Für Sophia, die mit mir gemeinsam die Nicos dieser Welt und eine Menge großer und kleiner Dramen überlebt hat.

Danke für alles, Schnickerchen!

Du bleibst die unangefochtene Nummer eins aller Spaßminister!

6. November

LEA

Atemlos löste ich meine Lippen von seinen. Ich spürte, wie sein Herz fest und schnell gegen seine Brust hämmerte. In seinen dunkelbraunen Augen spiegelte sich sein innerer Kampf: Hingabe und Vernunft, die abwechselnd und im Sekundentakt die Oberhand gewannen und wieder verloren. Sanft schob er mich ein paar Zentimeter weg von seinem Körper, dessen Stärke und Größe in diesem Moment genauso unpassend wirkten wie der Raum, in dem wir uns befanden. Weiße Wände, weiße Möbel, grauer Teppichboden und eine einsame billige Stehlampe, die nicht mal an war. Die Neonröhren an der Decke ließen selbst ihn blass aussehen, und ich wollte wirklich nicht wissen, was sie aus meiner viel helleren Haut machten. Ich versuchte, mir einzureden, dass die Stille zwischen uns nicht die Art von Stille war, auf die ein Abschied folgte. Er hielt meine Hand fest in seiner und stand einfach vor mir, ebenso ratlos wie ich.

»Ich muss los.«

Auch wenn ich das selbst wusste, schossen mir Tränen in die Augen, als er es aussprach. Ich nickte, löste mich aus seinem festen Griff und steckte die Hände in die Hosentaschen meiner Jeans. Mein Gesicht auf den Boden geheftet, versuchte ich, die Tränen wegzublinzeln. Aufhalten konnte ich sie nicht mehr.

An der Tür klopfte es leise, dann öffnete sie sich.

»Nico! Raus mit dir, du musst noch in die Maske.« Als Alex uns sah, seufzte er leise. Ich wusste nicht, ob es ein Seufzen der Erleichterung oder des Mitgefühls war. Vielleicht auch irgendetwas dazwischen.

»Ich brauche noch eine Minute, Alex.«

Kurz sah Alex so aus, als wolle er widersprechen, aber dann nickte er nur und schloss die Tür hinter sich.

Nico nahm seine Hand und hob mein Kinn an.

»Hör mir zu! Das hier ist nicht deine Schuld. Es ist meine.« Seine Hände umschlossen warm meine Wangen, und seine Lippen küssten jeden Zentimeter meines Gesichts. Stirn an Stirn standen wir mit geschlossenen Augen voreinander und wollten nicht wahrhaben, dass der Moment gekommen war. Bevor er mich mit den Neonröhren alleine ließ, drückte er mir ein Päckchen in die Hand. Ich sah ihn fragend an.

»Für dich, Lea. Mach es auf, wenn du so weit bist.« Er stockte und drehte sich ein wenig von mir ab. »Falls du es überhaupt willst«, fügte er dann leise hinzu. Wieder brachte ich nur ein stummes Nicken zustande, obwohl ich keinen blassen Schimmer hatte, was er damit meinte. Inwiefern sollte ich so weit sein? So weit, mich endgültig von ihm zu verabschieden? Mich an ihn zu erinnern? Ich wusste, dass er mir sowieso jeden Tag begegnen würde. Ob ich wollte oder nicht, schien somit wenig Bedeutung zu haben. Auf dem Weg hierher hatte ich mindestens zehn Plakate gesehen, von denen er mich angestrahlt hatte. Mich und jeden anderen. Und wie oft schon hatte mich seine Stimme geweckt? Nicht er selbst, sondern nur seine Stimme aus dem Radio. Ich wusste also nur zu gut, dass ich ihn würde sehen, hören und fühlen müssen, ob ich es wollte oder nicht. Und der Welt würde es egal sein, ob ich so weit war.

»Hau sie um!«, sagte ich leise und küsste ihn noch ein letztes Mal.

Er lächelte und öffnete die Tür. Ohne sich noch einmal umzuwenden, verschwand er mit Jill in Richtung Bühne und ließ mich mit all den Fragen, die in meinem Kopf übereinanderstolperten, alleine. Alles in mir zog sich zusammen, als die Tür sich hinter ihm schloss. Dabei war es klar gewesen, dass es so enden würde. Es war von Anfang an klar gewesen. Auch wenn es Momente gegeben hatte, in denen wir beide daran geglaubt hatten.

 

Ich dachte darüber nach, wie es überhaupt angefangen hatte. Wie es hatte passieren können, dass ich jetzt hier in der Umkleidekabine des Jungen stand, der gestern David Guetta von Platz eins der Deutschen Charts gestoßen hatte. Ausgerechnet ich, die sich nie etwas aus Musik gemacht hatte. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich meine Mathehausaufgaben selbst gemacht hätte. Dann wäre ich später zur Schule gegangen und hätte den Briefträger verpasst. Ich hätte den Brief nicht angenommen, und Nico wäre nie in mein Leben getreten. All das wäre nicht passiert, wenn ich nur meine verdammten Mathehausaufgaben gemacht hätte. Ich würde jetzt nicht hier stehen, alleine, mit tausend Erinnerungen, die mir den Verstand raubten. Und trotzdem. Bereuen konnte ich es nicht.

4. Oktober

(vier Wochen zuvor)

NICO

Die letzten Töne hingen noch donnernd in der dunklen, warmen Luft, wurden von der so vertrauten Mischung aus klatschenden Händen und Kreischen abgelöst. Ich rannte raus aus dem grellen Licht, durch die schweren schwarzen Vorhänge, und wurde sofort in Empfang genommen. Keinen Plan, wer die alle waren. Erzählten was, alle auf einmal, aber ich ließ das wie ein Echo von mir abprallen. Wie jedes Mal danach war ich auch jetzt ganz benebelt – von den vibrierenden Bässen, den Gesichtern, den Blicken und den grellen Lichtern, die jeden meiner Schritte verfolgt hatten. Durch meinen Körper sprudelte pures Adrenalin, und ich wollte das in Ruhe genießen. Jemand hatte mir seine Hände auf den Rücken gelegt, sie führten mich durch die verwinkelten, kalten Gänge, weg von den Lichtern und dem Toben der Menge. Ich wusste, dass sie mehr wollten. Sie standen da draußen, schrien sich die Seele aus dem Leib und hatten keine Ahnung, dass ich keinen Einfluss darauf hatte, ob ich zurück auf die Bühne kam oder nicht. Sie wussten nicht, dass ihre Rufe nach mir Teil eines perfiden Alex-Nolan-Spiels waren, dessen Ziel es war, sie hungrig zu halten. So sagte Alex das. »Hungrig halten«, das war sein Lieblingsausdruck. Deshalb zog er mich gerne genau dann von der Bühne, wenn die Stimmung auf dem Höhepunkt war. Wenn sie gerade ihre Knicklichter oder Handys aus der Tasche geholt hatten und sich ein krasses Meer aus Tausenden tanzenden kleinen Lichtpunkten vor mir ausbreitete. Genau dann ging ich und kam auch nicht zurück. Er nannte das Coitus interruptus, ich nannte es Bullshit. Aber heute war es anders, ich musste tatsächlich los.

 

Zwei Stunden später hob die A 380 mit dröhnenden Turbinen ab und stieg schwerfällig in den Nachthimmel. Ich saß in dem bequemen Sessel der 1. Klasse und tat so, als würde ich die Times lesen, beobachtete aber Alex, wie er die Funktionen an seinem Sessel checkte. Er sah noch immer gestresst aus. Bei unserem Flug von Australien zurück in die USA letzte Woche hatte er in seinem Sitz gesessen, als sei die Maschine ein Linienbus. Aber jetzt flogen wir nach Deutschland. Das war etwas anderes, auch für Alex. Seine Stirn lag in Falten, und sein schwarzgraues Haar war nicht ganz so perfekt nach hinten geschleimt wie sonst. Hektisch winkte er unsere Stewardess ran.

»Hey, Miss, einen Doppelten!« Die Frau lächelte und nickte. Kurz darauf kam sie mit einem halb vollen Glas zurück. Alex guckte bloß kritisch, griff danach und nahm sofort einen großen Schluck. Dann drehte er sich zu mir um.

Ich hatte gehofft, mir bliebe noch ein Moment, bis er loslegte. Wohl nicht. Genervt schob ich die Schlafbrille über meine Augen.

»Nico.« Alex macht eine lange Pause zwischen meinem Namen und dem Rest der Rede.

»Was?«, fragte ich scharf, obwohl ich ganz genau wusste, was er wollte. Und er wusste, dass ich es wusste.

»Du hast es verdammt noch mal versprochen, Nico. Schreib ihr. Jetzt.« Ich stellte mich tot und rührte mich nicht.

»Guten Abend, darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Herr Simon?« Deutsch. Die Stewardess redete deutsch mit mir und sprach meinen Namen so aus, wie er eigentlich klang. Eigentlich. Früher mal. Ich zog die Schlafbrille von meinem Kopf und sah sie dankbar an.

»Bringen Sie mir doch bitte einen Gin Tonic«, antwortete ich ihr in meiner Muttersprache und freute mich über Alex’ Gesicht, als er Gin Tonic hörte. Auch Alex konnte Deutsch, weil er für eine Weile in Berlin gelebt hatte. Ich hatte ihn schon oft auf Deutsch telefonieren gehört, aber mit mir sprach er konsequent Englisch und liebte es, wenn ich irgendeine Redewendung verkackte.

»Alkohol?«, fragte er schließlich entsetzt, als ihm bewusst wurde, dass ich nicht scherzte.

»Das ist die Lufthansa. Hier gilt deutsches Recht, Alex. Mit achtzehn bin ich hier volljährig und kann so viel Gin in mich reinschütten, wie ich will.«

Amüsiert lächelte die Stewardess, als sie mir mein Glas in die Hand drückte. Ich sah Alex an, dass er es mir am liebsten aus der Hand geschlagen hätte. Stattdessen blaffte er die arme Stewardess an, was ihr einfiel, Jugendliche zu Alkohol zu verführen. Ihr Lächeln gefror, und sie zog sich wortlos zurück.

Nachdem ich einen großen Schluck genommen und mir genüsslich über die Lippen geleckt hatte, stand ich auf und ging in den Waschraum. Dabei mochte ich Gin nicht mal.

Die Kabinentür klickte ins Schloss, und ich genoss für einen Augenblick das Alleinsein. Gott, war ich müde. Mit beiden Händen spritzte ich mir eiskaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete mich in dem riesigen Spiegel. Meine Haare waren völlig verklebt von den Tonnen an Haarspray, die meine Visagistin Jill mir vor der Show reingeklatscht hatte, und am Kinn hing noch Make-up. In wenigen Stunden würden wir in Deutschland landen. Deutschland – das fühlte sich so verdammt weit weg an. Vier verdammt lange Jahre weit weg.

Ich atmete tief durch und dachte an das Kamerateam, das gemeinsam mit mir in diesem Airbus nach Hamburg flog. Und das bloß, um Bilder von mir und ihr zu bekommen. Glückliche Bilder, die selbst in meinem Kopf vor langer Zeit verblasst waren. Nur wusste ich im Gegensatz zu denen und Alex eben, dass daraus nichts werden würde. Es würde keine Bilder geben. Nicht morgen und auch nicht nächste Woche. Daran könnte ich nichts ändern, indem ich ihr schrieb. Weil ich das längst getan hatte.

5. Oktober

LEA

Ich schmiss meine Tasche wieder auf den Rücken und trat noch ein bisschen fester in die Pedale. Noch fünf Minuten. Der Wind zog mir scharf um den Kopf und schmerzte in meinen Ohren. Wenn ich heute schon wieder zu spät kam, dann war’s das mit dem Job, daran gab es keinen Zweifel. Mit zusammengebissenen Zähnen ignorierte ich das Stechen in meinen Oberschenkeln und legte noch einen Zahn zu. Um Punkt fünfzehn Uhr bog ich schlitternd auf den Hinterhof vom »Chill a sandwich« ein, ließ mein Fahrrad einfach auf den Boden fallen und rannte außer Atem zum Hintereingang, vor dem Steffen mit einem hämischen Grinsen und einer Zigarette im Mundwinkel neben den Mülltonnen stand. Es hätte mich nicht weiter gewundert, wenn er nicht der Kippe wegen, sondern einzig wegen seiner Hoffnung auf eine weitere Verspätung von mir hier auf mich wartete. Vollidiot! Theatralisch ließ er in Zeitlupe seinen Ärmel nach oben gleiten und sah mit hochgezogenen Augenbrauen auf die Uhr.

»Oha, Cheesy, das ist aber ein bisschen spät, findest du nicht?«

Ich antwortete mit einem möglichst selbstgefälligen Lachen und schlüpfte durch den Hintereingang. Es klang wie pure Ironie, wenn er mich »Cheesy« nannte. Wenn er wüsste, dass Meral mich nur seinetwegen auf diesen bescheuerten Spitznamen getauft hatte …

Eilig schnappte ich meinen Kittel aus dem Spind und band ihn mir so schnell ich konnte um die Hüfte. Während ich meine Locken zu einem straffen Dutt drehte, den ich dann unter der Baseballcap mit dem Smiley-Sandwich drauf verstaute, trat ich hinter den Tresen. Ich griff nach einem Backblech mit Baguettes und schob es in den Ofen. Noch immer keuchte ich wie eine Dampflok, aber ich schaffte es, mich zusammenzureißen, als Martha neben mich trat.

»Dein Glück!«, brummte sie und knallte mir zwei riesige Packungen Putenbrust vor die Hände. Man sah dem Aufdruck an, dass es wieder mal das billigste Fleisch war, das sie auftreiben konnte. Ich riss das Plastik auf und schnitt kleine Dreiecke aus der mit Sehnen durchzogenen rosa Masse. Bei der Ware zählte für Martha lediglich der Preis. Beim Personal war das anders. Sie zahlte uns mehr, als sie müsste. Dafür verlangte sie, dass wir funktionierten und ihr keinen Stress machten. Das war ihr wichtig, und deshalb hatte sie auch Steffen und mich eingestellt. Steffen, weil er so versessen pünktlich und regeltreu war, dass mein Vater mit Leichtigkeit eine Zwangsneurose hätte diagnostizieren können, und mich, weil ich schnell war und im Gegensatz zu Steffen die Kunden freundlich behandelte. Ich wusste aber, dass Martha meine Unpünktlichkeit nicht mehr lange dulden würde. Dieser Job hing von Marthas gutem Willen ab. Und wer Martha kannte, der wusste, dass man ihren guten Willen besser nicht strapazierte.

Als sie endlich wieder hinten verschwand, ging ich zu Steffen rüber und wedelte ihm mit dem restlichen Stück Fleisch vor der Nase rum.

»Du bist dran, Herzchen!« Stef nahm mir das glibberige Stück ab und ließ es vor meinem Gesicht rumbaumeln.

»Was soll das sein?«

»Nach was sieht es denn aus?«

»Es könnte mein blutendes Herz sein, das du mir aus der Brust gerissen hast, als du vor meinen Augen mit meinem besten Freund geknutscht hast!«

Ich verdrehte die Augen. Er konnte es nicht lassen. Steffen war der Meinung, dass er mein Exfreund war, und zwar einer der besonders bemitleidenswerten Sorte. Da ich eine Beziehung, die nicht länger als achtundvierzig Stunden gedauert und von der ich außerdem nichts gewusst hatte, nicht wirklich ernst nehmen konnte, war ich da anderer Ansicht. Ich schnappte mir einen kleinen zerschredderten Schnipsel Thunfisch aus den Behältern, in denen wir die Beläge für die Sandwiches aufbewahrten, und hielt es ihm unter die Nase.

»Dein Herz? Das bewahr ich hier auf, Schatz!«

Steffen hielt sich schmerzerfüllt die Brust. »Du bist ein kleines Miststück, Lea Winter!«

»Ich weiß. Was ist jetzt, schneidest du die ekelhafte Pute oder nicht?«

»Meinetwegen. Solange du die Toiletten heute putzt.«

Zufrieden drehte ich mich wieder um. Als hätte er jemals vorgehabt, sich heute um die Kundentoilette zu kümmern. Das wäre das erste Mal gewesen. Und wennschon. Nichts hätte mich mehr ekeln können als dieses widerliche Stück Federvieh.

Während ich meine Hände unter dem Wasserhahn schrubbte, dachte ich an die Mathehausaufgaben, die ich bis morgen noch machen musste. Dabei wurde mir ganz heiß. Drei Tage hatten wir Zeit gehabt, aber wann hätte ich die machen sollen? Am Tag zuvor hatte ich bis abends im Eiscafé gearbeitet, und vor zwei Tagen war ich viel länger im »Chill a sandwich« gewesen als geplant, weil irgend so ein Honk beschlossen hatte, Sandwiches für fünfzig Mitarbeiter springen zu lassen. Mal so spontan.

Ich war schon froh, dass ich wenigstens die ersten Seiten von »Effi Briest« gelesen hatte. Also die ersten zwei Seiten der Zusammenfassung, genau genommen. Ich schlief zu wenig, aß nur noch nachts, und ich fürchtete, dass die meisten Ernährungswissenschaftler meinen täglichen Kaffeekonsum in die Kategorie Suizidversuch eingeordnet hätten. Aber auf meinem Konto fehlten nur noch eintausendneunhundertsiebzig Euro. Wenn ich noch ein paar Monate durchhielt, hatte ich es geschafft. Dann hatte ich genug Geld zusammen, um endlich das Puzzleteil zu finden, das mir seit sechzehn Jahren fehlte. Ich musste das tun. Und es machte mir nichts aus, denn ich war mir sicher, dass die Mühe sich lohnen würde.

 

Es war schon lange dunkel, als ich mich endlich auf den Nachhauseweg machte. Ich ahnte schon, was mich erwartete, als ich mein Handy aus der Tasche kramte. Wow. Zwölf Anrufe in Abwesenheit, zehn davon von meinem Vater. Das war selbst für ihn beeindruckende. Die zwei anderen Anrufe waren von Meral. Ich rief meine Mailbox an und hörte die Nachricht ab, die sie mir hinterlassen hatte.

»Verdammt, Cheesy, wo steckst du schon wieder? Kannst du mir das nächste Mal vielleicht Bescheid sagen, wenn ich angeblich mit dir shoppen bin?« Sie klang sauer. »Du kannst froh sein, dass ich schnell schalte. Ich hab Max gesagt, dass es dir bestimmt peinlich ist, ihm zu sagen, dass du dich wieder mit Stef triffst. Ist mir scheißegal, wie du die Ausrede findest. Geschieht dir jedenfalls recht.« Ich kannte die Art Rede, die jetzt folgen würde, und legte auf. Ausgerechnet Steffen? Die hatte ja wohl einen Vollschaden! Das hatte Max ihr niemals abgenommen! Lachend schwang ich mich auf mein Rad und fuhr fast genauso schnell nach Hause, wie ich hergekommen war. Wegen Effi, der Matheaufgaben und weil ich gespannt darauf war, was Max zu der Steffen-Lüge sagen würde.

»Hallohooo, ich bin wieder da!«, rief ich betont fröhlich in die Altbauwohnung. Max antwortete nicht, aber ich hörte seine Schritte auf dem alten Dielenboden. Als er wortlos im Türrahmen stehen blieb, sah ich erleichtert das Schmunzeln um seine Mundwinkel. Gott sei Dank, die Ausrede mit Steffen sorgte zumindest für gute Laune. Er musterte mich mit verschränkten Armen.

»Soso, Steffen also …«, sagte er süffisant.

Ich räusperte mich umständlich, weil ich es einfach nicht glauben konnte, dass er das offensichtlich geschluckt hatte. Stef, der mir zum Geburtstag ein Oben-ohne-Foto von seinem schmächtigen Körper geschickt hatte und der beim Küssen so viel Spucke verlor, dass man ihm fairerweise eine Spendenquittung dafür hätte ausstellen müssen? Gut, wie miserabel Steffen küsste, wusste Max ja nicht.

»Max!« Ich sah ihn mit gespielt finsterer Miene an. Natürlich wusste ich, wie sehr er es hasste, wenn ich ihn nicht Papa, sondern Max nannte. Er hätte nie etwas dagegen gesagt, aber Max’ Miene konnte man kaum missverstehen. Manchmal machte ich es einfach nur, um ihn zu provozieren, so wie jetzt zum Beispiel. Womöglich hatte er Angst, dass ich ihn nicht als Vater respektierte, weil er verglichen mit anderen Vätern so jung war. Dabei kannte ich kaum einen Menschen, der mir mehr väterlichen Respekt einflößen konnte. Nicht, dass ich Angst vor Max hatte, das wäre lächerlich. Es war eher eine positive Art des Respekts. Davor, was er schon alles geschafft hatte, und vor der Entscheidung, die er vor sechzehn Jahren getroffen hatte. Die Entscheidung für mich, seine Tochter. Dabei war er gerade einmal achtzehn Jahre alt gewesen. Wie jung das war, wurde mir immer klarer, je näher mein eigener achtzehnter Geburtstag rückte.

Ich startete ein Ablenkungsmanöver und fragte Max, wie sein Tag war. Er reagierte gar nicht erst darauf.

»Hör mal, das kannst du mir doch sagen. Du musst mich doch nicht anlügen, wenn du dich mit Stef triffst.« Sein Gesichtsausdruck war weicher geworden.

»Papa, ich weiß. Es tut mir leid.« Ich senkte meinen Blick und sah ihn schuldbewusst an, konnte mir das Lachen aber kaum verkneifen. Der schuldbewusste Blick funktionierte meistens. Max stand einfach weiter im Türrahmen und beobachtete mich gedankenverloren, während ich meine Sneakers abstreifte und meine Schultasche wieder auf die Schultern hob. Er tat mir ein bisschen leid, wie er dastand und auf ein Gespräch hoffte. Aber was sollte ich ihm sagen? Ich würde ihm bestimmt keine weitere Lügengeschichte auftischen.

»Ich muss noch Hausaufgaben machen«, murmelte ich möglichst zerknirscht und wartete, dass er mir Platz machte. Max seufzte sorgenvoll.

»Lea, das geht so nicht. Ich weiß, dass Jungs interessant sind und dass das Leben viele tolle Ablenkungen bietet, aber du kannst nicht um zehn Uhr anfangen, Schularbeiten zu machen. Das Gehirn ist nicht darauf ausgelegt, um diese Zeit …«

Ich unterbrach ihn mit einem genervten Stöhnen. »Oh bitte, Paps, nicht schon wieder neurologische Fachvorträge. Mein Gehirn ist eines der nächsten Generation. Gehirn 2.0, verstehst du? Viel leistungsstärker als deins, was in der Natur der Sache liegt. Das Ganze nennt man Evolution.« Ich zwinkerte ihm zu. Max sah nicht so aus, als würde er mich entkommen lassen. Ich hätte ihm zu gerne gesagt, dass er der einzige Kerl war, für den ich im Moment ehrliche Gefühle und Zeit hatte. Und dass dieser spärliche Umgang mit dem anderen Geschlecht mich nicht gerade mit Stolz erfüllte, aber ich mir lieber Donald Trumps Gesicht auf meinen Hintern tätowieren lassen würde, als jemals wieder was mit Steffen anzufangen. Weil ich das aber nicht sagen konnte, zog ich den Joker.

»Wir reden morgen darüber, Papa. Versprochen.« Manchmal waren die Ideale meines Vaters wirklich praktisch. Eines davon war, dass Gespräche nicht erzwungen werden dürfen. Wenn man einen Ausweichtermin anbot, kam man bei Max aus den meisten Situationen heraus. Vorerst. Denn wenn es um Versprechen ging, war mit Max genauso wenig zu scherzen wie mit seinen Idealen. Morgen würde ich reden müssen, aber bis dahin hatte ich noch drei Seiten Mathe, ein halb fertiges Bioreferat und einen Anruf bei Meral zu erledigen.

 

Als ich endlich die Tür zu meinem Zimmer geschlossen hatte und mich auf mein Bett warf, merkte ich erst, wie erschöpft ich war. Meine Beine waren schwer wie Blei, und meine Augen drohten, einfach zuzuklappen. Draußen hörte ich Max mit gedämpfter Stimme reden und konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Natürlich wusste ich, dass er mit irgendeiner Frau telefonierte. Als wäre ich ein kleines Mädchen, versuchte er noch immer, mich aus seinen Frauengeschichten rauszuhalten. Darin war er auch erstaunlich gut. Manchmal hörte ich, wie abends die Wohnungstür leise ins Schloss klickte. Er wäre nie einfach gegangen und hätte mich hier alleine gelassen, aber ich war mir sicher, dass er manchmal Besuch bekam. Ich hatte auch schon gesehen, dass nachts eine Zahnbürste mehr über dem Waschbecken lag. Aber morgens war immer alles wieder beim Alten. Nur seine und meine Zahnbürste, er und ich am Frühstückstisch. Er, der den Toaster nach unten drückte, und ich, die die fertigen Scheiben sofort nach dem Hochschnellen wieder rausholte, weil ich es liebte, wenn die Butter auf dem heißen Brot zerfloss. Wir zwei waren ein eingespieltes Team, und obwohl ich alt genug war, um zu wissen, dass Max sich sicher nach einer Frau in seinem Leben sehnte, war ich irgendwie froh, dass es morgens nur uns zwei gab. Was er nachts machte und mit wem, war mir egal.

Ächzend überwand ich die Schwere, erhob mich schwerfällig wieder von meinem Bett und kramte mein Handy raus. Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm Meral endlich ab.

»Jup.«

Obwohl sie sich Mühe gab, normal zu klingen, hörte ich die Anspannung in ihrer Stimme.

»Hör zu, es tut mir leid«, sagte ich schnell und ließ mich wieder auf das Bett sinken. Mit den Fingern zog ich langsam die Nähte der Patchworkdecke nach, die meine Oma mir genäht hatte, als ich klein war. Meral ließ mich einen Moment zappeln.

»Weiß ich. Und ich weiß auch, dass es wieder wichtig war und dass du mir auch eigentlich Bescheid sagen wolltest, aber dass du dann keine Zeit mehr hattest. Wie immer, Lea.«

Kurz schwiegen wir beide. Dann fuhr sie fort.

»Wegen mir ist das echt egal, Lea, aber ich find’s scheiße, was du mit deinem Vater abziehst.«

Ich wusste, dass sie recht hatte, verdrehte aber trotzdem die Augen. Meral war der offizielle Max-Fanclub in Person. Für sie war er so was wie eine moralische Instanz, ein unfehlbarer Über-Dalai-Lama, der ihrer Meinung nach auch noch aussah wie Channing Tatum, was ihren Max-Kult noch etwas anstrengender machte. Ich sah keine Ähnlichkeit zu Channing Tatum und fand es total krank, dass meine beste Freundin meinen Vater mit einem zugegebenermaßen ziemlich heißen Schauspieler verglich. Auch wenn Max zwei Jahre jünger war als Channing Tatum und nur achtzehn Jahre älter als wir, das machte es nicht besser. Und mit dem Dalai Lama hatte er genauso wenig Ähnlichkeit wie mit diesem strippenden Hollywoodsternchen. Max konnte ganz schön aufbrausend sein, und hätte Meral ihn jemals im Schwimmbad lästern gehört, wäre das mit der moralischen Instanz auch Geschichte. Max konnte in seinem Urteil so vernichtend sein, dass selbst ich beeindruckt war. Dabei sollte man mit sechzehn eher abgehärtet sein, vor allem, wenn man mit Meral befreundet war.

»Es tut mir wirklich leid, Meral. Und ich werde mit Max sprechen. Morgen.« Es hatte keinen Sinn, mit ihr zu diskutieren. Ich wollte ihr auch nicht zum zweitausendsten Mal erklären, warum ich das alles tat und dass Max durchaus nicht ganz unschuldig daran war. Ich wollte einfach nur, dass Meral nicht mehr sauer war. Und reden musste ich ja morgen wirklich. Dass ich das Gespräch nicht freiwillig führen würde, musste Meral ja nicht wissen.

»Mach das«, sagte Meral schließlich und grummelte noch ein paar Sekunden ins Telefon, bevor sie plötzlich zu lachen anfing.

»Komm schon, Cheesy, die Ausrede mit Stef war ziemlich gut, hä?«

»Die Ausrede war megapeinlich!« Ich fiel in ihr Lachen ein. Meral machte am anderen Ende furchtbare Schmatz- und Kussgeräusche.

»Baaaaahhhh, hör auf, du bist widerlich!«

Wir quatschten noch eine Weile und lachten darüber, dass Max versucht hatte, am Telefon von Meral alles über Steffen zu erfahren. Meral bot mir an, die Mathehausaufgaben am nächsten Tag von ihr abzuschreiben, wenn ich zehn Minuten früher in die Schule käme, und sie schickte mir ein YouTube-Video, in dem »Effi Briest« in elf Minuten mit Legomännchen nachgespielt wurde.

»Gott, meine beste Freundin ist ein Streber«, jammerte ich in den Hörer.

»Ich wünschte, das wäre so, du Besessene. Aber ich befürchte, diesen Titel verdient man sich nicht mit Legovideos.«

»Ach komm schon! Ich wette, du hast das Video zweimal geguckt!«, antwortete ich, knutschte noch einmal das Display und legte lachend auf.

Als ich mir die Legogeschichte noch kurz reinzog, klopfte Max an meine Zimmertür. Ich ließ das Video weiterlaufen und machte mir ein paar Notizen. Max legte seine große Hand auf meine Schulter.

»So macht man das also heutzutage, wenn man keinen Bock auf Lesen hat, ja?«, sagte er schließlich und verfolgte fasziniert den dramatischen Tod von Effis Liebhaber Crampas auf meinem Bildschirm.

»Jep, genau so macht man das.«

»Also das ist ja wirklich hochinteressant! Da lernt man was fürs Leben: Männergeschichten können einen wirklich ins Verderben stürzen!«, provozierte Max schmunzelnd, als nun auch die Lego-Effi plötzlich umfiel und an ihrem gebrochenen Herzen starb.

»Gott, Papa, du bist ja immer noch da«, lachte ich und stoppte das Video kurz, um ihm Gute Nacht zu sagen. Die Zimmertür schloss sich hinter ihm, und er knipste demonstrativ den Lichtschalter aus, der sich außerhalb des Zimmers im Flur befand. Ich lauschte kopfschüttelnd seinem jungenhaften Kichern und den Schritten, die sich von meiner Tür entfernten, bevor ich in den Flur ging, um es wieder anzuknipsen. Aber die paar Sekunden Dunkelheit hatten schon ausgereicht, um die Schwere meiner Augenlider wieder zu spüren. Ich beschloss, beim Bioreferat morgen einfach zu improvisieren. Würde schon klappen, mit dem menschlichen Gehirn kannte ich mich dank Max ganz gut aus. Manchmal hatte ich ihn für die Therapeutenzulassungsprüfung abgehört, und ein bisschen was wusste ich noch. Meral würde wahnsinnig werden an meiner Stelle. Sie hasste es, unvorbereitet zu sein. Ein Glück für mich, so konnte ich wenigstens Mathe abschreiben. Ich schwor mir, die Schule ab morgen wieder ernster zu nehmen, verstaute all meine Schulsachen im Rucksack, schickte Meral zwanzig Kusssmileys und schlich mich ins Bad. Als ich endlich unter meine Decke schlüpfte, war es weit nach Mitternacht. Wieder nicht mal sechs Stunden, bis mein Wecker klingeln würde. Ich schloss die Augen und dachte an meine Mutter. Leise flüsterte ich ihren Namen in die Dunkelheit. Charly. Der Name klang so vertraut und schön. Ich versuchte, mir ihr Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, und spürte den vertrauten Schmerz in meiner Brust, als es mir nicht gelang. Wie gerne hätte ich ihr erzählt, dass ich Max belog, Meral verärgerte, die Schule vernachlässigte, und all das nur, um endlich bei ihr zu sein. Ja, ich machte all das, um sie endlich zu sehen, und ich wusste, dass sie mich verstehen würde. Bei ihr war es jetzt schon fast Mittag, und ich war mir sicher, dass auch sie an mich dachte, sich nach mir sehnte, so wie ich mich nach ihr. Wenn wir uns endlich gegenüberstünden, würde ich ihren Duft einatmen, ihre Stimme hören und in ihre Augen sehen. Sie war all den Stress wert, auch wenn Max und Meral das niemals verstehen würden.

 

 

6. Oktober

 

Am nächsten Morgen fühlte es sich so an, als hätte mich eine Zeitmaschine einfach unbarmherzig in den nächsten Tag geschleudert. Wirre Traumfetzen waberten durch mein halbdunkles Zimmer, das mir furchtbar kalt vorkam. Nur der Gedanke an ein warmes Nutellabrot ließ mich aufstehen. Ich zog mir meine Einhornhausschuhe an und schlurfte schlaftrunken durch den Flur in die Küche. Es roch nach frisch aufgebrühtem Kaffee und Toast. Toast? Ich riss die Augen auf und entdeckte tatsächlich eine Scheibe auf meinem Teller. Plötzlich hellwach eilte ich zu meinem Platz und legte meine Hand darauf. Kalt und hart.

»Papaaaa!«, rief ich entsetzt und verengte meine Augen zu zwei Schlitzen. Max kam geduscht und schon fertig angezogen in die Küche. Ich deutete empört auf den Toast auf meinem Teller.

»Ja bitte?«, fragte Max und schwenkte seinen Blick völlig unbeeindruckt zwischen mir und meinem Teller hin und her, während er sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen an den Küchentisch setzte.

»Du weißt, dass ich es hasse, wenn der Toast hart ist!«

Max nippte seelenruhig an seinem Kaffee.

»Ist es möglich, dass ich dich zu einer kleinen verwöhnten Zicke erzogen habe?«

Sein Lächeln machte mich rasend, aber ich musste zugeben, dass ich mich tatsächlich wie eine Wahnsinnige aufführte. Um Haltung zu bewahren, zog ich es trotzdem durch.

»Scheiße, Mann, das steinharte Ding kannst du selber essen!«

Ich drehte auf dem Absatz um und stapfte ins Bad. Gott, war ich schrecklich. Wenn ich zu wenig schlief, war ich wirklich unausstehlich.

In der Küche hörte ich Max laut lachen.

»Hilfe, ich habe ein Monster erschaffen!«, rief er in meine Richtung, und ich hörte, wie er summend unsere Teller abräumte. Diese unerschütterliche gute Laune, unglaublich. Kopfschüttelnd nahm ich meine Schminksachen aus dem Spiegelschrank, drehte das Radio auf und versuchte, mit massenweise Concealer zu retten, was zu retten war.

Das Radio war auch nicht besser als Max. Der Moderator lieferte sich eine Nicht-lachen-Challenge mit einem Typen, der in Amerika elf Millionen Follower auf YouTube hatte. Elf Millionen! Ich beschloss, bei der Challenge mitzumachen, weil ich gerade gegen jeden gewonnen hätte. Lustig fand ich heute definitiv gar nichts! Bis der Typ es übertrieb.

»Sitzen zwei Elefanten auf einem Strommast. Fällt einer runter. Sagt der andere: ›Das kann mir nicht passieren, mein Vater ist Bäcker!‹«

Ich konnte nicht anders, ich musste losprusten. Zu meiner Beruhigung war das auch das Aus für den Moderator. Wie bescheuert war das denn bitte?

»Und mit solchen Witzen hast du elf Millionen Abonnenten gecatcht?«

»Ich hab auch noch schlechtere. Das Interessanteste ist eigentlich, dass die amerikanischen Zeitungen schreiben, das sei deutscher Humor.«

»Du Judas! Du schädigst unseren Ruf!«

»Hallo? Ich rette ihn! Bevor ich kam, dachte man drüben, ihr Deutschen hättet gar keinen Humor!«

Grinsend verfolgte ich den Schlagabtausch des Moderators und des Elf-Millionen-YouTubers.

»Und jetzt singst du also auch noch?«

»Ich versuche mein Bestes. Im Grunde muss man einfach nur genug Geld für Songwriter und Produzenten ausgeben, dann braucht man nicht mal viel Talent, um ganz groß rauszukommen.«

»Na, dann war das ja bei dir eine sinnvolle Investition.«

»Definitiv.«

»Dürfen wir denn mal eine Live-Kostprobe hören?«

Oh Gott, bitte nicht noch so ein Möchtegernsänger. Schnell drückte ich auf den Ausknopf und versuchte, meine Locken irgendwie zu bändigen.

 

Eine Viertelstunde später lief ich mit einer Thermoskanne in der Hand die Treppen runter. Wenn Max sich rächen wollte, war ihm das meisterhaft gelungen. Den Kaffee komplett selbst zu trinken und mir eine Kanne Grüntee hinzustellen, hatte etwas beeindruckend Sadistisches. Ausgerechnet heute! Unten angekommen, rannte ich den Briefträger fast über den Haufen.

»Hoppla, junge Dame!« Er lächelte mich aus seinem sonnengebräunten Gesicht voller Lachfalten gütig an. Alter! Wollte mich denn heute die ganze Welt mit guter Laune in den Wahnsinn treiben?

Ich murmelte eine unverständliche Entschuldigung und wollte mich an ihm vorbeizwängen, aber er rief mich zurück.

»Moment mal, ich bräuchte mal ganz kurz deine Hilfe!« Eine Sekunde überlegte ich, so zu tun, als hätte ich ihn nicht gehört, weil ich doch noch die Mathehausaufgaben bei Meral abschreiben musste vor der ersten Stunde. Aber selbst fehlender Kaffee würde so eine egoistische Nummer nicht entschuldigen, und ich hatte keine Lust, mein Karmakonto heute noch weiter zu belasten. Also drehte ich mich um und ging wieder zurück in den dunklen Hausflur, an dessen muffigen Geruch ich mich auch nach zwei Jahren noch nicht gewöhnt hatte.

»Ja?«, fragte ich und warf einen kurzen Blick auf die Armbanduhr des Briefträgers. Scheiße, ich musste mich echt beeilen.

Der Postbote kramte umständlich in den Briefen rum.

»Ich hab da so einen Briiief«, sagte er völlig versunken und durchsuchte die Umschläge in seiner Hand, während ich ungeduldig mit meinen Beinen auf und ab wippte. Das »i« zog er völlig unnötig in die Länge. Nur zwei Sekunden, aber zwei Sekunden, die ich eigentlich nicht hatte.

»Ah, da ist er ja. Nur eine Adresse, kein Name, siehst du?« Er hielt mir einen Briefumschlag vor die Nase. Darauf stand:

Für mein kleines Mädchen

Darunter unsere Straße, die Hausnummer unseres Hauses und in großen Buchstaben HAMBURG, ohne Postleitzahl. Wer zum Teufel schickte solche Briefe raus?

»Weißt du, ich kenne hier niemanden. Ich weiß nicht, ob es hier ein kleines Mädchen gibt.« Bedauernd schob er seine Brille zurecht. »Hier im Haus, meine ich«, fügte er dann hinzu. Er sah mich über seine Brillengläser hinweg an und redete dann weiter. »Früher, als wir noch kleine Bezirke hatten, da kannte ich die Leute noch, denen ich die Briefe zustellte. Heute ist das anders …« Er trat wieder zu den Briefkästen und ließ seinen Blick von Namensschild zu Namensschild schweifen, als könne er dort einen Hinweis finden. »Das ist ein sehr hübscher Brief, siehst du?« Er zeigte mir eine Zeichnung auf dem Briefumschlag und lächelte wieder. »So etwas findet man heutzutage ja nur noch ausgesprochen selten«, seufzte er und holte Luft. Es klang so, als würde er noch weiter ausholen wollen.

Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, hörte ich plötzlich meine eigene Stimme. »Ich find dieses kleine Mädchen schon.«

Erschrocken über meine eigenen Worte setzte ich schnell ein vertrauenswürdiges Lächeln auf und griff zögerlich nach dem Brief, den der Mann mir erleichtert entgegenstreckte.

»Das ist ja wunderbar. Ich hatte letztens schon eine Sendung dieser Art, und niemand konnte sie zuordnen. Das geht dann normalerweise zurück, aber in diesem Fall gibt es keinen eindeutigen Absender …«

»Schon gut, ich geb ihn weiter, kein Problem«, unterbrach ich den Mann und nahm ihm den Umschlag aus der Hand. Ich hatte wirklich keinen einzigen Augenblick länger Zeit. Rasch verstaute ich den Brief in meiner Tasche, nickte dem Postboten noch einmal zu, rannte zur Tür raus und dann die Straße hoch. Gott, war ich bescheuert? Ein kleines Mädchen hatte ich in unserem Haus wirklich noch nie gesehen. Und ehrlich gesagt kannte ich bisher auch niemanden aus diesem Haus, den ich hätte fragen können. Egal, ich musste mich wirklich beeilen, damit Meral nicht umsonst extra früher gekommen war.

 

»Zeig mal«, sagte Meral und zog den Umschlag zu sich, während ich ihre Matheergebnisse abschrieb.

»Und du hast gesagt, dass du ein kleines Mädchen im Haus kennst? Du weißt schon, dass Lügen am Ende immer auffliegen?«

Ich sah sie grinsend an. »Sagt wer? Die Frau, die Marc mit der Ausrede losgeworden ist, dass sie keinen Sex vor der Ehe will?«

Meral grinste zurück und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist das ja auch so«, flötete sie unschuldig und klimperte mit ihren langen schwarzen Wimpern.

»Nee, is klar!« Ich beugte mich wieder über mein Heft und schrieb amüsiert weiter. »Und ich habe natürlich nicht gesagt, dass ich die kenne. Ich habe gesagt, dass ich sie finde. Das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge!«

»Cheesy, der ist aus dem Ausland!« Meral hatte mir offensichtlich nicht zugehört und war plötzlich ganz aufgeregt. »Und hast du mal hintendrauf geguckt?«

Sie schob den Brief über mein Heft, sodass ich nicht weiterschreiben konnte.

»Kannst du bitte endlich mal mit diesem Cheesy-Quatsch aufhören?«

Meral schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall!«

Meral nannte mich Cheesy, seit ich Steffen einmal vor Wut einen Löffel Frischkäse ins Gesicht geschleudert hatte. Dabei hatte ich ihm eigentlich nur drohen wollen. Der Finger war aus Versehen weggeschnippt, und dummerweise hatte ich auch noch getroffen. Obwohl das nicht unbedingt nur dumm war, sondern auch ein bisschen gut. Meral feierte diesen Ausrutscher jedenfalls und ignorierte stoisch, dass es nur ein Versehen war. Sie fand, dass ich viel zu nett zu Stef war, nachdem der in der Schule rumerzählt hatte, dass ich mir meinen BH ausstopfen würde. Obwohl das nicht mal stimmte und ich einfach nur einen Push-up trug so wie fast alle Mädchen, die ich kannte, nahm Meral ihm das nach wie vor furchtbar übel und brauchte deshalb wohl immer wieder die Erinnerung an diesen einen Moment meiner Rache.

Seufzend sah ich mir die Zeichnung auf dem Umschlag an, die mir schon der Briefträger vor die Nase gehalten hatte. Sie war tatsächlich verdammt gut, er und Meral hatten recht. Sie bestand aus lauter kleinen Bleistiftstrichen, sah ein bisschen nach Graffiti aus und zeigte ein kleines Mädchen, das einem Drachen hinterherjagte. Ein Absender stand nicht darauf. Ich zog die Augenbrauen hoch.

»Wird nicht so schwer sein, irgendein Mädchen zu finden«, sagte ich zu Meral und schob den Brief wieder in ihre Richtung. »Vielleicht ist der Brief ja schon fünfzig Jahre alt und kommt erst jetzt an!«, raunte ich verschwörerisch und konzentrierte mich wieder auf die Zahlen vor mir.

Ich schaffte es gerade so, mein Heft zuzuklappen, als Frau Steiner reinkam. Sie sah mich grimmig an und schüttelte genervt den Kopf. Für Frau Steiner waren nicht gemachte Hausaufgaben so was Ähnliches wie Hochverrat, da ließ sie nicht mit sich spaßen. Also versuchte ich, heute besonders aufmerksam zu sein und mitzumachen, um sie wieder gnädig zu stimmen. Meral drehte und wendete unterdessen den Brief und zischte mir immer wieder wilde Geschichten ins Ohr, die sie sich zusammenreimte.

»Vielleicht ist es eine geheime Liebesbotschaft vom Briefträger an dich!«, flüsterte sie und riss ihre Augen auf. Ich gab mir Mühe, möglichst leise zu lachen.

»Der Briefträger ist alt. Nicht Max-alt, sondern so richtig alt. Sechzig oder so. Das wäre also ziemlich ekelhaft, wenn er mich ›mein kleines Mädchen‹ nennen würde!«, antwortete ich angewidert.

»Oder der Brief kommt aus dem Jenseits. Stell dir das mal vor, Cheesy, das wär krass!«

»Ja, das wär krass, und wenn du jetzt nicht die Klappe hältst, kannst du den Verfasser gleich persönlich fragen, wie er das Ding ins Diesseits befördert hat.«

»War das jetzt ’ne Morddrohung? Nur so fürs Protokoll …?«

Mit einem dumpfen Geräusch ließ ich meinen Kopf auf den Tisch plumpsen. Spätestens jetzt schien es sicher: Die Welt und ich würden heute keine Freunde mehr werden.

 

Auch die Pausenglocke war nicht wirklich eine Erlösung. Wie auf Kommando sprang Meral von ihrem Stuhl auf und zog mich mit sich. Den Brief hielt sie in der Hand.

»Ich find das so megaspannend. Du kannst dich glücklich schätzen, mit mir als bekennende Tatortguckerin eine echte Ermittlungsexpertin an deiner Seite zu wissen.«

Ich rollte lachend mit den Augen, ließ mich aber insgeheim ein bisschen anstecken von ihrem Enthusiasmus. Langsam interessierte es mich wirklich auch, was es mit dem Brief auf sich hatte.

»Leider werden wir den Inhalt nie erfahren«, seufzte Meral. »Wenn es kein kleines Mädchen gibt bei euch, dann kannst du sie ja schlecht fragen, was drinsteht, oder?«

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Doof irgendwie. Auf der anderen Seite war ich mir wirklich sicher, dass es kein kleines Mädchen gab. Ich würde Max heute Mittag fragen. Wenn ich recht hatte, würde ich den Brief morgen an den Postboten zurückgeben.

»Was ich immer noch nicht ganz verstanden habe: Warum hast du gesagt, dass du die findest? Das ist doch nicht dein Job, sondern seiner!«

»Keine Ahnung, ich musste halt los, und ich fand es irgendwie unhöflich, ihn da mit seinem Brief stehen zu lassen.«

Meral atmete laut ein. »Ah ja. Lea rettet mal wieder die Welt.«

Sie machte eine bedeutsame Pause, wendete sich dann aber wieder ihrem Projekt zu. »Lass uns mal Doktor Professor Google fragen, wo das Teil herkommt. Hier steht Wollongong. Wollongong. Wie geil ist das denn?« Meral lachte herzlich.

»Ich wette, das liegt in Japan.«

»Und ich wette, das ist alles ein schlechter Scherz!«

Meral zog mich in die Räume der Mädchentoilette und schüttelte ihr Smartphone aus ihrem Ärmel. Smartphones waren hier an der Schule verboten. Ich fragte mich allerdings wirklich, ob auch nur einer der Lehrer glaubte, dass wir uns daran hielten. Das wäre so unfassbar naiv, dass man ernsthaft mal über die Zugangsvoraussetzungen an Pädagogikhochschulen reden müsste.

Meral tippte ungeduldig auf ihr Handy ein, hielt es in Richtung Fenster und schüttelte immer wieder den Kopf.

»Im Ernst, wieso gibt es hier keinen fucking Empfang?«

Ich beobachtete sie dabei, weil ich es so gerne mochte, wenn Meral besessen war. Und sie war öfter mal von irgendwas besessen. Ich kannte das Gefühl, dass man etwas herausfinden musste, weil man sonst zu platzen drohte. Meral hatte das aber mehrmals täglich. Dabei war es völlig egal, ob es sich um eine kniffelige Matheaufgabe oder um die Frage handelte, von wem Steffen erfahren hat, dass ich mit Malte geknutscht hatte. Auf ihren Wangen sah man dann dieses zarte Rot durch ihre hellbraune Haut schimmern, und ihre Kieferknochen spannten sich an, während sie andauernd ihre schwarzen langen Haare nach hinten strich. So saß sie jetzt auf den Fliesen des Waschraums, ignorierte, dass dauernd irgendwelche Mädels über sie drübersteigen mussten, um zur letzten Kabine zu gelangen, und hörte nicht, wie eine Fünftklässlerin ihr sagte, dass Handys hier verboten seien. Ich warf dem frechen Zwerg einen giftigen Blick zu, und sie verschwand schnell hinter einer der sechs Türen.

»Was? Gar nichts?«, fragte ich schließlich, weil Merals Gesichtsausdruck immer genervter wurde. Sie schüttelte den Kopf.

»Gleich, warte, es lädt noch.«

Als die Glocke läutete, drehte sich der kleine Kreis immer noch um sich selbst. Sonst blieb das Display weiß. Das würde wohl nichts mehr werden. Mir fiel auf, dass ich heute noch immer nichts gegessen hatte.

»Hast du ein Schulbrot?«, fragte ich Meral, die von ihrer Mutter immer so gut versorgt wurde, als würde sie eine Woche verreisen, während ich mir mein Schulbrot selber schmieren musste, was ich fast nie machte.

»In der Klasse«, antwortete Meral zähneknirschend.

Wir sprinteten in den Klassenraum und kamen gerade so noch dazu, wenigstens zwei Bisse von Merals Broten abzubeißen, ehe es weiterging.

»Cheesy!«, zischte Meral mir plötzlich ins Ohr. »Das glaubst du nie!«

»Was denn?«, fragte ich ungeduldig, weil ich keinen Bock hatte, schon wieder einen Anschiss zu kassieren.

Meral hielt mir unter dem Tisch ihr Handy hin, das inzwischen die Google-Seite geladen hatte.

Neben einem kleinen Ausschnitt aus einer Landkarte und dem Foto einer Küstenstadt stand es: Wollongong. Und direkt darunter: Stadt in Australien.

Meral und ich starrten uns an. Wir beide wussten, was das bedeuten konnte.

Was, wenn der Brief für mich war?

 

Nach der Schule fuhr ich direkt zum Eiscafé. Ich versuchte, nicht mehr über den Brief nachzudenken, bis ich zu Hause sein würde. Ich musste mir einreden, dass es nur ein Zufall war. Ein dummer Zufall. Und ich durfte nicht enttäuscht sein, wenn der unwahrscheinlichste aller Fälle nicht zutraf. Warum sollte Charly sich ausgerechnet jetzt melden? Nach sechzehn langen Jahren, in denen ich mich so nach ihr gesehnt hatte? War dieser klitzekleine Funken Hoffnung, dass ich das kleine Mädchen war, das der Absender meinte, Legitimation genug, um den Brief öffnen zu dürfen? Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Jetzt musste ich aber erst einmal meinen Kopf freikriegen und arbeiten.

Ich war unentschlossen, was ich hoffen sollte: dass die Gewitterfront, die sich hinter mir aufbaute, weiterzog und das leise Grollen sich entfernte oder dass es einfach lospladderte und ich nach Hause geschickt wurde, weil keine Kundschaft kam. Ich brauchte jeden Cent, den ich kriegen konnte, und in wenigen Tagen sollte es so kalt werden, dass das Eiscafé bis zum Frühling schließen würde. Auf der anderen Seite war ich gerade so müde und gleichzeitig aufgedreht, dass ich nicht wusste, wie ich die Schicht durchstehen sollte. Außerdem konnte es sein, dass Max heute wieder früher nach Hause kam, und dann würde ich ihm erklären müssen, wo ich gewesen war. Wieder eine Lüge mehr. Die ersten Tropfen landeten auf meiner Haut, und ich hob mein Gesicht in Richtung Himmel. Die Abkühlung tat meiner Haut gut. Genau in dem Moment, in dem ich mein Fahrrad vor dem Café abschloss, stürzten wie auf Kommando Wassermassen aus dem Himmel. Lillo kam rausgestürmt und klappte die kleine Tafel zusammen, auf der das Angebot des Tages gerade zu einer weißen Kreidemasse zerlief.

»Los, mache, dass du davonkommst, piccola!«, rief er in seinem charmanten Akzent und gab mir wild gestikulierend zu verstehen, dass ich wieder auf mein Rad steigen sollte.

»Aber ich dachte, vielleicht hört es auch gleich wieder auf, und ich könnte die Schränke solange auswischen.« Mein Widerstand war halbherzig. Ich konnte nicht aufhören, an den Brief zu denken.

»Dai, amore, genieße deine freie Tage! Iche denke, es iste so weit. Wir schließen.« Er sah mich gutmütig an. Ich biss mir auf die Lippe, weil ich am liebsten geheult hätte. Ich wollte zwar gerade nicht arbeiten. Aber ich wollte auch nicht, dass Lillo das Eiscafé schloss. Eigentlich hatte er vorgehabt, schon im September zurück nach Sizilien zu gehen. Es war nur Glück, dass die ersten Herbsttage so sonnig gewesen waren, dass es an Wahnsinn gegrenzt hätte, den Laden schon dichtzumachen. Ich hatte die Schichten im Eiscafé geliebt. Lillo war das Gegenteil von Martha. Ach verdammt!

»Kommste du in den nächsten Tagen noch mal, bella, ja?« Mit diesen Worten verschwand Lillo im Inneren des Cafés. Warum zum Teufel aßen die Menschen im Winter kein Eis?

Ich stieg wieder aufs Rad. Der Regen hatte längst meine Hose durchweicht, und mein helles Shirt klebte durchsichtig auf meiner Haut. Da halfen auch die kleinen roten Punkte wenig. Zum Glück war bei dem Wetter fast keiner auf der Straße. Ein Regenschirm hätte jetzt auch nichts mehr genutzt. Der Wind, der im Gegensatz zu den Temperaturen schon gemerkt hatte, dass es Anfang Oktober war, hätte ihn sofort auf links gedreht oder das Gestänge gebrochen.

Zu Hause angekommen, traf ich noch unten an der Haustür auf Max. Als er mich sah, brach er in lautes Gelächter aus.

»Na, willst du heute noch einen Wet-T-Shirt-Contest gewinnen, oder warum beraubst du deine Regenjacke ihrer Funktion?«

Ich streckte ihm die Zunge raus. »Ich weiß ja nicht, wie deine Jacke so arbeitet. Meine ist eher von der trägen Sorte, die lieber zu Hause abgammelt.«

»Oder meine Tochter ist eine von der vergesslichen Sorte und hat die arme arbeitswillige Regenjacke mal wieder zur Untätigkeit verdammt.«

»Auch das liegt im Bereich des Möglichen«, schmollte ich und zog angewidert an dem klitschnassen Stoff auf meiner Haut. »Wenn du jetzt mal endlich aufschließen würdest, könnte ich mich umziehen, Mister Perfect.«