Fußnoten

1

T.S. Eliot, Four Quartets / Vier Quartette, Übersetzung: Norbert Hummelt, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.

Allen,

die eine bessere Welt suchen,

die jeden Tag dafür kämpfen,

widme ich dieses Buch.

 

 

 

Wir lassen niemals vom Entdecken

Und am Ende allen Entdeckens

Langen wir, wo wir losliefen, an

Und kennen den Ort zum ersten Mal.

 

T.S. Eliot, aus: Little Gidding[1]

Parabel vom Land der Bäume

In einem Land vor unserer Zeit wuchsen einst die schönsten und ältesten Bäume der ganzen Welt. Die Bäume standen schon, da gab es noch keine Menschen und auch keine Vetalas – jene Unsterblichen, die die Erde neben den ersten Menschen bevölkerten, ehe sie beinahe alle verschwanden.

Es waren weise Bäume, und sie lebten schon so lange auf diesem Planeten, dass sie zu sprechen gelernt hatten. Reisenden spendeten sie nicht nur Speise und Schatten, sondern sie unterhielten sie auch mit ihren fesselnden Geschichten. Sie dienten dem Land und denen, die dort lebten.

Jenen, die der Zufall auserkoren hatte, ins Land der Bäume zu gelangen, wurde ein unvergessliches Erlebnis zuteil. Wenn sie in die Heimat zurückkehrten, berichteten sie euphorisch von dieser wundersamen Welt, und so begann sich die Kunde vom Land der Bäume zu verbreiten. Mehr und mehr Abenteurer machten sich auf den Weg und bald schon strömten die Besucher in Scharen aus allen Enden der Welt herbei.

Diese Neuankömmlinge aber wollten mehr von den Bäumen. Sie trachteten danach, die Bäume und das Land, auf dem sie standen, zu besitzen. Sie begannen, Schänken, Gasthäuser und Unterkünfte zu errichten, um die immer neuen Besucher zu versorgen. Straßen und Brücken wollten sie bauen, um die Tausende aufzunehmen, die das Land der Bäume mit eigenen Augen sehen wollten. Und so nahm das Unheil seinen Lauf …

Um all diese Bauwerke zu errichten, benötigten sie nämlich Unmengen Bauholz. Und so begannen sie, die Bäume zu fällen und mit dem Holz Herbergen und Schänken und Straßen und Brücken zu bauen. Die Bäume fielen, einer nach dem anderen, unter den Hieben der Äxte, Äste und Wurzeln wurden ihnen abgesägt.

Und bald schon gab es im Land der Bäume unzählige Herbergen und Schänken und Straßen und Brücken, aber kaum mehr Bäume. Ein paar überlebten wohl, doch der Verlust ihrer Familien und Freunde war so niederschmetternd, dass sie aufhörten, ihre Stimmen erklingen zu lassen. In ihrer Verzweiflung, ihrem Argwohn verstummten sie ganz, und im Wald erklangen nicht mehr ihr freudiges Lachen, ihre Geschichten und ihre Weisheiten.

Eine Zeit lang strömten die Menschen weiter herbei, doch statt des Landes der Bäume sahen sie nur noch ein Land wie so viele andere auf der Welt.

Schließlich blieben die Besucher aus, und heute ist das Land der Bäume ein ganz gewöhnlicher Ort, dessen Zauber für immer verloren gegangen ist.

Doch vielleicht, eines Tages, wirst du durch einen Wald gehen, und wenn du ganz genau hinhörst und aus dem tiefsten Grunde deines Herzens fragst, dann, ja, dann wird womöglich einer der Bäume die Sehnsucht in deiner Seele hören – die Sehnsucht nach Verbundenheit, die Sehnsucht nach etwas Tieferem, das weit unter der Oberfläche der Welt wohnt, auf der wir leben und die wir kennen. Und vielleicht wirst du sie hören, die Stimme dieses Baums, die dir antwortet und dir erzählt, dass es eine Welt voller Geheimnisse gibt und dass, wer diese verstehen will, zuerst lernen muss, still zu sein und zuzuhören. Dann aber wird diese Welt sich dir offenbaren, als hätte sie all die Zeit nur darauf gewartet.

Prolog

Ich erinnere mich noch, wie Vater mir zum ersten Mal die Parabel vom Land der Bäume erzählt hat. Es war Nacht und vor meinem Fenster hatte sich eine weiche Decke aus geheimnisvoller Dunkelheit über den Chanakya-See gelegt. Ich aber fühlte mich unter der weißseidenen Gaze des Mückennetzes geborgen und die Anwesenheit meines Vaters nahm mir jede Angst. Er saß auf dem Rand meines Bettes und deutete hinaus, jenseits des Sees, jenseits der Berge auf einen Horizont, der im Dunst verborgen lag. Doch eigentlich wies er auf eine Zeit, die vor unserer existiert hatte, auf eine Welt, von der wir beide nicht sicher sein konnten, dass es sie überhaupt gegeben hatte.

»Habe ich dir je das Märchen vom Land der Bäume erzählt?«, fragte er mich, und seine dunklen Augen, die er zuvor fest auf jenen trügerischen Rand zwischen Erde und Himmel gerichtet hatte, kehrten zurück und sahen mich an, und ein wehmütiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Ich schüttelte nur den Kopf. Laternen erleuchteten die Hecks der Hausboote auf dem See, sie spiegelten sich im Wasser und schienen auf eine andere Welt unter jenem Gewässer hinzudeuten, ein Abbild derjenigen, in der wir jetzt lebten. Ich stellte mir die schlafenden Menschen auf diesen Booten vor, die an diesen Ufern lebten, an denen ich selbst noch nie gewesen war. So viele Orte gab es, die ich noch nicht besucht hatte, die ich nur aus Geschichten kannte.

Und dann, im zart gedämmten Lampenlicht, über das immerwährende Zirpen der Zikaden hinweg, die einander in der Nacht riefen, erzählte mein Vater mir das Märchen. Damals begriff ich noch nicht, wie es manchen Geschichten gelingt, uns für immer zu begleiten, auch wenn die Gestalten darin schon lange nicht mehr existieren. In jener Nacht hielt ich mich einfach an seinen düsteren und nachdenklichen Worten fest. Ich lauschte seiner Stimme, die beruhigend war, sanft, bedächtig und weise. So prägte sie sich in meiner Erinnerung ein, und wie selbstverständlich ging ich davon aus, dass sie immer da sein würde. Heute weiß ich, dass alles – mein Vater, dieser Augenblick, jede Erfahrung, die uns zu dem macht, was wir sind –, dass alles vergänglich ist, sich in Luft auflöst, ehe wir Gelegenheit haben, es zu begreifen.

Eins

Als ich hereinkam, stand Vater auf dem Balkon seiner Bibliothek. Von der Tür aus konnte ich sehen, wie die versinkende Sonne das Land, das er von seinem Vater geerbt hatte und von dem ich immer gedacht hatte, ich würde es eines Tages von ihm erben, mit seinen Hügeln und Ebenen in goldenen Glanz tauchte und die schneebedeckten Berggipfel in der Ferne wie goldgewirkte Baumwolle glitzern ließ.

Blaue und silberne Türmchen erhoben sich über Ananta, der befestigten Hauptstadt von Shalingar. Über dem Chanakya-See lagen Nebelschleier, zwischen denen winzig klein und friedlich Hausboote zu erkennen waren, die auf ihren Dächern sorgsam angelegte Gärten trugen, wie Hüte aus Moos.

Nur ich war alles andere als friedlich. Während ich den großen, mit unvergleichlichem Filigranwerk ausgestatteten Raum durchquerte, der meines Vaters Zufluchtsort war und dessen goldene und kristallene Gewölbedecke die Regale samt den darin stehenden Wälzern mit honigfarbenem Licht übergoss, zählte ich jeden meiner Atemzüge und versuchte, sie zu kontrollieren, als könnte ich, wenn es mir gelänge, auch über mein Schicksal selbst bestimmen.

Als ich auf den Balkon trat, drang der Lärm von den Festivitäten auf den Straßen zu uns herauf. Fanfaren erschallten, Geschützdonner ließ die Palastmauern erzittern. Und gleich unterhalb dieser Mauern drehten sich in weiße Seide gehüllte Tänzer wie Kreisel in den Gassen, um die Taille grüne und rote Bänder. Kinder warfen Rosenblätter gen Himmel, die bei ihrer Landung die schlammigen Gassen zwischen den Häusern in rosafarbene Flüsse verwandelten. Durch diese Flüsse bahnten sich Elefanten ihren Weg, herausgeputzt mit spiegelbesetzten Decken, Quasten und festlichen Seidenbändern. Auf ihren Rücken trugen sie die höchsten Würdenträger Makedons. Grellbunte Laternen erleuchteten die Straßen und wiesen Kaiser Sikander den Weg in unser Haus.

Vater stand da und betrachtete die Feierlichkeiten. Als ich zu ihm trat, wandte er sich abrupt um, als hätte ich ihn aus einem Traum gerissen – oder war es ein Albtraum? »Shabahaat Shaam«, sagte ich und umarmte ihn liebevoll.

Er stutzte, und da wurde mir klar, dass er mich noch nie so festlich gekleidet und hergerichtet gesehen hatte: meine Wangen rot geschminkt; die Lippen purpurn gezogen; die Wimpern geschwungen und so dick und schwarz wie Spinnenbeine. Mein Körper in einen kostbaren violett-goldenen Sari gewickelt, mein Haar zu einem hohen Turm gesteckt.

Stundenlang hatten Mala, meine Kammerfrau, und eine ganze Schar von Helferinnen mich wie ein Schwarm Bienen umschwirrt und von Kopf bis Fuß zurechtgemacht. Ein Tanz, der jedes Mal aufgeführt wurde, wenn das Reich wichtigen Besuch erwartete, doch heute hatte der Bienenschwarm einen derartigen Eifer an den Tag gelegt, als hätte ein unsichtbarer Taktgeber ihnen ein noch höheres Tempo vorgegeben.

»Nun halt doch mal still, Mädchen. Wenn ein mächtiger König zu Besuch kommt, muss eine Prinzessin nun mal herausgeputzt sein«, hatte Mala gesagt, während sie mein verfilztes Haar auskämmte und mit ihren geschickten Fingern die Knoten löste.

Ein mächtiger König.

Ein mächtiger König, der das Schicksal unseres Reiches in den Händen hielt, und mein eigenes Schicksal auch.

Rasch hatte Vater sich wieder gefasst.

»Shabahaat Shaam«, erwiderte er und lächelte mich an, dann wandte er den Blick wieder den überfüllten Straßen zu. »Manchmal vergesse ich, wie schön anzusehen mein Reich um diese Tageszeit ist. Nicht die Tänzer oder der Trubel da unten … sondern das Licht …« Er schaute kurz zum Himmel hinauf, wobei er den Kopf schüttelte, als könnte er es gar nicht glauben. »Als wollten Sonne und Mond sich unserem kleinen Königreich von ihrer allerbesten Seite zeigen.«

»Aber Vater, das sind doch nur Himmelskörper«, warf ich ein. »Shree hat es mir im Astronomieunterricht erklärt: Sonne und Mond sind Himmelskörper. Und weil Shalingar sich so zum Ozean hin neigt …«, mit den Händen deutete ich die Krümmung der Erde an, »wird ihr Licht vom Wasser reflektiert.«

Mein Vater sah mich an und lachte. »Es könnte aber auch Zauberei sein«, neckte er mich, und seine Augen funkelten.

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Ausgeschlossen.«

»Vielleicht hast du recht«, antwortete er leise, und einen Augenblick lang bereute ich meine Worte, weil sein Gesicht schon wieder ernst geworden war. »Eines Tages, wenn du die Welt bereist hast, wirst du begreifen, wie besonders Shalingar ist.«

»Aber das weiß ich doch schon, Vater«, erwiderte ich und seufzte. »Ach, wenn ich doch bloß für immer hierbleiben könnte …« Ich brachte den Satz nicht zu Ende.

»Hast du selbst mir nicht immer in den Ohren gelegen, du möchtest die Welt bereisen?«, fragte er wehmütig. »Bald wirst du die Gelegenheit dazu haben.« Doch seine Stimme verriet, wie wenig überzeugt er von dem war, was er sagte. Was uns in den nächsten Tagen bevorstand, war nicht die Art von »die Welt bereisen«, die wir im Sinn hatten, das wussten wir beide.

»Du und Sikander, ihr wart doch mal Freunde, nicht wahr?«, wechselte ich schnell das Thema.

Wenn er einmal Vaters Freund war, dann kann er doch nicht so schlimm sein, oder?, versuchte ich mich zum x-ten Mal zu beruhigen. Die gleiche Frage hatte ich in den vergangenen Wochen so oder ähnlich allen im Palast gestellt.

»Das sind doch nur Legenden, die man über ihn hört, nicht wahr?«, hatte ich zum Beispiel Arjun, meinen besten Freund, noch gestern Abend gefragt, als wir durch die Palastgärten spaziert waren.

»Natürlich sind das nur Legenden.«

»Und dass er die Berater seines Vaters hat steinigen lassen?«

»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen!«, hatte Arjun ebenso heftig wie bestimmt widersprochen. Den Rest des Spaziergangs aber war er so einsilbig geblieben, dass meine aufkeimende Zuversicht gleich wieder erloschen war …

Nun wandte sich mein Vater mir zu und das Licht des Sonnenuntergangs erfasste seine Augen und verwandelte sie in pures Gold. Wir sahen uns ähnlich, mein Vater und ich, zumindest sagten das die Leute. Ich hatte seine Hände mit den schlanken Fingern geerbt, sein breites, ungezwungenes Lächeln und sein dunkles, gewelltes Haar.

»Freunde … So könnte man es nennen, ja. Aber das ist lange her. Das letzte Mal habe ich Sikander gesehen, da warst du noch ein Säugling. Jetzt werden die Karten neu gemischt.« Die Unruhe in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich vermutete, dass er nicht gern darüber redete. Was die Vergangenheit betraf, so war er nie sehr gesprächig gewesen.

Trotzdem wusste ich über Sikander und über Makedon mehr, als meine Lehrerin Shree mir im Unterricht über die Seidenstraße und Sikanders Eroberungszüge erzählt hatte. Ich wusste auch, dass mein Vater und Sikander sich als junge Soldaten an der Militärakademie von Makedon kennengelernt hatten. Damals waren sie sehr wohl Freunde gewesen, zumindest hatte Arjuns Vater Bandaka mir das erzählt, und der war Vaters engster Vertrauter.

Das alles war, bevor Sikander seinen eigenen Vater ermordet und sich selbst zum Herrscher ausgerufen hatte und mit seinem Heer durch Anatolien, Syrien, Phönizien und Judäa bis nach Baktrien gezogen war. Nachdem er auch Persien unterworfen hatte, gab man ihm den Beinamen »der Große«, und er befehligte das größte und schlagkräftigste Heer aller Zeiten. In kaum fünfzehn Jahren hatte er dank seiner Armee das Territorium seines Staates fast vervierfacht. Aber wer ist er wirklich? Wer war er damals, als Vater und er Freunde waren?

Ich versuchte es auf einem anderen Weg. »Wie hat es dir in Makedon gefallen?«, fragte ich.

»Auf eine Art ist es … sehr fortschrittlich. Die Gebäude sind so hoch, dass man kaum die Sonne sieht. Es gibt riesige Arenen, deren Bau Jahrzehnte gedauert hat und in denen Sklaven einander bis auf den Tod bekämpfen, während die Zuschauer sie johlend anfeuern. Praktisch jeder besitzt Sklaven.« Er schüttelte den Kopf. »Die Makedonen glauben nicht an die Gleichwertigkeit von Männern und Frauen. Den Herrscher zu kritisieren, gilt als schlimmstes Verbrechen. Und sie lieben den Krieg, sehr sogar.«

Ich fragte nicht weiter, denn mir war bewusst, dass es im Grunde einerlei war, wie es in Makedon aussah – ich würde es sowieso nur von meinem Fenster aus in Sikanders Harem sehen, in dem ich zusammen mit all seinen anderen Frauen leben würde. Nie würde ich die großen Städte der Welt besuchen oder über unser kleines Reich herrschen wie mein Vater, eine Gefangene in Sikanders juwelengeschmücktem Zenana voller Püppchen würde ich sein, nichts weiter.

Der Gedanke daran, das wusste ich, machte Vater krank – genauso wie mich. Ich wollte mich nicht damit abfinden, dass mein Schicksal besiegelt war, doch wir beide wussten, dass er kaum eine andere Wahl hatte. Wenn er Sikanders Antrag, mich zu heiraten, zustimmte, bliebe Shalingar unangetastet und gewönne einen mächtigen Verbündeten. Weigerte er sich aber, würde er Sikander unweigerlich vor den Kopf stoßen und seine Rache heraufbeschwören, wie andernorts schon geschehen.

Tatsächlich wurde erwartet, dass wir uns glücklich und tief geehrt schätzten, dass Sikander diplomatische Beziehungen zu unserem kleinen Königreich aufnehmen wollte. Das war Sikanders neue Strategie, nachdem er bald die halbe Welt erobert hatte. In Wirklichkeit war es das Einzige, was den kleinen Königreichen blieb, die er noch nicht unterworfen hatte: Willige in alle Bedingungen Sikanders ein, was Handelsbeziehungen, die Errichtung neuer Handelswege von Ost nach West sowie das Schicksal deiner Söhne und Töchter betrifft, und er wird dir ein mächtiger Freund sein.

Verärgere ihn, widersprich ihm, hinterfrage seine Absichten, und du musst mit dem Schlimmsten rechnen.

Nicht nur um meine Zukunft sorgte Vater sich, sondern auch um die Zukunft unseres Reiches. Sollte ich Sikander zum Gemahl nehmen und er unser Verbündeter werden, würden wir dann auch die makedonischen Sitten übernehmen müssen?

Es war auch ausgemacht, dass Arjun in wenigen Wochen nach Makedon aufbrechen sollte, um an der dortigen Militärakademie zu studieren – der besten der Welt. Lange Zeit hatte ich fest daran geglaubt, mit ihm gehen zu können, und ich erinnerte mich noch genau an den Tag, als ich erfuhr, dass dort keine Mädchen zugelassen wurden. Es bestürzte mich zutiefst, dass das Leben einer Frau in Makedon so beschränkt sein sollte. Im Obersten Rat von Makedon saß nicht eine einzige Frau, und sämtliche Gesandten und Gelehrten, die Makedon nach Shalingar geschickt hatte, waren Männer. Frauen in Makedon durften kein eigenes Geschäft betreiben und schon gar nicht arbeiten. Nicht einmal zur Schule oder unbegleitet auf die Straße gehen durften sie.

»Warum bist du nie nach Makedon zurückgekehrt?«, lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung. Eine naheliegende Frage, denn mein Vater hatte Gesandtschaften in die ganze Welt angeführt, um Bündnisse zu schließen. Nur an den Ort, an dem ich geboren wurde, war er nie zurückgekehrt.

Vater blickte weiterhin auf den Horizont. Die Parade zu Ehren von Sikanders Besuch näherte sich ihrem Ende, die Menschenflut war gewichen, und die meisten von Sikanders Gefolgsleuten waren bereits innerhalb der Palastmauern, wo sie darauf warteten, von uns empfangen zu werden.

Erwartungsvoll sah ich meinen Vater an, und mir war klar, dass sich hinter meinen Fragen nach seiner Zeit in Makedon noch etwas anderes verbarg. Eine Frage in der Frage, ähnlich den Puppen, mit denen ich als Kind gespielt hatte, wo jede die nächstkleinere in sich trug. Eigentlich war ich auf der Jagd nach Hinweisen, so unbedeutend sie auch sein mochten, über meine Mutter, die er damals in Makedon kennengelernt hatte.

Ob Sikander meine Mutter auch gekannt hat?

»Dazu gab es keinen Anlass«, sagte er und betrachtete nun wieder das Treiben auf den Straßen. Ich folgte seinem Blick und bemerkte, dass die weiß gekalkten Häuser im Licht der Abendsonne wie errötet waren. Diese Verwandlung, dieses Imperium in Rosa hatte mein Vater vorhin mit seiner Bemerkung über das Licht gemeint.

Manchmal machte ich mir bewusst, wie vieler Zutaten es bedurfte, um diese Dinge zu erschaffen, die doch so einfach schienen – ein rosafarbener Himmel, ein außergewöhnlicher Tag, Familienglück, eine tiefe Freundschaft, ein Moment reiner Freude.

Und wie wenig es bedurfte, dieselben Dinge zu zerstören. Es erschien mir so viel einfacher.

»Ich wünschte, deine Mutter wäre hier, um dir alles zu erklären«, unterbrach mich Vater unvermittelt in meinen Gedanken.

Ich sah ihn verblüfft an. Noch nie hatte er meine Mutter erwähnt, und wie sehr ich es mir auch immer gewünscht hatte, so sehr war ich doch erstaunt, nun diese Worte aus seinem Mund zu hören.

Sie war das Geheimnis, das es unbedingt für mich zu lüften galt. Sie erschien mir in meinen Träumen, mit den gleichen grünen Augen wie ich, und sagte mir, wie sehr sie mich liebte, wie sehr sie mich vermisste. Wie sehr sie sich danach verzehrte, bei mir zu sein, wo immer sie auch war … falls sie überhaupt noch lebte.

»Was denn?«, fragte ich vorsichtig.

»Das, was dir nun bevorsteht, Amrita.« Papa schüttelte den Kopf. »Am liebsten würde ich zurück in die Zeit reisen und die Dinge ungeschehen machen.« Er zögerte. »Und ich wünschte, deine Mutter wäre hier und könnte dir alles über die Ehe erzählen. Ich bereue es so sehr, und nun kommt alles zurück und verfolgt mich, die Vergangenheit, und ich …«

»Hoheit?« Von der Tür erklang Arjuns Stimme. Wir fuhren herum und im ersten Moment hätte ich ihn fast nicht wiedererkannt.

Arjun, der sonst immer nur einen Kurta Pajama und Hosen trug, war in einen wunderschönen blau-goldenen Khalat gekleidet. Sein sonst ewig ungebändigtes Haar, durch das er sich ständig mit den Fingern fuhr, war ordentlich gekämmt. Er wirkte irgendwie größer, mehr ein Mann als der Junge, mit dem ich im Mangohain vor der Unterkunft seiner Familie Fangen spielte.

»Es ist Zeit«, verkündete er, ein schmales Lächeln auf den Lippen.

Einen Moment lang suchten seine Augen die meinen, sahen dann schnell weg.

»Geh schon vor, Amrita. Arjun wird dich begleiten«, sagte Vater und küsste mich auf die Stirn.

Um ihn aufzumuntern, drückte ich seinen Arm. Mir schwirrte noch im Kopf herum, was er über meine Mutter gesagt hatte, über seine Reue. Wie gern hätte ich mehr erfahren, doch der Augenblick war vorüber.

»Geh jetzt«, sagte er noch einmal, sanfter diesmal. »Du wirst unten erwartet. Ich komme gleich nach.«

Ich gehorchte, und während ich die Bibliothek durchquerte, fielen mir Arjuns breite Schultern auf, der Schatten auf seinem rasierten Kinn. Plötzlich huschten seine dunklen Augen zu dem Regal zu meiner Rechten, und ich folgte seinem Blick: Zwischen den Bänden funkelte etwas. Möglichst unauffällig fuhr ich mit der Hand über das dunkle Holz, bis ich auf etwas Kleines, Kühles stieß, das zwischen zwei Folianten steckte. Noch ehe ich es sah, wusste ich, was es war.

Ein Ring.

Mir stockte der Atem. Rasch schaute ich zurück zu meinem Vater, um sicherzugehen, dass er nichts bemerkt hatte, und schloss die Hand um den kleinen Schatz. Statt eines Schmucksteins wölbte sich das Gold zu den Blättern einer Jasminblüte auf. Ich streifte den Ring über meinen Finger. Er saß perfekt.

»Danke«, flüsterte ich und erwiderte Arjuns Lächeln.

»Ein Glücksbringer für dich.« Arjuns Augen leuchteten.

Heimliche Geschenke – das war unsere Sprache seit jeher.

Schon als wir klein waren, hatten wir damit angefangen. Arjun durfte den Palast verlassen, wann immer er wollte, worum ich ihn stets beneidet hatte. Zwar durfte ich auch hinaus, doch wenn ich die Welt jenseits der Palastmauern betreten wollte, wurde jedes Mal ein solcher Aufstand gemacht, dass ich die Lust verlor und am liebsten ganz darauf verzichtet hätte. So musste ich zum Beispiel auf Vaters Anordnung hin mein Gesicht mit einem Schleier verbergen.

»Deine Identität muss geheim bleiben«, beharrte er. »Wenn die Leute dich erkennen, verhalten sie sich dir gegenüber nicht mehr normal. Oder«, pflegte er mit strenger Stimme hinzuzufügen, »du könntest zur Zielscheibe werden.«

Und dann musste ich mich auch noch von einem Mann der Palasteskorte begleiten lassen, was das Vergnügen endgültig zunichtemachte. Arjun hingegen hatte die halbe Welt bereist, zunächst mit seinen Eltern, in letzter Zeit allein. Bei seiner Rückkehr belagerte ich ihn und verlangte einen Bericht über die Dinge, die er gesehen hatte. Meist blieb er vage.

»Ich war in einem Tempel.«

»In welchem Tempel?«

»Er steht auf einem Berg und ist ganz aus dem roten Fels gehauen.«

»Und wer geht da so hin, zu diesem Tempel?«

Er zuckte die Schultern. »Leute.«

»Was für Leute? Wo leben sie? Zu wem beten sie in diesem Tempel?«, fragte ich zunehmend ungeduldig.

Je mehr ich nachbohrte, desto unwilliger wurde Arjun. Manchmal setzte er sich auch hin und sagte gar nichts mehr, fuhr sich nur nervös mit den Fingern durchs Haar, aus einer Ahnung heraus, dass seine Antworten meine Neugier sowieso niemals befriedigen würden. »Das ist doch alles nicht so wichtig, Amrita. Ich kann die Dinge nicht so gut beschreiben wie du. Du bist doch die Geschichtenerzählerin von uns beiden.«

»Aber du bist der, der auf Reisen geht.«

»Na und?«

»Na, da könntest du mir wenigstens etwas mitbringen.«

Und das tat er auch, immer. Vom Meer eine Muschel, aus der Wüste ein versteinertes Seepferdchen, aus dem Tempel ein Gewinde aus Jasmin, von einem Markt ein Seidentuch. Ich besaß eine ganze Sammlung von Dingen, die Arjun mir von der Welt da draußen mitgebracht hatte und überall im Palast versteckte, damit ich sie fand. Manchmal legte er eine Spur: eine Notiz in einem Buch, Pfeile aus Kieseln in dem Mangohain vor seinen Gemächern, manchmal auch nur eine heimliche Geste oder ein Blick.

Mit der Zeit hatte ich mich damit abgefunden, dass er sich besser mit Geschenken ausdrücken konnte als mit Worten.

Ich drehte den Ring in meiner Hand, während wir, an allerlei Topfpalmen vorbei, die breiten, von Säulen getragenen Flure des Westflügels entlanggingen, wo die Privatgemächer untergebracht waren. Unsere Schuhe klackerten über den schwarz-weißen Steinboden.

»Ich habe ihn extra für dich anfertigen lassen«, flüsterte er. »Von einem Handwerker in Ananta. Ich weiß ja, dass Jasmin deine Lieblingsblume ist. Du kannst den Duft ja nicht mitnehmen, wenn du nach …« Er verstummte, als wollte er es nicht aussprechen, als wollte er es nicht wahrhaben. »Und da sollst du dich daran erinnern …«

Mehr sagte er nicht. Mit einem Blick erwiderte er den Salut der Wachen, während er mich kein einziges Mal ansah. Ich hingegen konnte nicht anders und betrachtete immer wieder das Profil, das mir so vertraut war wie wenig sonst auf dieser Welt. Die majestätische Nase, das kantige Kinn, die sonst so vollen Lippen, die sich nun zu einer schmalen Linie zusammengezogen hatten, um seine Gefühle nicht zu verraten.

»Ein Glücksbringer«, wiederholte ich seine Worte.

»Schade, dass du nicht an so was glaubst«, erwiderte er, und ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Vielleicht sollte ich jetzt damit anfangen. Gebrauchen könnte ich’s«, sagte ich.

»Es wird dir gut ergehen. Du kannst doch gut mit Leuten umgehen. Und er wird … dich lieben.«

»Vielleicht wäre es besser, wenn nicht«, murmelte ich, als wir auf die große Treppe zugingen. Ich versuchte, zu lächeln und mir Mut zu machen.

»So leid es mir tut, aber das ist ausgeschlossen«, antwortete Arjun. »Dir muss man einfach verfallen.« Immer noch schaute er starr nach vorn, doch seine Worte ließen einen Schwarm Schmetterlinge in meinem Bauch aufflattern.

Ich wollte, dass die Zeit stehen blieb. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre davongelaufen, bloß wohin? Von unten schallten bereits die Bläser herauf, die unsere Hymne spielten.

In der stillen Enge meiner Brust beklagte ich mich, dass ich so ohnmächtig gegenüber meinem eigenen Schicksal war, etwas in mir schrie und hämmerte mit den Fäusten gegen die Mauern meiner Existenz, suchte einen Ausweg, eine andere Lösung.

Doch äußerlich ließ ich mir nichts anmerken. Ich tat, was man von mir erwartete, wenn fremde Würdenträger zu empfangen waren: Ich setzte eine kühle, beherrschte Maske auf. Schritt erhobenen Hauptes an Arjuns Seite die große Treppe hinunter und stützte mich dabei elegant am Mahagonigeländer ab, bis wir den Thronsaal erreichten, eine große Halle mit gläserner Überdachung und Malereien, die Motive aus Shalingars Geschichte darstellten. »Bist du sicher, dass du ihn tragen willst?«, fragte Arjun mit Blick auf meinen Finger leise.

Ich nickte. Aus Trotz würde ich Arjuns Ring tragen, aber auch, weil es meinen wahren Gefühlen entsprach.

Ich wusste, warum mein Herz derart raste. Es lag nicht an meiner Angst vor Sikander.

Ich wollte selbst über meine Zukunft bestimmen.

Ich wollte nicht Sikanders Braut werden.

Natürlich konnte ich nicht laut sagen, was ich wollte, es war zu gewagt, zu gefährlich, zu unmöglich.

Und doch wusste ich, dass ich mir aus tiefstem Herzen nur eines wünschte: Ich wollte in Shalingar bleiben. Um ich selbst zu sein, um meinem Volk zu dienen. Und um mit denen zusammen zu sein, die ich liebte – Vater, Mala, Bandaka und Shree. Und um mit Arjun zusammen zu sein, wurde mir in diesem Moment klar. Ganz besonders mit Arjun.

Zwei

Mit wild trommelndem Herzen stieg ich hinab in ein Meer aus roten Umhängen, die in Reih und Glied dastanden und ungerührt lauschten, während die Musiker die Hymne von Shalingar spielten.

»Welcher von ihnen ist es?«, wisperte ich Arjun zu und versuchte, meinen zukünftigen Gemahl unter den vielen Männern auszumachen, denen ich huldvoll zulächelte.

Sie lächelten nicht zurück, blickten nur finster drein und verzogen keine Miene. Ihre großen, kantigen Körper bildeten eine Mauer der Gleichförmigkeit. Selbst das Haar trugen alle gleich.

»Ich kann ihn nicht entdecken«, sagte Arjun. »Allerdings kenne ich sein Gesicht auch nur von Münzen.«

Arjuns Mutter Shree hatte uns die Münzen gezeigt, und ich hatte sie Stunde um Stunde betrachtet, um mir ein Bild von ihm zu machen. Als wollte ich mein Schicksal aus Teeblättern lesen.

Auch Karten seines Reiches hatte Shree uns gezeigt, sie hatte uns von der Seidenstraße erzählt und makedonische Grußformeln gelehrt, die wir nun, als die Musik verklang, anbrachten.

»Kali spera«, nickte ich einem großen, breitschultrigen Mann mit silbernem Haar zu und verbeugte mich. Er nickte zurück und musterte mich feindselig. Rasch sah ich weg.

»Kalo sirthes«, sagte Arjun und schüttelte einem anderen die Hand, die mindestens dreimal so groß war wie meine.

Als die Musiker anhoben, die makedonische Hymne zu spielen, erkannte ich, dass es ein Signal war. Unsere Wachen nahmen Haltung an und salutierten, während ein Mann an der Schwelle zur Halle erschien und mit schweren Schritten über das Parkett schritt. Auch er trug eine rote Jacke, doch seine war mit goldenen Orden an der Brust verziert.

Das Haupt hocherhoben, die Hand auf der Brust, sah er über mich und Arjun hinweg, während er der Hymne seines Landes lauschte, deren blecherne Choräle nicht enden wollten. Klingt eher wie Kriegsgeheul, dachte ich bei mir, während ich ihn beobachtete.

Dem Mann auf den Münzen sah er in keiner Weise ähnlich. Sosehr ich mir auch Mühe gab, ich konnte nichts Außergewöhnliches an seiner äußeren Erscheinung entdecken. Er war eher schmächtig und längst nicht so breit und groß wie seine Gefolgsleute, und er trug seinen Körper so, als wäre ihm durchaus bewusst (und er haderte sichtlich damit), dass das Schicksal ihm irgendwie den falschen zugeteilt hatte.

Sein Gesicht war von tiefen Linien durchzogen, sein Haar fast völlig grau. Er wirkte viel, viel älter als mein Vater, dabei waren sie ungefähr im gleichen Alter! Sein Gesicht war wettergegerbt, streng, humorlos. Die vielen Siege sah man ihm nicht an. Dafür sah man ihm an, was ein Leben voller militärischer Siege aus einem Menschen machen kann.

Plötzlich verstummte die Musik. Einen Augenblick lang herrschte Stille.

Es war Sikander, der sie brach.

»Chandradev«, sprach er Vater an. Es klang spöttisch, vielleicht lag es aber auch nur an seinem makedonischen Akzent.

Ich sah zu meinem Vater hin, der eben die Treppe herunterkam. Sein Aufzug bildete den schieren Kontrast zu Sikanders Uniform. Vater trug einen schlichten Rock aus Rohseide und als einzigen Schmuck den Ehering, den er niemals ablegte.

»Sikander«, erwiderte er lächelnd die Begrüßung, während er an mir und Arjun vorbeiging und nun dem Mann gegenüberstand, der, wie man sich zuraunte, zu jeder erdenklichen Grausamkeit fähig war. Meine Schultern verkrampften, als Sikanders Gesicht sich unerwartet zu einem Lächeln verzog. Seine Schneidezähne waren abgebrochen und mit Goldkappen überzogen. Als Vater Sikanders Zähne bemerkte, schien er von dem Anblick überrascht. Doch gleich hatte er sich wieder im Griff, während Sikander sich anschickte, ihn zu umarmen.

Als sie sich voneinander lösten, sagte Sikander leise: »Lang ist’s her.«

Er stand nur einen halben Schritt von meinem Vater entfernt. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie viele Menschen er im Lauf seines Lebens getötet haben musste, wie viele Soldaten in den Schlachten gefallen waren, in die er sie geführt hatte.

»Viel zu lang. Es ist mir eine große Ehre, dich in meinem Haus willkommen zu heißen, Sikander«, sagte Vater. Er zögerte, dann fuhr er fort: »Darf ich dir meine Tochter vorstellen, Prinzessin Amrita.«

»Deine Tochter …« Mein Anblick schien ihn für einen Augenblick aus der Fassung zu bringen. Schnell hatte er sich wieder beherrscht und sagte: »Ach ja, als ich sie das letzte Mal sah, war sie noch ein Säugling.«

»Willkommen, Majestät.« Ich verbeugte mich vor ihm und er lachte. Es war kein richtiges Lachen, mehr ein abgehacktes Stakkato. »Warum so förmlich? Das ist doch nicht nötig«, sagte er und berührte meine nackten Schultern mit seinen Händen, die eiskalt waren. Als ich zuckte, zog er sie hastig zurück, legte den Kopf schief und musterte mich.

»Ganz die Mama«, sagte er schließlich. Vater öffnete schon den Mund, um etwas zu erwidern, doch ich kam ihm zuvor.

»Ihr habt meine Mutter gekannt?«

»Allerdings, junge Dame. Auch wenn es schon sehr lange her ist. Meine Güte, die hatte vielleicht Feuer«, sagte er, und seine Augen funkelten.

Ich sah zu Vater, damit er etwas entgegnete, irgendwas. Doch sein Blick war unergründlich, seine Augen mieden mich. Vielleicht hatte meine Frage ihn gezwungen, seine Worte zu überdenken, vielleicht hatte er auch nur nicht damit gerechnet, dass das Gespräch auf meine Mutter käme.

Hätte er nicht damit rechnen müssen?, fragte ich mich.

Ich wollte, dass er das Gespräch wieder übernahm. Dass er etwas darauf erwiderte, das meine Neugier befriedigte und die Machtwaage, die sich in dem Augenblick, als er meine Mutter erwähnte, zu Sikanders Seite gesenkt hatte, wieder in die Balance brachte.

Doch es kam nichts. Vielleicht konnte er es nicht.

Stattdessen fragte Sikander mich mit einem Seitenblick auf Vater: »Dein Vater hat dir doch gewiss von ihr erzählt?«

Drei

Meine Augen suchten die Große Halle ab. Ringsum standen große, blau lackierte Töpfe, in denen Orangenbäume wuchsen. An ihren Zweigen hingen hell leuchtende goldene Laternen, die den prächtigen Raum in warmes Licht tauchten.

Auf einem mit Rosen- und Ringelblumenblättern bestreuten Tisch standen kupferne Platten voller Feigen und Granatäpfel.

Dies war stets ein Ort der Schönheit. Shabahaat. Eins meiner shalingarischen Lieblingswörter. Schönheit, Anmut. Unsere Sprache kannte beinahe fünfzig Bezeichnungen für die verschiedenen Aspekte von Schönheit, doch in shabahaat schwang noch etwas anderes mit, es spielte auf die Gefühle an, die Schönheit auszulösen vermochte: sich vollständig, ganz, verwandelt fühlen. Und ich strebte verzweifelt danach, wieder ganz zu sein, die Zerrissenheit zu überwinden, die ich gerade empfand.

Eine unangenehme, niederdrückende Spannung lag über uns, als wären wir an einem brütend heißen Tag in eine Hütte aus Zunder eingesperrt.

»Möchtest du nicht auch Teil der zivilisierten Welt sein, Chandradev? Gewiss, es hat seinen besonderen Charme, dein … Reich hier. Wirklich entzückend. Aber ich habe schon eine Idee, wie wir ihm mit Paradestraßen und erhabenen Arenen wie in meiner Heimat ein bisschen Glanz verleihen können. Betrachte es als Geschenk. Ein Geschenk, das seinen Preis hat, natürlich.«

»Dinge, für die man bezahlen muss, sind kein Geschenk«, wandte Vater ein. Sein Finger verharrte auf dem scharfen goldenen Rand seiner Thali-Platte, auf der sich üppig die Speisen türmten.

Welch eine Auswahl: scharfes Garnelencurry mit Cashewnüssen und Granatapfelkernen, schwarze Linsen in Sahne mit wilden Gemüsen, gebratene Brinjal mit Ingwer und Tomaten, schaumiges Raita mit frischen, grünen Koriander- und Gurkensprengseln, Tomaten-Rosinen-Chutney, winzige Zitronenbällchen in Zuckersirup, Gläser mit rubinrotem Wein.

Doch Vater hatte kaum etwas angerührt, ebenso wenig wie ich. Ich musste die ganze Zeit daran denken, was Sikander über meine Mutter gesagt hatte, und es bestand kein Zweifel, dass es auch meinen Vater aus dem Konzept gebracht hatte. Er war nicht er selbst, wirkte so abwesend und nervös, wie ich ihn noch nie erlebt hatte.

Gesprächsfetzen drangen an meine Ohren, doch ich konnte mich kaum auf die Unterhaltung konzentrieren. Warum hatte Vater meine Mutter in all den Jahren nie erwähnt? Warum hatte er mich immer unterbrochen, das Thema gewechselt, wenn ich versuchte, mich nach ihr zu erkundigen? Was verschwieg er mir? Und welchen Zweck verfolgte er damit?

Über den Tisch hinweg sah ich zu Arjun, der mir ein Lächeln zuwarf und dann vielsagend auf meinen Ring schaute. Allein sein Anblick genügte und mein Herz quoll über. Ich ertappte mich dabei, dass ich versonnen beobachtete, wie das Laternenlicht seine Konturen in Gold tauchte, und musste den Blick regelrecht losreißen.

»Lass mich gleich auf den Punkt kommen, Chandradev«, sagte Sikander. »Fünfzehn Jahre habe ich gebraucht, um den Handel zwischen dem Osten und dem Westen aufzubauen.«

»Das war sehr vorteilhaft … für Makedon.«

»Nicht nur für Makedon, Chandradev. Die Seidenstraße bringt allen Vorteile.«

Die Seidenstraße: Als ich als Kind zum ersten Mal davon hörte, malte ich mir einen Pfad aus zahllosen Ellen goldener Seide aus. Ich stellte mir Händler, Mönche, Nomaden vor, die sie bereisten, barfuß, um den makellosen Stoff unter ihren Füßen nicht zu beschädigen. Erst Jahre später begriff ich, dass die Seidenstraße meiner Fantasie nichts mit der echten gemein hatte, obwohl ich sie nie mit eigenen Augen gesehen hatte.

»Und ich weiß auch ganz genau, womit du in dieser Allianz … hm … aufwarten kannst.«

»Dann kläre mich bitte auf, Sikander«, sagte Vater, dem nichts Gutes schwante.

»Chamak.«

Auf einen Schlag herrschte Stille im Saal. Bandaka legte seinen Löffel hin, Shree sah von ihrem Teller auf, Arjun und ich schauten uns erschrocken an. Einen Augenblick lang war nur das verschreckte Zirpen der Zikaden zu hören, die aus ihren Puppen gekrochen kamen und zum ersten Mal die Welt erblickten.

Vater lehnte sich auf seinem Sessel zurück. Er wirkte sehr abgespannt. »Das ist eine komplizierte Bitte, Sikander.«

»Das ist keine Bitte, Chandradev«, entgegnete Sikander scharf, worauf erneut Stille eintrat. Diesmal zerriss Sikander selbst sie mit seinem abgehackten Lachen, das mich zusammenschrecken ließ. »Darum bin ich hier. Um einen alten Freund wiederzusehen und unsere Handelsbeziehung zu besprechen. Und, natürlich, um deine wunderschöne Tochter kennenzulernen«, fügte er hinzu und grinste mich mit seinen goldenen Zähnen an.

Ich sank in meinen Sessel und zwang mir ein schmales Lächeln in seine Richtung ab, doch sein Blick war so unverschämt, dass ich ihm nicht standhielt. Ich stellte mir vor, wie es sein würde, mit ihm verheiratet zu sein. Die Vorstellung, wie er mich mit diesem Mund voller Goldzähne küsste, jagte mir einen Schreck ein – es war zu widerlich.

»Du weißt das vielleicht nicht, Sikander, aber ich habe keinerlei Kontrolle über das Chamak. Das ist kein gewöhnliches Handelsgut. Es ist eine Droge …«

»Eine Droge, die man nirgendwo sonst auf der Welt bekommt – außer hier, in deinem Reich!«

»Eine Droge, die von einem alten Volk gewonnen und gehütet wird, das an einem geheimen Ort lebt und mit der Außenwelt nur zu seinen eigenen Bedingungen kommuniziert, über eigens dafür auserwählte Mittelsmänner …«

»Aber mit dir kommunizieren sie, Chandradev«, entgegnete Sikander ungerührt.

»Über Boten, ja, die sie selbst aussuchen und nur zu diesem Zweck einsetzen. Aber die Sibyllinen kommunizieren nie auf direktem Weg.«

»Dann schaff diese Sibyllinen halt her. Stell uns einander vor. Ich werde mit ihnen reden.«

Bandaka wollte meinem Vater zu Hilfe kommen. »Darauf werden sie sich nie einlassen, sie verlassen ihre Höhlen nie«, sagte er und schüttelte zur Untermalung seiner Worte heftig den Kopf. »Und, bei allem Respekt, Majestät, nur an das Wohl unserer Wirtschaft zu denken und mit Chamak beladene Karawanen in andere Länder zu schicken, ist zu kurz gedacht. Es ist unverantwortlich. Man muss auch die Folgen bedenken.«

»Welche Folgen? Ihr verkauft es doch bereits an eure Nachbarreiche«, entgegnete Sikander.

Nun ergriff auch Shree das Wort. »Wir verkaufen es an unsere Nachbarn, ja. Aber nur kleine Mengen – das ist der Schlüssel«, sagte sie energisch. »Wir müssen diesen Handel strikt begrenzen. Chamak kann gute oder böse Auswirkungen haben. Letzten Endes sind es die Sibyllinen, die darüber wachen – sie haben seit Jahrtausenden seine Wirkung studiert, und wir dürfen seine Macht nicht außer Acht lassen. Sollte es je in die falschen Hände geraten …« Sie hielt inne und schlug die Augen nieder.

»Was hindert mich eigentlich daran, mit meinen Männern in die Berge zu reiten und mir das Zeug einfach zu nehmen, mit oder ohne Hilfe der Sibyllinen?«, fragte Sikander aufgebracht.

»So einfach ist es eben nicht«, erwiderte Bandaka. »Chamak gehorcht nur den Sibyllinen – es ist eine lebendige Substanz. Will ein anderer es gewinnen, verliert es seine Kraft.«

Sikander klatschte seine flache Hand auf den Tisch. »Dann werden wir die Sibyllinen zwingen, es für uns zu gewinnen.«

»Sie würden eher ihr Leben geben, denn uns als Sklaven dienen«, entgegnete mein Vater. »Sie leben in einem Labyrinth von Höhlen, das niemand je betreten und lebendig wieder verlassen hat. Außerdem haben sie Vorstellungen vom rechten Leben. Begreife doch, Sikander – die Sibyllinen kommunizieren nur mit denen, mit denen sie kommunizieren wollen …«

»Nichts ist unmöglich, wenn man es nur will«, kanzelte Sikander ihn ab. »Ein paar von ihnen müssen sich doch umstimmen lassen.«

»Sikander – seit Jahrhunderten hat niemand mehr Sibyllinen gesehen!«

Sikander seufzte und schaute verdrossen drein. Er warf meinem Vater einen Blick zu, als diskutierte er mit einem aufsässigen Kind, das nicht wusste, was das Beste für es war. »Chandradev, du kennst mich doch von früher. Hättest du jemals gedacht, ich würde einmal das größte Reich aller Zeiten erschaffen? Hättest du gedacht, dass aus mir mal Sikander der Große werden würde?«

Vater schwieg.

»Damals habe ich viel von dir gelernt, Chandradev. Vielleicht ist es jetzt an dir, etwas von mir zu lernen. Du bist der Maharadscha deines Reiches – und da lässt du dich von einer Bande Chamak-Bauern und Höhlenbewohner herumkommandieren?«

»Chamak ist eine launische Substanz, Sikander«, fuhr Vater auf. »Es hat das Temperament eines Kindes und kann nur von den Sibyllinen verarbeitet werden, andernfalls ist es nur ein Pulver, mehr nicht.«

»Silberfarbener Staub«, ergänzte Shree.

»Ihr werdet Teil unserer Handelsrouten sein, Teil der modernen Welt! Waren werden in euer Reich strömen, Menschen aus aller Herren Länder werden kommen. Warum sträubst du dich so dagegen, Chandradev?«

»In Shalingar muss niemand in Armut leben, ein jeder ist hier versorgt«, entgegnete Vater und fügte etwas hinzu, das er vielleicht besser nicht gesagt hätte: »Anders als in deinem Reich.«

Arjun und ich sahen uns erschrocken an. Augenblicklich war mir klar, dass es nun mein Vater war, der des Schutzes bedurfte. Instinktiv kam ich ihm zu Hilfe.

»Ich würde sehr gern mehr über jene Zeit an der Militärakademie erfahren, Majestät«, warf ich sittsam ein und befriedigte damit zugleich meine brennende Neugier. »Wie wart Ihr damals? Wie war mein Vater? Meine Mutter …«

Im ersten Moment würdigte Sikander mich keines Blickes. Seine Augen fixierten meinen Vater, der am Kopfende des Tisches saß und zornig zurückstarrte. Dann entspannte er sich und kam umstandslos auf das Thema zu sprechen, das – so schien er zu wissen – mir am meisten am Herzen lag.

»Deine Mutter war ein Magnet, ein Stern, die Sonne all unserer Monde. Schön war sie, mutig, brillant, unwiderstehlich. Sie hatte so viele Talente, dass ich mich manchmal fragte, ob sie überhaupt ein Mensch sein konnte.« Einen Augenblick lang wurden Sikanders Gesichtszüge weich, und er fuhr, an meinen Vater gerichtet, fort: »Bruder. Wir haben eine gemeinsame Geschichte. Weißt du noch, wie wir uns damals aus der Akademie gestohlen haben und in der Stadt Flasche um Flasche Wein getrunken haben, nur wir drei?«

Vater reagierte nicht. Er saß nur mit zusammengepressten Lippen da und sagte nichts.

»Damals hat sie uns diese Geschichte erzählt, diese Parabel …«

Die Parabel vom Land der Bäume! Aufgeregt sah ich Sikander an.

»Und erzählen konnte sie, das musste man ihr lassen.« An seinem leichten Lallen erkannte ich, dass er angetrunken war. Es war mir egal.

»Wie war sie?«, flüsterte ich, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Alle am Tisch waren verstummt und hingen an Sikanders Lippen.

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah mich an. Seine Augen glitten über meine Schultern, meine nackten Arme. Es war widerwärtig und Furcht einflößend zugleich.

»Wenn ich’s mir recht überlege, eigentlich ziemlich genau wie du. Geistreich, immer bereit, für andere in die Bresche zu springen. Eine Kämpfernatur war sie, aber das lag bei ihr ja in der Familie …«

»Wie war ihre Familie denn?«

»Dein Papa hat dir wirklich gar nichts erzählt, was?«, grinste er Vater an, dessen Schweigen mich langsam wütend machte. Ich vermied es, ihn anzusehen, obwohl ich ein schlechtes Gewissen hatte.

»Ich weiß nichts über sie«, sagte ich. Und noch während ich es aussprach, wusste ich, dass ich mich für eine Seite entschieden hatte – aber hatte mein Vater nicht mein ganzes Leben lang alles von mir ferngehalten, was meine Mutter betraf? Hatte er etwa nicht einfach nur zugesehen, während Sikander in Shalingar einmarschierte, um mich zur Frau zu nehmen, ob ich wollte oder nicht? Er schuldete mir etwas. Eine Erklärung. Mehr verlangte ich nicht. Das war doch nicht zu viel, wurde mir in diesem Moment klar, und diese Erkenntnis machte mich noch wütender.

»Deine Mutter entstammte der makedonischen Aristokratie. Ihre Familie war politisch sehr freiheitlich eingestellt. Unruhestifter, Intellektuelle, Aufrührer. Leute, die lieber redeten, als zu kämpfen.« Er schüttelte den Kopf und lachte. »Schon die Politik meines Vaters hatten sie vehement abgelehnt und auch noch gemeint, kein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen. Natürlich hat das keiner aus der Sippe überlebt, als ich auf dem Thron saß«

Mir stockte der Atem. »Was soll das heißen?«

»Es hat einen Überfall auf ihren Palast gegeben, kurz bevor dein Vater Makedon verließ und dich mit sich nahm.« Er wandte sich wieder mir zu und presste die Hände zusammen, fast, als wollte er um Verzeihung bitten. »Wie mögen Kritiker nicht besonders. Es musste sein. Ihre Eltern – deine Großeltern – wurden verhaftet, um sie zu verhören. Ihr Bruder auch. Sie alle sind im Kerker gestorben, soweit ich weiß. Bis auf deine Mutter, die fliehen konnte.«

»Sie ist geflohen?!«

»Jedenfalls blieb sie unauffindbar. Meines Wissens läuft sie immer noch frei herum, vermutlich versteckt sie sich irgendwo. Dein Vater hat dir also nie erzählt, dass in deinen Adern Verbrecherblut fließt, hm?« Er lachte und sah wieder zu Vater. »Sie fragt sich bestimmt auch, wie es dir geht.«

»Wollt Ihr damit sagen, sie …« Lebt. Meine Mutter lebt.

Sikander war jetzt wieder ganz in seine Erinnerungen versunken. »Jeder an der Schule war hinter ihr her, doch sie hatte nur Augen für ihn hier.« Er deutete mit seinem Löffel auf Vater. »Damals waren auch Mädels an der Akademie zugelassen, aber diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Lenkt nur ab.«