Über Jan Böttcher

Jan Böttcher, 1973 in Lüneburg geboren, war zunächst als Songtexter und Sänger mit der Berliner Band Herr Nilsson zu hören. Seit 2003 hat er vier Romane veröffentlicht. Die beiden jüngsten standen an der Spitze der SWR-Bestenliste.
Bei Aufbau erscheint 2018 sein neuer Roman »Das Kaff«. Jan Böttcher lebt in Berlin.
Weitere Informationen unter: www.ypsilon-roman.de und www.janboettcher.com.

Frank Willmann, geboren 1963 in Weimar. 1984 Ausreise nach Westberlin. Schriftsteller, Publizist. Coach der Autorennationalmannschaft. Zuletzt erschienen: »Mauerkrieger« (2013) und »Kassiber aus der Gummizelle – Geschichten vom Fußball« (2015). Herausgeber der Reihe »Fußballfibel – Bibliothek des Deutschen Fußballs«. Frank Willmann lebt in Berlin.

Marcus Gruber, geboren 1985 in Sachsen. Lebt und arbeitet als Illustrator und Dozent in Berlin.
Mehr Informationen zum Illustrator unter www.marcus-gruber.com

Informationen zum Buch

Zusammen sind wir weniger allein

25.000 Menschen, die gemeinsam Weihnachtslieder singen, ein Stadion, das von den Fans finanziert wurde, eine Hymne von Nina Hagen, ein Platz, auf den man im Sommer sein Sofa stellen kann, um WM zu schauen. Die Fußballkultur des 1. FC Union Berlin ist einzigartig und die Saison 16/17 die spannendste der Vereinsgeschichte. Hier wird alles erstmals umfassend erzählt: von den besten deutschen Autoren.

»Alles auf Rot« erzählt die Faszination eines Heimspiels mit allen Facetten, aufgeschrieben u. a. von Hertha-Fan Thomas Brussig, Ruhrpottjunge Christoph Biermann, Alltagsphilosoph Wolfram Eilenberger und Last-Minute-Union-Fan Sönke Wortmann. Tiefgang bekommt das Buch durch die stärksten Geschichten der Clubhistorie und wichtigsten Institutionen abseits des Platzes. Journalist Ingo Petz macht einen Rundgang und erzählt en passant die einzigartige Geschichte des Stadionausbaus. Michael Kröchert beschreibt das magische Gefühl beim Weihnachtssingen. Drehbuchautor Torsten Schulz lässt die Legende der 68er-Mannschaft neu aufleben, und Andreas Merkel erweckt den Mythos Wolfgang Matthies neu. »Alles auf Rot« ist ein Denkmal für alle Fans. Und eine mitreißende Empfehlung an alle, es zu werden.

Mit den Erstligaautoren Benedict Wells, Ronja von Rönne, Christoph Biermann, Moritz Rinke, Thomas Brussig, Wolfram Eilenberger, Annett Gröschner, Sönke Wortmann, Jochen Schmidt, Torsten Schulz, Lucas Vogelsang u. v. m.

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Der 1. FC Union Berlin

ALLES AUF ROT

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Herausgegeben von Frank Willmann und Jan Böttcher

Mit Illustrationen von Marcus Gruber

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EISERN VEREINT

ANSTOSS — Jan Böttcher

ENDE DER ROMANTIK — Stefanie Fiebrig

WERNER LÄSST SIE ZIEHEN — Nikita Afanasjew

DER PRÄSIDENT — Ein Interview mit Dirk Zingler — Norbert Kron

UNION VON OBEN — Jochen Schmidt

HINTERM OSTKREUZ — Chris Deutschländer

ZINNOBER UND KADMIUM — Manuela Thieme

GEGENGERADE — Torsten Schlüter

MENSCH HARRY — Ein Interview mit Harald Layenberger — Frank Willmann

DIE GEGENWARTSSCHRUMPFUNG — Christoph Biermann

ALLES ANDERE ALS EINE KOMFORTZONE — Imran Ayata

DER TRAINER — Thomas Klupp

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DAS KLEINE MOTORRAD UND ANDERE LEGENDEN

JIMMY — Torsten Schulz

DIE SCHLOSSER VON SEKTOR 3 — Annett Gröschner

SKRZYBSKI — Sönke Wortmann

TUSCHE — Marius Hulpe

DER KLEINE — Johannes Ehrmann

NIKA — Victor Witte

DER CHRONIST — Michael Wolf

UNION AIR BERLIN — Wolfram Eilenberger

EINE WEIHNACHTSGESCHICHTE AUS KÖPENICK — Michael Kröchert

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LIVE AUS DER ALTEN FÖRSTEREI

DIE SCHWEIGENDE MEHRHEIT — Philipp Reinartz

DRESDEN UND ANDERE SPIELTAGSGEDICHTE — Jan Böttcher

AN DER SCHWELLE — Benedict Wells

DIT BRAUCH ICK — Gunnar Leue

DIE ALTE, ALTE, ALTE FÖRSTEREI — Ingo Petz

IM CHOR DER MEUTE — Christoph Nussbaumeder

DIE WAHRHEIT ÜBER POLTER — Moritz Rinke

DEM TORWART SEIN BIER — Andreas Merkel

ICH WAR EINMAL EIN EISERNES MÄDCHEN — Ronja von Rönne

IN DER JUKEBOX — Florian Werner

KNEIPE, UNION — Lucas Vogelsang

KEINE PFEIFEN — Thomas Brussig

TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN — Uli Hannemann

SCHRIFTLICHE VIDEOANALYSE — Daniel Roßbach

JAN BÖTTCHER
ANSTOSS

1

Ein kalter Februarmorgen 2017, ich rolle mit der S3 vom Berliner Ostkreuz in Richtung Köpenick. Mit der Straßenbahn geht es in den alten Ortsteil, zwischen den Wassern von Dahme, Spree und Müggelspree liegt die Freiheit 15, eine Restauration, in der wir uns mit den Verantwortlichen des Vereins treffen. Mit am Tisch sitzt auch Jochen Lesching, der seine Union-Karriere als Stadionheftmacher begann, später den Wirtschaftsrat mitgegründet hat und heute als Vorstandsvorsitzender der Union-Stiftung tätig ist. Wir haben uns bei Kaffee und Schrippen schon eine Weile angeregt über die Zukunft dieses Buches unterhalten, als Lesching sagt:

»Wir haben mittlerweile das Selbstverständnis: Union ist der Gesellschaft ein Stück voraus. Und womöglich können wir ihr etwas zurückgeben, was sie im Karussell des Kommerzes nicht mehr abbildet.«

Das Statement ließ mich seitdem nicht mehr los. Wohl auch, weil es sich mit einem Verdacht deckte, der mich nach einem halben Jahr persönlicher Annäherung an diesen Verein bereits beschlichen hatte. Etwas war anders im Staate Köpenick. Etwas wurde Eisern gerufen, war aber aus menschlicher Wärme gemacht. Etwas war laut, kam aber erstaunlicherweise gar nicht aus den Lautsprecherboxen. Etwas war offen und im Prozess – unbefestigt also wie der Waldweg hinter dem Stadion.

2

Die Verwirrung hatte gleich bei meinem ersten Stadionbesuch im Sommer begonnen. Ein Montagabend, Dynamo Dresden war zu Gast, mein Mitherausgeber sprach von einem Hochsicherheitsspiel, ich war sehr aufgeregt und freute mich auf das Ostduell. Aber dann trat der Presse- und Stadionsprecher Christian Arbeit auf den Rasen und verabschiedete die langjährige Vereinsbeauftragte für Menschen mit Handicap, Janine Jänicke, die mit 47 Jahren bei einem Motorradunfall tragisch ums Leben gekommen war. Ihr Bild auf der Leinwand, seine Trauerrede, statt Schweigeminute frenetischer Applaus, und selbst neben uns flossen die Tränen – auf der Pressetribüne.

Was ist ein Verein? Ein Verein ist einer, der die Menschen in sich aufnimmt, der niemanden alleine lässt, schrieb ich noch während des Fussballspiels angerührt in mein Stadionheft. Woraus zieht er seine Identität und seine Energie im Alltag? Er will ja eine Familie sein, also muss er Rückschläge hinnehmen und weitermachen, er muss die Toten in sich aufnehmen wie die Lebenden, die Siege wie die Niederlagen. Union lag derweil gegen Dynamo zurück, drehte das Spiel und führte, spielte schließlich unentschieden. Es war an diesem Abend nicht wichtig, ich war völlig durcheinander. Am Biergarten auf der Waldseite kondolierten Hunderte von Fans. Später übernahm der beim Unfall schwerverletzte Ehemann der Verstorbenen ihren Posten im Verein.

Immer wieder während der Saison sagte ich mir: Du fährst da jetzt als schreibender Fußballer hin. Weil du es liebst, wenn die Mannschaft gewinnt. Weil sie diese Erfolgsserie gestartet hat und vor Selbstbewusstsein strotzt. Weil sie derzeit so gut presst, dass der Gegner den zweiten Ball schon verloren gibt, wenn der erste noch gar nicht gespielt ist. Es macht richtig Spaß, dieser Mannschaft zuzusehen. Jetzt ist sie sogar Tabellenführer, ist das zu fassen!?

Das alles redete ich mir ein, obwohl ich längst verstanden hatte, dass mir jeder Spieltag weit mehr zu bieten hatte als neunzig Minuten Fußball. Ich hätte schon taub und blind sein müssen, um die Anfahrt durch Berlin nicht bereits zum Erlebnis 1. FC Union zu zählen. Egal wie früh ich auch aufbrach, überall in der S-Bahn unterhielten sich Fangrüppchen über ihre kleine Familie, über Arbeit, Urlaubspläne und Auswärtsspiele. Redselige Menschen, mit denen jeder schnell ins Gespräch fand. Als sich der Berliner Zugführer nach einer Minute Stillstand am S-Bahnhof Karlshorst zu einem »Ma die Tür freimachen, sonst jeht’s nisch weita« aufraffte, klang seine Stoffeligkeit wie aus einer fernen Welt. Und mir ging Leschings Satz wieder durch den Kopf: Vielleicht war diese rot-weiße Menge gar nicht der Querschnitt der Berliner Gesellschaft, sondern sie lebte in ihrer Verbundenheit zu Union ein glücklicheres Dasein.

3

In Zeiten des drohenden Konkurses oder Lizenzentzugs haben Widerständigkeit und Kampfbereitschaft den 1. FC Union Berlin am Leben erhalten, fast immer von innen, auch durch Initiativen aus der Fanszene. Die jüngste Vereinsgeschichte hat aber auch Aktionen zu bieten, die weit über die Stadt Berlin hinaus für Furore sorgten und die heute jeder Fußballinteressierte mit dem 1. FC Union verbindet: der von den Fans und Mitgliedern in Eigenregie durchgeführte Stadionausbau der Jahre 2008–2009, und das berühmte Weihnachtssingen, das alljährlich aus 20 000 Kehlen im Stadion An der Alten Försterei zu hören ist. Beide haben ihren festen Platz auch in »Alles auf Rot«.

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Als Herausgeber hatten wir von Beginn an das Interesse, verschiedene Autorentypen zusammenführen: solche, die das Vereinsleben schon von innen kennen und dem Leser deshalb kenntnisreiche Einblicke ins Köpenicker Herz gewähren. Und eine mindestens ebenso große Menge unvoreingenommener Literaturprofis, die nicht sofort vor den Mythen, Legenden und auch Klischees eines Sportvereins erstarren, sondern mit ihm ins Eins-gegen-Eins-Duell gehen würden.

So wuchs für »Alles auf Rot« ein hochkarätiger dreißigköpfiger Kader zusammen, in Ost und West sozialisierte Autorinnen und Autoren, geboren zwischen den Jahren 1959 und 1992, vielfach für ihre literarischen und journalistischen Arbeiten ausgezeichnet. Sie alle beweisen mit ihren Texten, wie viele betrachtens- und lebenswerte Facetten der Fußballkosmos mittlerweile hat. Bestsellerautoren wie Benedict Wells und Thomas Brussig steuern ihre Live-Spielberichte bei. Annett Gröschner ist der Frage auf den Grund gegangen, inwieweit die Arbeiterkultur heute noch den 1. FC Union prägt. Der Filmregisseur Sönke Wortmann erzählt davon, was seinen alten Ruhrpottfußball mit der Alten Försterei in Köpenick verbindet. Starautorin Ronja von Rönne taucht mit Union-Schal im Fanblock der Gäste auf, kann aber das 0 : 1 gegen Aue damit nicht verhindern. Daniel Roßbach blickt zurück auf die Spieltaktik in der abgelaufenen Saison 2016/17, während Florian Werner sich den wichtigsten Liedern widmet, die bei einem Union-Heimspiel erklingen.

Was uns im Arbeitsprozess auffiel und immer glücklicher machte: Im Grunde kann nur ein Sammelband, eine Anthologie – mit ihren eigensinnigen Stimmen und Perspektiven – dem Gegenstand 1. FC Union Berlin gerecht werden. So spiegelt dieses Buch im Kleinen jene »Kraft der Vielen«, die der Verein selbst propagiert, indem er von Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung seiner Anhänger nicht nur redet wie ein hohles Wahlplakat, sondern sie lebt, befördert und nutzt.

Demgemäß hat der 1. FC Union Berlin im Sommer 2017 seine Stadionausbaupläne präsentiert. Die Alte Försterei wird größer. Von knapp 15 000 neuen Plätzen werden 10 300 im Stehplatzbereich sein, nur 4700 Sitzplätze – und es entstehen ganze 414 VIP-Plätze! Für einen Verein, der die Ambition besitzt, in die Bundesliga aufzusteigen und der dieses Ziel gerade ganz knapp verfehlt hat, sind diese Zahlen nicht mehr nur außergewöhnlich bodenständig. Sie sind eine Ansage an den überkommerzialisierten Ballsport von der Premier League bis ins ferne China.

Der Stadionausbau wirft auch ein Licht auf das Statement Jochen Leschings, das ich anfangs zitiert habe. Ist Union der Gesellschaft voraus, indem es die Bedürfnisse seiner Fans in wichtigen Entscheidungen ernst nimmt? Und haben Politik und Wirtschaft – diese Frage stellt sich überparteilich – in diesen Jahren nicht genau zu analysieren, wo sie die Menschen durch Entmündigung und Unterforderung verlieren? In Köpenick wissen ein paar Menschen, woraus ihr Verein gemacht ist – und sie wissen auch, worauf sie gut verzichten können. Christian Arbeit zählt auf: »Du kommst nicht in die Alte Försterei, um in der Halbzeitpause Cheerleader zu sehen oder irgendeinen Preis abzuräumen. Und du willst auch keinen Jubel vom Tonband und dass dir jeder Ballkontakt von einem Sponsor präsentiert wird. Du kommst hierher, weil Union deine Mannschaft ist. Hinter diesem Austausch, diesem Erlebnis hat alles andere zurückzustehen.«

4

Möge es so bleiben.

5

»Alles auf Rot« versammelt neben situativen Texten auch solche, die sich der Besonderheit dieses Sportvereins historisch nähern. Mit Jochen Lesching habe ich auch über die zahlreichen Krisen des Vereins gesprochen, und als ich ihn fragte, ob er einen besonderen Moment aus der Zeit des puren Überlebenskampfes abgespeichert hat, zögerte er nicht lang. Den Februartag 1998, erzählte er, als 2000 Union-Fans vor dem Stadion von Tennis Borussia Berlin standen, sangen, feierten – um dem Regionalliga-Rivalen das Eintrittsgeld vorzuenthalten. Die so eingesparten 10 000 DM übergaben die Unioner, als sie in der Halbzeit gratis das Stadion betreten durften, ihrem eigenen Präsidenten. »Da schoss es mir durch den Kopf: Jetzt hast du zu Ostzeiten so lange über den sozialen Gebrauch von Rockmusik geforscht«, sagt Lesching, »aber dass es diese besondere Energie auch in einem ganz anderen Umfeld gibt, beim Fußball, Wahnsinn. Das war der pure Rock ’n’ Roll.«

Die Krise will niemand zurückhaben. Sie hilft aber, um sich an den eigenen Funken zu erinnern. Wann einen der Verein gepackt hat und nicht mehr losließ. Und jede Krise wird mitgeholfen haben, um jene wichtige Union-Erkenntnis für die Gegenwart zu formulieren: Bleibe roh! Bleibe direkt! Brimborium ist das, was einem Fan im Weg steht, der selbst anpacken will.

Deshalb jetzt keine großen Worte mehr, auch wenn es um Literatur geht. Gerade deshalb nicht. Keine Berührungsängste. Aufschlagen, lesen, Fan sein, Kritik üben, drüber reden. Alles auf Rot. Rock ’n’ Roll.

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PHILIPP REINARTZ
DIE SCHWEIGENDE MEHRHEIT

Gestern noch hatte Karl einen Nachnamen. Da war er in China, Siemens, Gasturbinen. Jetzt sitzt er im Sandmann, zehn Minuten neben der Alten Försterei, und heißt nur noch Jung-Karl.

Der Grund dafür sitzt auch am Tisch, ist 44 Jahre älter, ehemaliger Kraftfahrer und zufälligerweise Träger des gleichen Vornamens. Daher, natürlich, Alt-Karl.

Und zwischen den beiden, räumlich wie zeitlich: Jens. Mittel-Jens sozusagen, aber das ist nicht nötig, es gibt nur einen Jens, und das ist er. Er sieht ein bisschen aus, als habe sich Axel Prahl für eine Outlaw-Rolle die Haare wachsen lassen. Kumpeltyp, olivgrüne Jacke, darunter roter Fleecepulli, erst dann, ganz tief drinnen also, Union-Trikot.

Drei Generationen seien das hier inzwischen, fängt Jens an. In den Siebzigern, während seiner Lehre, habe das begonnen, mit ihm und den älteren Kollegen, da waren es bereits zwei Generationen.

Alt-Karl nickt. Drahtiger Typ, er sieht aus wie der Wunschkandidat der Leute, die in Kleinanzeigen nach einem rüstigen Rentner als gute Seele für Haus und Hof suchen.

Und irgendwann, so Jens weiter, habe man eben die Kinder mitgenommen, die dritte Generation.

Jung-Karl nickt nicht, Jung-Karl unterbricht.

Eigentlich sind es ja schon vier inzwischen, Vattern.

Vattern sagt er. Ist Jung-Karl, ein blonder Schweighöferverschnitt, also tatsächlich Sohn von Jens, dem Outlaw-Prahl, als sei Schauspielerähnlichkeit vererbbar.

Stimmt, sagt Jens, erzählt von Enkel Paul, Jung-Karls dreijährigem Sohn. Mit Geburt Union-Mitglied.

Dann fasst Jens den Familienbegriff weiter, stellt Peter vor und Uwe, Steffen, Vincent, Mützen-Sören, die ganze Union-Familie. Er erzählt von früher, als er im Außenhandel war, Motoren verkaufte, und von heute, er arbeite inzwischen als rechtlicher Betreuer für Kranke und Alte. Aber dit is ejal, sagt Jens, und er sagt das oft, wie mit einem Punkt am Satzende schließt er damit seine Beiträge ab. Aber dit is ejal.

Vierzig Jahre Union-Fan, da hat er ja alles mitgemacht, da bringt ihn ja nichts mehr aus der Ruhe. Eine gefälschte Bankbürgschaft in den Neunzigern, UEFA-Cup, Rumtingeln uffe Dörfer. Was soll man da zur Auswärtsniederlage vom Wochenende sagen? Dit is ejal.

Obwohl sie natürlich im Stadion waren, in Hannover, alle drei.

Doch Auswärtsfahrten seien jetzt auch nicht mehr wie früher, sagt Jens. Die Karls nicken. Dabei denkt bei früher jeder an etwas anderes.

Jens denkt an die Achtziger, als es Ausschreitungen gab und er mit dem Fanbetreuer studierte, der Ordner für die Auswärtstouren suchte. Freifahrt, Erbsensuppe, 30 Mark, dafür band sich Jens gern die Binde um.

Alt-Karl denkt an Sachsen, wo sie nie erwünscht waren, wo es Hallo, die Mücken am Bahnhof hieß, er in Sippenhaft genommen wurde, Spiele verpasste und die Polizei bei der Leibesvisitation statt Waffen oder Böllern nur zwei Schnapsgläser fand.

Und Jung-Karl denkt an die Jugend, als man sich von den Alten unabhängig machen, mit den richtigen Fans unterwegs sein wollte, denen von der Waldseite. Bis man in Bussen saß, die vor Tankstellen fuhren, um diese leerzuklauen.

Das war nicht so mein Ding, meint Jung-Karl.

Also ständen sie nicht auf der Waldseite?

Nee, sagt Jens, die singen ja die ganze Zeit. Wir stehen auf der Rentnertribüne. Ein paar Yuppies seien da seit Neuestem. Ansonsten die, die sich auf das Spiel konzentrieren wollten, nicht auf das Bier.

Eine Viertelstunde später verstehe ich, was Jens meint.

Es gibt diese Typen, die nur im Stadion richtig explodieren, sonst in sich gekehrt, schweigsam, plötzlich neunzig Minuten Stimmbandspannung.

Jens ist das Gegenteil.

Denn so viel er bisher erzählt hat, von Union und Familie, was ja irgendwo das Gleiche ist, so ruhig ist er ab dem Moment, in dem er seinen Platz in Sektor 3 gefunden hat.

Das mit der Rentnertribüne ist nicht ganz falsch. Schräg gegenüber, auf der Waldseite, schwenken sie Fahnen und schauen auf eine Werbebande für Heidelberger Betonelemente. Hier verteilt Alt-Karl Eisbonbons, gegen die Bierfahne, und in Sichtweite wirbt Zweitausendeins für Bücher, Musik, Filme.

Drüben wird jeder Spieler schon beim Verlesen der Aufstellung zum Fußballgott geschrien. Drüben brüllt der Chor der harten Jungs sein Eisern!, erwartet von uns hier die Antwort. Zwei Generationen verziehen keine Miene, nur Jung-Karl macht mit: Union! Dann noch mal, Eisern!, Union!, Eisern! – Jung-Karl ist schon nicht mehr dabei – Union! Solange wie die Waldseite es will. Sie fängt irgendwann an und sie hört irgendwann wieder auf. Wir hier sind höchstens Echo. Jens starrt auf den Rasen und verzieht keine Miene.

Und als ich dann auch noch seinen Polyesterschal über dem mehrlagig versteckten Uniontrikot sehe, scheint es klar zu sein. Wir hier, wir sind keine richtigen Fans, die richtigen Fans stehen drüben und reimen Union auf Religion.

Wir sind eine Tribüne, die so ruhig ist, dass man manchen Übermütigen losgrölen hört, Scheiß FC Aue, wir singen scheiß FC Aue, auch wenn es nicht stimmt, er singt alleine, meistens eine Runde, manchmal, hoffend auf die Wirkung des abschließenden Und alle!, eine zweite, vergeblich.

Und das kommt mir dann so bekannt vor, aus allen Stadien, dass ich es langsam begreife.

Wir hier sind die Leute, die die Stadien füllen.

Wir sind nicht der kleine, springende, grölende Haufen, manchmal oberkörper-, manchmal oberstübchenfrei.

Wir machen aus der Wand ein Stadion.

Alt-Karl, Jens und Jung-Karl.

Wir hier sind die Fans.

Wir steigen auf und wir steigen ab. Aber dit is ejal. Denn wir lieben unser Team.

Wir fordern Köpfchen von unserem Trainer, nicht seinen Kopf.

Für uns ist der Schiedsrichter kein Hurensohn, wir wissen höchstens mal, wo sein Auto stand.

Und wir mögen Bier zum Fußball, nicht Fußball zum Bier.

Wir besingen den Tag, so wunderschön wie heute.

Aber nur, wenn er es wirklich ist.

Für uns gehört auch der Reinrufer von vier Reihen hinter uns dazu, der Steh uff brüllt oder Bewegung, Mann.

Aber keine Affenlaute.

Und hat sich ein Auswärtsfan in unseren Block verirrt, kriegt er natürlich! Aber ’nen Spruch, keine Dresche.

Und nur weil andere Leute in anderen Blöcken das anders sehen, haben wir den Polyesterschal dabei. Denn der richtige wurde geklaut, auswärts, von denen, die Jung-Karl in den Bauch getreten haben. Der hier, sagt Jens und schielt auf seinen Schal, lässt sich zur Not besser verstecken.

Am Ende soll es heute nicht reichen. Null zu eins gegen Aue.

Wenn das mit dem Aufstieg nicht klappt, resümiert Jens auf dem Rückweg in den Sandmann, dann eben nicht. Und wenn doch, wenn die anderen zu blöd sind, dann sollen die Jungs das eine Jahr genießen, ohne Neuzugänge, Urlaub in der ersten Liga.

Später, ein paar Bier später, verabschiedet sich Jens von der Union-Familie.

Hatteste vier?

Ne, drei.

Dann gesamt sieben?

Hat er die draußen überhaupt mitgerechnet?

Ach, ick zahl allet, dit is ejal.

Er steigt zu Jung-Karl ins Auto. Kennzeichen: B-EU 2023. Berlin, Eisern Union, haste als Union-Fan. Und die Zahl? Das ist das Ziel, sagt Jens, 2023 fahren wir mit der Kiste zum Auswärtsspiel nach Reykjavik. Er grinst. Ne, ist ein Scherz.

Sechs Jahre noch, wer weiß. Sie werden auf jeden Fall dabei sein. Alt-Karl, Jens, Jung-Karl und vermutlich auch Paul. Namen auf Augenhöhe, trotz vier Generationen. Stumme Fans, treue Seelen. Der Mittelstand des deutschen Fußballs. Die schweigende Mehrheit.

PHILIPP REINARTZ, geboren 1985 in Freiburg, ist Autor, Journalist und Kreativunternehmer. Jüngst erschien sein erster Kriminalroman Die letzte Farbe des Todes.

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STEFANIE FIEBRIG
ENDE DER ROMANTIK

Endlich hat er Ja gesagt. Ich habe lange darauf gewartet. Steven Skrzybski. Ja, ich will Unioner sein. Unioner bleiben. Wenigstens erstmal. Das wollte ich hören, auch von Eroll Zejnullahu. Ein bisschen Bekenntnis, ein Stück Verbundenheit, wenigstens ein Hauch von Anhänglichkeit. Ich habe ja immer zu viel davon.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass uns Christopher Quiring jemals verlassen würde. Florian Müller. Daniel Schulz. Jan Glinker. Björn Jopek. Bei Union haben sie den Sprung vom Trainingsplatz rüber ins Stadion geschafft. Sie haben ihre ersten Autogrammkarten in der Alten Försterei unterschrieben und waren eines Tages keine Fußball spielenden Jungs mehr, sondern diejenigen, auf die es ankommt. Profis aus dem eigenen Nachwuchs. Hoffnungsträger. Hoffnung wiegt schwer. Sie hatten ganz schön zu schleppen an den vielen Erwartungen, die auf ihren Fußballjungsschultern lagen.

Gleichzeitig hatten sie von Anfang an die gesamte, krawallige Liebe, zu der ein Stadion voller Union-Fans fähig ist. Die haut einem herzhaft auf die Schulter und lallt dabei: »Haste jut jemacht, Kleena«. Aufrichtiger kann Zuneigung nicht sein. Manch einem fällt sie einfach zu. Ob er will oder nicht. Wer wie Björn Jopek einen Unionspieler als Vater und selbst schon mit sieben Jahren bei Union angefangen hat, oder wie Steven Skrzybski mit neun, wird geliebt. »Unsere Jung’schen«, sagen wir in einem Tonfall, als wären wir es gewesen, die ihnen das Fußballspielen beigebracht haben. Ja, ich sage das auch. Und ich kann überhaupt nicht Fußball spielen.

Aber ich habe ihnen dabei zugesehen, von der A-Jugend, über die U23 bis zu den Profis. Saison für Saison. Mit Schwarzweißfilmen und Spiegelreflexkamera stand ich am Zaun. Ich hatte gerade angefangen, Fotografie zu studieren. Wie die jungen Spieler musste ich mich erst an die Stadiondimensionen gewöhnen, an die Flutlichtmasten und Wechselgesänge. Aber genau wie die Jungs wussten, dass sie Fußball spielen können, war ich mir sicher, dass ich Fußball fotografieren kann.

Steven Skrzybski hat seit ein paar Spielzeiten einen ernst gemeinten Fußballerhaarschnitt und manchmal einen Bart. Ich habe Stirnrunzeln und Lachfalten bekommen und einen grauen Scheitel von der spieltäglichen Aufregung. Mir sind genau wie Steven Skrzybski Oberarmmuskeln gewachsen, ich hatte auch ganz schön zu schleppen. Jedes Jahr wurden meine Objektive ein bisschen schwerer, die Kamera professioneller, und jedes meiner Bilder sieht inzwischen nach Sportfotografie aus. Auch die Hochzeitspaare, Tulpen und Eichhörnchen sind scharf vor unscharfem Hintergrund und machen den Eindruck, sie müssten grad eilig irgendwohin. Ich gehe immer noch in dasselbe Stadion. Meine Lieblingsspieler sind heute nur noch halb so alt wie ich, und alle drei Torhüter jünger. Ich habe kein Interesse an anderen Vereinen. Die anderen Vereine auch nicht an mir.

Ich sehe höchstens dann zu ihnen rüber, wenn einer von uns da spielt. Einer von den Jungs. Immer wieder kommen mir welche von ihnen abhanden, und jedes Mal verzweifle ich ein bisschen daran. Es verletzt die Ordnung meiner Welt, wenn ein Spieler, bei Union ausgebildet, seine Zukunft woanders sucht. Ich bin doch auch bei Union ausgebildet worden. Als Fan. Die Fanausbildung dort ist wirklich ausgezeichnet! Wieso muss einer, der den weitaus größten Teil seiner Zeit mit Union verbringt, darüber nachdenken, wo er hingehört?

Als Florian Müller zu Bayern München wechselte, wollte ich nicht mehr Sport fotografieren. Mir waren Motiv und Motivation verloren gegangen. Er war so auffallend gut, dass ich die Fanporträts, wegen derer ich ins Stadion gegangen war, bald sein ließ. Ich wollte keine Minute seiner Spielzeit verpassen. Das ist zwölf Jahre her, ich war noch neu im Geschäft. Florian Müller war es nicht. Das hatte ich übersehen. Wer seine gesamte Kindheit und Jugend mit Leistungssport verbracht hat, bleibt nicht in der Regionalliga, wenn Bayern München anruft. Auch nicht, wenn es die beste Regionalliga der Welt ist. Nicht einmal, wenn Union da spielt. Wer sieben Mal in der Woche trainiert, statt eines Wochenendes ein Punktspiel absolviert und dabei höchstens fünfzehn Jahre Zeit hat, mit Fußball Geld zu verdienen, packt ohne Zögern seine Sporttasche und verbessert sich, so gut es geht. Denn er steht, obwohl knapp neunzehn Jahre alt, nicht am Anfang seiner Fußballkarriere, sondern längst mittendrin im Arbeitsalltag. Er hat, seit er fünfzehn ist, Anwesenheitszeiten und trägt sich in Urlaubspläne ein. Er ist einer von höchstens zweien aus seinem Jahrgang, die so weit gekommen sind. Stehen bleiben hat ihm niemand beigebracht. Er arbeitet dort, wo andere ihre Sonntage verbummeln. Ich sehe das ein. Ich hasse es trotzdem.

Als ich glaubte, ich wäre endlich abgehärtet, zog Daniel Schulz, neun Jahre Union, nach Sandhausen und riss mir das eben verheilte Herz aus der Brust. Den Abschied von Jan Glinker, dreizehn Jahre Union, erlebte ich so tränenblind, dass ich schon wieder nicht fotografieren konnte. Für beide war es ein Abstieg. Sie wollten nicht gehen. Es war, als sagte man ihnen »Ey, Sohn, du wohnst jetzt nicht mehr hier«. Das nahm ich vor allem Union übel. Ich hatte mir gewünscht, die könnten bleiben. Für immer, so wie ich. Und wenn sie fertig sind mit Fußball, kommen sie einfach rüber auf die andere Seite der Werbebande. Oder meinethalben auf die Trainerbank. Sebastian Bönig war Ende zwanzig, als Union ihn als Spieler nicht mehr brauchte. Er hörte deshalb einfach mit Fußballspielen auf. Eine ungeheure Verschwendung von Jugend und Talent. Er ist in Bayern geboren und ausgebildet. Trotzdem war er es, der den Satz »Was soll nach Union noch kommen?« geprägt hat. Endlich einer, der auf ähnlich radikale Art Fan war wie ich. Er kehrte ein paar Jahre später zur Alten Försterei zurück. Heute ist er Co-Trainer. Ja, ich weiß. Nicht jeder Spieler wird ein guter Trainer, und eine Trainerbank hat nur begrenzt Plätze. Jan Glinker fotografiert inzwischen ganz ordentlich.

Zurückgeliebt wurde Union auch von Christopher Quiring. Das kann man auf seiner Wade nachlesen, er hat es dorthin tätowieren lassen. Ein Fußballspieler, der sich ganz offen zu den Ultras seines Vereins bekennt. Als wollte er sich selbst damit vom Marktplatz Fußball nehmen. Das ist bescheuert. Das ist großartig. Ein Freund von mir hat sorgsam darauf geachtet, seine Tätowierungen so weit reichen zu lassen, dass selbst langärmlige Hemden sie nie vollständig verdecken. Er wollte einer Banklehre entgehen. Christopher Quiring ist nach Rostock gegangen. Eine andere Art der Banklehre. Ich habe anschließend lange überlegt, wo genau die Grenze zwischen Loyalität und Irrsinn verläuft.

Seit einiger Zeit gehören zwei Minderjährige zu meinem Haushalt. Einer von ihnen lebte länger in Bayern-Bettwäsche unter einem Arjen-Robben-Poster. Mein Fußball spielender Neffe begeistert sich für Werder Bremen. Wenn ich nach Lieblingsspielern frage, antwortet mir unverständlicherweise keiner von ihnen »Damir Kreilach!«. Im internationalen Vergleich fallen ihnen sogar zwei, drei Stürmer ein, die sie besser finden als Steven Skrzybski. Das ist nicht nur hier so, sondern auf allen Sportschulen dieser Welt. Sogar in Köpenick. Sie möchten spielen wie Julian Weigl oder Ilkay Gündoğan. Die, denen sie nacheifern, wohnen in München oder Madrid. Notfalls sogar in Bremen. Nicht aber in Berlin, obwohl es eine so schöne Galerie mit Porträts derer, die es geschafft haben, im Nachwuchsleistungszentrum gibt. Dort finden sie frühestens dann ein Vorbild, wenn Steven Skrzybski sein hundertstes Erstligator schießt.

Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass er das für Union tun wird. Ich erwarte, dass er nach den Sternen greift. Gleichzeitig bin ich froh, dass er noch einmal Ja gesagt hat. Denn der Tag, an dem Steven Skrzybski seine Sporttasche packt und Köpenick verlässt, kommt gewiss. Er ist nur noch einmal verschoben worden. Aber vielleicht können wir eines Tages sagen, dass hier erstklassige Spieler für einen erstklassigen Verein ausgebildet werden. Und dass Steven Skrzybski großartig ist, wussten wir jedenfalls schon vor allen anderen.

P. S.

Alles, was ich über die Nachwuchsausbildung bei Union Berlin weiß, hat mir Janek Kampa erzählt. Er ist selbst einer von denen, die als Spieler gegangen und als Trainer zurückgekehrt sind. Danke!

STEFANIE FIEBRIG, 1975 im Oderbruch geboren, ist Fotografin und Union-Bloggerin auf textilvergehen.de. Sie hat zuletzt eine Erzählung veröffentlicht in: Das Spiel meines Lebens (2017).

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TORSTEN SCHULZ
JIMMY

Trotz der Biere und Schnäpse, die er bereits während des Spiels getrunken hatte und abgesehen davon, dass wir ein paarmal den Bordstein streiften, steuerte Onkel Jimmy seinen dunkelroten Trabant 500, genannt Blutbläschen, zielsicher durch Köpenick und Spindlersfeld bis vors Bahndamm-Eck. Dort saß wie immer Rollstuhl-Paul, der im Krieg beide Beine verloren hatte und selbst im Winter darauf bestand, sein Bier nach draußen serviert zu bekommen. Rollstuhl-Paul wusste das Ergebnis aus seinem Kofferradio und versuchte meinen Onkel aufzumuntern: »Mensch, Jimmy, ist doch keine Schande, gegen Magdeburg zu verlieren.«

»Was heißt hier Schande?!«, hielt ihm Onkel Jimmy entgegen. Wenn Union verloren hatte – was leider nicht selten vorkam – neigte er dazu, andere Menschen falsch zu verstehen. Rollstuhl-Paul wusste das und erwiderte nichts.

Drinnen saßen ein paar Rentner, unter ihnen Harro, der Neigentrinker, der seine Rente immer bei seiner Frau abliefern musste und deshalb auf die Neigen der anderen Trinker angewiesen war; außerdem Kollegen meines Onkels aus dem Chemiewerk hinterm Bahndamm. Bei allen hieß er Jimmy, und Achim, der Wirt, brachte ihm sein Bier mit den Worten: »Hier, Jimmy, trink erst mal ’nen Schluck. Kann nur besser werden.«

»Was kann besser werden?!«, entgegnete er und bekam von Achim anstelle einer Antwort einen doppelten Wodka. »Geht aufs Haus, Jimmy.«

Mein Onkel trank den Schnaps auf ex und spülte mit Bier nach. So hieß das im Bahndamm-Eck: mit Bier nachspülen. Darauf bekam er seine elegische Phase. Er sagte, wie üblich: »Scheiße, jetzt bekomm ich meine elegische Phase.« Keine Ahnung, woher er diesen Begriff hatte. Jedenfalls begann er über die traurige Seite des 1. FC Union zu reden, genauer gesagt: über Günter Hoge, der von allen nur Jimmy genannt wurde und seit einem knappen Jahr nicht mehr bei Union spielen durfte, weil er im Trainingslager an der Ostsee im Suff die bundesdeutsche Nationalhymne gesungen hatte. »Wenn Jimmy noch mitspielen würde«, resümierte Onkel Jimmy mit hundertprozentiger Sicherheit, »hätten wir heute nicht verloren.«