicht einmal in ihren Büchern Sex. Dafür haben den dann die Kritiker, die sie verreißen.

 

Eine feuilletonistische Abkanzlung ist nichts anderes als eine Serie von Orgasmen, die eigenhändig zu Papier gebracht werden. Wobei Literaturkritiker unterscheiden zwischen Autoren und Schriftstellern. Zufällig traf ich einmal einen dieser „Reißwölfe literarischer Ergüsse“ in einer Herrensauna und ergriff die Chance beim Schopfe, diesen körperlich unansehnlichen Zeitgenossen, mit meiner Frage zu konfrontieren. Sichtlich eingeschüchtert von meiner oft bejubelten Gesamterscheinung, demonstrativ trat ich ohne Handtuch ein, was immer einen „Aha!“ Effekt erzeugte, versuchte er mir, den Unterschied zu erklären. Also nicht den Unterschied zwischen ihm und mir, denn der lag ja auf der Hand. „Der Unterschied zwischen einem Autor und einem Schriftsteller ist einfach!“, erklärte er mit sichtbarem Unbehagen. „Stellen sie sich folgendes vor: Ein Mann geht durch einen Wald nach Hause. Ein Autor würde das mit folgenden Worten beschreiben: „Ein Mann geht durch einen Wald nach Hause.“ Hingegen ein Schriftsteller würde es folgendermaßen beschreiben: „Ein gramgebeugter Mann, dessen Furchen sich in sein Antlitz eingebrannt hatten, von der Mühsal und Pein seiner Jahre, immer noch hoffend auf die Liebe seines Lebens, durchschritt einen modrigen und von Laub gesäumten Buchenhain, der durchzogen von knorrigen und dem Wind trotzenden Geäst, bei einem ein unwirkliches Gefühl hinterließ, welches den weiten Weg anhielt, bis er zu seiner einsamen Kate kam.“

 

Nun fragen sie sich sicher, was diese nette kleine Episode bei ihnen bewirken soll! Gut das sie danach fragen. Das zeugt von ehrlichem Interesse an meinem Werk, worüber ich sehr glücklich bin. Leider sind solche Glücksmomente sehr selten. Aber durch ihre unaufdringliche Frage haben Sie in mir ein Gefühl der Wärme und Dankbarkeit erzeugt, was ich ihnen niemals vergessen werde. Ich sehe mich nämlich als Autor, weshalb sie in diesem Buch keine seitenlangen Beschreibungen von Gegenden, Wäldern, Seen oder dergleichen lesen müssen. Damit will und werde ich sie nicht quälen, damit sie sich ungetrübt der heiteren Geschichte widmen können. Elendlange Beschreibungen halten nur unnötig beim Lesen auf und machen ein Buch nur dick. Meine Bücher sind eher schlank und eignen sich zum Beispiel nicht zum Erschlagen des Ehepartners. Selbst als Türstopper ist es gänzlich ungeeignet. Im Buchregal nimmt es auch nur wenig Platz ein. Eine Ausgabe von „Mein Kampf“ nimmt mehr Platz ein, als vier meiner Bücher.

 

Jetzt will ich sie aber auch nicht länger vom Lesen abhalten. Allerdings muss ich ihnen eine betrübliche Mitteilung machen, die sicherlich eine große Enttäuschung für sie sein wird. Dieses Buch wird mit meinem Tod enden, weshalb ich mich außerstande sehe, anschließend noch ein Nachwort zu schreiben. Dies ist rein technisch nicht möglich, wie mir mein Hausarzt versichert hat. Da ich nach einem gründlichen Check-up mitgeteilt bekam, ich sei kerngesund, bleibt mir nichts anderes übrig als den Freitod zu wählen. Noch suche ich nach einer für mich passenden Todesart, die geschmackvoll und individuell sein soll, damit ich mich abhebe von den Wald- und Wiesenselbstmördern. Auch will eine unterhaltsame Bestattung genau geplant sein. Aber dazu mehr im Buch, damit die Vorfreude erhalten bleibt.

 

Nun wünsche ich ihnen gute Unterhaltung und viel Spaß auf meinem Weg zu einem gelungenen Selbstmord.

 

Herzlichst
    Ihr Autor

Kapitel 1

Selbstgespräche dienen dazu, sich einer Situation klar zu werden, wenn man niemanden hat, der einem zuhört. Selbst wenn man jemanden hat, der einem sein Gehör schenkt, heißt das noch lange nicht, dass man auch verstanden wird. Ich fühle mich oft nicht verstanden, selbst wenn man mir versichert, vollkommendes Verständnis für mich aufzubringen. Aber ich werde das Gefühl nicht los, sie sagen es nur, damit sie baldmöglichst wieder ihre Ruhe haben können und sich mit ihren eigenen Problemen zu quälen.

 

Wirkliche Zuhörer, die zu dem noch Verständnis aufbringen und im besten Fall sich damit dann auch noch auseinandersetzen, sind rar gesät. Je mehr Probleme man hat, desto weniger Menschen zeigen Interesse daran, sich diesen, meinen Problemen zu stellen. Und ich habe Probleme! Und darüber rede ich dann mit mir. Nicht selten erwische ich mich in der Bahn oder bei einem gemütlichen Einkaufsbummel, wie ich mich mit mir auseinandersetze. Gelegentlich geschieht es auch, dass sich diese innere Diskussion dahin gehend entwickelt, halblaut durch die Straßen geführt zu werden. Ich bemerke dies zunächst nicht, so sehr bin ich in das Gespräch mit mir vertieft. Es fällt mir dann erst auf, wenn mich Passanten mit einem mitleidigen Blick ansehen. Manche schütteln auch einfach nur den Kopf.

 

Einmal lief eine interessierte Frau minutenlang neben mir her, in der Hoffnung, zu verstehen, worüber ich sprach. „Das finde ich aber nicht.“, hörte ich sie plötzlich sagen. Erst da bemerkte ich sie. Sie riss mich mit ihrer Aussage aus meinen Gedanken. „Bitte?“, fragte ich und sah sie mir etwas genauer an. Rein äußerlich sah sie wie eine Sozialkundelehrerin im Ruhestand aus. Dennoch hatte sie ein freundliches Gesicht. Ihre Augen versteckte sie hinter einer dunklen Sonnenbrille. Am liebsten hätte ich sie gebeten die Brille abzusetzen, um ihr direkt in die Augen sehen zu können. Bei Frauen achte ich immer zuerst auf die Augen, denn sie können viel über den Menschen erzählen. Andere Männer achten ja eher auf die Brust oder den Hintern. Aber was sagt so ein Hintern schon aus? Nichts! Und eine Frau nur auf ihre Brüste zu reduzieren ist unhöflich. Da stellt sich höchstens die Frage: Operiert oder Natur!

 

Ein kurzer Blick, ok, den konnte ich mir nicht verkneifen, ließ mich stark vermuten, hier musste es sich um einen Naturbusen handeln. Ihr grüner Pullover, der fast senkrecht an ihr herunterhing, zeigte nur eine kleine Wölbung, vielmehr Zwei natürlich. „Natürlich!“, dachte ich und achtete peinlich genau darauf, dass ich es nur dachte und nicht versehentlich zu mir sagte. Wäre mir peinlich gewesen. „Warum hadern sie mit sich?“ Sie sah mich neugierig an. Jetzt gehöre ich nicht zu denjenigen Menschen, die anderen meine Probleme erzählen. Zumindest nicht fremden Frauen und dazu noch mitten auf der Straße, zwischen Drogeriemarkt und Brillenfachgeschäft. „Sie sind doch noch ein junger Mann. Sie haben ihr leben noch vor sich. Genießen sie doch lieber den schönen Tag, statt zu grübeln.“

 

Ich lächelte sie an. „Danke für den „Jungen Mann“! Aber ich bin älter, als ich aussehe. Ich bin heute Fünfzig geworden!“ Sie reichte mir ihre Hand. „Da gratuliere ich aber herzlichst.“ Sie strahlte über das ganze Gesicht. Dann nahm sie die Sonnenbrille ab und ich sah in ihre mandelbraunen Augen. „Das ist doch ein Grund zum feiern. Man wird nur einmal fünfzig!“ Da hatte sie natürlich recht. Man wird nur einmal fünfzig. Man wird aber auch nur einmal neunundvierzig! Und neunundvierzig hört sich besser an als fünfzig. Mit neunundvierzig ist man noch jung, mit fünfzig ist man alt. Das kommt über Nacht. Man schläft mit neunundvierzig ein und wacht als alter Fünfziger auf und kommt kaum noch aus dem Bett. „Fünfzig ist kein Grund zum feiern.“, stellte ich resigniert fest. „Das ist doch Blödsinn!“, fuhr sie mich etwas an. „Ich bin dreiundsiebzig. Da müsste ich ja nur noch deprimiert durch die Gegend laufen. Alter ist doch relativ!“ Inzwischen blieben einige Passanten stehen und lauschten unserem kleinen Disput.

 

Ein Mann mit einer Bratwurst in der Hand, erkundigte sich, was denn los wäre. Genüsslich biss er in die Wurst und aus dem Brötchen tropfte, von ihm unbemerkt etwas Senf auf seine Krawatte, die sein weißes Hemd zierte. „Der Mann in der Mitte da, ist heute fünfzig geworden.“, erklärte eine Frau mit Rollator. „Ach!“, entfuhr es dem Mann und schob sich den letzten Zipfel seiner Bratwurst in den Mund. Alle sahen den Senf auf der Krawatte, doch keiner der umstehenden wies ihn darauf hin.

 

Dass ich fünfzig bin, faszinierte sie mehr, als ein Senffleck auf einer gemusterten, geschmacklosen Krawatte. „Mama, Gehen wir jetzt weiter?“ Ein kleiner Junge, vielleicht vier oder fünf - jedenfalls keine fünfzig, zog am Rock seiner Mutter. „Jetzt warte doch!“, hielt ihn seine Mutter zurück. „Schau doch mal, der Mann ist fünfzig Jahre alt geworden.“ Doch der Junge zeigte keinerlei Interesse daran und schielte zu der Eisdiele an der nächsten Ecke. „Ich will jetzt ein Eis!“, sagte er mit der Bestimmtheit eines fünfjährigen. „Du hattest erst gestern ein Eis und sowieso nicht vor dem Mittagessen.“ Diese erzieherische Maßnahme hatte zur Folge, dass der Junge sofort begann los zu plärren. Ich gab ihm einen Euro und schickte ihn zur Eisdiele. Die Mutter sah mich an, mit einer Mischung aus Empörung und heimlicher Dankbarkeit. Egal. Jedenfalls war jetzt Ruhe. Die Menschentraube wuchs unaufhaltsam. Diejenigen die das Glück hatten vorne zu stehen, erzählten den hintenstehenden, was hier vorne los war. Zwei Damen des Ordnungsamtes erkundigten sich, ob die Demonstration auch angemeldet wäre. Ich versicherte ihnen, es sei keine Demonstration. „Ich habe nur Geburtstag!“

 

Doch mit dieser fadenscheinigen Ausrede waren sie nicht zufrieden. Die eine Ordnungshüterin, die etwas pummelig war, sah ihre Kollegin, die ihr körperlich in nichts nachstand an, denn offenbar war sie mit der Situation überfordert. „Warum feiern sie denn nicht bei sich zuhause?“ Ihre Kollegin telefonierte bereits nach Verstärkung. „Ich feiere überhaupt nicht!“ Dann zeigte ich auf die ältere Dame, die mir diesen Flashmob eingebrockt hat. „Die Dame hat mich nur gefragt, warum ich mit mir hadere.“ Die Kollegin, die telefonierte, unterbrach kurz: „Ist hadern strafbar? Was ist überhaupt hadern?“ „Er ist unzufrieden mit sich!“, mischte sich die Senfkrawatte ein. „Wieso das denn?“, fragte die pummelige Knöllchenschreiberin. „Er ist fünfzig geworden und nun leidet er darunter!“, erklärte die Sozialkundelehrerin mit den Mandelaugen. Ein Raunen ging durch die Menge. Endlich erfuhr auch die letzte Reihe, was mit mir los war.

 

Plötzlich kippte die Stimmung. Aus der anfänglichen Sorge, es wäre etwas Schreckliches passiert, ein Mann sei umgekippt oder angeschossen worden, stellte sich nun die nackte Wahrheit dar.

„Bloß weil der fünfzig ist, stellt er sich so an!“ Ein empörter Endsechziger kam derart in Rage, dass man vorsichtshalber einen Notarzt alarmierte. Gerade die „Überfünfziger“ regten sich über mich auf und die „Unterfünfziger“ bekamen Angst und hofften innerlich, unbedingt vor der grausamen „Fünfzig“ aus dem Leben scheiden zu dürfen, denn so wollten sie nicht werden. Als der kleine Junge, mit dem von mir bezahlten Eis zurückkehrte, packte ihn seine Mutter an der Hand und eilte mit ihm nach Hause. Ich hörte nur noch, wie sie sagte: „Der alte Mann ist kein Umgang für dich!“

 

Langsam wurde mir die Sache zuviel und als ein Streifenwagen in die Fußgängerzone mit Blaulicht einbog, entschied ich mich, abzuhauen.

Ich kämpfte mich durch die Menschentraube und mir gelang es, auch wenn einige versuchten, mich festzuhalten, dem Pöbel zu entkommen. Bis auf ein eingerissenes Hemd kam ich unverletzt davon. Körperlich unversehrt, aber mit irreparablem Schaden an meiner Seele, rettete ich mich in eine Eckkneipe am Hauptbahnhof, wo mich keiner kannte.

 

Und mein zerrissenes Hemd, ein Weihnachtsgeschenk meiner Mutter, fiel hier auch gar nicht weiter auf. Ganz im Gegenteil. Ich wurde sofort akzeptiert von den Thekenbrüdern, die mich als Ihresgleichen sofort in ihren Kreis aufnahmen. Der Einstand in diesen erlauchten Club kostete mich eine Runde Korn und jeweils ein Bier zum Nachspülen. Als Neukunde, der ich war, verlangte die Wirtin direkte Bezahlung bei Bestellung. „Also das sind acht Bier zu zweiachtzig und acht Korn zu zweifünfzig, sind zusammen .... sagen wir glatt fünfzig!“ Und da war sie wieder: „die Fünfzig!“ Wie schön, dass man hier hemmungslos weinen konnte.

 

„Lass es nur raus!“, meinte Adi, der eigentlich Adolf hieß. Er war ein netter Kerl, solange ihn niemand Adolf nannte. Da konnte er unangenehm werden, denn wie er nach der zweiten Runde erzählte, war sein Vater ein Freund vom Führer gewesen, weshalb er diesen Namen ihm gegeben hatte. Adi war öfter hier, um nicht zu sagen täglich. Er war so etwas wie der Philosoph unter den Brüdern. Das Leben hatte ihm mitgespielt, wie ich bereits nach der dritten Runde erfuhr, nachdem ich kurzzeitig mich ausklinken musste, um an dem nächsten Bankautomaten mir „Rundengeld“ zu ziehen. Für neue Freunde muss man bereit sein, auch einmal etwas zu investieren. Als ich zurückkam, stand die Runde Bier und Korn schon da. Alle hatten sie auf mich gewartet! Ich zahlte die obligatorischen fünfzig Euro und dann stießen alle auf mein Wohl an. Es wurde noch ein gemütlicher Nachmittag, ein unterhaltsamer Abend und eine lange Nacht. Da ich es nicht gewohnt bin so viel zu trinken, war ich dankbar, dass ich ab und zu an die frische Luft kam, wenn ich zum Geldautomaten lief. Aber all die Geschichten, die sie aus ihrem Leben berichteten, waren jeden Euro wert. Erst als meine Bankkarte das Tagesvolumen erreicht hatte, verabschiedeten wir uns schweren Herzens. Adi nahm mich sogar in den Arm und drückte mich lange. Irgendwo auf dem Nachhauseweg muss ich dann meine Geldbörse verloren haben. Keine Ahnung wie, aber am nächsten Morgen war sie nicht mehr in der Hosentasche.

 

Der Tag begann mit einem herrlichen Kater. Der Vorteil einer durchzechten Nacht ist es, man braucht sich nicht erst mühsam anzuziehen. Denn offenbar hatte ich es unterlassen, mich überhaupt auszuziehen. So spart man Zeit und kann sich direkt mit der täglichen Depression auseinandersetzen. Woher genau sie kam, kann ich nicht mehr sagen. Eines morgens war sie da und ist seitdem mein ständiger Begleiter. Während meines rituellen Frühstücks versuchte ich mich, an die wertvollen Tipps von Adi zu erinnern. Blackout! Keine Chance! Ich zermarterte mir das Hirn, doch mein Erinnerungsvermögen machte mir einen Strich durch die Rechnung. Da versucht sich, endlich einmal jemand mit mir auseinanderzusetzen, was in unserer heutigen Gesellschaft schon Seltenheitswert hat und dann habe ich alles vergessen. An das Gesicht von Adi kann ich mich noch deutlich erinnern, nur nicht, was er gesagt hat. Was solls! Ich werde einfach heute Abend wieder hingehen und mir Notizen machen. Denn soviel weiß ich noch, alle hatten mich eingeladen wieder zu kommen. Endlich wahre Freunde gefunden zu haben macht mich schon stolz und glücklich.  Der Tag zog sich so dahin.

Auch ein kurzer Gang an den Briefkasten brachte nichts Aufregendes. Werbung und die Telefonrechnung.

Der Fernseher, der im Dauerbetrieb läuft, Blumen auf dem Balkon gießen, sowie das Öffnen einer Dose Gulaschsuppe, bildeten den zweifelhaften Höhepunkt des Tages. Der angekündigte Sonnenschein war ersatzlos gestrichen worden und präsentierte sich als diesiger, wolkenverhangener Regentag. Eine trostlose Welt, die aber meiner Stimmung entsprach. Der November zeigt sich von seiner besten Seite. Und morgen ist zur Stimmungsaufhellung auch noch Totensonntag. Ich lungere den ganzen Tag im Bett, von wo aus ich den besten Ausblick auf den Fernseher habe, mein Tor zur Welt. Ich durchstöbere nebenher die Fernsehzeitung und plane mein Totensonntagprogramm. Ich stelle fest, die Fernsehgewaltigen haben sich wieder einmal selbst übertroffen, in der Auswahl ihrer Feiertagssendungen. Trostlose Aussichten für morgen!

 

Aber ich habe ja die Hoffnung auf einen Feiertagskater, dank meiner neuen Freunde. Das bringt wenigstens etwas Freude in mein tristes Leben. Morgen folgt dann als einziger Tagesordnungspunkt, der allsonntägliche Anruf von Mutter. Da kommt aber auch nicht wirklich Freude auf. Diese Anrufe gleichen mehr einem Verhör, dem ich unterzogen werde. Mutter fragt und ich habe wahrheitsgemäß zu antworten. Wobei ich die Wahrheit etwas positiv ausschmücke, um unnötigen Nachfragen und den gefürchteten „Guten Ratschlägen“ zu entgehen. Und wenn es ganz schlecht läuft, muss ich dann auch noch mit Vater sprechen. Der stellt die gleichen Fragen wie Mutter, was wohl dazu dient, herauszufinden ob ich mich nicht in Widersprüche verwickle. Deshalb liegt auch am Telefon immer der Zettel mit den drei Antworten, auf die drei obligatorischen Fragen des sonntäglichen Sorgenanrufs.

 

Aber heute ist ja erst Samstag, der Tag vor der Herrin, die ihrem Sohn sein Versagen, in unterschwelliger Form vorwerfen wird. „Ich meine es ja nur gut, Junge!“, eines ihrer Lieblingssätze, bildet immer den Abschluss ihrer sonntäglichen Ausführungen, die mir ein schlechtes Gewissen machen sollen. Meist ist sie mit ihren Methoden auch erfolgreich. Dann ruiniert sie gekonnt mir den Sonntag! An Tagen, an denen es mir gut geht, erlaube ich es mir, den Anruf einfach zu ignorieren. Ich habe mir sogar heimlich Dialekte angeeignet, damit ich mich selbst verleugnen kann. Inzwischen habe ich es zu einer gewissen Perfektion darin gebracht und sie zweifelt an ihrem Sehvermögen, seit sie sich ständig verwählt.

 

Ich kann jedem geplagten Sohn, jeder von Anrufen gepeinigten Tochter nur empfehlen: Lernt Dialekte und genießt den anruffreien Sonntag! Natürlich darf man es damit nicht übertreiben. Wer solche Tricks zu häufig anwendet, wird prompt bestraft, mit der Androhung eines Besuches. Hierbei ist zu unterscheiden, zwischen Müttern die unter einhundert Kilometer entfernt wohnen und denen die noch weiter entfernt sind.

 

Im ersten Fall kommt sie zum Kaffee vorbei, wobei sie dann Kuchen mitbringt. Kuchen backen kann sie. Leider gibt sie in nicht einfach nur ab oder stellt ihn vor die Tür. Nein, sie fordert Einlass und inspiziert zunächst die Wohnung, die natürlich nie ihren hygienischen Ansprüchen genügt. Dann öffnet sie ihre Handtasche und zieht wie zufällig eine Kittelschürze raus und beginnt mit Staubwischen oder Fensterputzen. Während Vater, der sie begleiten musste, mit mir den Kuchen vertilgt, rast sie mit dem Staubsauger durch die Ecken. Würde sie diese Tätigkeiten kommentarlos machen, wäre sie als kostenlose Haushaltshilfe ja herzlich willkommen, aber dazu sind Mütter nicht geboren. Vater drängt dann meist zum Aufbruch, da er unbedingt zur Sportschau zuhause sein möchte und dann bleibe ich zurück, mit der Gewissheit ein schlechter Sohn zu sein, dafür aber mit einer sauberen Wohnung.

 

Doch der Preis dafür ist sehr hoch und kostet mich jedes mal mindestens eine Stunde auf der Couch meines Psychiaters. Im Falle, ihre Eltern wohnen weit entfernt, wofür man nicht dankbar genug sein kann, droht der Besuch übers Wochenende. Dann haben sie ein richtiges Problem. Natürlich wollen sie dann nicht in ein Hotel, sondern bei ihnen wohnen. Dies bedeutet, eine gründliche Reinigung der Wohnung. Dies wird ihre Mutter zwar nicht zufriedenstellen, denn Mütter finden immer noch irgendwo ein Staubkorn und beginnen sofort mit der Nachreinigung. Auch müssen Schränke aufgeräumt und allzu privates versteckt werden. Diverse Fotos, Videos oder gar Spielzeug mit erotischem Hintergrund, dürfen keinesfalls in ihre Hände fallen. Meine Lösung für solche Fälle ist es, sie in einem Paket verstauen und mit der Post verschicken. Die Postbeamtin wundert sich zwar immer, dass Absender und Empfänger identisch sind, aber was weiß diese Frau schon von meinen Sorgen und Nöten. Sie lächelt mich dann immer mitleidig, aber verständnisvoll an: „Ihre Mutter kommt wohl übers Wochenende?!“ Offenbar haben auch Postbeamtinnen Mütter. Das ist irgendwie auch beruhigend!

 

Aber heute ist ein Tag der Freude. Denn es ist Samstag und in ein paar Stunden treffe ich meine neuen Freunde. Jetzt gehe ich zur Bank und lasse meine Bankkarte sperren und hole mir etwas Bargeld.

 

 

Kapitel 2

„Ihr Konto ist leider leer und einen Überziehungskredit haben wir ihnen nicht eingeräumt!“, teilt mir eine geschäftsmäßig freundliche Dame am Bankschalter mit. Passend zu ihrer Aussage, trägt sie ein schwarzes Kostüm.

Als ich die Augen wieder aufschlage, stehen mehrere Kostüm- und Anzugtragende Bankangestellte um mich herum. Statt sich um ich zu kümmern, erklärt die Dame im Kostüm ihren Kollegen meine finanzielle Situation. „Ach sein Konto ist gesperrt!“, ereifert sich ein Kollege und wirft mir einen verächtlichen Blick zu. „Warum liegt denn der Mann auf dem Boden?“, erkundigt sich eine Kundin im Pelzmantel. „Das macht doch keinen guten Eindruck!“ Mehre Kunden beginnen mich mit ihren Smartphones zu fotografieren. Aufgeregt kommt der Filialleiter hinzu und erklärt mit hochrotem Kopf: „Bitte unterlassen sie das Fotografieren. Der Kunde hatte sicher nur einen Schwächeanfall. Es wird ihm sicher gleich besser gehen!“ Die Schwarzkostümierte tritt auf ihn zu und flüstert ihm etwas ins Ohr.

 

„Bitte?!“ Der Filialleiter konnte seine Empörung nicht unterdrücken. Offenbar hatte ihn die Information, die in seine Gehörgänge eingedrungen waren, bis ins Mark erschüttert. „Pleite?“, flüsterte er meiner Sachbearbeiterin zu. Diese nickte nur stumm! „Der Mann muss hier weg, und zwar schnell.“ Der Filialleiter hatte gesprochen und seine Untergebenen handelten sofort. Mehrere Anzugträger trugen mich aus der Empfangshalle in den hinteren Bereich der Filiale, wo ich für die Kunden nicht mehr sichtbar war. Dort wurde ich dann zum Hinterausgang gebracht und auf die gegenüberliegende Straßenseite an ein „Vorfahrt achten“ Schild angelehnt. Da ich aber noch nicht im Vollbesitz, der Kontrolle über meine Beine war, entschloss sich ein Anzugträger kurzerhand, meinen Hosengürtel zu öffnen und aus den Schlaufen zu ziehen. Mit dem befreiten Gürtel band er mich schließlich an dem Straßenschild fest. Dafür hatte ich natürlich größtes Verständnis, denn schließlich warteten noch Kunden mit Geld auf ihre fachkundige und freundliche Beratung. Während ich so rumhing, überdachte ich mein weiteres Leben. Nach reiflicher Überlegung kam ich zu der Erkenntnis, mir wohl eine neue Bank suchen zu müssen.

 

Nachdem ich etwas zu Kräften gekommen war, versuchte ich, mich zu befreien, was sich leider als Unmöglichkeit herausstellte. Eigentlich hätte es eine Leichtigkeit sein müssen, denn täglich öffne und schließe ich ihn. Doch da ist die Gürtelschnalle vorne und jetzt hat dieser Fuchs von einem Bankers sie hinter mir angebracht. Ohne sie zu sehen, ist es für mich unmöglich sie zu öffnen, denn dazu ist der Mechanismus zu kompliziert. Und ich stehe nun hilflos da! Passanten kommen auch keine vorbei. So stehe ich nun breitbeinig da, denn zu allem Überfluss ist die Hose ohne Gürtel kaum auf den Hüften zu halten. Ich kaufe Hosen grundsätzlich zwei Nummern zu groß, für den Fall einer plötzlichen Gewichtszunahme. Hätte ich damals bloß Hosenträger, statt dieses unsäglichen Gürtels gekauft. Mit elastischen Hosenträgern könnte ich mich jetzt wenigstens zur nächsten Telefonzelle vorarbeiten und Hilfe verständigen.

 

Na ja, als wäre alles nicht schon verzweifelt genug, beginnt es nun auch noch zu regnen. Wenn jetzt der Gürtel nass wird, zieht sich das Leder zusammen und schnürt mir die Luft ab. Oder aber es staut mir das Blut in den Adern. Ohne Blutzirkulation bin ich praktisch tot. Ohne Luft zum atmen allerdings auch. Der Tod ist mir in jedem Falle gewiss. Und wenn ich jetzt um Hilfe rufen würde, ertrinke ich, denn der kleine Regenschauer entwickelt sich zu einem Unwetter sintflutartigen Ausmaßes! Es ist einfach nicht mein Tag. Aber genau das passt zu mir. Und langsam reift in mir die Erkenntnis, es ist einfach nicht mein Leben. Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen, sagen wir bis kurz vor der Eizellenbefruchtung, dann würde ich vieles anders machen. Das würde schon damit beginnen, dass ich mir zwei andere Menschen suchen würde, denen ich es gestatte, mich zu zeugen. Eine sorgfältige und gewissenhafte Prüfung, sowie ein ausgeklügeltes Auswahlverfahren wäre unausweichlich. Schließlich muss ich mit deren Gene mein zukünftiges Leben bestreiten. Bei der jetzigen Auswahl meiner Erzeuger konnte ich ja nicht mitsprechen und nun leide ich unter den desaströsen Genen, einer unheilvollen Allianz zweier Menschen, denen das Wort „Verhütung“ nicht vertraut war. Und ich habe es auszubaden. „Ich will nicht mehr!“ Ich schreie es hinaus, in eine Welt, die sich mir gegenüber absolut ungerecht verhält.

Aber der Schrei bleibt ungehört! Nichts anderes habe ich erwartet. Da steht man nun, gefesselt mit dem eigenen Hosengürtel, die zu allem Überfluss langsam eine Unterhose freilegt, die einer öffentlichen Zurschaustellung geschmacklich nicht entspricht. Hätte ich heute Morgen bereits gewusst oder zumindest geahnt, welche Wendung dieser Tag bringt, so wäre eine sorgfältigere Auswahl angebracht gewesen. Mein einziger Trost in dieser ausweglosen Lage ist es, niemand weiß was ich weiß! Das beruhigt mich ein wenig. Denn solange keiner von meinem „Dreitagetragesystem“ etwas vermutet, bin ich auf der sicheren Seite. Solange jetzt der Gummibund nicht reißt, bin ich auch kein öffentliches Ärgernis. Die komplette Freilegung würde sicherlich Schaulustige und die Presse anziehen, denn es ist durchaus sehenswert, wie ich aus eigener Inaugenscheinnahme weiß. Sicherlich wundern sie sich, über was ich so nachdenke, während ich gefesselt an einem „Vorfahrt achten“ Schild stehe, mit einer Hose, die inzwischen ihre Talfahrt auf Kniehöhe unterbrochen hat, um ihre Kräfte zu sammeln für die letzte Etappe?

Ich weiß ja nicht, ob ich es bereits erwähnte, aber ich bin fünfzig! Muss ich noch mehr sagen?! Aber vielleicht versteht mich nur ein Mittfünfziger.

Sollten sie jedoch noch unter fünfzig sein, dann genießen sie die Zeit in vollen Zügen, denn die fünfzigste Kerze brennt schneller auf ihrem Geburtstagskuchen, als sie denken. Und dann werden sie an mich denken. Noch haben sie Zeit, etwas aus ihrem Leben zu machen. Bei mir ist es zu spät! Schuld war dieses elende Spermium, angeblich das schnellste und durchsetzungsstärkste seiner Art! Es war in Wirklichkeit ein Versager, dass mir das Leben versaut hat. Der Erzeuger, der es meiner Mutter in einer schwachen Sekunde überlassen hatte, verschwand nach der Geschenkübergabe auf Nimmerwiedersehen. Aus seinem Genmaterial, kombiniert mit dem meiner Mutter, wurde ich. Kein guter Start! Nun hat ein Kind seiner Mutter keinen Vorwurf zu machen, denn als Kind muss man immer Dankbarkeit gegenüber der Mutter zeigen. Dafür gibt es den Muttertag. Ein Kindertag ist gesellschaftlich nicht vorgesehen. Ein vergessener Muttertag ist eine familiäre Großkatastrophe, die unverzeihlich ist und durch keine Entschuldigung zu entschuldigen ist. Kein noch so großer nachträglicher Fleurop-Blumenstrauß kann das wieder gutmachen. Als „undankbares Kind“ ist man dann über Jahre innerfamiliär isoliert. Nur nach außen ist und bleibt man ein gutes und erfolgreiches Kind, denn der Schein einer glücklichen Familie muss gewahrt bleiben. All diese Verlogenheit ist mir zum Glück erspart geblieben, denn meine Mutter entschloss sich, mich vorab, einer Babyklappe anzuvertrauen.

 

In einer, von mir getragenen Windel fand eine Nonne, die den Posteingang kontrollierte, einen erklärenden ausführlichen Brief, worin sie ihre Beweggründe meiner Aussetzung darlegte.

„Ich wills nicht!“ Näher ging sie nicht darauf ein. Und so wurde ich stadtbekannt als namenloses Findelkind. Zunächst wuchs ich bei der Nonnengemeinschaft auf. Das Kloster, welches zu der Klappe gehörte, war ein sehr altes Gemäuer. Die Nonnen waren es auch. Eigentlich war es ein Schweigekloster, doch mit meiner Ankunft veränderte sich dies schlagartig. Ich brachte die alten Damen ganz schnell in Trab. Aber sie bemühten sich redlich um mich, wenngleich sie mit Babys nicht sonderlich viel Erfahrung hatten. Und da ich auch noch männlichen Geschlechts war, machte das die Sache nicht einfacher, da ihre Erfahrungen mit Männern doch sehr begrenzt waren. Bevor sie mich dem Jugendamt zurückgaben, wollten sie mir aber noch einen Namen geben. In einer Art Konklave, stimmten sie darüber ab und jede der „Bräute Christi“ durfte einen Vorschlag machen. In geheimer Abstimmung entschieden sie sich fast einstimmig für einen Vornamen für mich. Von den zehn Nonnenstimmen entfielen neun auf „Joseph-Maria“ und eine Stimme auf „Hans-Joachim“! Wer die abtrünnige Nonne war, konnte nie ermittelt werden.

 

Die nächsten Tage verbrachte ich in der Ablage „J“ beim zuständigen Jugendamt. Eine freundliche Sachbearbeiterin, die wie ich alleinstehend war, nahm sich dann meiner nicht nur an, sondern auch mit nach Hause.

Ihre Kollegen atmeten auf, denn ich war dort gleichermaßen unbeliebt wie sie. Ihre burschikos freundliche Art konnte jedoch über ihr Äußeres nicht hinwegtäuschen. Dies war sicher auch eines der Hauptgründe, weshalb sie ohne Mann durch das Leben vegetierte. Bei Jo, die eigentlich Johanna hieß, wurde ich ausschließlich vegan ernährt. Zwei mal am Tag bekam ich pasteurisierte und entrahmte Sojamilch und abends meist pürierten Tofu. Da sich damals in meinem Wortschatz weder „Schweinesteak“, noch „Kalbskotelett“ befanden, empfand ich die Ernährung als kindgerecht. Ich entwickelte mich prächtig. Während meine Kommilitonen im Kindergarten versuchten „Die kleine Raupe Nimmersatt“ zu verstehen, hatte ich bereits ein Zeitungsabo von „Emma“. Meine Adoptivmutter, wobei sie die Bezeichnung: „Mutter die zweite“ bevorzugte, tat alles, um mich zu einem guten Feministen zu erziehen. „Mutter2“, wie ich sie immer liebevoll und voller Respekt nannte, ging mit mir zu jeder Demonstration, die sich in unserer Stadt anstrengte, die Welt zu verändern. Mal war ich für die Legalisierung von Drogen, mal für eine neue Umgehungsstraße, einmal sogar für ein Verbotsverfahren des Vatertages. Zu jeder Demonstration gingen „Mutter2“ und ich vorneweg und fahnenschwenkend. Für jede Demo bemalten wir abends vorher ein Bettlaken mit der entsprechenden Forderung. Nicht wenige Male wurde „Mutter2“ dafür angefeindet, dass sie mich mitschleppte. Dann meinte sie stets: „Hauptsache das Kind kommt an die frische Luft!“

Meine roten Wangen, die sich bis heute nicht zurückentwickelt haben, zeugen noch davon. Ich war ein beneidenswert glückliches Kind, bis zu jenem Tag, der mein Leben schlagartig verändern sollte. Diese Zäsur in meinem Leben, mache ich verantwortlich für alles und sie markiert den Wendepunkt einer unbeschwerten Kindheit. Noch heute schmerzt diese Kerbe, die in meiner kindlichen Seele aufs Grausame eingeritzt wurde. Nur ungern spreche ich darüber, da die Erinnerung mich auch heute noch kaum schlafen lässt. Nacht für Nacht kommen die Bilder hoch und quälen mich im Schlaf. Kein Mensch wird je erahnen, wie viel Leid ein Kind zu ertragen, in der Lage ist. Für all dies stehe ich mit meinem guten Namen: Joseph-Maria! Doch selbst zwei Heilige in einem Namen, vermochten das Unausweichliche nicht zu verhindern.

 

Es war Sankt Martinstag und in unserer Stadt sollte der alljährliche Martinsumzug, mit einem Sankt Martin hoch zu Ross stattfinden. Inzwischen war ich in der siebten Klasse und wir mussten Laternen basteln, was uns allen peinlich war, denn mit Dreizehn fanden wir uns zu cool dafür.

Mein aus Butterbrotpapier- und Pappkarton widerwillig zusammengekleisterter Lampion, sah elend und nicht gerade feuerbeständig aus.

Ich entschied mich für ein Teelicht als Leuchtkörper, statt einer batteriebetriebenen Glühlampe, als Protest gegen die Energieunternehmen und deren Profitsucht. Die waren mir zwar gleichgültig, aber „Mutter2“ hatte Geburtstag und ich kein Geschenk. So konnte ich ihr wenigstens eine kleine Freude bereiten, die mich auch nicht in ein finanzielles Fiasko stürzte. Zum Abschluss der Bastelstunde jagte uns Herr Englisch, der Lateinlehrer, auf den Schulhof runter. Dort wurde es dann richtig peinlich. Wir mussten mit brennenden Laternen im Kreis herumlaufen, unter dem Absingen der „Sankt Martin Hymne“. Wohlgemerkt ich war dreizehn und lief mit meiner Laterne und sang: „Laterne, Laterne. Sonne, Mond und Sterne!“ Hatte ich schon erwähnt: Ich war dreizehn! Und es war große Pause! Das habe ich Herrn Englisch nie verziehen und im nächsten Halbjahr Latein abgewählt. Für mich war der Mann gestorben. Der war so tot wie seine Sprache.

„Mutter2“ tat das, was jede Mutter tut, wenn ihr Kind mit einer lieblos zusammengeklebten Laterne nach Hause kommt. Sie freute sich und lobte meine handwerkliche Begabung. Für meinen Geschmack etwas zu übertrieben. Aber so sind Mütter weltweit nun einmal. Sie loben jede Bastelarbeit ihres Kindes über den Klee, die sie zu Ostern, Weihnachten, Geburtstagen oder zum Muttertag geschenkt bekommen. Nun konnte ich aber bereits in jungen Jahren abschätzen, wie meine Basteltätigkeiten zu beurteilen waren und begriff: „Mutter2“ lügt! Vermutlich lügen alle Mütter, wenn sie Bastelarbeiten ihrer Kinder in Händen halten. Nur Herr Englisch lügt nicht und gab mir eine Fünf für mein Kunstwerk.

Die Vermutung lag nahe, mein Lampion wird es niemals ins Museum of Modern Art schaffen. Die Hoffnung, es würde zu einem horrenden Betrag bei Sotheby`s versteigert, schwand in dem Augenblick, als ein Windstoß, ungefragt die Butterbrotlaterne entzündete. Dies geschah in dem Moment, als mein Leben aus den Fugen geriet. Ich stand abends mit „Mutter2“ vor der katholischen Kirche, die ich nie betreten musste, weil „Mutter2“ sie als frauenfeindlich verdammte. „Erst wenn eine Frau mich taufen darf, werden wir hineingehen.“ So war sie halt! Immer auf der Seite des schwachen Geschlechts. Wobei sie gar nicht so schwach war. Ich habe nie eine Frau gesehen, die einhändig ein Gurkenglas öffnen konnte. „Mutter2“ konnte das. Selbst vor Spinnen lief sie nicht weg. Sie schrie sie einfach so lange an, mit ihrer tiefen Bruststimme, das die Spinnen von selbst Reißaus nahmen. Auf dem Balkon unserer Nachbarn tummelten sich alle Tauben der Stadt, nur zu uns traute sich keine herüber. Nur einmal, da wagte es eine. „Mutter2“ warf ihr nur einen intensiven tiefen Blick zu und sie stürzte sich sofort vom Balkongeländer, direkt unter einen schwarzen Mercedes Kombi, mit der Aufschrift „Dein Bestatter“. Aus dem Ergebnis dieses Zusammentreffens hätte nicht einmal ein Tierpräparator noch etwas zaubern können. Aber was kommt sie auch auf unseren Balkon!

Jedenfalls standen wir nun vor der Kirche des heiligen Joseph und harrten auf die Ankunft von St. Martin. Als ei Raunen durch die Kindermenge ging, sahen wir die Straße herunter. So wie im Film Winnetou auf Iltschi erschien, um Mario Adorf zu erschießen, denn er hatte es verdient, einfach Nscho -tschi zu erschießen, das war nicht zu entschuldigen, trabte eine Gestalt zu Pferde heran. Aus der Ferne sah es stolz und erhaben aus. Bei näherer Betrachtung erwies es sich jedoch als eine Mogelpackung. Denn auf dem Pferd saß nicht Pierre Brice, der einzig wahre Winnetou, sondern ein blonder Jüngling, der sein Pferd kaum zügeln konnte. Auf welchem Acker er den her hatte, vermag ich nicht zu sagen. Mit Iltschi, einem stolzen Rappen, hatte diese kackbraune Schindmähre nun wirklich nichts zu tun. Als Salami hätte er mir mehr imponiert.

 

Der blonde St. Martin Verschnitt, entpuppte sich ebenso als Fehlbesetzung, die nicht einmal RTL gewagt hätte. Ein dümmlich grinsender und wie eine Weinkönigin winkender Selbstdarsteller in einem langen Mantel aus irgendeiner Fastnachtsabteilung von Karstadt. Ich konnte meine maßlose Verärgerung kaum verbergen.

Eine Fehlbesetzung Sondersgleichen, wurde uns hier als Heiliger vorgesetzt. Von diesem St. Martin Imitat würde kein noch so frierender Bettler einen halben Mantel annehmen. Nicht mal einen Euro! Und nur, um mir wohl das Gegenteil zu beweisen, erschien aus einer Seitenstraße ein Obdachloser, der aber offenbar nicht zu dieser Schmiereninszenierung gehörte, auf der Bildfläche.

 

Dieser Bettler, dem man die Mühsal des Pfandflaschensammelns in seinem faltenfrohen Gesicht ablesen konnte, schnorrte gerade den Pfarrer um eine Zigarette an, die dieser ihm unwirsch gab. Hätte er dies wohl auch getan, wenn nicht so viele Zeugen zugesehen hätten? Man weiß es nicht. Schlimm genug das er überhaupt rauchte, dieses Schwergewicht Gottes. Predigt Wasser und raucht Camel. Wenn es wenigstens eine biologische selbstgedrehte Weihrauchzigarette gewesen wäre. Links und rechts von ihm standen seine zwei Messdiener, denen er nichts anbot. Dabei sehe ich die beiden immer auf dem Schulhof hinter einem Busch heimlich rauchen.

Neidisch sahen die beiden ihren rauchenden Herrn an, der sich unbekümmert auch gleich eine ansteckte, in ihren schmucken Messdienerkleidchen.

Inzwischen war auch Dorian Gray für Arme auf seinem Gaul angekommen und statt nun seinen Mantel mit dem armen Obdachlosen zu teilen, indem er ihn zerschneidet, so wie wir es gelernt haben im Religionsunterricht, ignoriert er ihn einfach und reitet vorbei.

Gerade als ich „Mutter2“ überreden wollte, diese alberne Veranstaltung zu boykottieren, geschah etwas, womit niemand, am wenigsten ich gerechnet hatte. Plötzlich scheute das Pferd, ein Gefühlsausbruch, was niemand von dem Gaul erwarten konnte, so mühsam schleppte es sich den Berg herauf. Schuld daran, ein kleiner Pekinese, mit Aufmerksamkeitsdefizit.

 

Winnetou hätte eine solche Situation ausgesessen, doch Blondi war nicht Winnetou, der war nur schön - und zu dämlich, ein Pferd zu führen. Während nun das Pferd sich vorne erhob, purzelte „Muttis Schönster“ hinten runter und landete direkt vor mir und „Mutter2“! Der Pekinese verschwand in einer Einkaufstasche seiner Leinenhalterin und ward nicht mehr gesehen. Hätte ich an seiner Stelle auch gemacht! Unter dem Gelächter der Laterne schwingenden Kinderschar flog Sankt Martin direkt vor „Mutter2“. Benommen und beschämt rappelte er sich auf und sah mit schmerzverzerrtem Gesicht hilfesuchend „Mutter2“ an. Nun kenne ich „Mutter2“ sehr gut und weiß um ihre heiteren Kommentare, die sie gewöhnlich loslässt. Doch diesmal sagte sie nichts. Dabei wäre es doch für jede rechtschaffene Feministin ein gefundenes Fressen, wenn vor ihr ein blasierter Typ im Dreck liegt.

 

Aber was sich dann abspielte, war unbegreiflich und erschütternd. Mein feministisches Weltbild geriet ins Wanken und von einer Minute auf die andere, war nichts mehr so, wie früher. „Mutter2“ sagte nichts, aber ihre Augen sprachen Bände. Auge in Auge sahen sie sich an. Was heißt ansehen, sie versanken förmlich ineinander. Es waren vielleicht nur Sekunden, aber die sollten entscheidend sein. Gerade als sie ihm die Hand reichen wollte, sank er in sich wie ein nasser Sack zusammen und eine vorübergehende Ohnmacht verhinderte das Schlimmste.