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Der schwarze Koffer


Der schwarze Koffer



von: George Lloyd-Allen

3,49 €

Verlag: VSS-Verlag
Format: EPUB
Veröffentl.: 25.09.2022
ISBN/EAN: 9783961273010
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 235

Dieses eBook erhalten Sie ohne Kopierschutz.

Beschreibungen

Geschichte eines Mords erzählt von dem, der den Mörder ausfindig machte.
Bei einer Zollkontrolle im Pariser Gare du Nord wird eine schreckliche Entdeckung gemacht. In einem Reisekoffer einer jungen Engländerin ist die sorgfältig verpackte Leiche einer älteren Dame versteckt. Der Verdacht fällt natürlich auf die Besitzerin des schwarzen Koffers, zumal sie sich in Widersprüche verstrickt. Obwohl sie alles abstreitet wird sie verhaftet und ins Gefängnis geschafft.
In dem bei dem Vorfall zufällig anwesenden Detektiv George Lloyd-Allen erwacht die berufliche Neugier. Auf eigene Faust beginnt er nachzuforschen, und schon bald kommen ihm Zweifel an der Täterschaft der jungen Frau, den auch die anderen Personen ihres Umfeldes benehmen sich mehr oder weniger verdächtig.
Ein Leckerbissen für Krimi-Nostalgiker

George Lloyd-Allen ist das Pseudonym eines deutschen Autors, der Romane – insbesondere Kriminalromane – im Stil des 19. und frühen 20. Jahrhunderts schreibt.
Es war in Paris im Nordbahnhof. Der London-Calaiser Zug war eben eingetroffen – sechs Uhr dreißig Minuten abends, so viel ich mich erinnere – und die Reisenden beförderten ihr Gepäck hastig nach dem großen Raum mit den hufeisenförmigen Gestellen, wo die Zollbeamten ihres Amtes walten – walteten, sollte ich vielleicht sagen, aber ich denke mir, dass diese Einrichtung heute noch dieselbe ist. Ich war ebenfalls von England herübergekommen, da ich aber kein größeres Gepäck bei mir hatte und mein Handkoffer schon bei der Landung des Schiffes untersucht worden war, hätte ich in Frieden meines Weges ziehen können. Trotzdem trieb ich mich auch in dem kahlen, geräuschvollen Zollbüro umher, denn ich musste meine »Partei« – die Leute, die ich im Auftrag meines Büros zu bewachen hatte – im Auge behalten. Unbekannter und gänzlich unerwünschter Weise widmete ich meine Dienste einem jungen Paar, das des frommen Glaubens war, seinen beiderseitigen Vätern entlaufen zu sein. Sie waren sehr verliebt und sehr harmlos diese glücklichen Menschen, und ich sah wohl, mit welchem Eifer sie die Riemen an ihren Koffern aufschnallten und die Schlüssel handhabten. Die Liebenden machten mir meine Aufgabe nicht schwer, und ich hatte vollauf Muße, mich nach allen Seiten umzusehen.
Ich schlenderte zwischen den erregten, hastigen, gereizten Leuten herum und suchte nach irgend einem Gegenstand, der mein Interesse fesseln könnte, und es dauerte nicht lange, da zogen zwei Damen, offenbar Mutter und Tochter, die vor einem wahren Gebirge noch ungeöffneten Reisegepäcks standen, meine Aufmerksamkeit auf sich. Wie deutlich ich sie heute noch so vor mir stehen sehe und wie wenig ich damals ahnte – aber die Wendung stammt entschieden aus einem Roman, den ich irgend einmal gelesen haben muss, und ich habe mir geschworen, jeden Anlauf zur Schönschreiberei zu unterlassen, denn wozu soll ich einen Gaul besteigen, von dem ich im voraus weiß, dass ich ihn nicht reiten kann?
Richtig ist übrigens, dass diese beiden Damen eine wichtige, wenn auch nicht die Hauptrolle in der Tragödie spielen sollten, deren erster Aufzug für mich wenigstens hier zur Aufführung kam. Die eine von ihnen war, wie schon gesagt, ältlich, mindestens fünfzig, wenn nicht mehr, wohlbeleibt, blond und lebhaft, rot im Gesicht, aufgeregten Wesens und mit einer schrillen Stimme behaftet. Der Zollzwang war ihr offenbar wie so vielen lästig, und statt sich ruhig ins Unvermeidliche zu finden, stieß sie unaufhörlich Klagen und Seufzer aus, zankte mit der Jungfer und wandte sich in ziemlich komischer Weise immer wieder an den gelassen dreinschauenden Beamten in seinem grünen Rock. Die Tochter, ein hochgewachsenes, bedeutend aussehendes Mädchen, deren dunkle Augen bei aller Ruhe viel Feuer hatten, billigte offenbar der Mutter auffallendes Betragen nicht.
»Sei doch ruhig, Mama!« hörte ich sie zu verschiedenen Malen ihr zuflüstern. »Gleich wird die Reihe an uns kommen, und du kannst dich darauf verlassen, dass alles gut abläuft.«
»Aber hoffentlich werden sie doch deinen schwarzen Koffer ungeschoren lassen, Edith,« versetzte die Mutter aufgeregt, »du weißt ja, was der für Mühe macht.«
»Wenn sie danach fragen,« gab die Tochter unbefangen zurück, »so werde ich einfach sagen, dass er einen photographischen Apparat enthält.«
Während sie noch sprach, ließ sich ein Beamter, der unbeschäftigt und mit hochmütiger Gleichgültigkeit gegen die von allen Seiten ertönenden Bitten dagestanden hatte, plötzlich herab, sich nach den Damen umzuwenden, und der Dienstmann in blauer Bluse, der sich zum Beschützer der Engländerinnen und ihres umfangreichen Gepäcks aufgeworfen hatte, rief ihn sofort an.
»Haben Sie Zollpflichtiges?« fragte der Beamte auf französisch.
»Nein,« begann die alte Dame, die den Inhalt ihrer Reisetasche auf dem Tisch ausgebreitet hatte, redselig, »oder eigentlich, ja. Da ist eine Flasche kölnischen Wassers, die nur eben geöffnet wurde, und in dem Reiseetui ist ein wenig irischer Branntwein, auch habe ich anderthalb Pfund Tee bei mir, Souchongtee, zu viereinhalb Schilling das Pfund, Ladenpreis.«
Der Beamte, ein mürrisch aussehender Franzose mit gelblichem Gesicht und rötlichem Schnurrbart, hörte ihr aufmerksam zu und ließ dabei seine Blicke über die ansehnliche Sammlung von hübschen Koffern und Körben schweifen.
»Öffnen Sie diesen,« sagte er, auf einen großen Koffer mit Metallbeschläg deutend, »und diesen,« setzt er hinzu und legte dabei die Hand auf ein längliches Gepäckstück.
»Ach, nur diesen nicht, mein Herr,« rief die alte Dame ganz außer sich, »es ist so mühsam, den Strick aufzuknüpfen, und wir mussten ihn zuschnüren lassen, weil das Schloss nicht stark genug ist.«
Der Zollbeamte gab keine Antwort, und einer von den kleinen blauröckigen Trägern machte sich sofort daran, den auf dem Deckel befindlichen Knoten des kreuzweise herumgeschlungenen dicken Stricks zu lösen. Zufällig fasste ich diesen Knoten ins Auge, während er daran zerrte.
Die junge Dame beugte sich leicht über die Schranke.
»Wir wären Ihnen sehr dankbar,« sagte sie ernst und leise in gutem, wenn auch nicht besonders elegantem Französisch, »wenn Sie einen der andern Koffer öffnen ließen – dieser macht gar so viel Mühe.«
Der Beamte verbeugte sich.
»Bedaure unendlich, mein Fräulein,« sagte er, »aber ich habe den schwarzen einmal bezeichnet und kann das nicht zurücknehmen,« worauf er sich einer andern Gruppe zuwandte.
Ärgerlich und beleidigt zog sich das Mädchen zurück, und mit einer Hoheit, die mir sehr überflüssig vorkam, sagte sie zu der Mutter: »Ich habe dir's ja gesagt, du warst es, die in London diesen Strick herumschnüren ließ, als ob das nicht das beste Mittel wäre, Verdacht zu erregen.«
»Du weißt wohl, wer uns den Rat gab,« versetzte die Frau in hilflosem Ton.
Übrigens schien sie jetzt für ihren Jammer keine Worte mehr zu finden und tat nur ihr Möglichstes, um die schmutzigen Finger des Dienstmannes dem schneeigen Weißzeug in ihrem eignen Koffer möglichst fernzuhalten, wobei sie ihm zu wiederholten Malen sehr ärgerlich befahl, den Herrn wieder herbeizurufen.
Die kleine Gruppe war mir ergötzlich, und da ich von hier aus mein Turteltaubenpaar und seine Beschäftigung mit dem funkelnagelneuen Reisegepäck beobachten konnte, blieb ich stehen – wenn sie den Ausgang erreichen wollten, mussten sie an mir vorübergehen.
Ich wandte mich wieder zu den Damen und stand nun unmittelbar hinter ihnen. Der gelbliche Zöllner war zurückgekehrt, hatte die Kleider in dem großen Koffer durchstöbert und durcheinander geworfen und die Sache dann mit einer huldvollen, Gnade verkündenden Handbewegung abgemacht. Nun trat er zu dem schwarzen Koffer, dessen Umschnürung endlich gelöst war.
»Die Schlüssel!« sagte der Träger. »Geben Sie mir die Schlüssel.«
Die junge Dame zog aus einem Bund einen einzelnen hervor, dessen Form nichts Auffallendes hatte.
»Das ist er,« sagte sie.
Der Mann steckte ihn ins Schloss und versuchte zu drehen – es ging nicht.
»Das ist der rechte nicht,« sagte er.
Ein andrer probierte und zerrte an dem Schloss herum, man zog den Schlüssel heraus, beugte sich herunter, und einer wollte es mit einem andern an dem Bund befestigten versuchen, allein das Mädchen gebot ihm mit einer raschen Bewegung Einhalt.
»Der und kein andrer ist der richtige,« sagte sie. »Das Schloss brauchen Sie mir nicht zu verderben.«
Erneute Versuche.
»Brechen Sie den Koffer auf,« befahl der Zollbeamte mit gedämpfter Stimme. »Das ist der Schlüssel nicht.«
Aufbrechen. Der Befehl wurde erbarmungslos vollzogen, trotzdem die alte Dame bald entrüsteten Widerspruch erhob, bald um Schonung flehte. Die junge sagte kein Wort; seit ihre erste Bitte nichts gefruchtet hatte, stand sie in trotzigem Schweigen dabei.
Das Schloß wurde gesprengt und der Deckel zurückgeschlagen. Der Inhalt des Koffers war sehr ungleich gepackt, so dass kleine Hügel und Höhlen sichtbar waren; über das ganze lag ein weißes Tuch gebreitet, das sehr in die Augen fallend den mit rotem Garn eingestickten Namenszug E. R. trug.
Einer der Männer nahm das Tuch weg, und aus bloßer Neugierde trat ich näher, um zu sehen, was dieser geheimnisvolle Koffer, den zu öffnen so viel Schwierigkeit gekostet hatte, wohl enthalten mochte. Ein wunderlich zusammengelegtes Etwas ward sichtbar – offenbar ein Paket, das in schwarzen Stoff oder einen Schal eingehüllt war – schwer musste es jedenfalls sein – ein – barmherziger Gott – nein – ein menschlicher Körper – die Leiche einer alten schwarzgekleideten Frau!
Nie werde ich diesen Augenblick vergessen. Selbst heute, nach Jahren, zittert mir unwillkürlich die Hand, mit der ich dies niederschreibe.
Nichts befand sich in dem Koffer außer dem Handtuch und dem Körper, der hineingezwängt und -gestampft worden war. Den Kopf fest gegen den Magen gepreßt, die Beine aufgeschlagen und herumgelegt, so war der Leichnam in diesen improvisierten Sarg eingeklemmt worden, war in dieser Stellung erstarrt und konnte nun nur mit größter Mühe herausgezerrt werden.
Meine Aufmerksamkeit war bisher viel zu ausschließlich mit dem Inhalt des Koffers beschäftigt gewesen, als dass ich mich um andres hätte kümmern können. Nun sah ich mich um und gewahrte, dass die alte Dame in Ohnmacht gefallen war und an der Erde lag, ohne dass jemand ihr zu Hilfe gekommen wäre, während die junge wie versteinert mit entfärbten Lippen, stieren Blicks den Leichnam anstarrte, den die Leute nun auf den Tisch niedergelegt hatten. Die Reisenden, die den Saal nicht schon früher verlassen hatten, unter ihnen auch meine ahnungslosen Opfer, standen dicht gedrängt um uns her, und Rufe des Entsetzens und der Verwunderung wurden laut.
»Die Sache muss ein Ende haben,« sagte ein Beamter, der eine breite Silberborte um die Mütze trug, indem er sich aus seiner eignen Bestürzung aufraffte. Von den Schutzmännern, die immer am Ausgang des Zollgebäudes aufgestellt sind, waren einige heraufgekommen, man hieß das Publikum sich entfernen, die Leiche wurde hinausgetragen und die Damen unter Bedeckung hinausgeführt, oder vielmehr die Mutter ward, immer noch vollständig leblos, hinweggeschafft, während die Tochter kreideweiß, aber hoch aufgerichtet, zwischen zwei Schutzmännern an mir vorüber schritt. Durch eine Seitentür brachte man sie in einen andern Teil des Gebäudes, während ich mit den übrigen in den großen Hof hinausgedrängt wurde, wo ich mein Liebespaar in einen der bequemen kleinen Bahnhofomnibusse steigen sah und hörte, wie sie dem Kutscher den Befehl gaben, nach dem Grand Hotel zu fahren.
Ich habe schon erwähnt, dass ich den Knoten der Kofferumschnürung ins Auge gefasst hatte: im Hinaustreten kam mir dieser Gegenstand wieder deutlich in Sinn – er war von einer linkshändigen Person geknüpft gewesen.

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